Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Die Peitsche: Ein fast vergessenes Accessoire der NS-Tyrannei
Die Peitsche: Ein fast vergessenes Accessoire der NS-Tyrannei
Die Peitsche: Ein fast vergessenes Accessoire der NS-Tyrannei
Ebook732 pages8 hours

Die Peitsche: Ein fast vergessenes Accessoire der NS-Tyrannei

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

DIE PEITSCHE, einst als persönliche Marotte Hitlers in den Straßen Münchens mitgeführt, wird 1934 an die zentrale Macht im NS-Staat weitergereicht, die SS. Zuerst im KL Dachau eingesetzt, kommt ihr bald überall in den zahlreichen Lagern, die unter deutscher Verwaltung in den besetzten Ländern entstehen, eine zentrale Bedeutung zu. Beispielhaft für die "Karriere" der Peitsche wird die "T4" benannte Euthanasie, die "Aktion Reinhard" mit ihren Vernichtungslagern und schließlich die Rampe in Auschwitz-Birkenau in den Blick genommen.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateMay 28, 2019
ISBN9783748280903
Die Peitsche: Ein fast vergessenes Accessoire der NS-Tyrannei

Related to Die Peitsche

Related ebooks

Politics For You

View More

Related articles

Reviews for Die Peitsche

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Die Peitsche - Bernd Mollenhauer

    Eine Entdeckung

    Im Sommer 1932, als die erste von zwei Reichstagswahlen jenes Jahres die Gemüter bewegt, gerät der Wahlkämpfer Adolf Hitler (1886-1945) unverhofft in das Blickfeld des jungen Albert Speer (1905-1981). Der angehende Architekt, NSDAP-Mitglied seit 1931, ist dem Nationalsozialistischen Kraftfahr-Korps (NSKK) zugeteilt, dem Fuhrpark der Partei, um in der heißen Phase des Wahlkampfes die reisenden Parteibonzen zu chauffieren:

    „…Ich konnte ihn aus einigen Metern Entfernung beobachten, leicht nervös und ungehalten, da die Kraftwagen zu seiner Weiterbeförderung noch nicht eingetroffen waren und dadurch eine Verzögerung in dem genau vorgesehenen Programm eintreten mußte. Und weiter:

    „…Zornig ging er auf und ab, mit einer Hundepeitsche auf seine hohen Schaftstiefel schlagend. Das war ein anderer Eindruck als das erste Mal, nicht der ruhige, zivilisierte Hitler, sondern ein seine Leute anfahrender, unbeherrschter Mann…"¹

    Die Ahnung, dass sich ihm schlaglichtartig der wahre, der despotische Charakter des kommenden Reichskanzlers enthüllt hatte, dämmert Speer allerdings erst viel später. „Ich war aber schon viel zu sehr in dem Parteigetriebe verwickelt, entschuldigt er sich in einem Nachtrag zum „Spandauer Entwurf (1953), „als daß dieser ungünstige Eindruck irgendwelche Konsequenzen oder nur ein Nachdenken hervorrufen konnte."

    Auch die Schriftstellerin Elisabeth Castonier (1894-1975) erinnert sich an eine frühe Begegnung mit Adolf Hitler in München, im Frühjahr des Jahres 1923, wenige Monate vor dem Novemberputsch: „Castonier [der Ehemann] bummelte mit mir die Ludwigstraße gegen Abend entlang. Auf der anderen Seite sah ich eine Menschengruppe, die sich um etwas drängte. Ich lief hinüber, um zu sehen, was los war. Einige Burschen in Windjacken und Trenchcoats, in hohen Schnürstiefeln und Schirmmützen umringten einen Mann, der ebenfalls einen Trenchcoat trug und eine Reitpeitsche in der Hand hielt. Castonier holte mich ein, sagte ärgerlich: „Wer ist denn der Kerl?"

    Ein junger Bursche wandte sich um, musterte ihn, sagte drohend:

    „Sö, dös is Adolf Hitler!"

    Der Mann interessierte mich, weil er so gar nicht reitermäßig aussah und mit heiserer Stimme auf die jüdisch-bolschewistische Regierung in Berlin schimpfte, während er mit seiner Reitgerte in der Luft herumfuchtelte. Als er atemlos innehielt, schrie jemand: Juda, verrecke!²

    ¹ Gitta Sereny, Das Ringen mit der Wahrheit Albert Speer und das deutsche Trauma; München 1995

    ² Elisabeth Castonier, Stürmisch bis heiter-Memoiren einer Außenseiterin; München 1964

    Im „Salon Deutschland"

    Zu jener Zeit ist der Straßenagitator Hitler schon regelmäßiger Gast im Salon der Elsa Bruckmann (1865-1946) am Münchner Karolinenplatz. Die Adelige rumänischer Herkunft residiert dort gemeinsam mit ihrem Mann, dem Verleger Hugo Bruckmann (1863-1941). Einmal wöchentlich haben sie in ihrem luxuriös eingerichteten Stadtpalais die Großkopferten aus dem gesamten deutschsprachigen Kulturbetrieb zu Gast. Die Eintrittskarte zu diesem elitären Club, wo sich strikt national gesinnte und nicht selten antisemitische Schriftsteller, Musiker, Visionäre und Welterklärer ein Stelldichein geben, löst Hitler am 3. Februar 1921. Das ist der Tag, als er zum ersten Mal bei einer Großveranstaltung im Zirkus Krone gegen die festgelegten deutschen Kriegsentschädigungen Stimmung macht. Seine langsam sich steigernden Hasstiraden bringen das vollbesetzte Zelt zum Kochen und begeistern auch die dort anwesende Frau Bruckmann. Fasziniert von dem „Unbekannten aus den Randbereichen der Gesellschaft"³ (B. Weyerer), tut sie fortan alles, um den demagogischen Hetzer mit den rechten Kreisen in Kontakt zu bringen.

    Einer von ihnen ist der ultrakonservative Uni-Historiker und Mitherausgeber der „Süddeutschen Monatshefte, Karl Alexander von Müller (1882-1964). Gemeinsam mit anderen Gelehrten soll Müller einigen auserwählten Soldaten in den Lehrsälen der Uni das weltanschauliche Rüstzeug vermitteln, das sie brauchen, um im nachrevolutionär gärenden München des Jahres 1919 als Reichswehrspitzel eingesetzt zu werden⁴. Nachhilfeunterricht ist auch dringend vonnöten, denn noch fremdelt Hitler im Umgang mit den Eliten, den damals schon insgeheim verhassten „Intelligenzlern. Doch Hitler versteht es geschickt, seine Aversionen zu verbergen, denn der Erfolg, das weiß er, ist nur möglich über die Eliten, und so darf auch er bald an den hochmögenden Salons im Hause Bruckmann teilnehmen.

    „Durch die offene Tür, schreibt Müller in seinen Memoiren, „sah man, wie er auf dem schmalen Gang die Gastgeberin fast unterwürfig höflich begrüßte, wie er Reitpeitsche, schließlich einen Gürtel mit Revolver abschnallte und gleichfalls am Kleiderhaken abhängte.

    ³ Benedict Weyerer, München 1919-1933; München 1993

    ⁴ A. Joachimsthaler, Korrektur einer Biographie Adolf Hitler 1908-1920; München 1989

    ⁵ Karl Alexander von Müller, Im Wandel einer Welt. Erinnerungen 1919-1932; München 1966

    Die Sprache der Gewaltmenschen

    In diesem „Salon Deutschland⁶ lernt der schwadronierende Parvenü schnell, die Zuhörer für sich zu gewinnen. Die Belange der „deutschen Arbeiter, deren Vertretung die NSDAP für sich reklamiert, sind in diesem Umfeld sowieso nicht wirklich von Interesse und können getrost vernachlässigt werden.

    Der „nationale Sozialismus jedoch, den die Partei ebenfalls in ihrem Namen proklamiert, ist durchaus geeignet, so potente und spendable Geldgeber wie den Musikalienhändler Edwin Bechstein (1895-1934) zu verprellen. Der Musikalienhändler aus Berlin ist Produzent des gleichnamigen Flügels; ein Markenartikel, den man auf der ganzen Welt schätzt und kennt. Gemeinsam mit seiner rührigen Ehefrau Helene (1876-1951) residiert Bechstein häufig in München. In der plüschigen Heimeligkeit ihrer Noble-Suite im „Bayerischen Hof empfangen sie Freunde und Geschäftspartner. Und bald auch den Emporkömmling Hitler, den sie immer wieder großzügig alimentieren. Der hinwiederum verabscheut zwar die Saturiertheit der bürgerlichen Kreise, aber ihr Geld kommt ihm gerade recht.

    Und weil er die Hand, die ihn füttert, nicht verbeißen darf, klärt er sie so beflissen wie wortreich über den Etikettenschwindel seiner Partei auf: Sein „Sozialismus meint nicht etwa die Verstaatlichung von Produktionsmitteln, sondern die streng hierarchisch angelegte „Volksgemeinschaft, die dem autoritären Obrigkeitsstaat aus der Kaiserzeit in nichts nachsteht. Das Millionenheer der Arbeiter, die man wie im alten Sparta als Heloten und gelegentliches Stimmvieh braucht, hat sich in Hitlers Staatsidee als willige „Gefolgschaft" zu begnügen.

    So geschehen am 2. Mai 1933, als die freien Gewerkschaften zerschlagen und die Arbeiter zwangsweise der Deutschen Arbeitsfront (DAF) einverleibt werden. Ein Zahnrad mit eingeschriebenem Hakenkreuz wird zum Sinnbild der neuen Zeit. Der klassenbewusste Arbeiter, das kämpferische Proletariat der „Systemzeit ist passé, an seine Stelle tritt der zupackende „Volksgenosse, der der Republik keine Träne nachweint und sein Heil im III. Reich sucht. Das Regime stellt Arbeiter-Bataillone für gleichsam pharaonische Bauprojekte auf; es geht aufwärts. Der Preis dafür ist hoch, denn das neue Reich, das die „Schmach von Versailles abschütteln will, setzt auf Krieg. „Räder müssen rollen für den Sieg…, heisst es dann ab 1941, als schwer beladene Rüstungszüge und mit Menschenfracht drangvoll bepackte Deportationszüge gen Osten rollen. Der zweite, heute nicht mehr bekannte Teil der damaligen Reichsbahn-Losung, muss heute wie blanker Hohn klingen: „(…) unnötige Reisen verlängern den Krieg".

    Der „Blitzkrieg, im Westen atemberaubend erfolgreich, geht im Osten gründlich schief. Die Sowjets, „der Iwan im deutschen Sprachgebrauch, mögen den Angriff auf ihre Heimat, auf „Mütterchen Russland", überhaupt nicht. Anfangs überrumpelt von der deutschen Wucht, vom Furor Teutonicus, erweisen sie sich bald als zäh und äußerst wehrhaft. Weil aber nach Vorstellungen der Nazis der neugermanische „Lebensraum im Osten liegt, werden immer mehr Rüstungsgüter in Richtung Ostfront auf die Schiene gebracht. Zugleich aber auch „Sternträger, die man zu Hundertausenden in ganz Europa zusammengetrieben hat. Die deutschen Todesmühlen des Ostens liefern das Knochenmehl, mit der die Okkupanten ihren neuen Siedlungsraum düngen…

    In der Heimat, in ihrem geheiligten Deutschland, wird die entmündigte Arbeiterschaft schon frühzeitig an die kriegerische Ausrichtung des Regimes gewöhnt. Die Arbeitswelt der Proletarier wandelt sich zur „Arbeitsfront, die dort schuftenden „Volksgenossen werden mit dem Prädikat „Arbeiter der Faust" geadelt.

    Die planenden Vorgesetzten in ihren Büros, so wie der sich stets arglos und ahnungslos gebende Albert Speer, bekommen ein vornehmeres Etikett als „Arbeiter der Stirn" verpasst.

    Fundamentale Errungenschaften der Arbeiterschaft wie Tarifautonomie, Streikrecht, 8-Stunden-Tag, Überbleibsel der 1918/19 brutal abgewürgten Revolution, werden suspendiert. Stattdessen nun massenhafte Indoktrination, in der Schule, in den Betrieben, überall in deutschen Amtsstuben, die das obligatorische Hitler-Porträt feilbieten; eine allgegenwärtige Aufforderung, hackenschlagend den „Deutschen Gruß zu entbieten. Auch in der karg gewordenen Freizeit, die überzeugte Parteigänger noch mit allerlei PR-Tätigkeiten füllen können – Aufmärsche, Umzüge, Fahnenweihen sind allenthalben Bestandteil des öffentlichen Lebens – wird noch ideologische Massensuggestion betrieben. Verdiente „Volksgenossen, die mit dem DAF-eigenen Reiseveranstalter „Kraft durch Freude (KdF) an die See oder in die Berge ausschwärmen dürfen, bleiben immer unter der Kuratel der allmächtigen Partei. Damit dieser Euphemismus vom „nationalen Sozialismus in der Praxis funktioniert, bei gleichzeitiger Effizienzsteigerung am Arbeitsplatz, wird der DAF ein neues Amt angegliedert: „Schönheit der Arbeit".

    Das anfangs noch recht kleine Amt – sein 1. Leiter ist kein geringerer als der später zum Generalbauinspektor (GBI) und „Rüstungszar" (Sereny) mutierte Albert Speer – funktioniert als eine Art Gewerbeaufsichtsamt, das die Bedingungen am Arbeitsplatz optimieren soll, angefangen bei den hygienischen Verhältnisse über die Ausstattung der Wohnbaracken bis hin zum dort verwendeten Kantinengeschirr. Design bestimmt das Bewußtsein.

    Während also die Arbeiterschaft schon von Anfang an und systematisch militarisiert wird, folgt die Uniformierung aller Altersstufen und Gesellschaftsschichten auf dem Fuß; in allen Untergliederungen der Partei wie auch des Staates. Kein Pimpf, kein Jungmädel, keine Frau, erst recht nicht die Männer, die fortan ohne eine Art von Uniform oder Uniformteilen auskommen. Wer noch keine komplette Uniform hat, darf oder muss als Ausweis seiner Funktion innerhalb der „Volksgemeinschaft" zumindest eine Armbinde, ein Tuch, eine Mütze tragen, eine Koppel oder eine Bluse; auch Anstecknadeln der Partei, von Staatsbeamten dezenter am Revers zu tragen, sind in diesem Sinne Zeichen der allgemeinen Gleichschaltung der Gesellschaft.

    Das Amt „Schönheit der Arbeit unter dem scheinbar so kulturvierten, stets zivilisiert gekleideten Albert Speer, ein „Pg. (Parteigenosse) mit aristokratischer Attitüde, will und soll die aggressive Grundausrichtung des Regimes verschleiern, indem die Umstände der nun allseits einsetzenden Schufterei, umgangssprachlich Vollbeschäftigung genannt, beinahe poetisch bemäntelt werden.

    Der Maschsee in Hannover ist so ein typisches Beispiel für das heute noch vielfach bewunderte „Arbeitsplatzwunder" der Nazis. Das von Oberbürgermeister Arthur Menge (1884-1965) und Stadtbaurat Karl Elkart (1880-1959) geförderte Projekt war lange zu teuer für die Stadt. Mit dem Machtantritt der Nazis wird der Bau nun propagandistisch dienstbar gemacht.

    Am 21. März 1934, dem reichsweiten „Großkampftag der Arbeitsschlacht, setzt OB Menge den ersten Spatenstich. Dann machen sich 100 Langzeit-Arbeitslose, deren Zahl später auf 1 650 steigt, ans Werk, das Seebecken auszuheben. Eine archaische Viecherei mit Hacke und Spaten; noch dazu haben die „Arbeiter der Faust das Werkzeug selbst mitzubringen. Nur für den Abtransport der gewaltigen Erdmassen werden von kleinen Loks gezogene Kipploren eingesetzt.

    Nach zwei Jahren sind 780 000 Kubikmeter Erde bewegt, der fertige See ist 78 Hektar groß (entspricht etwa 109 Fußballfeldern) und 2 Meter tief. Ein hartes Stück Handarbeit, dass dem modernsten Staat in Europa, der bereits Milliarden in die Wiederaufrüstung steckt, fast nichts kostet. Propagandistisch aber einen Riesengewinn einbringt, weil er die bis heute gern geglaubte Mär nährt, wie der „Führer" Arbeit schafft.

    Ein Spaten-Bataillon wie das in Hannover paradiert ein Jahr nach Fertigstellung des Maschsees vor dem „Duce Benito Mussolini (1883-1945), als der zur Einweihung der repräsentativen Zwillingsbauten am Königsplatz – „Führerbau und NSDAP-Hauptverwaltung – nach München eingeladen ist.

    „Schönheit der Arbeit – wer einen solchen Titel im Riefenstahl‘schen Sprachduktus⁷ erfindet, weiss, dass es die unter den obwaltenden Umständen genauso wenig gibt wie die Freiheit, die man sich durch Arbeit erlangt, wie es die zynische Losung an den Höllentoren der Konzentrationslager verheisst, „Arbeit macht frei.

    Dass auch die Chefs – im Nazi-Neusprech „Gefolgschaftsführer genannt – ebenfalls Mitglied in der DAF zu sein haben, können diese wohl leichter verkraften, denn im Führerstaat können sie nun nach Belieben heuern und feuern; viel leichter, als dies während der „Systemzeit der Weimarer Republik je möglich war.

    Die Peitsche des Regimes regiert immer mehr Bereiche der Gesellschaft, vor allem aber die gesamte Arbeitswelt. Das Hakenkreuz, so interpretiert es der geniale Collagen-Künstler John Heartfield (1891-1968), ist die Marter, an die man den werktätigen Menschen flicht.

    Dahinter steckt allerdings auch die ganze Tragik eines historischen Versagens, das schon am Vorabend der „Urkatastrophe von 1914 beginnt, als die zahlenmäßig mächtige, aber schlecht organisierte Arbeiterschaft einen trügerischen „Burgfrieden eingeht, anstatt auf das Hurra-patriotische Kriegsgetöse der imperialen Adelshäuser mit einem nachhaltig und gut organisierten Generalstreik zu reagieren. Allein die ungeprüft geglaubte Behauptung, der jeweilige Nationalstaat sei akut bedroht, lassen sich die Arbeiterparteien reihum in den Irrgarten nationaler Befindlichkeiten ziehen. Mit der naiv beschworenen Selbstvergewisserung, einen Krieg ohne Annektionen und Kontributionen zu führen, verweigert man sich der Einsicht, dass es den kriegführenden Herrscherhäusern und dem aufstrebenden Bürgertum in Wahrheit um nichts anderes geht, als die Weltmärkte neu aufzuteilen. Die vielbeschworene Internationale aller Werktätigen erweist sich im Nu als flüchtige Illusion.

    Als noch fataler erweist sich die Illusion, die keine zwanzig Jahre später an die Macht drängenden Nationalsozialisten irgendwie zähmen zu können. SPD und KPD können sich zu Beginn von Hitlers Kanzlerschaft nicht auf einen Generalstreik einigen, und die Nazis wissen nur zu gut, dass sie ihr eigentlich nicht mehrheitsfähiges System nur etablieren können, wenn sie ihre Machtmittel mit aller Brutalität ausspielen. Die Jahre 1933-34 zeugen davon.

    Die Peitsche regiert.

    ⁶ Wolfgang Martynkewicz, Salon Deutschland Geist und Macht 1900-1945; Berlin 2009

    ⁷ Leni Riefenstahl (1902-2003), in Berlin geborene Schauspielerin und Regisseurin mit einer unleugbaren Affinität zum NS-Regime, wird mit ihren Reichsparteitags- und Olympia-Filmen („Sieg des Glaubens, 1933; „Triumph des Willens, 1935; „Olympia – Fest der Völker und „Fest der Schönheit, beide 1938) zur wirkmächtigen Stil-Ikone desselben. Ein Stil, der heute von Leuten wie Mick Jagger und Martin Scorsese bewundert wird. Für „Tiefland (1940-45) hat Riefenstahl mehr als 100 Roma und Sinti aus den NS-Lagern Maxglan bei Salzburg und Berlin-Marzahn rekrutiert. Ihrer späterhin wiederholten Behauptung, ihren Komparsen sei nichts passiert, stehen die Recherchen der Dokumentarfilmerin Nina Gladitz entgegen. In „Zeit des Schweigens und der Dunkelheit, eine WDR-Produktion, kommen überlebende Komparsen zu Wort. Danach ist Riefenstahl die vereinbarte Gage schuldig geblieben, der größte Teil der Komparsen wurde nach Auschwitz deportiert. „Tiefland" kam 1954 in die deutschen Kinos und ist heute als DVD im Handel. Die Dokumentation von Nina Gladitz wurde 1982 im Fernsehen ausgestrahlt. Riefenstahl hat daraufhin gegen Gladitz geklagt und teilweise Recht bekommen. Der WDR hält Gladitz´Dokumentation seither unter Versch

    Warn Sie schon mal in mich verliebt

    Es ist schon verwunderlich, wieviel Hirnschmalz und Buchseiten eine renommierte Autorin wie Gitta Sereny aufwendet, um das romantisch aufgeladene Verhältnis der beiden NS-Verbrecher auszudeuten. Eins ums andere Mal pendelt sie das erotisch heikle Binnenverhältnis Hitler-Speer aus, als wären damit irgendwie historisch relevante Einsichten über den Hitler-Faschismus zu gewinnen. Dass die Ausbeute am Ende recht fadenscheinig bleibt, hindert Sereny keineswegs daran, immer und immer wieder davon anzufangen. Eine ermüdende Lektüre.

    Die naheliegende Erklärung dafür, was das wohl ist zwischen den beiden Nazi-Kerlen, will ihr partout nicht einfallen. Dass nämlich Hitler bekanntlich ein Mann war, dem es an vielem mangelte, vor allem an Empathie, der menschlichen Eigenschaft, Mitgefühl für andere zu empfinden. Auch Speer, sein so kultiviert erscheinender Gegenpol, mangelt es genau daran. Ein kalter Fisch, der in seinem Pendant Hitler identische Wesenszüge erkennt.

    Speer gesteht es der Autorin bei mehreren Gelegenheiten in diesem 860 Seiten dicken Schinken, der inhaltlich lange nicht vom Fleck kommt. Hier finden sich also zwei Charaktere zusammen, der junge Architekt und der Möchtegern-Baumeister des 3. Reichs, beide befangen in ihrer zutiefst erschreckenden Egomanie. Das wäre erst einmal nur klinisch interessant, wenn nicht die halbe Welt darunter zu leiden gehabt hätte.

    „In meinen Jahren als Architekt beherrschte mein Herz mich mehr als mein Verstand, gibt Speer seiner Interviewpartnerin zu Protokoll. „(…) Von Hitler die Chance zu bekommen, zu arbeiten – für ihn und für Deutschland – das war.Glück. Alles war …Gefühl, wissen Sie, fuhr er fort, „ein sehr tiefes und angenehmes Gefühl. Es war nicht so, daß ich diese Gefühle kategorisieren konnte, damals oder später. Galten sie vor allem dem Mann Hitler? Galten sie dem Land, Deutschland? Der Arbeit? Ich wußte es nicht, noch hatte ich, nehme ich an, das Bedürfnis oder den Wunsch, es zu wissen."

    Der sentimentale Gefühlsmensch Speer ist noch ganz konfus, welchen Gefühlen er den Vorzug geben soll: 34 Jahre nach Beginn seiner Tätigkeit als Generalbaurat im Dienst des „Führers", und auch zwölf Jahre nach Verbüßung seiner 20-jährigen Haft kriegt er seine Gefühle für Hitler immer noch nicht sortiert. Vielen Deutschen ist es nach dem Krieg so ergangen, nur dass die allermeisten eben nicht so weit aufgestiegen sind wie Speer, der seine damaligen Backfisch-Gefühle für einen um 15 Jahre älteren Mann immer noch nicht abstreifen kann.

    Eine schöne Zeit muss das gewesen sein, als das deutsche Volk gefühlsmäßig hinter ihrem Adolf stand, bereit zur Tat: „Es genügte, etwas zu fühlen; vor allem aber genügte es, etwas zu tun", zitiert Sereny ihren Interviewpartner.

    Und zu tun gibt es für einen wie Speer wahrlich genug. Das Parteitagsgelände in Nürnberg, ein Bauauftrag von babylonischen Ausmaßen, soll alle Dimensionen früherer Reiche aus antiken und vorantiken Zeiten noch bei weitem übertreffen. Allein das Stadion soll 400 000 Zuschauern Platz bieten, um dem jährlichen Großaufmarsch von Parteisoldaten beizuwohnen. Das Ganze eingerahmt von Riefenstahls Lichtdomen, wie in ihrem martialischen Reichsparteitags-Film von 1936 zu sehen. Eine fürwahr kühne Lichtregie, die nicht träumerisch nach den Sternen greift, sondern einen Vorgeschmack gibt auf die suchenden Lichtkanonen, die der deutschen Flak das Abschießen der alliierten Flieger ermöglichen soll.

    Letztlich ist von den überdimensionierten Plänen nur die Paradestraße und das „Marsfeld" realisiert worden, und schon diese Freiraumgestaltung wirkt, wie sie wirken soll, brutal überwältigend.

    Der Gefühlsmensch Speer aber kann für den architektonischen Gewaltakt reiche Ernte einfahren: Sein Entwurf wird auf der Pariser Weltausstellung von 1937 mit dem Grand Prix ausgezeichnet, für den ebenfalls von ihm entworfenen Deutschen Pavillon gibt es eine Goldmedaille.

    Solcherart geadelt, kann der von seinem stets zugeneigten Mentor gelenkte Architekt weitere Großtaten in Angriff nehmen. Als nächstes soll die Reichshauptstadt Berlin in die Metropole des künftigen Weltreiches verwandelt werden, die Kapitale soll dann den gleichsam schmetternden Namen Germania tragen.

    Eine gewaltige Nord-Süd-Achse wäre ohne Rücksicht auf die Anwohner quer durch das urbane Berlin geschlagen worden, ein zentral platzierter Triumphbogen hätte den bekannten Arc de Triomphe in Paris 49mal (!) aufnehmen können. Natürlich, wenn man verliebt ist, scheint alles möglich, und die Pläne – und sei es nur für ein wahnwitziges Wolkenkuckucksheim wie dieses - wachsen in den Himmel.

    Speer selbst scheint nie auf den Gedanken gekommen zu sein, dass all die hochfliegenden Pläne nur mit einem Krieg zu verwirklichen sind. Wie soll das neue Weltreich sonst zu erringen sein, wenn nicht mit Krieg? Wer soll Germania, das neue Rom, erbauen, wenn nicht Sklavenarbeiter aus den eroberten Gebieten?

    Außenstehende betrachten die Romanze zuweilen nüchterner. So Karl Hettlage⁸ (1902-1995), Professor für Verwaltungs-und Finanzrecht, und vom GBI Speer in sein Ministerium berufen, um die nötigen Mittel für das wahnwitzige Großprojekt aufzutreiben.

    Im Sommer 1938 beobachtet er Hitler und Speer, wie sie sich vor dem Modell von Germania ihren Träumereien hingeben. Nachdem Hitler gegangen ist, lässt er gegenüber Speer die denkwürdige Bemerkung fallen: „Wissen Sie, was Sie sind? Sie sind Hitlers unglückliche Liebe. Und Speer, dieser 44 Jahre später immer noch über beide Ohren Verliebte, offenbart im Interview mit Frau Sereny seine heillos verrutschte Gemütslage: „Und wissen Sie, was ich fühlte? Glück. Mein Gott! Glücklich fühlte ich mich.

    Es ist Frau Sereny ersichtlich nicht gut bekommen, über Jahre hinweg auf den tiefen Polstersesseln im Hause Speer zu verweilen, die vielen Teestunden mit Speers Ehefrau Margret, bei selbstgebackenem Kuchen wohlig-vertraut verplauscht zu haben.

    Das Schwinden der Distanz zum einschlägig vorbelasteten Interviewpartner schadet nicht nur dem Renommee, sondern am Ende auch dem Charakter. Mit „Am Abgrund: Gespräche mit dem Henker, 1974 im Original erschienen, 1995 auf Deutsch, hat Frau Sereny das eindeutig bessere Buch geschrieben. Ihr Interviewpartner für dieses Buch ist Franz Stangl (1908-1971), der als Kommandant von Sobibor (250 000 Tote) und Treblinka (900 000 Tote) zwei der drei Vernichtungslager der „Aktion Reinhard befehligt hat.

    Ähnlich wie Speer gibt sich Stangl alle erdenkliche Mühe, wie die Unschuld vom Lande zu erscheinen; ein kleiner harmloser Nazi, der von den gewaltigen Verbrechen in seinem unmittelbaren Verantwortungsbereich nichts mitbekommen haben will. Eine Taktik, die bei Sereny nicht verfängt, denn sie hat in Vorbereitung auf die Interviews mit Stangl umfangreiche Recherchen angestellt und ist auch auf geläufige Ausflüchte ehemaliger Nazis bestens präpariert. Warum ihr das alles bei dem nicht weniger belasteten Speer gerade nicht gelingt, ist ein nicht zu lösendes Rätsel.

    Das beste Buch zu dem Thema hat sie jedoch nie geschrieben, nämlich das Leben und Leiden auch nur eines der zahlreichen Opfer genauso penibel zu recherchieren, wie sie das in Bezug auf die romantisch verbandelten Nazi-Verbrecher Hitler & Speer für nötig hält.

    Heinrich Breloer (*1942), bekannt für kunsthandwerklich veredelte TV-Produktionen („Buddenbrooks, „Die Manns – Ein Jahrhundertroman), fühlt sich 2005 ebenfalls bemüßigt, die zarten Bande zwischen Hitler und Speer zu thematisieren. Herausgekommen ist ein gebührenfinanzierter Dreiteiler, der über 4 Stunden 30 Minuten den Bildungsauftrag der Öffentlich-Rechtlichen außer Vollzug setzt: Demnach ist Hitler, in Wahrheit ein begnadeter Visionär in Sachen Architektur, und Speer, ein allzu gutgläubiger Parteigenosse, der seinem Herrn und Gebieter immer gern zu Willen ist. So weit, so bekannt.

    Peinlich und überlang werden dann die privatimen Schäferstündchen inszeniert, wo die zwei Verliebten umeinander rumscharwenzeln, nur kurze, verschämte Blicke riskieren wie zwei schwer Pubertierende. Bedeutungsvoll anmutende, aber völlig inhaltsleere Pausen entstehen, doch schließlich kann sich keiner der beiden dazu durchringen, den wohl beiderseits erhofften Vollzug dieser heillos verkorksten Amor fou in die Gänge zu bringen. Man würde es auch nicht sehen wollen, aber es bleibt festzustellen: Schauspieler Tobias Moretti ist nicht Hitler, sein Counterpart Sebastian Koch ist nicht Speer, und Heinrich Breloer ist nicht der Regisseur für solche Sachen. Aber warum soll nicht auch die ARD ihren Guido Knopp haben?

    Breloer, der Mann mit einer Vorliebe für deutsche Befindlichkeiten, ist gewiss ein Unikum, das allerdings immer gleich bissig wird, sobald sich nur die leiseste Kritik an seiner Arbeit erhebt. Sein Lieblingsargument, wenn es gilt, seinen Kritikern über den Mund zu fahren, ist das, dass er für die jeweils zur Disposition stehende Produktion Recherchen getrieben habe wie noch keiner vor ihm.

    Nun kann man getrost davon ausgehen, dass auch andere Regisseure für ihre Filme recherchieren. Und das einer seine Arbeit tut, ist per se noch kein Qualitätsurteil. Es kommt auch nicht auf die schiere Menge an, sondern auf die Auswahl, die schließlich im Film sichtbar wird. Breloer jedoch will immer der Primus inter Pares sein, auch wenn er dabei, wie meistens in den Interviews, wenn nicht genehme Fragen gestellt werden, gern divenhaft reagiert.

    Da möchte man sogleich, um den Zumutungen eines solchen Zeitgenossen zu entgehen, eine schöne Schellack-Platte von Max Hansen (1897-1961) auflegen:

    (…)

    Hitler und der Sigi Cohn

    kennen sich seit Jahren schon,

    eines Tages geh’n sie aus,

    miteinand’ ins Hofbräuhaus.

    Doch schon nach der fünften Mass,

    werden Hitlers Augen nass,

    er umarmt den Sigi Cohn

    und stottert blass:

    Warst Du schon mal in mich verliebt,

    das ist das Schönste, was es gibt,

    hast Du schon mal von mir geträumt,

    da haste wirklich nichts versäumt.

    Ich bin nicht groß, ich bin ganz klein,

    ich paß grad so nach München rein,

    ich bin nicht dumm, ich bin nicht g’scheit,

    am grössten Dreck hab ich mei Freud,

    die Freundschaft kannst Du ruhig riskier’n,

    denn unter uns g’sagt;

    ich hab nichts mehr zu verliern.

    (Max Hansen: War´n Sie schon mal in mich verliebt; 1928)

    In den Goldenen Zwanzigern ist Max Hansen ein umtriebiger Bühnenkünstler, als Kabarettist, als Schauspieler und vor allem als Operettensänger. Hansen ist der einzige Sohn der dänischen Sängerin Elly Haller (1873-1930) und des jüdisch-ungarischen Schauspielers Josef Walder; eine eher kurze Liaison. Die Engagements der Mutter machen es immer wieder nötig, den kleinen Max in Pflege zu geben, so kommt er unversehens nach München, spricht bald fließend Boarisch und wird ein richtiges „Münchner Kindl".

    Der Bub singt begeistert im Opernchor und wird bereits in jungen Jahren für die „Künstlerkneipe Simplicissimus entdeckt, dem schlagenden Herz der Schwabinger Bohème, wo aufstrebende Talente immer eine Chance haben. Flugs von einem Agenten unter Vertrag genommen, wechselt er nach Berlin und tritt im führenden Variété der Stadt, dem „Wintergarten, als „Kleiner Caruso auf. Schlag auf Schlag erfolgen weitere Engagements: In Wien spielt Hansen in Kálmáns „Gräfin Mariza, vor allem aber in dem außerordentlich populären Singspiel „Im weißen Rössl" von Ralph Benatzky; mit mehr als 3 000 Vorstellungen ein echter Kassenschlager seiner Zeit.

    Ab 1925 dreht er zahlreiche Filme, nimmt Schallplatten auf und tritt regelmäßig im „Kabarett der Komiker auf, das er zusammen mit Bühnenkollegen begründet hat. „In Berlin, kann man in einer Bühnenzeitschrift lesen, „gibt es vier Klassen arbeitender Menschen. Solche, die nichts zu tun haben, solche, die viel zu tun haben, dann die, die sehr viel zu tun haben, und viertens Max Hansen."

    Der so treffend charakterisierte Multitasker Hansen verläßt 1934 Nazi-Deutschland; seine Herkunft als „Halbjude", mehr noch seine frechen Parodien auf Hitler und den Rassenwahn bringen ihn ernsthaft in Gefahr. Nach Jahren des Tingelns durch das nicht von Nazi-Deutschland besetzte Europa emigriert er 1938 in das bis dahin unbekannte Heimatland Dänemark, das zwei Jahre später von den so tödlich-humorlosen Nazis okkupiert wird.

    Von der NS-„Reichsanstalt für Sippenforschung einvernommen, kann er glaubhaft machen, dass er kein Jude, sondern der Sohn eines verarmten Barons wäre. Der Baron, nicht ganz uneigennützig, beglaubigt diesen gewagten Schwindel, so dass Hansen tatsächlich damit durchkommt. Dänemark ist übrigens das einzige Land in Europa, wo die nichtjüdischen Bewohner die meisten ihrer jüdischen Mitbürger, ca. 8 000 Personen, durch nächtlichen „Export mittels Fischerbooten in das neutrale Schweden vor der Vernichtung retten können. Wo sie sichtbar wird, kann Zivilcourage gleichzeitig etwas sehr Beschämendes haben.

    Nach dem Krieg kann Hansen, der „Maurice Chevalier des Nordens", wie er nun genannt wird, an seine alten Bühnenerfolge anschließen, reist wieder viel auf Tourneen und leitet zeitweilig das Tivoli-Theater in Kopenhagen. In einer TV-Dokumentation erinnert der Schweizer Filmemacher Douglas Wolfsperger¹⁰ an diesen großen, heute fast vergessenen Unterhaltungsstar der Weimarer Republik.

    ⁸ Hettlage ist beileibe kein Chorknabe. Als Stadtkämmerer von Berlin ist ihm sehr daran gelegen, die in der geplanten Achse liegenden Judenwohnungen durch rasche „Entmietung freizubekommen. Sein Hauptamt II erstellt die Listen der gut 20 000 Bewohner, die vertrieben und deportiert werden sollen. In Speers Rüstungsministerium ist Hettlage Abteilungsleiter der „Rüstungskontor GmbH und somit direkt verantwortlich für die Gründung und Fertigstellung des KZ „Dora Mittelbau, einem Außenlager des KZ Buchenwald. Die unter Tage in Bergwerksstollen schuftenden Häftlinge produzieren unter erbärmlichsten Bedingungen Hitlers „Wunderwaffe, die Vergeltungswaffe „V2". Von 60 000 Häftlingen kommen etwa 20 000 ums Leben. Nach ´45 ist Hettlage wieder dabei, als Adenauer neben Globke noch andere verdiente Nazis in sein Kabinett holt. Hettlage wird u.a. Staatssekretär im Bundesfinanzministerium.

    ⁹ Serenyi, Das Ringen mit der Wahrheit; a.a.O.

    ¹⁰ Douglas Wolfsperger, „War´n Sie schon mal in mich verliebt?"; D/A 2005, 89Min. s.a.: Alexander Kluy, Jüdisches München; Österreich 2009 Marie-Theres Arnbom, War´n Sie schon mal in mich verliebt?; Wien Köln Weimar 2006

    httns://www.lexm.uni-hamburg.de/obiect/lexmlexmperson 00003107

    www.steffi-line.de/archiv_text/nost_buehne/07h_hansen_max.htm

    Nachtrag zur Causa Speer: Er, Er und Er

    In seiner Autobiografie „Mein Leben" schildert der langjährige Literaturkritiker der FAZ, Marcel Reich-Ranicki (1920-2013)¹¹, eine schauerliche Episode aus dem unzulänglich entnazifizierten Geisterhaus Deutschland.

    Der Anlass ist eher profan, das Erscheinen der Hitler-Monographie von Joachim C. Fest 1973, das der Verleger Wolf Jobst Siedler mit einem großen Fest in seiner Villa feiert. Zu den geladenen Gästen gehören auch MRR und seine Frau Tosia (1920-2011); beide sind Überlebende des Warschauer Ghettos. „Wir waren in bester Laune", schreibt Ranicki, „als wir, kaum in der Diele der geräumigen und vornehmen Wohnung angelangt, durch die offene Tür in eines der Zimmer blickten und dort etwas sahen, was uns beinahe den Atem verschlug: Einige Personen unterhielten sich sehr angeregt mit einem im Mittelpunkt stehenden, ansehnlichen und korrekt in einen dunklen Anzug gekleideten Herrn, wohl Ende Sechzig. Der Hausherr bemühte sich um ihn äußerst höflich, wenn nicht ehrerbietig. Allem Anschein nach war nicht Fest an diesem Abend der Ehrengast, sondern der durchaus sympathisch anmutende, gesetzte Herr.

    (…) Siedler kam auf uns zu und geleitete uns, höflich und zugleich energisch, zu dem Ehrengast, der uns jetzt zwei oder drei Schritte entgegenkam. Er begrüßte uns wie alte Freunde, ja, so war es, er begrüßte uns geradezu herzlich.

    Dieser dezente Herr war ein Verbrecher, einer der schrecklichsten Kriegsverbrecher in der Geschichte Deutschlands. Er hatte den Tod unzähliger Menschen verschuldet. Noch unlängst hatte er zu den engsten Mitarbeitern und Vertrauten Adolf Hitlers gehört. Er war vom Internationalen Militärtribunal in Nürnberg zu zwanzig Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die Rede ist von Albert Speer."

    Fest und Siedler, die mit Speer seit dessen Entlassung aus Spandau in Kontakt stehen, haben keine Skrupel, als Kronzeugen für die Deutung der verbrecherischen Ereignisse einen der Haupttäter in ihre Mitte zu nehmen. Eine wahrhaft surreale Situation: Der Mörder, jetzt wieder frei und dank eines mit Vorschüssen nicht geizenden Verlegers im wohlsituierten Ruhestand, im Small-Talk mit ein paar Überlebenden, die wie nur wenige das Glück hatten, der längst beschlossenen Vernichtung zu entgehen.

    Wem sie allerdings nicht entgehen können, ist Speer und seine leutselige Klebrigkeit: „(…) was immer ich äußerte, Speer nickte mir zustimmend und freundlich zu, als wollte er sagen: Der jüdische Mitbürger hat recht, der jüdische Mitbürger sei willkommen", so Reich-Ranicki in seinen Erinnerungen.

    Das Buch, das an diesem Abend gefeiert wird, ruht auf einer Samtdecke. Es ist beinahe wie im Gottesdienst, wo die Hl. Schrift auf einem Pult zur Lesung bereitliegt. Der Verleger mag daran gedacht haben, ein neues „Buch der Deutschen kreiert zu haben. „Auf dem schwarzen Umschlag, so Reich-Ranicki, „war mit großen weißen Buchstaben der lapidare Titel gedruckt: Hitler. Was diese Ausstattung des Buches suggerieren sollte, worauf hier mit Entschiedenheit Anspruch erhoben wurde, konnte man nicht verkennen: Pathos war es und Monumentalität. Speer sah es offensichtlich mit Genugtuung. Verschmitzt lächelnd blickte er auf das feierlich aufgebahrte Buch und sagte bedächtig und mit Nachdruck: „Er wäre zufrieden gewesen, ihm hätte es gefallen."¹²

    Das Buch hätte ihm gefallen, das kann man wohl ganz ohne Abstriche sagen. Sakral-pompös in der Aufmachung, bleibt das Buch brav und bieder am Gegenstand, schürft selten mal in die Tiefe, hält sich in jeder Hinsicht vornehm zurück. Die Fleißarbeit eines nur mäßig inspirierten Historikers, der Hitler tatsächlich für historisch hält, also abgelegt. Ein Buch für alle, die am liebsten einen Schlussstrich ziehen wollen. Da das aber nun mal nicht möglich ist, nimmt man halt Fests weichgespülte Hitler-Fama; ein Buch, das wenig erklärt und niemandem weh tut. Macht sich gut im Regal, aber man braucht es nicht wirklich. Die Fakten stimmen, sofern sie Erwähnung finden, die stoffliche Aufbereitung dagegen ist unendlich fad. Und genau aus diesem Grund ist das Buch so ungeheuer erfolgreich, bis heute übrigens. Allein bis 2006 wurden 800 000 Exemplare verkauft, liest man. Die Millionengrenze dürfte mittlerweile wohl längst überschritten sein.

    Alles, was man über Hitler und den Nationalsozialismus wirklich wissen muss, findet man nicht bei Fest. Dazu müsste man schon die Bücher von Konrad Heiden (1901-1966) oder die unvollendet gebliebene Biografie von Rudolf Olden (1885-1940)¹³ aus dem Jahr 1935 zur Hand nehmen.

    Der gebürtige Münchner Heiden, Journalist und Zeitzeuge, hat sich sehr intensiv und kenntnisreich mit dem aufkommenden Hitler-Faschismus auseinandergesetzt. Heiden hat die Gefährlichkeit der Nazis frühzeitig erkannt und leidenschaftlich dagegen angeschrieben. 1933 muss er ins Schweizer Exil fliehen, denkt aber nicht daran, seine Beschäftigung mit dem deutschen Faschismus aufzugeben. Unter Pseudonym erscheint 1934 sein Bericht über den innerparteilichen Putsch, der die SA enthauptet und die SS nach oben bringt, bekannt als „Röhm-Putsch, unter dem Titel „Hitler rast.

    1936 und 1937 erscheinen die beiden Bände seiner Hitler-Biografie im Züricher Europa Verlag. Gerade mal 46 500 Exemplare¹⁴ werden davon verkauft, aber im inhaltlichen Vergleich mit Fest muss man sagen: was Heiden an Substanz und Detailwissen aufbietet, verkommt bei Fest zu leicht konsumierbarem Trash.¹⁵

    Durch Ausbürgerung staatenlos geworden, verschlägt es Heiden nach Paris, wo man ihn als „unerwünschten Ausländer interniert. Schließlich kann er in die USA emigrieren. Sein Buch über den Novemberpogrom 1938 erscheint im Jahr darauf bei Starling Press, New York, auf Deutsch erst im Jahr 2013. Bisher nicht auf Deutsch erschienen ist sein 1944 publiziertes Buch „Der Führer – Hitler´s Rise to Power.

    Interessant ist eine Charakterisierung, die MRR in Bezug auf die skandalöse Buch-Premiere im Hause des Verlegers Wolf Jobst Siedler abliefert: Der Gemeinte sei ein Mensch, „dessen Ichbezogenheit und Eigenliebe in Selbstsucht, bisweilen sogar in Hartherzigkeit übergehen und häufig den Mangel an tieferem Interesse für andere Menschen zur Folge haben kann. „Eine kühle Aura umgibt seine Person, eine Schutzschicht, auf die er offenbar angewiesen ist. Da er sie braucht, ist er auf sie stolz. Hat das mit Zynismus zu tun? Ich habe [ihn] nie gefragt, ob er sich für einen Zyniker halte. Nur habe ich den Verdacht, daß von allen Vorwürfen, die man gegen ihn erheben könnte, dieser ihm der allerliebste wäre.¹⁶

    Wen MRR hier meint? Hitler? Speer? Beides falsch, gemeint ist der Speer- und Hitler-Biograf Joachim C. Fest (1926-2006). Man mag sich fragen, wie sehr die egomanische Weltsicht Hitlers wie auch Speers mit der ihres Biografen korrespondiert.

    ¹¹ Marcel Reich-Ranicki, Mein Leben; Stuttgart 1999

    ¹² Reich-Ranicki, Mein Leben; a.a.O.

    ¹³ Rudolf Olden, Hitler; Amsterdam 1935/Hildesheim 1981 (Reprint)

    ¹⁴ Angaben nach: Peter Stahlberger, Der Züricher Verleger Emil Oprecht und die deutsche politische Emigration 1933-1945; Zürich 1970

    ¹⁵ Joachim C. Fest, Hitler; Frankfurt/M Berlin Wien 1973

    ¹⁶ Reich-Ranicki, Mein Leben; a.a.O.

    Vaterländische Schulungskurse

    Hitlers eigenwilliger Verkleidungsstil neben dem täglichen Kasernenflanell in Feldgrau datiert aus dem Sommer 1919, als er von seinem Vorgesetzten, dem Hauptmann Karl Mayr (1883-1945), abkommandiert wird, an einer weltanschaulichen Rednerschulung wie oben beschrieben teilzunehmen.

    Angesichts der anhaltend aufgeheizten Stimmung in München, wo zahlreiche Uniform- und Waffenträger aus den Vereinigten Vaterländischen Verbänden, „alldeutschen" Zusammenschlüssen und straff militärisch geführten Kampfbünden das Stadtleben beherrschen, wäre ein ziviles Gegensteuern dringend vonnöten. Aber die bayerische Landesregierung unter dem BVP-Politiker Eugen von Knilling (1865-1927) setzt auf eine scharfe Konfrontation mit Berlin, auf eine Abkehr von der Republik, die noch kaum gedeiht und schon den geballten Hass aller Demokratiefeinde auf sich zieht.

    Als dann Knilling und sein Kabinett als gedachte Notstandsmaßnahme die Regierungsgeschäfte auf einen bayerischen Diktator übertragen, den mit allen Vollmachten ausgestatteten Generalstaatskommissar Gustav von Kahr (1862-1934), scheint sich im verbissenen Ringen zwischen Bayern und dem Reich ein Bürgerkrieg anzukündigen.

    Befeuert von einem kleinen, aber sehr umtriebigen Teil der alten Eliten, formiert sich etwa die „Thule-Gesellschaft, ein „germanischer Freimaurerorden (Oskar Maria Graf¹⁷) im Zeichen der Swastika, des Hakenkreuzes. Die „Thule", ein Sammelbecken für Adelige, Offiziere und rechtsradikale Publizisten, kann sich auf ein weitgespanntes Netzwerk stützen, das es ihr erlaubt, mit dem Geld ihrer hochmögenden Klientel illegale Waffenkäufe zu tätigen. Gebunkert in geheimen Depots, von denen auch das nahegelegene St.-Anna-Kloster im Stadtteil Lehel eines hat, warten sie auf ihren Einsatz am Tag X, wenn Bayern gegen das Reich zu Felde zieht.

    Mag auch die „Thule" der legendären Freimaurer-Loge ähneln, so agiert sie nicht im Verborgenen, sondern ganz ungeniert und offen. Ihren Sitz hat sie im noblen Hotel Vierjahreszeiten, mitten in der feinen Maximilianstraße gelegen. Wer sie dort aufsucht, wird in einen Saal geleitet, der dem Stil nach an eine Tafelrunde gemahnt. Hinter jedem Stuhl ist fein säuberlich ein Hakenkreuz an die Wände gemalt.

    Derweil ist Generalmajor Arnold von Möhl (1867-1944), der schon die blutige und sehr brutale Niederwerfung der Münchner Räterepublik zu verantworten hat, von der brennenden Sorge getrieben, „daß von spartaktistischer Seite neuerlich Propaganda innerhalb der Kasernen versucht und organisiert wird."

    Eine reine Schutzbehauptung, denn „Spartakisten, wie sie in der USPD, teils sogar bei den Mehrheitssozialisten der MSPD sowie in der jungen und vergleichsweisen mitgliederschwachen KPD zu finden sind, sind beim Kampf um München entweder erschlagen und/oder erschossen worden (Gustav Landauer, Rudolf Egelhofer), sitzen in übervollen Gefängnissen (Erich Mühsam; 15 Jahre Festungshaft) oder sind, „Wegen Hochverrats, zur hochdotierten Fahndung ausgeschrieben. 10 000 Mark hat man seinerzeit für die Ergreifung von Ernst Toller ausgelobt, für den Spartakusbund-Gründer Max Levien sollte es gar ein Kopfgeld 30 000 Mark geben.

    Toller wird gefasst, Levien kann entfliehen, dennoch soll die Propagandatätigkeit bei den Truppen nun massiv verstärkt werden, um ein noch immer mögliches Aufbegehren gegen die Restauration der alten Verhältnisse wirksam zu unterbinden.¹⁸ Hauptmann Karl Mayr wird angewiesen, unter seinen Soldaten geeignete Anwärter zu finden und sie einer entsprechenden Schulung zuzuführen.

    Sein bester Mann für diese anspruchsvolle Aufgabe ist der ehemalige Kriegsfreiwillige Adolf Hitler, der Mann, der sich nach dem verlorenen Krieg partout nicht demobilisieren lassen will und deswegen mit immer neuen Missionen betraut werden muss.

    Nach vier Jahren als Meldegänger im französisch-belgischen Grenzgebiet nahe Ypern, einem vergleichsweise kommoden Druckposten für einen wie Hitler, der sonst wohl nicht überlebt hätte, nah bei den „Stabsunterkünften und ihren Fleischtöpfen (so Stefan Ernsting, Biograf von Hitlers Kriegskamerad, Alexander Moritz Frey), endet der Krieg für Hitler in einem Militärlazarett im ostpommerschen Pasewalk. Dort wird der gasblinde Hysteriker – der vielleicht auch nur aufgrund seiner Hysterie mit Blindheit geschlagen ist, wie der Schriftsteller Ernst Weiß in seinem Roman „Der Augenzeuge¹⁹ mutmaßt - per Hypnose kuriert und nach Hause entlassen. Nach dem Heimatstandort München, müsste man wohl richtiger Weise sagen, denn nach Österreich will der Postkarten- und Architekturmaler partout nicht zurück.

    „Er hatte keine Familie, lässt Weiß den Arzt in seiner geisterhaften Hitler-Fantasie sinnieren. „Er war Soldat, Soldat, Soldat und sonst nichts.

    1913, das wiederum ist verbürgt, hat Hitler sich gemeinsam mit Rudolf Häusler, einem Freund aus dem Männerwohnheim Meldemannstraße im 20. Wiener Bezirk, aus Österreich abgesetzt. Die beiden wollen dem dortigen Militärdienst entgehen, wohl wissend, dass die Rekruten in Österreich schlimmer geschleift werden als im gemütlicheren Bayern.

    Natürlich müssen diese doch eher profanen Gründe später vergoldet werden: „Dazu aber kam noch die innere Liebe, schildert Hitler seine [im Datum falsch wiedergegebene] Ankunft in München, „die mich zu dieser Stadt mehr als zu einem anderen mir bekannten Orte fast schon von der ersten Stunde meines Aufenthalts erfaßte. Eine deutsche Stadt!! [Gesperrt im Original] Welch ein Unterschied gegen Wien! Mir wurde schlecht, wenn ich an dieses Rassenbabylon auch nur zurückdachte, heisst es später in „Mein Kampf.

    Doch die Heimatbehörden, die immerhin einen gültigen Gestellungsbefehl zu vollziehen haben, und dieses nach einem österreichisch-bayerischen Abkommen auch im grenznahen Nachbargebiet tun dürfen, stöbern ihn alsbald in München auf, so dass ihm, wie in späteren Jahren noch mehrmals, die Auslieferung nach dem verhassten Vaterland droht.

    Nach ein paar Scharmützeln mit den Behörden kommt zum Glück der Krieg von 1914-18 dazwischen. Hitler darf sein haltloses Streunerdasein beenden und bei den bayerischen Truppen einrücken. Melodramatisch aufgebauscht, wird daraus in „Mein Kampf der vielzitierte Passus: Ich schäme mich auch heute nicht, es zu sagen, daß ich, überwältigt von stürmischer Begeisterung, in die Knie gesunken war und dem Himmel aus übervollem Herzen dankte, daß er mir das Glück geschenkt, in dieser Zeit leben zu dürfen."²⁰

    Im Jahre 2001 bildet der italienische Künstler Maurizio Cattelan (*1960) diesen gewiss weltbewegenden Moment im zurechtgerückten Maßstab nach, indem er eine knabenhaft schmale Figur mit dem Antlitz Hitlers, demutsvoll knieend, fromm betend gen Himmel blicken lässt.

    Die Peitsche ist noch nicht dabei.

    Unter der Objektbezeichnung HIM²¹ wird die Figur 2003 in Hitlers früherem Kunsttempel am Englischen Garten, dem Haus der Deutschen Kunst, heute Haus der Kunst, gezeigt. Die Figur kniet auf dem nackten Boden, ohne Podest, ohne Vitrine, ohne Verbindung zu einem anderen Objekt im Raum. Es wäre ein Leichtes, sie beiseite zu schieben oder zu überrennen. Das ist aber schon dem echten Hitler nicht passiert. Im Gegenteil, dank einer gläubigen Gefolgschaft mandelt sich der früh vergreiste Wicht zu einem Sendboten der Vorsehung auf. Dass ihr mich gefunden habt!, hält der „Führer" seinen Jüngern vor. Soll heißen: Ihr habt mich zu dem gemacht, der ich geworden bin. Diese Schuld werdet ihr in tausend Jahren nicht los.

    Die provokante Plastik Cattelans ist zugleich ein köstlicher Gegenentwurf zu dem Ölgemälde von Hubert Lanzinger (1880-1950), Der Bannerträger, das im Eröffnungsjahr 1937 im Rahmen der Großen Deutschen Kunstausstellung im Haus der Deutschen Kunst zu sehen ist. Das grimmig-martialische Werk zeigt einen bis übers Kinn in einer schimmernden Wehr steckenden Hitler, der, den Blick finster gen Westen gerichtet und schier unerschütterlich in seinem Habitus, ein segelartig aufgespanntes Hakenkreuzbanner trägt.

    In den 1 000 Jahren des Dritten Reichs ist Lanzingers „Büchsen-Adolf" ein allseits beliebtes Motiv und wird massenhaft reproduziert. Cattelans freche Replik wird 2016 bei Christie´s für den stolzen Preis von 17,2 Mio. Dollar versteigert.

    ¹⁷ Oskar Maria Graf, Gelächter von außen; München 1980

    ¹⁸ Michael Schattenhofer (Hrsg.), Revolution und Räteherrschaft in München; München 1968

    ¹⁹ Ernst Weiß, Der Augenzeuge; Berlin und Weimar 1973

    ²⁰ Adolf Hitler, Mein Kampf, Band 1; München 1925

    ²¹ Maurizio Cattelan, HIM; 2001

    Lehre auf dem Feld der Ehre

    Auch ein weiteres, gern verwendetes Hitler-Zitat, stammt aus „Mein Kampf", der pathetisch überhöhte Beschluss, Politiker zu werden. Dieser bezieht sich bekanntermaßen auf die erzwungene Abdankung Wilhelms II. am 9. November 1918, von der Hitler in Pasewalk erfährt. Aber noch ist Hitler nicht der GröFaZ²² und überhaupt noch meilenweit davon entfernt, irgendetwas zu werden. Noch muss er, wie so häufig in seinem kaum 30-jährigen Leben, wie ein das Wild fürchtender Hund zur Jagd getragen bzw. geschubst werden. „Der Kriegsfreiwillige A.H., wie er in Ernst Weiß´ erstaunlich genauen Hitler-Fantasie heisst, wird „Gefreiter des bayerischen Regimentes List, Ordonnanz beim Regimentsstab. Nach einem englischen Gasangriff in der letzten Ypern-Schlacht findet er sich in Pasewalk wieder, allerdings nicht als leise wimmernder Patient, sondern, wie Weiß einen Sanitätsoffizier sagen lässt, „als einen ewigen Störenfried, einen fanatischen Aufwiegler, Rädelsführer, Querulanten (…), den man disziplinarisch bestrafen müsse."²³

    Auch der Münchner Schriftsteller Alexander Moritz Frey (1881-1957), der tatsächlich mit Hitler im List-Regiment dient, kann den merkwürdigen Fanatismus des Kameraden bezeugen:

    Ich tat Dienst auf dem Verbandplatz Fromelles, in den Kellern einer zusammengeschossenen Ferme²⁴, vor Lille. Täglich bescherten uns die Engländer „den Abendsegen; das heißt, aus Langrohren von weither kamen fast auf die Minute drei Schüsse. Drei Granaten explodierten in den ohnehin zermalmten Dorfresten. Wir wußten das und verkrochen uns beizeiten. Eines Abends [im Herbst 1915,] kam [der Meldegänger A.H.] ein bleicher, langer Mensch nach der ersten Granate hinuntergestürzt. [Angst und Wut in den flackernden Augen.] Ein voller Schnurbart, der später der neuen Gasmaske wegen gekappt werden musste, verdeckte noch den hässlichen, meist verkrampften Schlitz des Mundes. (…) Sein gelbes Gesicht rötete sich, er hatte etwas von einem kollernden Puter, als er nun gegen die Engländer loslegte."²⁵

    Nicht Charlie Chaplin, der 1915 eine Reihe klassisch gewordener Kurzfilme wie „Der Champion dreht, war also Vorbild für den zurechtgestutzten Zweifinger-Schnauz, sondern eine nicht passende Gasmaske. Gasblind und mit verbundenen Augen, ein hässliches Bart-Karree unter der Nase, ist Hitler der Kloake des 1. Weltkriegs entstiegen. Nichts will er lieber, als den Revanchekrieg gegen Frankreich führen, die „Schmach von Versailles tilgen und die erbarmungslose Abrechnung mit den Juden. Dagegen steht der tröstliche Humanismus des großen Komikers Chaplin.

    Wenn man den Tagebucheintrag von Klaus Mann (1906-1949) liest, den dieser nach einer zufälligen Begegnung mit Hitler im Münchner Hotel Carlton unter dem 14. Juli 1932 notiert, kann einem noch eine andere Assoziation kommen:

    „Direkt am Nebentisch: Adolf Hitler, in blödester Gesellschaft. Seine geradezu auffallende Minderwertigkeit. Äusserst unbegabt; die Faszination, die er übt, grösste Blamage der Historie; gewisser sexualpathologischer Einschlag kann nicht alles erklären."²⁶

    Was allerdings auffällt sind gewisse Ähnlichkeiten, die Hitler mit dem als „Werwolf von Hannover" bekannt gewordenen Lustmörder Fritz Haarmann (1879-1925) aufweist. Der gleiche, verschlagen-kalte Blick aus einem teigig-runden Gesicht, der gleiche auf ein Viereck gestutzte Bart. Dass Hitler wie Haarmann ein durch und durch pathologischer Charakter war, darf als gesichert angenommen werden.

    Interessanter sind allerdings die Ähnlichkeiten in der Vita der beiden Männer: Haarmann dient der Polizei von Hannover ab 1918 als Spitzel. Im Jahr darauf verdingt sich Hitler in München als Reichswehr-Spitzel. Beide haben mächtige Beschützer, die ihr Treiben wohlwollend beobachten. Hitlers Sympathisanten finden sich in den höchsten Kreisen der bayerischen Justiz, bei der Polizei und bei der Reichswehrführung des Landes. Ähnlich wie Hitler führt Haarmann ein weitgehend regelloses Unterschichten-Dasein, das nicht von tagtäglicher Arbeitsroutine und kleinbürgerlichen Glücksvorstellungen bestimmt ist. Wie Hitler ist Haarmann ist ein Gelegenheitsmensch, der mit dem Verkauf von Gebrauchtkleidung gerade genug zum Überleben verdient. Und während Hitler seinen wahnwitzingen Welterlösungs-Phantasien nachjagt, ist es dem ebenso bieder wirkenden Haarmann um die Befriedigung eines mächtig drängenden Geschlechtstriebes zu tun.

    Dabei ist die Inbesitznahme des männlichen Körpers eine Grundvoraussetzung, damit ihr Sinnen und Trachten, so unterschiedlich es auch ausgerichtet ist, zur Erfüllung kommt. Hitler braucht eine gewaltige Armee, um die Welt zu erobern, also muss er entsprechend viele Männer in Uniform stecken. Seine Armee wird im Krieg immer jünger, bis mit dem letzten Aufgebot Kinder und Jugendliche den „Endsieg" erringen sollen. Jung und immer jünger sind auch die Gespielen Haarmanns; die einmal entfachten Gelüste beider Männer machen vor keiner Altersklasse halt.

    Haarmann hält sich häufig am Hauptbahnhof von Hannover auf. Nicht immer nur berufsbedingt, sondern um Ausschau zu halten nach jungen Männern, die es als Ausreißer oder Arbeitssuchende in die große Stadt verschlägt. Haarmann hat einen Spürsinn entwickelt für verloren wirkende Neuankömmlinge, die mit wenig Geld in der Tasche ein günstiges Obdach suchen und noch keine Kontakte haben. Haarmann bietet ihnen beides, ein Bett für die Nacht und menschliche Zuneigung. Willige Opfer für einen wie Haarmann, dem es in der Enge seiner winzigen Dachkammer-Wohnung nicht schwerfällt, seine homoerotischen Zwangsvorstellungen an diesen „Lutschejungs", wie er sie nennt, auszutoben.

    Bald sind die jungen Kerls wieder verschwunden, und Haarmann, der häufig ihre Kleidung zurückbehält, verschenkt oder verkauft diese. Wiederholt verschenkt er auch frisches Fleisch an die Hausbewohner, eine willkommene Gabe für die Nachbarn, die in der heruntergekommenen Altstadt von Hannover ihr Zuhause haben. Auch eine Wirtschaft nimmt das angebliche „Pferdefleisch gerne; über den eigenartig-süßlichen Geschmack mokieren sich nur wenige. Und Polizei-Spitzel Haarmann hat bald wieder einen jugendlichen „Untermieter als Gast, aufgegriffen am Hauptbahnhof von Hannover.

    Die Polizei weiß von seiner Neigung, „Unzucht" zu treiben, da sie aber mehr daran interessiert ist, sein Spitzelwissen abzuschöpfen, lässt sie ihn gewähren. Sie schützt ihn auch noch, als ab Anfang 1924 immer häufiger Leichenteile am Ufer der Leine entdeckt werden. Als aber bis zum Herbst desselben Jahres die aufgefundenen und angeschwemmten Leichenteile immer zahlreicher werden,

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1