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Die Niete zwischen Hammer und Zirkel
Die Niete zwischen Hammer und Zirkel
Die Niete zwischen Hammer und Zirkel
Ebook447 pages5 hours

Die Niete zwischen Hammer und Zirkel

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Eine Niete hält Hammer und Zirkel zusammen. Diese Niete hat auch einen Namen.
Rolf Kuhl versucht den DDR-Sozialismus zu retten und gerät dabei in haarsträubende Situationen in Ost und West.
Der erste Band führt in das Berlin des Kalten Krieges. Kuhl erlebt den Mauerbau in Ostberlin und muss schnell in den Westsektor. Dort verteidigt er als Junger Pionier die DDR und mischt sich unter die rebellierenden Studenten.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateAug 24, 2021
ISBN9783347386433
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    Die Niete zwischen Hammer und Zirkel - Rolf Schümer

    1. Zur Strafe in den Westen

    Geübte Hände zogen mich grob ins grelle Licht.

    „Eifobibsch, nu issa da, der Knabe!"

    Zwei schreckliche Gedanken schossen mir durch den Kopf: Ich bin Sachse und werde später eine Gedenkstätte mit Gruseleffekten in Berlin-Hohenschönhausen leiten.

    „Genossin Oberschwester, die Nabelschere!"

    Ich spürte einen kleinen Schmerz. Aus den Gesprächen, die sich eigentlich nur um meine Geburt und mein wahrscheinliches Geschlecht drehten und die ich bereits in der Gebärmutter-Dunkelkammer mithören konnte, waren mir zwei Dinge klar: Ich will niemals Fotograf werden und nach dem Durchtrennen der Nabelschnur kommt ein Klaps auf den Po. Ich wollte mutig die Zähne zusammenbeißen, aber da waren keine. Jedenfalls keine eigenen. Also schrie ich los, in der Hoffnung, dadurch den nächsten Schmerz zu vermeiden, zeigte ich doch schon vorher die gewünschte Wirkung. Der Klaps kam trotzdem. „So ist das mit dem vorauseilenden Gehorsam, dachte ich. Und: „Du bist ein Arschloch, Genossin Oberschwester. Genossin? War ich Ossi? Die Hände reichten mich weiter und ich sah in ein von Geburtswehen gezeichnetes, aber glückliches Gesicht. Freudentränen standen in den Augen einer Frau.

    „Mein Rolf, mein Junge!"

    Also nicht Hubertus, die Sache mit Hohenschönhausen konnte ich abhaken. Sie drückte mich an ihre Brust. Sie bemerkte meinen Hunger und stillte ihn. Die Stimme der Frau kannte ich, es war die meiner Mutter.

    „Schwesta, mach ick dit so richtig?", fragte sie.

    „Glück gehabt, dachte ich, „du bist kein Sachse, du bist ein Berliner!

    War ich Kennedy? Aber der hieß erstens nicht Rolf mit Vornamen und zweitens hatte er seinen berühmten Satz, der außerhalb Berlins mit „Ich bin ein rundes Fettgebäck" verstanden wurde, noch nicht gesagt. Dann sah ich zum ersten Mal meinen Vater. Unbeholfen, aber stolz winkte er mir hinter einer Glasscheibe zu. Ich konnte nicht hören, was er sagte. Ich versuchte es von seinen Lippen abzulesen, doch es ergab keinen Sinn. Er war kleiner als meine Mutter und noch kleiner als die Oberschwester, aber mich beeindruckte sein markantes Gesicht. So wollte ich später auch aussehen, nur würde ich mir die Haare nicht so streng nach hinten kämmen und auf die Pomade verzichten.

    In den nächsten Tagen ging es immer wieder hin und her, zwischen dem Zimmer der Mütter und dem, wo wir Neugeborenen gewogen, gewindelt und abgelegt wurden. Dabei gelang es mir, den Blick auf einen Wandkalender zu werfen. Wir schrieben das Jahr 1954, es war September und ich musste am 20. zur Welt gekommen sein. Am 20. September 1792 hatten bei der Schlacht von Valmy die französischen Revolutionstruppen über die Preußen gesiegt. Ob das ein Fingerzeig des Schicksals war?

    Nach einer Woche verließ meine Mutter mit mir das Krankenhaus. Mein Vater holte uns ab. Mir fiel das Schild am Eingang auf: „Krankenhaus der Deutschen Volkspolizei. Ich war gebürtiger Angehöriger der bewaffneten Organe der Deutschen Demokratischen Republik. Wir besaßen offensichtlich kein Auto, denn es ging zu Fuß in Richtung Sandkrugbrücke. War mein Vater Volkspolizist? Ich sah die Holztafel „Sie verlassen den demokratischen Sektor. Wir überquerten die Grenze. Volkspolizisten wohnten nicht im Westen.

    Unsere Wohnung lag in Moabit. Ein Berliner Stadtteil, der eigentlich eine Insel ist, weil die südliche Hälfte von der Spree und die nördliche von Kanälen umflutet wird. Seinen Namen verdankte Moabit den Hugenotten, die sich hier nach ihrer Flucht aus Frankreich im 17. Jahrhundert niederlassen durften. Während gebildete Menschen wissen, dass Moabit einen Bezug zum Alten Testament hat, denken Franzosen dabei nur an Penis, weil „bite" im Französischen eine vulgäre Bezeichnung für den Puller ist. Deshalb werden heute französische Touristen gern hierher geführt. Der Reiseführer nennt den Namen des Ortsteils, die französischen Männer lassen zufriedene Blicke über ihre Unterleiber kreisen und grienen dabei. Der kleine Gag klappt immer und zahlt sich später beim Trinkgeld aus.

    Moabit war ein sogenannter Arbeiterbezirk. Hier standen hauptsächlich Mietskasernen aus der Gründerzeit, beziehungsweise das, was nach den Bombardierungen, Artilleriebeschuss und Häuserkämpfen am Ende des Zweiten Weltkriegs davon übrig geblieben war. Unser linkes Nachbarhaus fehlte, die Fassade des unsrigen war von Geschossnarben gezeichnet. In den so gesprengten Klüften nisteten Tauben, die mit ihrem Kot den verbliebenen Stuckelementen zusetzten. Ein Blick auf den gesamten Straßenverlauf blieb mir verwehrt, denn obwohl ich in einem Ungetüm von Korbwagen durch die Gegend geschoben wurde, hatte ich nur ein begrenztes Sichtfeld daraus.

    Schob mich meine Mutter, konnte ich mich auf viele Details konzentrieren. Alte Menschen, die auf ein Kissen gestützt, aus dem offenen Fenster das Treiben auf der Straße beobachteten, wobei meine Vorbeifahrt einer der Höhepunkte zu sein schien.

    „Ach, Jottchen, wat is dit Kleene süß! Junge oder Mädchen?", hörte ich ständig und wünschte mir wie die Franzosen einen Penis, groß genug, um wie ein Fahnenmast unmissverständlich aus dem Wagen zu ragen.

    Schob mich mein Vater, war es völlig anders. Er rief auf Russisch die Lautsprecheransage der Moskauer Metro:

    „Einsteigen, die Türen schließen automatisch."

    Dann lachte er und die wilde Fahrt ging los. Besonders liebte ich das Rattern der Achsen, wenn der Wagen auf der Mitte des Bürgersteigs fuhr und die Räder über die Ritzen zwischen den großen Steinplatten krachten.

    „Kein Wort zur Mutti", keuchte er danach und grinste.

    „Warte nur, dachte ich, „bald kann ich sprechen, dann werden wir sehen, wer hier der Schelm ist.

    Jeden Sommer machten wir Urlaub in der DDR, weil dort der Arbeitgeber meines Vaters beheimatet war und nur hier seinen Beschäftigten preiswerte Unterkünfte bieten konnte. Ich war bereits im vierten Lebensjahr als ein Urlaubserlebnis mich besonders prägte:

    Wutentbrannt stand ich vor der Glastür, die mir den Zutritt zum Speisesaal eines Feriendomizils des DDR-Gewerkschaftsbundes, dem FDGB, verwehrte. Meine Eltern hatten mich mit erzieherischen Absicht dort hingestellt. Wissend, dass ich noch zu klein war, um die Klinke zu ergreifen und die Tür zu öffnen, saßen sie drinnen an einem Tisch und genossen mit den Genossen meine Abwesenheit. Durch den Ausschluss von der gemeinsamen Mahlzeit sollte ich gefügig gemacht werden, nicht mit einem Messer, sondern mit einem Schieber zu essen. So hieß ein Besteckteil für Kinder, das als Vorstufe des Messers galt: Ein silbrig glänzender Stiel, an dessen Ende sich wie beim Bulldozer eine schneepflugartige, aber ungewölbte, rechteckige Platte befand, der Schieber. Damit hielten Produktion, Handel und Pädagogik die praktische Umsetzung des Reims für gelungen, der da lautete „Messer, Schere, Licht sind für kleine Kinder nicht".

    Ich hasste den Schieber. Wussten meine Eltern nicht, dass Schieberbanden von der Volkspolizei verfolgt wurden? Niemand braucht Schieber. Selbst die sonst so gründlichen, also fundamental-orthodoxen Juden, denen aberdutzende Tätigkeiten während des Shabat untersagt sind, weil sie aus der Arbeit des Feuermachens abgeleitet werden, verzichten auf die Nennung des Reiben oder Aufeinanderschlagen von Schiebern. Oder etwas mit einem Schieber aus dem Bastelbogen ausschneiden? Das bleibe Einfalz-Pinseln vorbehalten. Ein Schieber ist völlig ungeeignet für jede Art des Schneidens. Für professionelle Messerwerfer hätte seine Verwendung das sofortige Karriere-Aus bedeutet.

    Ich warf dennoch. Ich wollte ein Messer haben, um zu zeigen, dass ich groß genug war, ein kleines Gewerkschaftsschnitzel in mundgerechte Stücke zu zerlegen. Außerdem fand ich es demütigend, dass sich ein Elternteil gleich an meinem Teller zu schaffen machen würde, um mit einem Messer mein Schnitzel zu zerstückeln. Welch eine Ungerechtigkeit! Wenn arbeitslose Messerwerfer die Schnitzel schneidend von Tisch zu Tisch gegangen wären, weil alle im Raum nur Schieber besaßen, das hätte ich ertragen.

    „Messer her, Messer raus!", schrie ich so laut ich konnte und warf mich wütend auf den Boden. Doch weder flogen Messer durch den Speisesaal, noch begannen die Urlauber aufeinander einzustechen. Mein Vater zog mich aus dem Saal. Mir sollte meine Bockigkeit vor der Tür vergehen.

    Ich ballte die rechte Hand zur Faust, wie später noch oft, doch nicht zum Gruß, sondern zum gezielten Schlag. Da die disziplinierten FDGB-Urlauber wussten, dass man das Reden bei Tische untertänigst unterlässt, platzte in die nur im Flüsterton gesprochenen Dialoge der laute Knall eines zerberstenden Glasscheibenkaros. Die Tür machte keine Anzeichen, den Verlust eines Achtels ihrer Verglasung zu bedauern. In den Saal ragte zwar nur in der Größe einer Billardkugel meine blutende Kinderfaust, doch die Botschaft war unmissverständlich:

    „Ihr Genossen des Arbeiter- und Bauernparadieses, die ihr euch ausgerechnet auf Kosten der Gewerkschaft die Bäuche vollschlagend erdreistet, die Aussperrung als ein legitimes Mittel zu betrachten, habt ihr vergessen, dass auch Aussperrung Gewalt bedeutet? Wollt ihr mich etwa vertrösten mit eurem Gerede von der gewaltlosen Befreiung Indiens vom Joch der britischen Kolonialsklaverei, dem friedlichen Mahlen tibetischer Gebetsmühlen oder einer gewaltfreien Revolution, die solche wie ihr, wenn ihr überhaupt noch bis 1989 leben werdet, durch genau solches Verhalten zu verantworten habt? Wer Gewalt sät, wird auch Gewalt ernten, das wissen sogar die Genossenschaftsbauern! Ja, seht auf diese blutende Kinderfaust und versinkt vor Scham ob eurer Unzulänglichkeit!"

    Das wäre ihnen durch die mit Scherben verzierte Öffnung entgegengeschleudert worden, wenn ich bereits über mehr Vokabular, Geschichtskenntnisse, ein gewisses Maß an Hellseherei und den richtigen Gebrauch des Konjunktivs verfügt hätte. So blieb mir nur, die Wirkung meines Faustschlages kurz zu bestaunen. Dann weinte ich so laut ich konnte. Würden meine Eltern die Nerven haben, einfach weiter zu essen, um sich nicht als pädagogische Versager zu entblößen? Nein, angesichts fließenden Kinderbluts zögerte meine Mutter, die zudem als Kindergärtnerin in einer Moabiter Kirchengemeinde arbeitete, nicht lange. Meine Hand wurde verarztet und ich durfte wieder an den Tisch.

    „Wenigstens ein Teilerfolg", dachte ich und spießte das von meinem Vater geschnittene Fleischstück auf die Gabel. In Anbetracht der verletzten rechten Hand konnte mir niemand die Verwendung des Schiebers abverlangen. Allerdings wäre für die Zukunft zu überlegen, ob zur Durchsetzung eigener Forderungen andere Mittel als die der Selbstverstümmelung geeigneter sind.

    Mein Vater war 3. Sekretär der SED-Kreisleitung Tiergarten, also im Westsektor. Das durfte ich nicht wissen, für mich arbeitete er für die Deutsche Reichsbahn. Das erschien mir glaubwürdig, denn seine Arbeitsstätte lag auf dem Gelände des Güterbahnhofes an der Moabiter Siemensstraße.

    Und so war es dazu gekommen: 1952 leitete mein Vater ein Jugendfreizeitheim im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg. Eines Tages wurde er von seinem Vorgesetzten zu einem Kadergespräch bestellt. So hießen die Gespräche, wenn es um Personalfragen ging. Nach 30 Minuten Bedenkzeit sollte er sich entscheiden, ob er Offizier der kasernierten Seepolizei werden oder ob er einen anderen Parteiauftrag ausführen wolle. Worin dieser Auftrag bestand, erfuhr er allerdings nicht. Am Tonfall des Kaderleiters ließ sich nur erkennen, dass die Entscheidung für die zukünftige Volksmarine gewünscht, während der alternative Auftrag eher die Bestrafung für die Ablehnung des ersten war. Trotz der drohenden Ungewissheit und der gewissen Drohung entschied sich mein Vater gegen die Seepolizei, da er nie wieder ein Gewehr anfassen wollte. Er begründete das mit seinen Kriegserlebnissen und der darauf folgenden sechsjährigen Gefangenschaft in Sibirien. Mein Vater hatte seine Wahlmöglichkeiten ausgereizt, einen Joker gab es nicht. Gerade erst sei der planmäßige Aufbau des Sozialismus in der DDR beschlossen worden, doch mein Vater werde daran nun nicht mehr teilnehmen. Vorbei die Chance, dabei neue und größere Verantwortung übertragen zu bekommen.

    „Es geht nur um ein oder zwei Jahre, tröstete ihn der Kaderleiter, „dann ist es drüben auch soweit.

    Mein Vater musste in den sauren Apfel beißen, vom Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg nach Moabit in den britischen Sektor umziehen, sein Parteiauftrag hieß nun Westarbeit. So viele Westberliner wie möglich sollten davon überzeugt werden, sich eine Übernahme ihrer Stadthälfte durch den DDR-Sozialismus zu wünschen.

    Wie alle damit beauftragten SED-Funktionäre bekam er nur so viel Westgeld, um damit die Rechnungen für Miete, Strom und Gas begleichen zu können. Darum waren mir die DDR-Produkte gut vertraut, die er oder meine Mutter täglich über die noch offene Sektorengrenze schleppten. Meine Zahnpasta hieß Putzi und mein Lieblingsteddy hörte nicht auf Pu, sondern auf Bummi.

    Die Wohnung im Westen

    Wir wohnten in der Ottostraße 11 im dritten Stock. Parterre wohnte Herr Krüger, ein unheimlicher Geselle, den ich nur selten zu Gesicht bekam. In meiner Fantasie malte ich mir daher die schrecklichsten Dinge aus, die sich hinter seinen stets dunklen und schmutzigen Fensterscheiben ereigneten. Ich verdächtigte ihn sogar, als allseits gefürchteter „Schwarzer Mann sein Unwesen im Keller zu treiben. „Wer hat Angst vorm schwarzen Mann?, hieß ein sehr beliebtes Fangspiel. Dank meiner frühsozialistischen Erziehung war der „Schwarze Mann für mich kein Mensch dunkler Hautfarbe. Er hatte seinen Namen von den Kohlen, die seine Haut nur zeitweilig schwärzten, nämlich so lange er im Keller weilte und das tat er oft. Aufenthalte in der darüber liegenden Wohnung änderten auch nichts an diesen Verhältnissen, wie es sich unschwer an der bereits beschriebenen Verglasung derselben vorstellen lässt. Also war er doch ein Mensch schwarzer Hautfarbe, die er aber nicht der Pigmentierung, sondern dem Kohlenstaub verdankte. Damals hätte ich kurz und knapp gesagt, der „Schwarze Mann sei für mich kein Neger, weil das Wort „Neger" noch nicht auf der Liste rassistischer Wörter stand.

    Im Jahr 1965 ließ die Satire-Zeitschrift „pardon eine Schallplatte mit Rede-Ausschnitten des Bundespräsidenten Heinrich Lübke pressen. Mit „meine Damen und Herren, liebe Neger hatte er in Afrika die Anwesenden begrüßt. „Meine Damen und Herren, liebe Schwarze!" - Wäre das keine Diskriminierung gewesen?

    Die Kohlen mussten wir nach oben schleppen, weil die DDR- Reichsbahn-Deputatbriketts, die wir bekamen, nur in den Keller geschüttet wurden, den „Nach-Oben-Tragen-Service" bei einer Mark Preisaufschlag pro Stockwerk und Zentner gab es nur bei den West-Kohlehändlern. Doch die verlangten dafür eine Währung, die wir nicht besaßen.

    Im ersten Stock logierte und praktizierte Dr. Kinner, der als Zahnarzt meine Karies erfolglos bekämpfte. Im zweiten Stock wohnte ein evangelischer Pfarrer, der allerdings bald auszog, nachdem er mit 60 Jahren zum ersten Mal Vater geworden war und im Haus Geburtskarten mit der Aufschrift verteilte: „Der Herr hat Großes an uns getan".

    Im dritten Stock lebten wir, die erste kommunistische Westberliner Wohngemeinschaft. Quasi die Kommune Null, um der späteren Kommune Eins von Rainer Langhans und Fritz Teufel den Namen nicht streitig machen zu müssen. Denn unsere Wohnung war so groß, dass wir ständig mit anderen Leuten zusammenleben mussten. Sechs Zimmer und eine ehemalige Burschenkammer, in der Kartoffeln, Holz und im Winter eine schlafende Schildkröte gelagert wurden. Die Kartoffelkiste spielte nur einmal in meinem Leben eine Rolle. Eines Tages zeigte ich meinem Vater einen Käfer, den ich dort entdeckt hatte und fragte, ob er von der Sorte sei, die der CIA in der DDR gegen die Kartoffelernte einsetzt. Das müsse man beobachten, antwortete mein Vater. Es mehrten sich jedoch keine Anzeichen, die vermuten ließen, dass unsere Wohnung ins Visier des amerikanischen Geheimdienstes geraten sei.

    Das Brennholz neben der Kartoffelkiste bestand aus großen Scheiten. Daneben hockte ein Hauklotz und wachte die Axt, mit der sich mein Vater einmal fast den Daumen abhackte. In der Ecke neben einem kleinen Fenster ruhten zwei rote Fahnen. Ursprünglich waren es vier gewesen. Aber die Feuerwehr hatte an einem 1. Mai, als zwei von ihnen unseren Balkon schmückten, während wir an der Mai-Parade in Ostberlin teilnahmen, einen Einsatzwagen mit Drehleiter geschickt. Wegen „Erregung öffentlichen Ärgernisses" wurden sie beschlagnahmt. Die beiden verbliebenen roten Fahnen verblichen leicht bis zum Beginn der Studentenrevolte Mitte der sechziger Jahre. Da schwang ich sie oft. Allerdings wurde eine von einem Polizisten mit seinem Helm zerbrochen, die andere lieh ich einem Frankfurter Genossen, der sie nie zurückgebracht hat. Kein Wunder, er machte Karriere. Da hatte er andere Dinge um die Ohren, einmal sogar Farbbeutel.

    Neben der Burschenkammer lag die Speisekammer, die sich zwar nur einen Meter ausbreitete, aber drei Meter in die Länge zog. In den Regalen lungerten Werkzeuge, Tapetenreste, Farbeimer und Kleingerümpel. Für die Lebensmittel reichte der Eisschrank, der seinem Namen selten alle Ehre machte. Er gehörte zu der Sorte, die, um Kälte zu erzeugen, mit Stangeneis bestückt werden musste. Nur einmal wurde ich wegen einer Familienfeier zur Moabiter Eisfabrik geschickt. Der Weg war weit und das Stangeneis schwer, auch wenn es einen Teil seines Gewichts unterwegs verlor, trotz Verpackung in mehrere Lagen Zeitungspapier.

    Die Kochmaschine, die manchmal mit Eierkohlen beheizt wurde, diente hauptsächlich als Ablage, denn als unser modernstes Küchengerät lehnte neben ihr ein Gasherd an der Wand. Vor dem Fenster zum Hof saßen weder Grace Kelly noch James Stewart, sondern stand ein Tisch, dessen zwei Schubladen jeweils eine Schüssel für den Abwasch verbargen. Das Wasser dafür kam aus dem Hahn vom Ausguss und wurde im Teekessel auf dem Gasherd erhitzt.

    Eine Besonderheit in der Küche bildete der Besteckkasten im Küchenschrank. Nicht der Kasten oder das darin befindliche Besteck, sondern die Anordnung desselben war das Besondere. Während alle Familien Deutschlands oder der Welt (jedenfalls wenn sie nicht mit Händen, gefalteten Blättern oder Stäbchen essen) das Besteck so sortieren, dass die Gabeln zwischen Messern und Löffeln liegen, gehörten bei uns die Löffel in die Mitte. Diese Liegeordnung gilt noch heute in allen Besteckkästen unserer Familienmitglieder.

    Neben der Küche befand sich die sogenannte Mädchenstube, ein zwanzig Quadratmeter großes und meist unbewohntes Zimmer. Dieser Raum wurde zeitweilig von der Partei als Sitzungsraum genutzt, als die Westberliner SED-Büros von der Polizei nach dem Mauerbau zeitweilig gesperrt und versiegelt waren. Später diente er als Versammlungsraum für unsere Pioniergruppe.

    Wir hatten eine Toilette mit Badezimmer und eine ohne. Benutzbar war nur das Klo neben dem Badezimmer, weil hier die Druckspülung funktionierte. Allerdings drohte darüber ein Hängeboden. Denn ich hatte die Vorstellung, dass er ein ideales Versteck für Einbrecher oder Räuber sei. Wenn ich nachts auf dem Klo saß, sprach ich laut zu dem imaginären Bösewicht über mir. Um meine Haut zu retten, machte ich ihm Vorschläge, in welchen anderen Wohnungen er erfolgversprechender sein Unwesen treiben könne. Bei Dr. Kinner oder bei Tante Trudchen in Halensee sei viel mehr zu holen.

    Die 25 Meter vom Wohnzimmer bis zur Küche legte ich am liebsten auf meinem Kinderfahrrad zurück. In der Küche konnte ich ohne Absteigen wenden und erreichte die nötige Geschwindigkeit, um die Schwelle zwischen langem Flur und dem Spielzimmer, einem „Berliner Zimmer", als Sprungbrett zu benutzen. Als Berliner Zimmer bezeichnet man einen Raum, der das Vorderhaus mit dem Seitenflügel bzw. den Seitenflügel mit dem Hinterhaus verbindet. Trotz seiner Größe verfügt er nur über ein einziges Eckfenster, das zum Hof geht und daher wenig Licht spendet.

    Im Winter wärmte ich mich gern am Kachelofen im Wohnzimmer. Die anderen Räume wurden nie, der Badezimmerofen nur samstags beheizt. Nachdem ich mich erst über einer Waschschüssel im Wohnzimmer gewaschen und den Seiflappen für oben ausgesaugt hatte (den Waschlappen für unten durfte ich nicht in den Mund nehmen), lehnte ich am warmen Ofen und hörte den Abendgruß des DDR-Sandmännchens aus dem Radio. Einen Fernseher besaßen wir nicht.

    Als Ringo Starr von den „Beatles mein Vorbild wurde, spielte ich am Ofen Schlagzeug. Topfdeckel hingen als Becken an den Türen des Backfaches, in dem zu Weihnachten Bratäpfel schmorten. Mit hölzernen Küchenlöffeln hämmerte ich auf umgedrehte Töpfe und den Asche-Eimer. Da das einzig vorhandene Wiedergabegerät unser Radio war, musste ich immer lange auf Musik warten, die sich zum Begleiten auf dem Schlagzeug eignete. Meistens liefen nur Schlager. Konnte ich endlich Ringo virtuos nacheifern, dauerte es nicht lange, bis ein Untermieter die Entfaltung meines musikalischen Talents als nervtötenden und ohrenbetäubenden Lärm einstufte und ein sofortiges Ende der Darbietung forderte. Dabei handelte es sich um eine glatte Lüge, wie sich beim Weiterspielen auf meinem Instrument Minuten später zeigte. Obwohl angeblich die Nerven tot und die Ohren taub waren, drohte derselbe Untermieter dieses Mal mit dem Beheizen des Ofens durch die Küchenlöffel und mit dem Fristen eines Bratapfeldaseins für den Schlagzeuger. Ich beugte mich dem Druck. „Das wird er noch bereuen, dachte ich, „wenn ich berühmt bin und er ein Autogramm oder eine Freikarte für das nächste Konzert will: Pustekuchen!"

    Auf die Couch neben dem Ofen habe ich mich nur bis zu meinem achten Lebensjahr gesetzt und das hatte folgenden Grund: Ein als Weihnachtsmann verkleideter Kollege meines Vaters hatte mir im Jahr vor dem Mauerbau eine elektrische Spielzeugeisenbahn geschenkt. Ich verlegte die Schienen als Tunneldurchfahrt auch unter dem Kleiderschrank. Einmal kollidierte die Lok mit einem der Apfelgriebsche, die ich aus Bequemlichkeit gern dort entsorgte, weil mir der Weg zum Mülleimer in der Küche zu weit war. Der Zug entgleiste und die Lok fuhr nicht mehr. Jähzornig warf ich sie gegen die Couch, was ihr zwar nicht die Funktionstüchtigkeit, mir aber durch das Zurückprallen vom straffen Polster eine Platzwunde an der Stirn einbrachte. Seitdem boykottierte ich die Couch. Mit dem Eisenbahnspiel war es vorbei, weil es für die DDR-Lokomotive im Westen keine Ersatzteile gab. Den Einkaufsweg nach Osten versperrte inzwischen die Mauer.

    Der große Kleiderschrank war nicht nur als Tunnel und Apfelreste-Friedhof wichtig. Unerreichbar für mich, aber griffbereit für meinen Vater lag auf dem Ungetüm ein Rohrstock. Wenn Vaters erzieherische Worte ihre Wirkung verfehlten, bekam ich mit dem Rohrstock einige Schläge auf den Po. Es passierte zwar nicht oft, aber es zeckte nicht wenig. Eines Tages war es wieder soweit. Ich tobte auf dem großen Doppelbett meiner Eltern im Schlafzimmer. Es war zwei Meter breit und zwei Meter lang. Sechs Matratzen schmiegten sich auf ihm zu einer mehr oder weniger einheitlichen Liegefläche aneinander. Darunter ruhten, in einem Holzrahmen gespannt, Sprungfedern aus Metall. Deren Entspannung endete schlagartig, wenn ich zum Trampolin-Springen hinaufstieg. Nicht nur, dass ich sehr hoch springen konnte, diese Sprungfedern gaben auch die tollsten Geräusche von sich. Jede hatte ihren eigenen Ton beim Zusammendrücken und beim Losschnellen. Es quietschte, knarrte, rasselte und pfiff manchmal sogar wie ein Querschläger. Im Vergleich dazu schneiden heutige Lattenroste und erst recht Wasserbetten schlecht ab. Ich vergnügte mich als Hüpf-Musikant, der das Sprungfederorchester mit seiner Stimme begleitete.

    Selbst in der entfernten Küche musste das Gequietsche und Gejohle zu hören gewesen sein. Plötzlich stand mein Vater in der Tür, fuchtelte mit dem Rohrstock und schrie: „Sofort runter vom Bett!" Das hätte ihm so gepasst, mir eins mit dem Stock zu verpassen. Also blieb ich lieber auf dem Bett, das mir durch seine Größe, im Gegensatz zu der meines Vaters, zu einem taktischen Vorteil verhalf. Er konnte mich nicht erwischen, wenn er am Fußende stand und ich am Kopfende. Kam er zur rechten Bettkante, flüchtete ich auf die linke Betthälfte. Lief er nach links, hopste ich nach rechts. Er kriegte mich nicht. Wütend schlug er mit dem Rohrstock auf die Brüstung des Bettes. Plötzlich verlor der Stock die Hälfte seiner Länge und mein Vater wirkte nur noch wie ein unzufriedener Dirigent. Ich begann zu singen und zeigte dabei auf den Stab in seiner Hand. Er begriff und lachte. Nie wieder wurde ich von ihm geschlagen.

    Die Moabiter Umgebung

    Direkt vor dem Haus lag der Ottopark mit einem Spielplatz, dessen Kletterpilz im Film „Sonnenallee als typisch „Ost wiederentdeckt wurde. Die Mädchen lud ein Klettergerüst zum „Schweinebammeln ein, dem „Kopf-über-Hängen mit einer Querstange in den Kniekehlen, was uns Jungen den freien Blick auf die Schlüpfer verschaffte, weil die meisten Mädchen Röcke trugen. Für Ordnung sorgte ein Parkwächter im Rentenalter, den eine weiße Armbinde mit Naturschutz-Logo schmückte und von den Moabitern deshalb „Parkeule" genannt wurde.

    Hinter dem Ottopark verbindet die kürzeste Straße Berlins, die Thusnelda-Allee, die Turmstraße mit der Straße Alt-Moabit. Wer sie überquert, gelangt in einen Park, der bis heute keinen Namen hat und daher von den Kiezbewohnern nur mit „Hinter der Kirche" bezeichnet wird. Dort konnte ich bis zum 12. Lebensjahr im Buddelkasten zunächst Kuchen backen, manchmal mit Eierpampe (so heißt das Wasser-Sand-Gemisch in Berlin) modellieren und später Autobahnen und Tunnel für meine Siku-Modellautos bauen.

    Die einzige Querstraße der Ottostraße ist die Zwinglistraße. Über sie gibt es nur zwei nennenswerte Dinge zu berichten: Hier hing in der Nazizeit eine Gedenktafel, die an den Hitlerjungen Herbert Norkus erinnerte, der 1932 von Jungkommunisten ermordet worden war. Unter dem Titel „Hitlerjunge Quex" ließen die Nazis 1933 einen Propagandafilm produzieren. Darin verprügelt der kommunistische Vater, gespielt von Heinrich George, seinen Sohn, weil dieser zur Hitlerjugend will. Im realen Leben war der Vater ein Mitglied der faschistischen SA. Auch die Anstiftung zur Ermordung des Jungen soll von SA-Mitgliedern ausgegangen sein.

    Und es gab die Kneipe „Bei Ilse, geführt von „Titten-Hilde, wie die Wirtin von den Männern im Kiez nicht ohne Grund genannt wurde. In der Nachkriegszeit wollte ein französischer Schützenpanzerwagen in die Kneipe preschen, um Kameraden zu helfen, die dort von den 13 Söhnen eines Moabiter Bärenringers verdroschen wurden, weil sie deutschen Frauen schöne Augen gemacht hatten. Eine andere „Augenstory" erzählte Hilde, wenn sie von ihrer Angst vor den Russen Ende des Zweiten Weltkriegs sprach. Angeblich trug jeder russische Soldat einen Stoffbeutel am Gürtel, in dem er die Augen der vergewaltigten und ermordeten deutschen Frauen aufbewahrte. Aber sie kannte auch lustige Anekdoten aus der Moabiter Geschichte. Einmal schlief auf der Toilette des Stephan-Kinos ein Betrunkener mit brennender Zigarette ein und setzte das Kino in Brand. Bei den Löscharbeiten ertrank der Unglücksrabe.

    In der Ottostraße war es für uns Kinder interessanter. Hier gab es einen Zigarettenautomaten, der sprechen konnte. Jede Schachtelausgabe quittierte er mit einem näselnden „Dankeschön". Daneben ein Frisör, der wie alle seiner Zunft einen besonderen Holzstuhl für Kinder besaß, auf dem die jungen Kunden auf die richtige Schnitthöhe hochgedreht wurden. Heute müssen sich die Frisöre bücken und bekommen Rückenschmerzen, weil die Kunden sich nicht mehr auf modernen Sesseln hochpumpen lassen wollen, sondern es vorziehen auf altmodisch-gemütlichen Stühlen zu sitzen. Vis-à-vis ein Tante-Emma-Laden, den ich nur als Kaufmannsladen kannte. Bei dem Mann, der dort bediente, gab es noch Butter aus dem Fass, lose Milch holten wir aus der Verkaufsstelle der Molkerei in der Zwinglistraße. Es mag für jüngere Generationen schier unglaublich klingen, aber wir lebten ohne Plastik- und Einwegverpackungen. Gegenüber der Molkerei befand sich eine Mangelei. Dabei handelte es sich nicht um ein Asia-Restaurant, dessen Besitzer beim Schreiben seines Heimatlandes zwei Rechtschreibfehler unterlaufen waren, sondern um einen Laden, in dem große Wäschestücke von einer heißen Walze und Wasserdampf in einem Durchgang geglättet wurden. Von wegen Mangelwirtschaft gäbe es nur im Osten, bei uns war sie um die Ecke.

    An der Ecke Turmstr./Ottostr. residierte das Kaufhaus Karstadt. Hier drückte ich mir jedes Jahr zu Weihnachten die Nase an den Schaufenstern platt, um die sich von allein bewegenden Puppen und Marionetten zu bewundern (Ein kurzer Hinweis für alle Schwaben und weitere nach Berlin Zugewanderte: In Berlin heißt es „zu Weihnachten, zu Silvester, zu Ostern und nicht „an!). Ecke Oldenburger Straße warb ein Lebensmittelmarkt mit „Keine Feier ohne Meyer". Dort roch es wunderbar nach Kaffee, wenn sich Kunden die Bohnen in der elektrischen Mühle mahlten. Bei meiner Oma in der Rostocker Straße musste ich das mit der Hand machen.

    Auf der anderen Seite mündet die Ottostraße in die Straße Alt-Moabit. Hier fuhr meine Lieblingsstraßenbahn, die Linie 44. Neulich hatte ich die Gelegenheit, mir einen dieser alten Straßenbahnwagen anzusehen. Einstiegshöhe 40 Zentimeter und zur nächsten Stufe noch einmal 35. Wie haben es die alten Leute geschafft einzusteigen? Sie haben sich wohl mit viel Kraft hinaufgezogen. Wenn sie sich heute beim Einsteigen in einen Bus der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) an der Tür hineinziehen, muss er anschließend in die Werkstatt. So viel empfindliche Elektronik steckt da drin, macht die Tür zum wertvollsten Teil des Fahrzeugs.

    Von Zoo kommend gab es zwei Möglichkeiten mit der Straßenbahn zu uns nach Hause zu fahren. Bis zur Gotzkowskibrücke verbrachten die Straßenbahnlinien 2 und 44 ihr Schienenleben auf denselben Gleisen. Dann kam die Scheidung: Die 2 fuhr die Turmstraße entlang, die 44 über Alt-Moabit zur Ottostraße. Sie benötigten ungefähr dieselbe Zeit für diese Strecke. Der schwerwiegende Unterschied zwischen beiden Linien war die Zusammensetzung der Züge: Die 2 fuhr mit einem Triebwagen und einem Anhänger, die 44 mit zwei Triebwagen. Für mich war natürlich der Lieblingsplatz der leere Fahrersessel entgegengesetzt der Fahrtrichtung, also hinten im zweiten Triebwagen. Dort hatte ich freie Sicht auf die Gleise, alle Armaturen vor mir, bis auf die Fahrkurbel, die vorne der Fahrer brauchte. Aber das ging nur bei der 44 und nicht bei der 2, bei der man nur den schaukelnden Anhänger vor der Nase hatte. Also forderte ich meinen Vater auf, an der Haltestelle Gotzkowskibrücke von der 2, mit der wir fuhren, in die 44 umzusteigen, was dieser prompt und grundlos ablehnte. Darauf reagierte ich mit Bock, also großem Wutgeschrei, sich auf den Boden werfen und nach meinen Vater treten. Sofortiger Erfolg, wir stiegen Gotzkowskibrücke aus. Doch welche Enttäuschung, nicht um in die 44 einzusteigen, sondern um den restlichen Weg zu laufen.

    „Ich werde dich lehren, meine Entscheidungen zu respektieren", brüllte mich mein Vater an. Aber so einfach machte ich es ihm nicht. Die 800 Meter bis zur Ottostraße ließ ich mich immer wieder fallen. Mein Vater zerrte und schleifte mich unter den misstrauischen Blicken der Passanten, weil ich fortwährend um Hilfe rief und meine Freilassung forderte. Doch niemand dachte an Kidnapping, selbst nicht im britischen Sektor. Und Solidarität muss schon damals im Westen ein Fremdwort gewesen sein, denn niemand half mir.

    Angekommen in unserem Hausflur erreichte mich die erste und einzige schallende Ohrfeige, die ich je von meiner Mutter erhielt. Weiß der Himmel, woher sie schon wusste, was passiert war. Oben angekommen, stellte mich mein Vater sofort in die Badewanne und drehte die Dusche auf. Das kalte Wasser, warum hätte auch jemand den Badezimmerofen heizen sollen, tat seine Wirkung. Als ich meine nassen Sachen heulend auszog, war der Bock „abgespült" und ich beschloss, mir diese Schocktherapie so lange zu merken, bis ich sie an eigenen Kindern anwenden könne, was ich auch tat. Nicht das Anwenden, aber das Merken.

    Da beide Elternteile arbeiteten, ging ich in einen Ostberliner Kindergarten. Das Abholen am späten Nachmittag machte meine Mutter, denn Vater hatte abends oft eine Versammlung. Er brachte mich morgens hin. Von der Ottostraße ging es mit der Straßenbahnlinie 44 bis zur Sandkrugbrücke. Dort war die Sektorengrenze und damit Endstation. Der grenzüberschreitende Straßenbahnverkehr existierte nicht mehr.

    Einige Jahre zuvor hatte es ihn noch gegeben. Doch in Westberlin war Frauen die Arbeit als Straßenbahnfahrerin untersagt, in Ostberlin nicht. An der Grenze zu einem Westsektor musste die Ostfrau durch einen Westmann abgelöst werden. Welch eine Gelegenheit, das frauenfeindliche Wesen des Westens vor vielen Fahrgästen zu entlarven! Also setzten die Ostberliner Verkehrsbetriebe auf den grenzüberschreitenden Linien vorwiegend Fahrerinnen ein. „Provokateure! Spalter!", schrie es vom Westen. „Frauenfeinde!

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