Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Christentum - Islam: Ausblicke auf eine esoterische Ökumene
Christentum - Islam: Ausblicke auf eine esoterische Ökumene
Christentum - Islam: Ausblicke auf eine esoterische Ökumene
Ebook390 pages5 hours

Christentum - Islam: Ausblicke auf eine esoterische Ökumene

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

»Als Mutter aller Propheten und als Quellgrund aller heiligen Formen hat die Heilige Jungfrau ihren Ehrenplatz im Islam, auch wenn sie a priori zum Christentum gehört; deshalb bildet sie eine Art Bindeglied zwischen diesen beiden Religionen, denen gemeinsam ist, dass sie dem Monotheismus Israels Allgemeingültigkeit verleihen wollen.«

- Frithjof Schuon (1907-1998) wird in weiten Teilen der Welt als einer der bedeutendsten religionsphilosophischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts angesehen. Er gilt als führender Vertreter jener Denkrichtung, die Sophia perennis (»immerwährende Weisheit«) genannt wird, und welche die zeitlosen und überall gültigen Grundsätze enthält, die den verschiedenen Lehren, den Sinnbildern, der heiligen Kunst und den geistigen Übungen der Weltreligionen zugrunde liegen.

In diesem Werk vergleicht Frithjof Schuon das Christentum und den Islam und betrachtet auch Bekenntnisse innerhalb dieser Weltreligionen: den Protestantismus, die Orthodoxie und den Schiismus. Dabei vermeidet er oberflächliche Gleichsetzungen im Bereich der Exoterik; innere Einheit kann es nur im Herzen der Religionen geben, in deren Esoterik.

Das Buch wendet sich an Menschen, die auf der Suche nach einem geistig fundierten Verständnis der Welt und ihres eigenen Lebens sind, einem Verständnis, das über die Antworten hinausgeht, welche die modernen Wissenschaften oder die nur exoterisch verstandenen Religionen geben können. Es vermag zu befreienden Einsichten und tiefer Gewissheit zu führen.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateSep 18, 2018
ISBN9783746957326
Christentum - Islam: Ausblicke auf eine esoterische Ökumene

Read more from Frithjof Schuon

Related to Christentum - Islam

Related ebooks

New Age & Spirituality For You

View More

Related articles

Reviews for Christentum - Islam

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Christentum - Islam - Frithjof Schuon

    Vorbemerkung des Übersetzers

    Wir freuen uns, mit diesem Buch die zehnte Übersetzung eines Werkes von Frithjof Schuon in deutscher Sprache vorlegen zu können. Schuon (1907–1998) wird in weiten Teilen der Welt als einer der bedeutendsten religionsphilosophischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts angesehen. Er besaß einen außerordentlichen Überblick über die religiösen Überlieferungen der Menschheit, konnte die Vielfalt der Erscheinungen bis in ihre Tiefe durchdringen und seine Erkenntnisse in meisterhafter, oft dichterischer Sprache ausdrücken. Er gilt als führender Vertreter jener Denkrichtung, die Sophia perennis, Philosophia perennis oder Religio perennis – also immerwährende Weisheit, immerwährende Philosophie oder immerwährende Religion – genannt wird, welche die zeitlosen und überall gültigen Grundsätze enthält, die den verschiedenen Lehren, den Sinnbildern, der heiligen Kunst und den geistigen Übungen der Weltreligionen zugrundeliegen.

    Die französische Originalausgabe des vorliegenden Buches erschien 1981 unter dem Titel Christianisme/Islam: Visions d’Œcuménisme ésotérique; im gleichen Jahr wurde unter dem Titel Christianity/Islam: Essays on Esoteric Ecumenism eine Übersetzung ins Englische veröffentlicht, 2008 folgte eine neue amerikanische Übersetzung unter dem Titel Christianity/Islam: Perspectives on Esoteric Ecumenism.

    Frithjof Schuon, dessen erstes Buch den Titel Von der inneren Einheit der Religionen trägt, wird oft als Vertreter dieser Einheit angesehen; er hat aber immer wieder auch auf die – notwendige – Verschiedenheit der Religionen hingewiesen. Im vorliegenden Werk widmet sich der Verfasser insbesondere dem Vergleich von Christentum und Islam sowie unterschiedlicher Bekenntnisse innerhalb dieser Religionen.

    In seinen Büchern geht es Schuon nicht darum, für den Islam oder für irgendeine andere Religion zu werben; wofür er eintritt, ist die Sophia perennis. Er sah es aber als notwendig an, insbesondere jenen seiner Leser, die sich für die islamische Esoterik interessierten, auch solche Seiten der islamischen Exoterik verständlich zu machen, die für westliche Menschen schwerer zu verstehen sind. Die den Islam betreffenden Kapitel sagen aber nicht nur etwas über den Islam selbst aus, sondern auch ganz allgemein etwas über den möglichen Umgang der Esoterik mit einer Exoterik.

    Hinsichtlich der im Untertitel genannten »esoterischen Ökumene« sei darauf hingewiesen, dass sich Schuon bezüglich des »interreligiösen Dialogs« zurückhaltend verhielt, weil dieser sich oft auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner ethischer Vorstellungen beschränke. In einem Brief schreibt er: »Die Unterschiede zwischen den Religionen beruhen nicht nur auf dem mangelnden Verständnis der Menschen, sondern auch auf den Offenbarungen, somit auf dem göttlichen Willen. […] Doch wenn Gott die heiligen Schriften offenbart, offenbart er gleichzeitig auch die Schlüssel für die ihnen zugrunde liegende Einheit. […] Das große Übel besteht nicht darin, dass Angehörige unterschiedlicher Religionen einander nicht verstehen, sondern darin, dass – aufgrund des Einflusses des Denkens der Moderne – zu viele Menschen nicht mehr gläubig sind. Es ist daher vordringlich, 1. dass die Menschen zu ihrem Glauben zurückkehren, ganz gleich, welcher Religion sie angehören, wenn diese nur in ihrem Kern lehrrichtig ist, und ganz unabhängig von der Ächtung der Religionen untereinander; und 2. dass diejenigen, welche die Fähigkeit besitzen, die reine Metaphysik, die Esoterik und die innere Einheit der Religionen zu verstehen, diese Wahrheiten finden und die notwendigen inneren und äußeren Schlüsse ziehen. Und deshalb schreibe ich Bücher.«

    Obwohl Deutsch seine erste Muttersprache war, hat Schuon seine metaphysischen Werke auf Französisch verfasst, einer Sprache, die sich aufgrund ihres lateinischen Ursprungs und ihres unzweideutigen Wortschatzes hierfür besonders gut eignet. Schuon liebte die deutsche Sprache sehr und bestand darauf, sie weitgehend von Fremdwörtern freizuhalten. Dem haben wir in der vorliegenden Übersetzung Rechnung zu tragen versucht; so wird der Leser einige mittlerweile selten gewordene Wörter wie »Geistigkeit« statt »Spiritualität«, »Anblick« oder »Gesichtspunkt« statt »Aspekt«, »Sammlung« statt »Konzentration« und dergleichen mehr finden. Als Muster hat uns hierbei Schuons eigene Übertragung seines ersten Hauptwerkes De l’unité transcendante des religions (1948) ins Deutsche gedient.

    Andererseits war es unumgänglich, eine Reihe von Fremdwörtern zu benutzen, seien es philosophische Fachausdrücke oder Begriffe aus einer Vielzahl von Überlieferungen; diese Begriffe aus dem Sanskrit, dem Griechischen, dem Lateinischen und dem Arabischen wurden in einem Glossar im Anhang des Buches zusammengestellt, übersetzt und erklärt.

    Weiterhin haben wir im Anhang nach Seitenzahl geordnete »Anmerkungen des Übersetzers« zusammengestellt, in denen Textstellen erläutert werden, die auf überlieferte theologische Lehren, wichtige Philosophen oder geistige Meister sowie heilige Schriften der Weltreligionen anspielen.

    ERSTER TEIL

    CHRISTENTUM

    Am Rande liturgischer Improvisationen

    Man kann die Liturgie auf zweierlei Weise betrachten: Entweder glaubt man, die ursprüngliche Einfachheit der Riten vor jeglicher störenden Hinzufügung bewahren zu müssen, oder man ist im Gegenteil der Ansicht, die liturgische Ausschmückung sei ein Gewinn, zumindest für die Ausstrahlung der Riten, wenn nicht sogar für deren Wirksamkeit, und sie sei aufgrund dessen eine Gabe Gottes. Der Standpunkt der Einfachheit kann – nicht zu Unrecht – geltend machen, dass die rabbinische Überlieferung außerordentlich viele Praktiken und Gebete zur mosaischen Religion hinzugefügt hatte und dass Christus, der Wortführer der Innerlichkeit, all diese Vorschriften abgeschafft und lange und komplizierte mündliche Gebete untersagt hat, denn er wollte, dass man sich Gott »im Geist und in der Wahrheit« zuwende. Die Apostel fuhren auf diese Weise fort, genauso wie die Wüstenväter; nach und nach aber musste die Anbetung »im Geist und in der Wahrheit« immer zahlreicher werdenden Vorschriften weichen, ohne dass eine Möglichkeit die andere ausgeschlossen hätte;¹ so kam es zur Geburt der Liturgie. In der Frühzeit war diese Liturgie recht einfach und wurde nur in Domen in der Umgebung des Bischofs und allein am Vorabend großer Feste gefeiert, »weil man die Gläubigen beschäftigen musste, die gekommen waren, um Stunden in der Kirche zu verbringen, die aber nicht mehr wussten, wie man beten sollte«, wie uns ein Ordensgeistlicher gesagt hat, der etwas davon zu verstehen schien. Die Liturgie wurde dann von Mönchen übernommen, die sie aus Eifer täglich feierten; die Liturgie des heiligen Benedikt war noch recht einfach, sie wurde aber im Lauf der Zeit durch ständige Ergänzungen komplizierter und immer überladener.

    Um eine zugleich genaue und differenzierte Vorstellung von der Liturgie zu haben, muss man den folgenden wesentlichen Gegebenheiten Rechnung tragen: Wenn die Entwicklung der Liturgie teilweise das Ergebnis von negativen Faktoren wie der Verschlechterung der Geistigkeit einer immer zahlreicher werdenden Gemeinschaft ist, dann ist sie vor allem durch die ganz unvermeidliche Sorge um die Anpassung an neue Bedingungen bestimmt; und diese Anpassung – oder dieses Aufblühen einer spürbaren Sinnbildlichkeit – ist an sich etwas durchaus Positives und steht der reinsten Beschaulichkeit in keiner Weise im Wege. Es gibt indessen zwei Elemente, die unterschieden werden müssen, nämlich einerseits die Sinnbildlichkeit von Formen und Handlungen und andererseits gewisse sprachliche Erweiterungen: Zweifellos ist beides sinnvoll, es liegt jedoch in der Natur der Sinnbildlichkeit von Formen, die Mitwirkung des Heiligen Geistes auf unmittelbarere und unanfechtbarere Weise zu offenbaren, unterliegt doch die Lehre eines reinen Sinnbildes nicht den Begrenzungen des sprachlichen Ausdrucks im Allgemeinen noch der frommen Weitschweifigkeit im Besonderen.² Was die Zweckdienlichkeit sprachlicher Hinzufügungen betrifft, so muss man auch die zunehmende Notwendigkeit bedenken, den immer zahlreicheren oder wahrscheinlicher werdenden Irrlehren entgegenzutreten oder ihnen vorzubeugen.

    Die ersten Christen nannten sich selbst »Heilige«, und das aus gutem Grund: Es gab in der ursprünglichen Kirche eine Atmosphäre der Heiligkeit, die zweifellos gewisse Ungeordnetheiten nicht verhindern konnte, die aber in jedem Fall bei der Mehrheit überwog; der Sinn für das Heilige lag gewissermaßen in der Luft. Jene gleichsam gemeinschaftliche Heiligkeit verschwand recht schnell – und ganz natürlicherweise, denn der Mensch des »dunklen Zeitalters« ist, was er nun einmal ist –, vor allem wegen der zunehmenden Zahl der Gläubigen; es wurde dann notwendig, die Gegenwart des Heiligen spürbarer zu machen, einesteils damit die Menschen von immer weltlicherer Gesinnung die Erhabenheit der Riten nicht aus dem Blick verlören und andernteils damit der Zugang zu diesen Riten nicht allzu abstrakt würde, wenn man so sagen darf. Wir möchten an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es etwas derartiges im Islam nicht gibt, in dem das Mysterium nicht auf gleichsam materielle Weise in den exoterischen Bereich eindringt;³ der Mahâyâna-Buddhismus weist dagegen eine liturgische Entwicklung auf, die derjenigen des Christentums ähnelt; in diesen beiden Fällen beschränkt sich die Liturgie nicht auf ein schlichtes Zugeständnis an die Schwachheit des Menschen, sie hat zugleich, und im Übrigen durch die Natur der Dinge, den inneren Wert einer spürbaren Kristallisierung des Übernatürlichen.

    Der erste der beiden Gesichtspunkte, die wir miteinander verglichen haben, jener der ursprünglichen Einfachheit, ist in dem Sinne berechtigt, als der Beschauliche und der Asket ohne irgendeinen liturgischen Rahmen auskommen können – auch wenn sie dies nicht immer wollen – und als sie ganz offensichtlich lieber die Heiligkeit von Menschen sehen würden als die von rituellen Formen, insoweit diese Alternative sich überhaupt stellt; dagegen ist der zweite Gesichtspunkt, jener der liturgischen Ausdifferenzierung, deshalb berechtigt, weil die Sinnbildlichkeit berechtigt ist und auch aufgrund von Erfordernissen neuer Umstände.

    Einer der größten Irrtümer unserer Zeit, zumindest auf religiösem Gebiet, ist es zu glauben, man könne eine Liturgie erfinden, die alten Liturgien seien Erfindungen oder die in frommer Gesinnung hinzugefügten Elemente seien dies; das heißt, Eingebung mit Erfindung zu verwechseln,⁴ das Heilige mit dem Profanen, heiligmäßige Seelen mit Amtsstuben und Ausschüssen. Ein weiterer nicht minder gefährlicher Irrtum ist es zu glauben, man könne ein oder zwei Jahrtausende überspringen und man könne wieder zur Einfachheit – und zur Heiligkeit – der ursprünglichen Kirche zurückkommen; nun ist hier aber ein Grundsatz des Wachstums oder der Struktur zu beachten, denn ein Zweig kann nicht wieder zur Wurzel werden. Man muss die ursprüngliche Einfachheit anstreben und dabei ihre Unvergleichbarkeit anerkennen und nicht glauben, man könne durch äußerliche Maßnahmen und oberflächliche Einstellungen wieder zu ihr zurückkehren; man muss versuchen, die ursprüngliche Reinheit auf der Grundlage der vorsehungsmäßig ausgearbeiteten Formen zu verwirklichen, und nicht auf jener einer unwissenden und respektlosen Bilderstürmerei; und man muss sich vor allem davor hüten, in die Riten eine schulmeisterhafte und platte Verstehbarkeit einzuführen, die eine Beleidigung für die Intelligenz der Gläubigen ist.

    Bezüglich der Frage der liturgischen Sprachen wären die folgenden Bemerkungen zu machen. Der Wert dieser Sprachen ist objektiv und keine Angelegenheit subjektiver Einschätzung, das heißt, es gibt Sprachen von sakralem Charakter, und sie haben diesen Charakter entweder von Natur aus oder durch Adoption: Der erste Fall ist der von Sprachen, in denen der Himmel gesprochen hat, und von Schriften – Alphabeten oder Ideogrammen –, die er eingegeben oder bestätigt hat; der zweite Fall ist der von immer noch edlen Sprachen, die dem Gottesdienst geweiht worden sind, wie das Armenische oder das Slawische. Heutzutage möchte man uns glauben machen, dass die liturgischen Sprachen veraltet seien, dass sie durch profane und moderne Idiome ersetzt werden müssten, weil die Leute offensichtlich die liturgische Sprache nicht mehr verstünden und sie folglich nicht mehr wünschten; nun ist aber, abgesehen davon, dass dieser Schluss falsch ist – und die Leute im Übrigen nie gefragt worden sind –, das Wenigste, was man von Gläubigen verlangen kann, ein Mindestmaß an Interesse und Achtung, das notwendig ist, um die gebräuchlichen liturgischen Formeln zu erlernen und die, welche sie nicht verstehen, klaglos hinzunehmen; eine Zustimmung zu einer Religion, die eine Popularisierung, übertriebene Einfachheit und damit Plattheit zur Bedingung macht, ist jedenfalls ganz ohne Wert.⁵

    Alle alten Sprachen sind zwangsläufig edel oder aristokratisch: Nichts an ihnen kann banal sein,⁶ ist Banalität doch das Ergebnis von Individualismus, Weltlichkeit und demokratischer Gesinnung. Die modernen Sprachen sind wohlgemerkt nicht ungeeignet, höhere Wahrheiten auszudrücken, sie sind aber aufgrund ihres zu analytischen Charakters und ihrer in gewisser Hinsicht zu geschwätzigen und auch zu gefühlsbetonten Art ungeeignet zum sakralen Gebrauch;⁷ für den sakralen Gebrauch ist ein synthetischeres und unpersönlicheres Idiom erforderlich. Um gewissen Einwänden vorzubeugen, möchten wir darauf hinweisen, dass das nichtklassische Latein, auch wenn es nicht mehr die Sprache von Cäsar ist, dennoch keine Umgangssprache ist wie die verschiedenen von ihr abgeleiteten Idiome; es ist letztendlich eine Sprache, die, auch wenn sie nicht gänzlich durch die Formkraft des Christentums umgestaltet wurde, doch zumindest an es angepasst und durch es stabilisiert und möglicherweise durch die deutsche Seele beeinflusst wurde, die bildmächtiger und weniger kühl als die romanische Seele ist. Im Übrigen ist das klassische Latein Ciceros nicht frei von willkürlichen Beschränkungen im Vergleich mit der alten Sprache, von der gewisse Werte in der Volkssprache überdauert haben, sodass das aus der Verschmelzung zweier Sprachen hervorgegangene nichtklassische Latein nicht einfach eine durch einen Mangel geprägte Erscheinung ist.

    Im Mittelalter wurde die europäische Geistigkeit im Rahmen des Lateinischen ausgeübt;⁸ mit der Abschaffung des Lateinischen prägte das Geistesleben mehr und mehr die Dialekte, sodass die aus ihm hervorgegangenen modernen Sprachen einerseits anpassungsfähiger und intellektualistischer und andererseits abgestumpfter und profanisierter sind als die mittelalterlichen Sprachen. Nun ist aber vom Standpunkt des sakralen Gebrauchs das Entscheidende nicht philosophische Anpassungsfähigkeit und auch nicht psychologische Komplexität – beides im Übrigen ganz relative Faktoren –, sondern jener Charakter der Einfachheit und Nüchternheit, der allen nicht-modernen Sprachen eigen ist; und es bedarf der ganzen mangelnden Sensibilität und des ganzen Narzissmus des zwanzigsten Jahrhunderts, um zu meinen, dass die heutigen Sprachen des Westens, oder irgendeine unter ihnen, in ihrem Wesen und geistig älteren Sprachen überlegen seien, oder dass ein liturgischer Text praktisch dasselbe sei wie eine Doktorarbeit oder ein Roman.

    Das heißt nicht, dass nur die modernen europäischen Sprachen ungeeignet für den sakralen Gebrauch sind: Der sich seit mehreren Jahrhunderten beschleunigende allgemeine Verfall der Menschheit hat außerhalb des Westens die Wirkung gehabt, bestimmte Idiome am Rande heiliger Sprachen, die sie begleiten, zu verderben; der Grund dafür ist nicht eine Trivialisierung auf ideologischer und literarischer Grundlage, wie es in den westlichen Ländern der Fall ist, sondern einfach ein naiver Materialismus auf der Ebene der Tatsachen, der nicht philosophisch ist, aber trotzdem der Dumpfheit und der Verflachung, möglicherweise sogar der Vulgarität Vorschub leistet. Dieses Phänomen tritt zweifellos nicht überall auf, aber es gibt es, und wir müssen in diesem Zusammenhang darauf hinweisen; was gesprochene Sprachen anlangt, die nicht einem derartigen Verderb unterworfen waren, so haben sie zumindest viel von ihrem alten Reichtum verloren, ohne aber damit zwangsläufig für den liturgischen Gebrauch ungeeignet geworden zu sein.

    Die Ausdifferenzierung der Liturgie hängt einesteils vom Genius der Religion ab und andernteils von den Völkern, für die sie bestimmt ist; sie ist von der Vorsehung bestimmt wie die Lage und die Form von Zweigen an einem Baum, und es ist zumindest unangemessen, sie mit einer kurzsichtigen rückwärtsgewandten Logik⁹ zu kritisieren und sie richtig stellen zu wollen, als wäre sie nur eine Aufeinanderfolge von Zufälligkeiten. Wenn die lateinische Kirche eine Daseinsberechtigung hat, dann ist die lateinische Sprache ein unverzichtbarer Bestandteil ihrer Natur oder ihres Genius.

    In Verbindung mit der Liturgie wie auch sonst beruft man sich heute gerne auf das zumindest fragliche Recht »unserer Zeit«; dieser Tabubegriff bedeutet, dass Dinge, denen das Unglück geschieht, sich in dem zu befinden, was uns heute als »Vergangenheit« erscheint, ipso facto »veraltet« und »überholt« sind; und dass dagegen Dinge, die sich in dem befinden, was uns subjektiv als »Gegenwart« erscheint – oder genauer, Dinge, die man willkürlich mit »unserer Zeit« gleichsetzt, als würde es andere zeitgenössische Erscheinungen nicht geben oder als würden sie sich in einem anderen Zeitalter befinden –, dass diese ganze willkürlich begrenzte Aktualität als ein »kategorischer Imperativ« dargeboten wird, dessen Bewegung »unumkehrbar« sei. Was unserer Zeit in Wirklichkeit eine Bedeutung gibt, ist die Gesamtheit der folgenden Gegebenheiten: erstens, der fortschreitende Niedergang der menschlichen Art, entsprechend dem Gesetz der Weltzeitalter; zweitens, die fortschreitende Anpassung der Religion an die Gemeinschaft als solche; drittens, die Anpassung an betroffene ethnische Gruppen; viertens, die qualitativen Schwankungen der überlieferungsmäßigen Gemeinschaft, die sich mit den Zeitläuften auseinandersetzen muss. All das, was man als Erklärung über »die Zeit« sagen kann, bezieht sich auf einen dieser Faktoren oder auf ihre verschiedenen Verbindungen.

    Was die Anpassung einer noch jungen Religion an eine gesamte Gesellschaft betrifft, meinen wir damit ihren Übergang vom Zustand der »Katakomben« zu dem einer Staatsreligion; es ist völlig falsch zu behaupten, allein der erste sei normal und der zweite – der »konstantinische«, wenn man so will – sei lediglich eine unrechtmäßige, heuchlerische, ungläubige Versteinerung; denn eine Religion kann nicht für immer in der Wiege bleiben, sie ist wesensgemäß dazu bestimmt, eine Staatsreligion zu werden und folglich die – keineswegs heuchlerischen, sondern einfach wirklichkeitsgemäßen – Anpassungen hinzunehmen, die diese neue Lage erforderlich macht. Sie kann nicht umhin, ein Bündnis einzugehen mit der Macht, natürlich unter der Bedingung, dass die Macht sich ihr unterwirft; in diesem Fall ist es angebracht, zwischen zwei Kirchen zu unterscheiden: der institutionellen Kirche, die als göttliche Institution unwandelbar ist, und der menschlichen Kirche, die zwangsläufig politisch ist, da sie mit der Gemeinschaft insgesamt verbunden ist, sonst besäße sie keine irdische Daseinsberechtigung als große Religion. Auch wenn man einräumt, dass diese Staatskirche schlecht sein mag – und sie ist dies zwangsläufig in dem Maße, wie die Menschen es sind –, bedarf die heilige Kirche ihrer, um in Raum und Zeit überleben zu können; aus dieser an die Menschen und an den Kaiser gebundenen Kirche geht jene qualitative Fortsetzung der Urkirche hervor, welche die Kirche der Heiligen ist. Und diesem Übergang von der »Katakombenkirche« zur »konstantinischen« Kirche entspricht unweigerlich eine liturgische und theologische Neuanpassung, denn man kann die Gesamtgesellschaft nicht so ansprechen wie eine Handvoll Mystiker.

    Wir haben auch die Anpassung an vorsehungsmäßige Volksgruppen erwähnt, welche im Falle des Christentums grosso modo – nach den Juden – die Griechen, die romanischen Völker, die Germanen, die Kelten, die Slawen und eine kleine Minderheit im Nahen Osten sind. Auch hier ist es falsch, von »Zeit« zu sprechen, geht es doch um Faktoren, die nicht von einem Zeitalter als solchem abhängen, sondern von einer natürlichen Entwicklung, die in verschiedenen Zeitaltern verlaufen kann. Theologische und liturgische Formen sind offensichtlich durch Mentalitäten von Völkern bedingt, insofern sich die Frage einer Verschiedenartigkeit in diesem Bereich überhaupt stellen kann.

    Es gibt dann noch das paradoxe Problem der in gewissem Sinne fortschreitenden Bekundung des religiösen Genius. Einerseits bietet die Religion ihr Höchstmaß an Heiligkeit in ihren Anfängen; andererseits muss sie Zeit haben, um sich dauerhaft im menschlichen Boden zu verwurzeln, wo sie eine Menschheit nach ihrem Bilde schaffen muss, wenn sie zu einer größtmöglichen Blüte der geistigen und künstlerischen Werte führen soll, die mit einer Blüte der Heiligkeit übereinstimmt; dies mag einen an eine Entwicklung glauben lassen, und fraglos findet eine Art Entwicklung statt, allerdings nur in bestimmter menschlicher Hinsicht, nicht auf der Ebene der eigentlichen Geistigkeit. Man muss in jedem religiösen Zyklus vier Zeitabschnitte unterscheiden: die »apostolische« Zeit, dann die Zeit der vollen Entfaltung, danach die Zeit des Niedergangs und schließlich die abschließende Zeit des Zerfalls; im Katholizismus hat es jene Anomalie gegeben, dass die Zeit der Blüte jäh abgebrochen wurde durch einen Einfluss, der dem christlichen Genius ganz fremd ist, nämlich durch die Renaissance, sodass in diesem Fall die Zeit des Verfalls ihren Platz in einer völlig neuen Dimension einnahm.

    Das Wort »Zeit« ist für die Neuerer praktisch mit der relativistischen Vorstellung der Entwicklung gleichgesetzt, und alles »Vergangene« wird von diesem falschen Blickwinkel aus gesehen, der letztlich alle Erscheinungen auf entwicklungsmäßige oder zeitliche Unabwendbarkeiten zurückführt, wo doch tatsächlich alles Wesentliche in der ewigen Gegenwart ist und in der Qualität der Unbedingtheit, da es ja um Werte des Geistes geht.

    Wenn man von dem Gedanken ausgeht, dass die Liturgie das Gewand des Geistigen ist und dass in einer religiösen und damit normalen Kultur nichts ganz unabhängig vom Heiligen ist, wird man zugestehen, dass die Liturgie im weitesten Sinne alle Formen der Kunst oder des Handwerks umfasst, insofern sie sich auf das Heilige beziehen, und dass sie aufgrund dessen nicht irgendetwas Beliebiges sein können. Nun muss aber an dieser Stelle festgestellt werden, dass die Liturgie – oder die Kunst als Liturgie – seit mehreren Jahrhunderten grundlegend verkehrt ist, als gäbe es keinen Zusammenhang mehr zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren; es wäre widersinnig zu behaupten, diese Sachlage hätte hinsichtlich der allgemeinen Bedingungen der Umwelt und der Entfaltung keinen Einfluss auf das Geistige. Ein bestimmter Heiliger mag kein Bedürfnis nach bilderreicher und ästhetischer Sinnbildlichkeit verspüren, haben wir gesagt, die Gemeinschaft aber bedarf ihrer, und sie muss Heilige hervorbringen können; ob man nun will oder nicht, die großen Dinge sind hier, auf dieser Erde, mit kleinen verbunden, zumindest äußerlich, und es wäre abwegig, in den sinnenfälligen Ausdrucksweisen einer Überlieferung nur eine Sache der Ausschmückung zu sehen.

    Doch kehren wir zurück zur Liturgie im eigentlichen Sinne oder genauer, zur Frage ihrer möglichen Neuanpassung. Es gibt keine Form der Nächstenliebe, die eine Entwürdigung erlauben oder verlangen würde; sich auf die Ebene der Kindheit und der Einfalt zu begeben, ist Eines, sich auf die Ebene der Gewöhnlichkeit und des Hochmuts herabzuwürdigen, ist etwas Anderes. Man drängt den Gläubigen die Vorstellung des »Volkes Gottes« oder sogar des »heiligen Volkes« auf, und man redet ihnen ein priesterliches Amt ein, das sie sich nie haben träumen lassen, und das in einer Zeit, in der das Volk so unheilig wie nur irgend denkbar ist, so unheilig, dass man das Bedürfnis verspürt, zu seinem Gebrauch die Liturgie und sogar die ganze Religion zu verflachen. Dies ist umso widersinniger, als das Volk viel besser ist als die Verflachung, die man ihm im Namen einer völlig wirklichkeitsfremden Ideologie aufdrängen will; unter dem Vorwand, eine Liturgie einzuführen, die sich auf dem Niveau des Volkes befinde, will man das Volk dazu zwingen, sich auf das Niveau dieser Ersatzliturgie zu begeben. Man täte jedenfalls gut daran, sich an diesen Leitsatz des heiligen Irenäus zu erinnern: »Man besiegt nie den Irrtum, wenn man irgendeinen Anspruch der Wahrheit opfert.«

    Zu behaupten, die alte und normale oder priesterliche und aufgrund dessen aristokratische Liturgie sei einfach nur ein Ausdruck der »Zeit«, ist aus zwei Gründen völlig falsch: erstens, weil eine »Zeit« nichts ist und nichts erklärt, zumindest im Bereich der Werte, um die es hier geht, und zweitens, weil die Botschaft der Liturgie oder ihr zureichender Grund sich gerade außerhalb und jenseits zeitlicher Kontingenzen befindet. Wenn man ein Heiligtum betritt, dann deshalb, um der Zeit zu entfliehen; um eine Atmosphäre des »himmlischen Jerusalem« zu finden, die uns aus unserer irdischen Zeit befreit. Das Verdienst der alten Liturgien besteht nicht darin, ein Ausdruck ihres geschichtlichen Augenblicks gewesen zu sein, sondern Ausdruck von etwas, was darüber hinausgeht; und wenn dieses Etwas ein Zeitalter geprägt hat, dann deshalb, weil dieses Zeitalter so beschaffen war, dass es eine nicht-zeitliche Seite besaß, sodass wir allen Grund haben, es in dem Maße zu lieben, wie es solcherweise beschaffen war. Wenn die »Sehnsucht nach dem Vergangenen« mit der Sehnsucht nach dem Heiligen übereinstimmt, ist sie eine Tugend, nicht weil sie die Vergangenheit an sich anstrebte, was völlig sinnlos wäre, sondern weil sie das Heilige anstrebt, das alle Dauer in ewige Gegenwart verwandelt, und das sich nirgendwo sonst befinden kann als in dem befreienden »Jetzt« Gottes.

    1 Dieser Grundsatz »im Geist und in der Wahrheit« in Verbindung mit der Zurückweisung von »Menschensatzungen« ist im Übrigen ein zweischneidiges Schwert; der Protestantismus hat ihn sich zu Eigen gemacht, und es lässt sich nicht leugnen, dass alles Wertvolle und Biblische in der Frömmigkeit der besten Protestanten auf der Berechtigung dieses Grundsatzes beruht; dies ist auch eine Erklärung dafür, dass der Protestantismus gewissen esoterischen Strömungen Zuflucht gewähren konnte. Wie dem auch sei, um dem lutherischen Paradoxon zuvorzukommen, wäre es nötig gewesen, dass der mittelalterliche Katholizismus in seinem Geist und seiner Struktur realistischer, vielschichtiger und anpassungsfähiger gewesen wäre; wir werden in einem anderen Kapitel dieses Buches darauf zurückkommen.

    2 Es gibt namentlich die äußerste Kompliziertheit der Rubriken. Diese gehen auf das Rituale Romanum, auf das Zeremoniell der Bischöfe und auf die Verordnungen der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung zurück; sie regeln, was innerhalb der Messe geschehen soll und was außerhalb von ihr geschehen soll, um nicht die Kasuistik zu vergessen, die damit zusammenhängt. In Verbindung mit dem liturgischen Kalender führen die Rubriken zu einer ausgesprochen komplizierten und differenzierten Wissenschaft, die Gefahr läuft, das Wesentliche aus dem Blick zu verlieren oder es in gewisser Weise herabzusetzen, was auf dasselbe hinausläuft; denn es gibt kein gemeinsames Maß zwischen der inneren Wirklichkeit der Eucharistie und den zahllosen Kategorien von Messen: »gewöhnliche«, »feierliche«, »Pontifikalämter« und so weiter, um nicht von besonderen und manchmal banalen Messintentionen zu sprechen, die mit diesem allerheiligsten Sakrament verknüpft werden.

    3 Das heißt, dass das äußerst nüchterne liturgische Element in der Sunna selbst enthalten und nicht hinzugefügt ist; sein Hauptinhalt ist die Koranrezitation. Im Judentum liefert uns die Thora ein Beispiel für eine Liturgie, die gleichzeitig sehr reich und in vollem Umfang offenbart, aber nach der Zerstörung des Tempels unwirksam geworden ist.

    4 Ein Theologe hat sich unterfangen zu schreiben, der heilige Paulus »habe erfinden müssen«, um die himmlische Botschaft umzusetzen, was der offenkundigste und auch der ruinöseste Irrtum ist, den man sich in diesem Bereich vorstellen kann.

    5 Vielfach laufen die Volkssprachen Gefahr, zu Werkzeugen von Entfremdung und kultureller Tyrannei zu werden: Unterdrückte Völker hören die Messe fortan in der Sprache des Unterdrückers, welche die ihre sein soll, und Völkerstämme, die archaische Sprachen sprechen – Sprachen, die mithin grundsätzlich zum liturgischen Gebrauch geeignet, wenn auch tatsächlich wenig verbreitet sind –, erleben, dass das Lateinische durch eine andere fremde Sprache ersetzt wird, die liturgisch ihrer eigenen Sprache unterlegen und darüber hinaus für sie mit Gedankenverbindungen beladen ist, die vom Bereich des Heiligen weit entfernt sind. Die Sioux hören die Messe nicht in ihrer edlen Lakota-Sprache, sondern in modernem Englisch; zweifellos kann man die Messe nicht in alle Indianersprachen übersetzen, aber darum geht es hier nicht, da es ja nun einmal die lateinische Messe gibt.

    6 Früher besaß das »Volk« in hohem Maße einen auf natürliche Weise aristokratischen Charakter, der von der Religion herrührt; was die »Plebs« betrifft – die aus Menschen zusammengesetzt ist, die sich weder zu beherrschen noch a fortiori sich zu übersteigen suchen –, so konnte sie nicht für die Sprache insgesamt maßgebend sein. Nur die Demokratie versucht einerseits, die Plebs mit dem Volk gleichzusetzen und andererseits, dieses auf jene herabzumindern; sie adelt, was minderwertig ist, und entwürdigt, was edel ist.

    7 Halten wir fest, dass diese feinen Abstufungen auch vielen Orthodoxen zu entgehen scheinen; da das Slawische, das nicht das Griechische ist, des liturgischen Gebrauchs würdig ist – so argumentieren sie –, ist das moderne Französisch, das genauso wenig Griechisch ist, ebenfalls dieses Gebrauchs würdig. Wenn man empfänglich ist für geistige Andeutungen oder für die mystischen Schwingungen von Formen, kann man nur mit Bedauern diese falschen Zugeständnisse sehen, die sich im Übrigen nicht auf den Bereich der Sprache beschränken und die den so ausdrucksvollen Glanz

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1