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Die letzten Tage der Eule
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Die letzten Tage der Eule

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Frühes fünftes Jahrhundert: Die Geschichte des Untergangs der Antike einmal anders herum, und historisch ehrlicher: Nicht wie in alten Hollywood-Filmen bringt das frühe Christentum Licht und Wärme in die kalte, heidnische Welt. Ganz im Gegenteil: Die staatlich verordnete Zwangschristianisierung seit Kaiser Theodosius reißt die Hochkultur der Antike in einen tausendjährigen Abgrund.Aus einer toleranten Gesellschaft mit vielen Göttern wird eine Monokultur, aus einer Bevölkerung, in der die Mehrheit lesen, schreiben und rechnen kann und die tausende Bibliotheken und Schulen im ganzen Reich ihr eigen nennt, wird ein Heer von Analphabeten, in dem nur noch wenige Geistliche "Heilige Schriften" hegen und kopieren. Bäder müssen schließen, Wissen, Philosophie und Kunst gehen verloren. Das düstere Mittelalter wird eingeläutet, jedoch weniger von Barbaren und Seuchen als von Kirchenglocken. Quintus Aurelius, der Gastwirtssohn aus dem Bären in Vangiones, dem heutigen Worms, wird vom Schicksal in den Strudel dieser Zeit geworfen. Bis ans Ende der damaligen Welt muss er reisen, um seine bei einem Überfall geraubte und in die Sklaverei entführte Verlobte an den Rhein zurückzuholen. Dabei aber sammelt er, der noch die klassische Bildung erfuhr, all die Bücher und Papyri, die unter den neuen Herrschern nicht mehr geduldet werden, um sie für die Nachwelt zu bewahren. Doch erst heute tauchen sie mitsamt seiner Lebensgeschichte in Worms wieder auf.Glänzend recherchiert werden die blutigen Wirren des Kulturkampfes zwischen christlichem Frühmittelalter und Antike wieder lebendig. Nils Opitz entführt die Leser in bekannte Städte und entlegene Winkel des Orbis Romanum zu dieser Zeit. Man begegnet dem heiligen Augustinus, der Philosophin Hypatia und sogar den Nibelungen am Rhein. Und alle sind so ganz anders, als man erwartet hätte...Der Roman erzählt auf packende Weise nichts weniger als die Geschichte einer großen Liebe inmitten des Todeskampfes einer Menschheitsepoche.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateJun 27, 2013
ISBN9783849550813
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    Book preview

    Die letzten Tage der Eule - Nils Opitz

    Karte Germanien um 400

    Prolog

    Die Eule war das Symbol der Göttin Athene. Damit wurde sie im Lauf der Zeit auch zum Symbol für Weisheit und Philosophie der antiken griechischen Kultur.

    Untrennbar gehörten die Bibliotheken, die Akademien und Schulen, die es im griechisch geprägten Römischen Reich zu Tausenden gab, zu dieser Menschheitsepoche. Tatsächlich konnten damals die meisten Menschen lesen, schreiben und rechnen.

    Die Wissenschaft war in der Antike weitgehend frei und kam auch erstaunlich gut voran. Es wurde beobachtet, experimentiert, berechnet und seziert.

    Die Erde war bereits rund und ihre Größe bestimmt, in der Medizin hatten Männer wie Hippokrates und Galen den Zauberglauben zurückgedrängt. Die Lehrbücher wurden gepflegt, abgeschrieben, kommentiert. Alles dies noch bis weit ins dritte und vierte Jahrhundert nach Christus.

    Mythos und Aberglaube erstarkten schon vor der Zeitenwende, aber erst im vierten und fünften Jahrhundert erfolgte ein jäher Zusammenbruch dieser Kultur der Bücher, der Bildung, der Forschung und der Theater.

    Innerhalb weniger Jahrzehnte wurde der Analphabetismus zum Normalfall, schriftkundig waren nur noch die Geistlichen der neuen und einzig erlaubten Religion, die fortan die Macht innehatte. Das seit Kaiser Theodosius I. staatlich vorgeschriebene Christentum ging mit einer rigorosen Verdrängung und Verfolgung aller anderen Religionen und Denkrichtungen einher.

    Gewiss wurde das Römische Reich durch Völkerwanderung, Kriege und Dekadenz geschwächt. Der Untergang der antiken Kultur jedoch wurde durch Kirchenglocken eingeläutet.

    Tempel wurden abgerissen, Bäder und Sportwettkämpfe verboten, Bibliotheken und Akademien geschlossen. An die Stelle von Würde und Freizügigkeit traten Demut und Körperfeindlichkeit.

    Die schwerste Bürde für die folgenden tausend Jahre aber war, dass mit dem antiken Schrifttum auch das mühsam angesammelte Wissen einer ganzen Menschheitsepoche ausgelöscht wurde. Wie konnten Millionen Bücher und Pergamente nach vielen Generationen der Mehrung und Pflege so sehr im Nichts versinken? Und warum fanden nur ganz wenige Überbleibsel erst nach vielen Jahrhunderten mit den Kreuzzügen, meist in arabischen Übersetzungen, nach Europa zurück?

    Dieses Buch erzählt vom Untergang der Bücher inmitten des Todeskampfes der antiken Kultur.

    Und von den Menschen, die das nicht hinnehmen wollten.

    Totenstille

    Er trieb sein Pferd an, um auf die letzte Anhöhe zu gelangen, hinter der das Rheintal lag. Nach den schlimmen Berichten, die ihn am Vortag erreicht hatten, wollte er nun so schnell wie möglich nach Hause.

    Als er die von dünnen Schneeresten und Raureif strahlend weiße Kuppe erreicht hatte und der Blick auf die großen Wiesen zum Fluss hinunter frei wurde, hielt er sein Tier an und erstarrte.

    Was er sah, drang nicht in seinen Verstand. Er stöhnte. Er keuchte.

    Der Schnee war über große Flächen schwarz und rot von Blut. So weit das Auge sehen konnte, lagen tote Krieger über die Wiesen verstreut, bis hinunter an den Fluss. Auch zu seiner Linken im nahen Wald lag alles voller Leichen. Ein gewaltiger Kampf musste hier stattgefunden haben. Wohin er schaute, eingeschlagene Schädel, verstümmelte Körper, Tod und Stille.

    Die Stille war vielleicht das Schlimmste. Welcher Lärm, welches Schreien musste hier gestern noch die Luft erfüllt haben. Jetzt strich nur noch der kalte Wind leise über das weite Feld, nichts regte sich. Nur am Waldrand sah er einige Wölfe zwischen den Toten stehen und hier und da machte sich ein Rabe an einem Leichnam zu schaffen.

    Die Schlacht konnte nur einen Tag her sein, dennoch war nirgends ein Verwundeter zu entdecken. Ein dichter Eisnebel, der vom Fluss herauf gekrochen kam, hatte sich als funkelndes weißes Leichentuch auf alle Rüstungen, Gesichter, Waffen und die toten Pferde gelegt wie ein unheimlicher Fluch. Wer verwundet überlebt hatte, musste erfroren sein.

    Mit einem Stöhnen ließ er sich von seiner Stute fallen und taumelte, den Zügel schlaff in der Linken, die Straße entlang, zwischen den toten Körpern hindurch und über sie hinweg.

    Alle lagen sie hier, die tapferen Burgunden, die Stadtmilizen von Vangiones und die Legionäre Roms. Auch einige tote Hunnen waren darunter. Es brauchte keinen geübten Blick, um zu sehen, wer diese Schlacht verloren hatte. Die toten Burgunden und Soldaten aus Vangiones überwogen bei Weitem. Rom hatte abgerechnet.

    Pfeile und Schwerter in Körpern, abgebrochene Speere, in einem letzten Jammern verzerrte Gesichter, gebrochene Augen. Dazu eine Menge an Blut, das wegen der Eiseskälte noch ganz frisch wirkte und dessen Geruch die Luft erfüllte. Die Beine versagten ihm den Dienst, er stolperte. Er blieb stehen, erbrach sich und sackte weinend zusammen.

    Sollte er nach seinem Bruder suchen? Nach seinem Neffen? Nach Friedger? Nach dem König?

    Er war sich sicher, er würde sie alle hier finden, doch die vielen tausend Toten in ihrer grauenvollen Eiskruste könnte er unmöglich alle umdrehen und betrachten.

    Er wusste, dies war das Ende. Das Ende der Burgunden und ihres stolzen kleinen Reiches. Gewiss war es auch das Ende seiner Heimatstadt, die nur noch eine Stunde von hier entfernt lag.

    Er fühlte sich plötzlich schrecklich allein und alt wie ein Greis. Wie jemand, den der Tod vergessen hatte. Schluchzend und strauchelnd durchschritt er das ausgedehnte Schlachtfeld. Zur Linken auf einem kleinen Hügel lagen dicht gedrängt die Offiziere des Königs, mitten unter ihnen auch das vereiste Antlitz ihres Herrschers, König Guntiar.

    Eine drückende Angst stieg in ihm auf. Dennoch spürte er, dass er nach Hause musste. Und wenn es das Letzte sein sollte, was er in seinem Leben tat.

    Die Entdeckung

    Es klingelte. Noch im Halbschlaf stand er auf und lief nackt ans Telefon. „Flothmann, hallo? „Ralf hier. Nick, gut dass du da bist. Du musst sofort rauskommen, nach Worms. Ich glaube, wir haben da was. Ich fasse es nicht, aber es sieht ziemlich gut aus. Ein großer Hohlraum, aufgemauert. Gleich heute früh ist der Bagger drauf gestoßen, er ist umgekippt, weil die Seitenwand der Grube plötzlich nachgab.

    „Ich komme, sagte Nikolaus Flothmann nur. „Ich beeile mich.

    Hoffentlich nicht nur ein alter Weinkeller, aus dem Spätmittelalter, voller Ton- und Glasscherben, gerade interessant genug, um damit ein paar Praktikanten vom Gymnasium zu beeindrucken, dachte er, während er sich eilig anzog und in die Küche rannte.

    Fahrig brühte er sich einen Pulverkaffee auf. Er hasste Instant-Kaffee, aber wenn es schnell gehen musste, war das besser als nichts. Obwohl er vorsichtig an dem heißen Kaffee nippte, verbrannte er sich mit dem ersten Schluck die Zunge. Er fluchte und war ziemlich aufgeregt.

    Wenn es wirklich die gesuchte Bibliothek war, dann wäre es eine Sensation, die zu groß war, um sie sich vorzustellen.

    Im Zuge einer Grabungskampagne in Bagdad waren Bruchstücke von Pergamenten aufgetaucht, die, zusammen mit anderen Funden, gerade noch vor dem Irak-Krieg aus dem Land geschafft werden konnten. An der Uni Trier hatte man sie gründlich untersucht und die Pergamentstücke entziffert. Auf einem größeren Fetzen war in griechischer Schrift von einer geheimen Bibliothek in Worms die Rede, und dies mit genauer Ortsangabe. Die Übersetzung war so umstritten wie unglaublich.

    Er rief Norbert Bäumer an, den Archäologen aus Heidelberg, der alles ins Rollen gebracht hatte.

    „Norbert? Habe ich dich geweckt? Ralf rief gerade aus Worms an, sie sind heute früh auf etwas gestoßen, einen großen Hohlraum. Du solltest schnell dazu kommen, aber fahr langsam. Wir warten auf dich, du wirst nichts verpassen."

    Auch Bäumer war sofort wie elektrisiert und versprach, gleich loszufahren. Es hatte drei Jahre Arbeit gekostet, die Wormser zu überzeugen, mitten in der Fußgängerzone am Römischen Kaiser, Ecke Kämmererstraße, eine archäologische Grabung durchzuführen. Nikolaus Flothmann, den seine Kollegen nur Nick nannten, und seines Zeichens Leiter des Landesdenkmalamtes in Mainz, hatte sich von ihm überzeugen lassen und schließlich mühsam die Grabungsgenehmigung erkämpft.

    Zu Beginn der Grabungen mussten sie den Winzerbrunnen, ein unansehnliches Ding, wie Nick fand, vorsichtig entfernen und hatten ihn dabei auch noch beschädigt. Das Kaufhaus direkt daneben drohte fortwährend mit Schadenersatzklagen wegen ausbleibender Kunden und auch die anderen Kaufleute ringsum lamentierten. Es hatte Drohungen und Beschimpfungen gehagelt und so standen sie zunehmend unter Erfolgsdruck. Nachdem sie jetzt schon seit sechs Wochen erfolglos herumbuddelten und das Loch immer tiefer und größer wurde, wurden die ersten Stimmen laut, diesen Unfug der Archäologen und Historiker abzubrechen. Sogar der Oberbürgermeister hatte kalte Füße bekommen und sich vorsorglich wieder von dem Projekt distanziert.

    Als Nick nun in seinem alten Renault auf die Autobahn Richtung Worms einbog, dachte er an Schliemann und Troja, an Carter und Tut’anch Amun. Er schaltete das Radio an, um sich mit Wetterbericht und Verkehrshinweis wieder auf den Teppich zu holen.

    Worms, die vielleicht älteste Stadt Deutschlands, das Borbetomagus der Kelten und das Vangiones der Römer. Eigentlich der richtige Ort für sensationelle Funde. Er dachte an die Entdeckung von Brandgräbern und Sarkophagen, 1988, vor seiner Zeit beim Landesdenkmalamt. Es war ein herrlicher Fund gewesen, mit reichen Grabbeigaben und Glaskunst erster Güte, wie man sie in diesem Raum sonst nirgends gefunden hatte. Und ihm fiel das Grab der jungen Frau ein, in dem man neben den Gebeinen wundervollen Schmuck aus Gold und Edelsteinen gefunden hatte, von einer Qualität, als wären sie frisch aus der Werkstatt des Goldschmieds. Aber heute war heute und er glaubte eigentlich nicht, dass ihn auch einmal solches Finderglück ereilen würde. Zumal eine Bibliothek und irgendwelche Pergamente und Papyri im nassen Deutschland kaum Aussichten darauf hatten, viele Jahrhunderte zu überdauern, anders als in Ägypten oder Syrien.

    Nieselregen, acht Grad, ein typischer, dunkler, feuchter Novembermorgen. Im Osten wurde der Himmel langsam grau.

    Sein Kollege Ralf Stockhausen wartete bereits auf der Baustelle und half ihm beim rutschigen Abstieg in die riesige Grube. Sie war über acht Meter tief. Nick stockte und erstarrte einen Moment, als er im fahlen Morgenlicht hinter dem kleinen umgestürzten Bagger das Loch erblickte. Es war gerade so groß, dass man sich hätte hineinzwängen können. Es lag sehr tief, etwa sieben Meter unter dem Bodenhorizont. Das konnte kein verschütteter Vorkriegskeller sein. Seine Neugierde wuchs und er spürte, wie die kleinen Haare auf seinem Rücken zu kribbeln begannen. Ralf redete die ganze Zeit leicht überdreht auf ihn ein und zeigte ihm seine Karte.

    „160 römische Gradi von der Westmauer entfernt und 290 Gradi vom südlichen Stadttor, genau wie in den Papyri beschrieben. Und nur zwanzig Gradi, also etwa 15 Meter neben der Hauptstraße, die unter der Kämmererstraße verlief. Es würde passen."

    Er hatte einen Stadtplan dabei, in dem bisherige Funde und Grundrisse des antiken Worms eingezeichnet waren. Als sie vor dem Loch standen, waren ihre Schuhe und Hosen schon völlig vom Lehm verschmiert.

    Drei Arbeiter standen neugierig wartend und rauchend ein paar Meter hinter ihnen und hofften, Zeugen irgendeiner Entdeckung zu werden. Man hatte schon um sieben mit der Arbeit begonnen, und gleich in den ersten Minuten war es passiert. Bei dem Schreck über das auftauchende Loch und den plötzlich nicht mehr vorhandenen Widerstand hatte der Baggerführer überreagiert und der Minibagger war auf dem rutschigen und schrägen Untergrund einfach umgekippt, dem Fahrer war zum Glück nichts passiert.

    Das Loch maß etwa fünfzig Zentimeter an der breitesten Stelle und knapp sechzig in der Höhe. Einige Steine am Rand waren jedoch sehr locker. Es war ganz offensichtlich Mauerwerk. Ralf und Nick sahen sofort, dass es alt war. Sehr alt. Nicht in den letzten hundert Jahren aufgemauert. Auch nicht in den letzten fünfhundert.

    Ralf zückte seine riesige Taschenlampe, so eine, wie sie auch die Polizisten haben, und knipste sie an, als wäre es ein ritueller Akt.

    „Du bist der Chef, Nick. Ich leuchte dir und du kriechst zuerst rein? Einverstanden?"

    Nick sagte nichts, er starrte gebannt auf die Mauersteine und war so gespannt wie nie zuvor in seinem Leben. Er spürte, dass er hier etwas ganz Besonderes finden würde.

    Ganz vorsichtig entfernte er drei weitere Steine am unteren Rand, der Baggeranriss hatte sie bereits gelockert. Ralf leuchtete in die tiefschwarze Öffnung. Man konnte erst fast nichts sehen, nur, dass der Boden etwa zwei Meter tiefer lag als die Öffnung. Die Schwärze des Raumes schluckte jedes Licht. Er beugte sich weit in die Öffnung hinein und Ralf reichte ihm die Stablampe über die Schulter an. Nick leuchtete in das schwarze Loch. Sein Atem stockte, er gab komische Laute von sich, die Ralf nicht deuten konnte. Es war eine merkwürdige Mischung aus Stöhnen und Rufen. Nicks Augen verschlangen, was sie sahen. Alles in ihm wollte kreischen vor Freude, denn was er sah, war in jedem Falle etwas sehr Besonderes, etwas ganz gewiss Großartiges, auch wenn er es eigentlich gar nicht zu deuten wusste.

    Es war eindeutig sehr alt und ganz sicher ein antiker Fund. Er schaute von oben nach unten, von links nach rechts. Aber konnte das die in den Papyri aus Bagdad versprochene Bibliothek sein? Es sah eher aus wie eine Grabkammer, schlichte Sarkophage standen an beiden Seiten. Aber nichts erinnerte an eine Bibliothek.

    Der Raum maß, soweit er das sehen konnte, etwa sechs mal sieben Meter, war in der Mitte gut zwei Meter hoch und wurde von vier Säulen gestützt. An den niedrigeren Seitenwänden standen die Sarkophage, sie waren aus Stein und in gutem Zustand. Nick spürte, dass seine Hände ganz feucht wurden und er griff fester um die schwere Lampe, die ihm wegzurutschen drohte. Dieser Raum hatte ein Geheimnis, dass es zu lüften galt. Wer lag in diesen Truhen? Und was lag daneben und darauf herum? Es sah unordentlich aus.

    Nach einer Ewigkeit, die Zeit schien stehen geblieben zu sein, riss er sich von dem Anblick los, schob sich zurück und drehte sich langsam zu Ralf um. Der sah ihn erwartungsvoll an. Doch statt einer Erklärung umarmte Nick seinen Kollegen nur ganz fest und lachte und lachte.

    „Oh je, Ralf, oh je", dabei zog er Grimassen. Er stand auf und hüpfte auf der Stelle wie ein Kind.

    „Keine Tonscherben. Keine Toten von 1890. Das ist was Richtiges, Ralf, etwas Richtiges, eine Entdeckung! Aber ich habe keine Ahnung, was es ist."

    Ralf Stockhausens Ungeduld schlug in Überraschung um, so kannte er seinen Chef nicht. Nick war Mitte fünfzig, die fleischgewordene Desillusionierung, Zyniker, ironischer Feingeist, aber nie hatte er ihn begeistert und glücklich wie ein Kind erlebt.

    Die Arbeiter hinter ihnen klatschen verlegen Beifall, als sie sahen, dass die zwei Wissenschaftler da ganz offenbar etwas Tolles entdeckt hatten.

    „Schnell jetzt, ruf gleich das Landesamt an, wir brauchen die ganze Ausrüstung, das Regenschutzzelt, die Lampen, das Werkzeug. Maria soll das alles schnell herschaffen, mit dem Transporter." Nachdem auch Ralf einen langen Blick in das Gewölbe geworfen hatte, lief er wortlos und wie auf Watte zum Wagen, um die Anrufe zu erledigen.

    Eine halbe Stunde später, Nick und Ralf hatten in dem feinen Regen an dem Loch, das in eine andere Welt führte, ausgeharrt, war auch Norbert Bäumer zu ihnen gestoßen. Kurz nach ihm traf Maria vom Landesamt mit dem Transporter und der Ausrüstung ein. Ralf hatte einige weitere Steine entfernt und so konnten sie nun vorsichtig eine kleine Aluminiumleiter in den Raum hinab lassen, Nick setzte sich Atemmaske und Stirnbandlampe auf, zog die Baumwollhandschuhe an und stieg vorsichtig rückwärts in den Raum hinunter. Bäumer reichte ihm zwei weitere dicke Lampen und den schweren Fotokoffer nach. Nick stellte sie ganz vorsichtig ab, nahm eine der beiden hellen Lampen, und ging langsam, fast andächtig, in den Raum hinein. Ralf folgte ihm in der gleichen Montur und ließ sich von Norbert Bäumer die Kamera anreichen.

    Bei solchen alten Gräbern und Räumen bestand immer die Gefahr der Verseuchung mit Sporen des Gelben Schimmels. Die Aflatoxine gehörten zu den gefährlichsten natürlichen Giften und zeichneten schon für den so genannten Fluch der Pharaonengräber verantwortlich. Nur gute Schutzmasken oder tagelanges Lüften boten Schutz vor ihnen.

    Ganz vorsichtig und durch die Masken schnaufend gingen sie durch das Gewölbe. Rechts und links standen, Ehrfurcht gebietend, die schlichten Sarkophage, aber anders als in einem unberührten Grab, standen überall darauf und dazwischen Behälter, Flaschen, Krüge und Gefäße.

    Jetzt konnte man sehen, dass sich an der hinteren Ecke ein weiterer Raum anschloss, dieser war kleiner, lang und schmal, und in ihm standen viele fast zerfallene Gegenstände, vielleicht Möbel. Nick erschrak kurz, an der linken Wand lag ein Leichnam, ein Skelett mit schwarzbraunen Stoffresten bekleidet. Der Tote lag dort sehr friedlich, irgendwie, als hätte er sich zum Schlafen hingelegt und als wäre dies sein selbstverständlicher Platz. Zahlreiche Gegenstände lagen und standen um ihn herum, Öllampen, Teller, außerdem ein völlig verrostetes Langschwert, das noch immer beeindruckend aussah. Um den Hals trug er eine gut erhaltene Kette, an der eine kleine, vielleicht goldene Eule und ein Ring hingen. Bei ihm lagen einige verschlossene Glasflaschen.

    Kein Zweifel, dies war antiken, wahrscheinlich spätantiken Ursprungs. Davon zeugten die Öllampen, von denen ein halbes Dutzend um den Toten herum stand. Eine Wand bestand aus vermoderten, bronzebeschlagenen Holzbalken, Griffe auf ihr deuteten an, dass dahinter womöglich noch mehr Räume lagen. Als sie auf den Türbogen zwischen den zwei Räumen leuchteten, konnten sie keltische Runen erkennen, doch alles andere hier wirkte römisch, spätrömisch.

    Ralf, der Nick sonst meist zu viel redete, hatte es die Sprache verschlagen, er schaute sich konzentriert um, atmete schwer und pfiff unter seiner Maske ohne Unterlass durch die Zähne.

    „Was ist das nur, Nick? Eine komische Gruft? Wo soll hier eine Bibliothek sein?"

    Nick antwortete nicht und steuerte wieder in den ersten Raum und auf die Sarkophage zu. Es waren zehn und Nick musterte sie genau. Sie waren völlig schlicht und ohne jede Verzierung oder Beschriftung. Die dicken Steindeckel schienen lose aufzuliegen. Nachdem Ralf eine ganze Reihe von Fotos gemacht hatte, stieß Nick ihn an. Seine Neugier war zu groß, er wollte es sofort wissen.

    „Fass mal an, aber vorsichtig!"

    Gemeinsam schoben sie den schweren Deckel der ersten Truhe, auf der nichts lag oder stand, Stück für Stück zur Seite. Eine krümelige, dunkle Substanz befand sich zwischen Deckel und Truhe, eine Dichtung, dachte Nick. Dann beugten sie sich über den halb geöffneten Sarkophag wie zwei Chirurgen am OP-Tisch über einen aufgeschnittenen Brustkorb und leuchteten mit zitternden Händen hinein.

    Flaschen, lauter Flaschen, vor allem aber merkwürdige Glasgefäße, die mit Deckeln verschlossen waren, wie große, eckige Einmachgläser. Das Glas war grünlich und fast undurchsichtig. Die ganze Steintruhe voll davon. Obenauf lagen auch einige Folianten, sie waren zwischen Lederdeckeln oder Holzplatten gebunden. Sie fassten nichts an, starrten nur angestrengt und ungläubig hinein. Augenscheinlich waren die Bücher relativ gut erhalten, aber so dunkel, dass man außen darauf nichts entziffern konnte. Gewiss hätte jedes Anfassen das Papier zerstört.

    Wieder entrang sich Nick ein Stöhnen. Von so etwas hatte er nicht einmal geträumt. Das gab es eigentlich gar nicht. Ganz egal, was das für Bücher waren, und was sich in diesen merkwürdigen Glasbehältern befand, es war der bedeutendste Fund Deutschlands der letzten Jahrzehnte. Fast fiebrig gingen sie zu einer weiteren Truhe, schräg gegenüber. Auch hier ließ sich der Deckel mit viel Kraft langsam zur Seite schieben, und auch hier, die gleichen eckigen Glasgefäße, in großer Zahl. Sie hielten die Taschenlampe ganz nah an das grünliche trübe Glas. Man ahnte mehr, als dass man es sah, es schienen Bücher darin zu sein. Jetzt wurde ihnen alles klar. Diese zehn Sarkophage waren die versprochene Bibliothek, eine solche Zahl an antiken Schriftzeugnissen, wie er sonst von einem einzelnen Fund keine kannte.

    Dutzende Fragen rasten Nick durch den Kopf. Warum hier? Tempel und Forum hatten über zweihundert Meter entfernt gelegen. Wer war der Leichnam? Hatte er im Vorraum die Sarkophage bewacht?

    Mühsam konnte Ralf auf einem schwärzlichen Holzdeckel einige eingeritzte lateinische Schriftzeichen erkennen und stieß Nick leicht an.

    „AMMIANUS MARCELLINUS, RES GESTAE, XII, entzifferte er. „Es gibt ein Geschichtswerk von Ammianus, einem Historiker aus Syrien, spätes viertes Jahrhundert, aber die Hälfte der über dreißig Bände gilt als verschollen, sagte er dumpf. Dann schlug er sich die Hand vor die Atemmaske. „Das ist unglaublich, Nick. Wir haben sie gefunden. Die antike Bibliothek, wie in den Papyri beschrieben."

    Nick klopfte ihm auf die Schulter, drückte seinen Arm, sagte nichts und spürte, dass seine Augen nass wurden. Die Maske beschlug von innen. Als er etwas sagen wollte, spürte er, wie sich alles in ihm zusammenkrampfte, ein Glücksgefühl stieg in ihm hoch, wie er das noch nie erlebt hatte.

    Nur langsam konnten sie sich von dem Bann der Bücher lösen. Nachdem sie mit der Kamera alle Filme verschossen hatten und Übersichtsbilder von jeder Stelle der zwei Räume gemacht hatten, stiegen sie wie in Trance wieder aus dem Gewölbe in das trübe Novemberlicht. Sofort nahm Bäumer Nick die Maske ab und stieg ebenfalls hinein. Schließlich war es seine Arbeit in Bagdad und Trier gewesen, die zu dieser Entdeckung geführt hatte.

    Draußen hatte sich am Rand der Grube inzwischen eine große Menschentraube gebildet, sogar das Fernsehen war da. Irgendwer musste sie informiert haben. Als sie aus dem tiefen Loch gestiegen waren, reckten sich Nick einige Mikrofone und Kameras entgegen. Er war nervös, fahrig wischte er sich mit dem Ärmel durch das staubige Gesicht und über die nassen Augen. Der Versuch, professionell auszusehen und leicht zu lächeln, misslang ihm vollends, denn er konnte nichts dagegen tun, dass er strahlte wie ein kleiner Junge, der gerade eine Ritterburg zum Geburtstag bekommen hatte.

    „Sie müssen uns entschuldigen. Hier ist etwas Großartiges verborgen, etwas, das Worms vielleicht noch berühmter macht, als es ohnehin schon ist. Es könnte ein Gewölbe aus keltischer Zeit sein, das in der Spätantike irgendwie zweckentfremdet wurde", er stockte und sah in die erwartungsvollen Gesichter, dachte einen Moment, dass er wahrscheinlich etwas ungeschickt wirkte, nicht wie ein großer Wissenschaftler und Entdecker.

    „Soweit wir das jetzt sagen können, ist es tatsächlich so etwas wie eine Bibliothek." Er lachte unwillkürlich los und versprach, als er sich wieder gefangen hatte, es werde eine Pressekonferenz geben, sobald man mehr wisse. Demonstrativ drehte er sich zu Ralf um und hoffte, dass die Leute erst mal verschwänden. Murrend und unzufrieden löste sich die Gruppe langsam auf, nicht ohne vergebliche Versuche einzelner Journalisten, mitsamt Kameras in die Grube hinunterzuklettern, um an das gähnende Loch zu gelangen.

    Nick klatschte in die Hände. „Das bedeutet Arbeit, Leute, viel Arbeit. Und die schönste Arbeit, die sich ein Archäologe auf der Welt vorstellen kann. Wir brauchen ganz schnell Unterstützung. Wir brauchen eine Projektgruppe. Ich werde hier bleiben. Niemand kriegt mich hier weg. Norbert, besorge ein Wohnmobil, der Fund darf sowieso nicht unbewacht bleiben. Ralf, ruf die Papyrologie in Trier an, die sollen heute noch kommen, am besten die Professorin selbst, wie heißt sie noch?"

    „Kerner, Frau Kerner, meinst du. Die wird Augen machen. Hoffentlich ist sie nicht verreist."

    „Lass dich nicht abwimmeln. Und wenn sie gerade in Ägypten oder sonst wo ist, lasse ihr von mir ausrichten, sie soll das nächste Flugzeug nehmen, alles andere würde sie bereuen.

    Dann brauchen wir den Gaber hier, aus Berlin, und den Hertwich aus Basel. Himmel, mir wird schwindelig."

    Es würde Monate dauern, diesen Fund zu sichern und zu bergen, und Jahre, ihn auszuwerten. Das würde Geld kosten und man würde viele Leute brauchen, nicht irgendwelche, sondern die besten Fachleute, die man kriegen konnte. Er musste noch heute den Wissenschaftsminister anrufen.

    Erster Teil

    1. Eule und Schwert

    Hart schlugen Pferdehufe auf das Straßenpflaster direkt unter s einem Fenster und weckten ihn. Noch leicht benommen sprang er aus dem Bett, zog sich seine Schuhe an und schnallte den Gürtel um die Tunika. Während er die Treppe in die Küche hinun terlief, fuhr er sich mit den Fingern durch das Haar, denn den Kamm hatte er wieder einmal verlegt.

    Es sollte ein spannender Tag werden. Heute würde er seinen Lehrer kennen lernen, einen für höhere Bildung. Zwar hatte Quintus die Schule, die er nun schon seit zwei Jahren hinter sich hatte, wenig Freude gemacht, wie allen Kindern. Doch im Lesen und Schreiben war er sehr gut und er las leidenschaftlich gerne alles, was ihm an Schriften in die Hände fiel. Und weil er ebenso klug wie wissbegierig war, hatten seine Eltern beschlossen, ihm einen Lehrer alter Schule angedeihen zu lassen.

    Meist lehrten sie Rhetorik, Grammatik und Geschichte, damit konnte man Verwaltungsbeamter werden. Sich nur, wie sein älterer Bruder Aennius, um das Gasthaus und um die Pferde der Gäste zu kümmern, war für Quintus zu wenig Herausforderung.

    Nun stand so gut wie fest: Wenn der Lehrer einwilligte, hatte er an drei Vormittagen in der Woche Unterricht bei ihm, was nicht ganz billig war. Doch das Gasthaus „Zum Bären" lief seit Jahren gut und Titus und Chara, seine Eltern, waren keine armen Leute.

    Aus der Küche duftete es nach frischem Brot, seine Mutter saß am großen Tisch der Familie und wartete schon auf ihn. Sie hatte bereits einige Gäste verabschieden müssen, die in aller Frühe in Richtung Treveris aufgebrochen waren. Der Winter wich gerade den ersten zaghaften Frühlingstagen.

    Helga, die füllige Fränkin mit zahllosen Lachfalten um die Augen, holte die Brotfladen aus dem Ofen, und für Quintus stand ein großer Krug warmer Milch auf dem Tisch.

    Titus, sein Vater, war seit Wochen in Gallien unterwegs, auf einer seiner vielen Einkaufsreisen. Um ihren Ruf zu bewahren, das beste Gasthaus der Stadt zu sein, musste er immer wieder weit nach Süden und Westen reisen, um besondere Gewürze und Kräuter, besten Wein aus sonnigeren Gefilden oder auch edles Olivenöl und Würzpasten einzukaufen. Sogar Zimt und Pfeffer waren an ihren Speisen, und so lockten sie zahlungskräftige Gäste aus nah und fern.

    Seine Mutter Chara war die Tochter eines römischen Offiziers griechischer Abstammung, sie sprach Lateinisch und Griechisch. Sie war es auch, die durchgesetzt hatte, dass Quintus nun einen Lehrer bekam. Sein Vater hätte ihn lieber auf seine Reisen mitgenommen, damit er die Welt kennen lernen konnte, um eines Tages in seine Fußstapfen zu treten.

    Titus selbst war Römer von Geburt, doch hatte er eine fränkische Mutter gehabt. Nach dem Militärdienst hatte er mit der Abfindung und seinem Anteil aus einer befohlenen Plünderung das Gasthaus in Vangiones gekauft, das damals ziemlich heruntergewirtschaftet und in keinem guten Zustand war.

    So war Quintus ein echtes Kind des römischen Reiches, in seinen Adern floss griechisches, römisches und germanisches Blut. Und weil sein Vater fast so gut Germanisch wie Lateinisch sprach, dazu ein wenig Griechisch, konnte man im Bären mit Gästen aus der Ferne gut umgehen. Das hatte sich herumgesprochen und wer von südlich der Alpen kam und bis hinauf nach Colonia Agrippina, Ulpia Traiana oder Treveris musste, der machte hier eine Nacht Halt.

    Doch das Gasthaus war auch ein wahres Nachrichtenzentrum. Nicht selten wusste man hier die großen Neuigkeiten aus Rom oder anderen Teilen der Welt eher als in der Präfektur.

    Quintus trank seine Milch und sah in Gedanken versunken mit einem weißen Sahnebart Helga bei der Arbeit zu. Sein um zwei Jahre älterer Bruder arbeitete bereits im Stall.

    Chara war mindestens so aufgeregt und neugierig wie ihr Sohn. Viele Gäste und sogar den Präfekten hatten sie um Rat befragt, wen man als Lehrer nehmen könne. Schließlich hatte ein reisender Arzt aus Confluentes ihnen Demosthenes empfohlen, der in Mogontiacum lebte, wo er einige Schüler hatte, aber nicht dort bleiben wollte. Er sollte ein richtiger griechischer Philosoph sein, nicht so ein Straßenlehrer, der die Kinder freudlos in Schreiben und Geometrie drillte. Chara, die stolz war, eine Griechin zu sein, fand die Vorstellung erhebend, einen solchen Mann als Hauslehrer in den Bären zu holen.

    „Kämme dein Haar ordentlich, Junge. Dein Lehrer kann jederzeit hier sein. Er schrieb, er käme noch am Vormittag."

    Für Quintus, der fünfzehn Jahre alt war, würde im Frühjahr die Militärschulung beginnen, die vor allem aus Sport und Kampfübungen an verschiedenen Waffen bestand. Chara wusste, dass er sich nichts daraus machte, er war eher ein Kopfmensch und auch kein Raufbold. Bestenfalls würde er die Übungen als notwendiges Übel akzeptieren. Ein anspruchsvoller Unterricht würde ihm Ziele geben. Dann würden die Kampfübungen zur Nebensache und ihn weniger belasten, dachte sie.

    Nachdem er die Milch getrunken und sich die Haare ordentlich gekämmt hatte, zog er den Mantel über und lief auf die Hauptstraße hinaus, um zum nördlichen Stadttor zu schlendern. Vielleicht würde er diesem Demosthenes begegnen. Er war sich nicht sicher, ob er ihn auch erkennen würde. Wie sah ein griechischer Philosoph aus? Gewiss hatte er einen Bart, und wahrscheinlich war er nicht mehr der Jüngste. Weiter gingen seine Vorstellungen nicht.

    In der Frühe hatte noch dicker Raureif auf allen Dächern gelegen. So war es trotz der weißen Sonnenstrahlen zwischen den Häusern noch bitterkalt. Nach einer Weile des Wartens stapfte er missmutig und verfroren zurück nach Hause, lief hinauf auf sein Zimmer und legte sich auf sein Bett.

    „Quintus, dein Lehrer ist da, komm runter!" hörte er endlich Aennius rufen. Er flog die Treppe regelrecht hinunter, sein Bruder stand in der Gaststube und zeigte auf das kleine Nebenzimmer. Quintus ging hinein und blieb bei der Tür stehen.

    Am Tisch vorm Fenster saß ein grauhaariger und sehr hagerer Mann über einen Teller gebeugt. Er löffelte seine Suppe und in seinem Bart hingen ein paar Brotkrümel. In der Linken hielt er eine Kaninchenkeule mit Garum, offenbar hatte Chara ihn sogleich gut versorgt. Quintus überlegte einen Moment, ob er enttäuscht sein sollte.

    „Salve, junger Mann. Du bist also Quintus Aurelius, der Wissensdurstige?" Dabei sah der alte Grieche ihn milde lächelnd und doch auch so bohrend an, dass Quintus rot wurde bis an den Haaransatz.

    „Setze dich doch her zu mir. Ich bin fast fertig mit dem Essen. Es ist wunderbar. Deine Mutter ist eine gute Köchin."

    Verlegen setzte er sich zu dem Alten an den Tisch.

    „Mein Name ist Demosthenes. Ich stamme aus Syrakus. Vielleicht hat man dir das schon gesagt. Ich unterrichte Rhetorik, Grammatik, Geometrie, Griechisch, Astronomie, ein klein wenig Medizin und Philosophie, ganz wie der Schüler es wünscht und vermag.

    Aber du solltest mir vielleicht zu Beginn ein wenig von dir erzählen. Was du schon alles weißt, was du lernen möchtest und was du erwartest. Sofern du nicht stumm bist."

    Der Alte lächelte wieder und schob den leeren Teller zur Seite. Quintus aber hustete, er war unerwartet verlegen.

    „Entschuldigt. Ich bin etwas aufgeregt. Ich habe mir immer gewünscht, solche Dinge zu lernen. Ich weiß auch schon sehr viel."

    „So? Erzähle."

    Nicht ohne Stolz zählte Quintus auf, dass er gut lesen und schreiben konnte, das griechische Alphabet beherrschte, Germanisch sprach, Dreiecke und Kreise berechnen konnte, die Sternbilder kannte und alle Götter aufzuzählen wusste. Gespannt sah er den Alten an.

    Der kraulte sich den Bart. „Nun, das ist doch ein ganz brauchbares Fundament. Wir wollen sehen, was wir daraus machen können."

    Lange betrachtete Demosthenes den Jungen, als wolle er sein Gewicht taxieren.

    „Dich soll ich also in das Reich der Eulen führen", murmelte er.

    „Zu den Eulen?" Quintus war irritiert.

    „Ja, zu den Eulen. Sie sind das Symbol der Weisheit, der Wissenschaft und der Philosophie. Weißt du, so wie die Christen den Fisch und die Taube haben. Das Reich der Eulen, das sind die Bibliotheken, die Akademien und Schulen, in denen das Wissen gemehrt und weitergegeben wird. Ein kleines Stückchen von diesem Reich können wir in dieses schlichte Zimmer holen, wir zwei. Wenn du es willst."

    Quintus war beeindruckt, eine ganze und fremde Welt schien sich vor ihm zu öffnen.

    „Aber erzähl mir, was du von mir wissen und lernen willst, junger Mann", fuhr Demosthenes fort, dabei sah er ihn warmherzig, aber auch sehr wach an.

    Quintus überlegte eine Weile: „Meine Mutter hat mir erzählt, Ihr würdet mir beibringen, was die Alten wussten. Sie sagt immer, hier im Norden würden wir alle allmählich verblöden und dass die ganze Welt langsam immer dümmer wird. Dass die Alten wussten, warum man eine bestimmte Krankheit hat, was in unserem Körper ist, wie das Wetter wird, wann und warum sich manchmal der Mond oder sogar die Sonne verdunkelt. Sogar, dass die Luft, die wir atmen, nicht Nichts ist. Er stockte kurz: „Und warum wir überhaupt da sind, dann hustete er und wurde wieder etwas rot.

    Demosthenes aber lächelte. „Du hast eine kluge Mutter, mein Junge. Wenn du solche Dinge wissen willst, dann werden wir vielleicht viele Stunden Freude miteinander haben, denn ich habe mich nun fast vierzig Jahre mit solchen Fragen beschäftigt. Einiges über die Welt habe ich in meinen wenigen Büchern, vieles aber auch hier oben", dabei tippte er sich an die Stirn.

    „Wir werden gleich zu Beginn mit der griechischen Sprache anfangen. Wenn du ihr Alphabet schon ein wenig kennst, umso besser. Aber du musst sie lesen und schreiben können, denn sehr viele wichtige Bücher gibt es nur in Griechisch. Außerdem ist die Sprache reicher, genauer und, verzeihe mir, schöner als das Lateinische.

    Ein bisschen über Anatomie und Medizin kann ich dir sicher auch beibringen, doch das ist nicht meine größte Stärke. Aber ich werde dich zu den Gestirnen und Sphären entführen, zu ihren Bahnen und in die Weite des Kosmos. Und, vielleicht das Wichtigste, will ich dich auch lehren: die Philosophie vom richtigen Leben. Nicht Haarspaltereien und Wortklaubereien, sondern die Philosophie, die man braucht, um im Leben bestehen zu können.

    Ein wenig Rhetorik und Grammatik können wir gerne üben, auch wenn das eher für Aufschneider und Schwätzer wichtig ist. Aber es kann dir nützen, wenn du einmal in einer Verwaltung arbeitest." Bei diesen Worten glaubte Quintus einen verächtlichen Unterton herauszuhören.

    „Doch nun noch zu mir: Da gibt es nicht viel zu sagen. Ich habe in Syrakus und Athen auf den Schulen gelernt, ich bin viel in der Welt herumgekommen, war lange in Rom, lange in Hispanien und kam schließlich über Gallien hier in den Norden. Ich bin nicht mehr der Jüngste, wie du an meinem grauen Bart ablesen kannst, und ich möchte vielleicht hier bleiben. Ich bleibe, wenn ich einen Schüler gefunden habe, der es wert ist. Und wenn ich in einer freundlichen Stadt bin, in der man mich in Ruhe lässt. Und ein Letztes: Ich spreche nicht gern über meine Vergangenheit. Halte dich mit Fragen darüber bitte zurück, dann werden wir gut miteinander auskommen."

    Quintus hatte aufmerksam zugehört, immer wieder genickt und am Ende verblüfft geschaut, als der Alte ihn so geheimnisvoll von seiner Vergangenheit ausschloss.

    „Wann fangen wir an?" fragte er voller Eifer.

    „Nun, am besten, jetzt, lächelte der Grieche. „Sobald du Tinte und Papyrus bereit hast, oder eine Wachstafel und einen Griffel, fügte er hinzu und Quintus hastete auf sein Zimmer, um beides zu holen.

    In den folgenden Wochen saßen sie regelmäßig vormittags in der Stube und er kritzelte griechische Worte, las aus griechischen Büchern und musste Vokabeln hinsagen. Das Lernen fiel ihm nicht schwer und der Alte hatte Freude an ihm.

    Noch im gleichen Frühjahr, Quintus wurde im fünften Monat sechzehn, begannen auch seine Pflichtübungen bei der Stadtmiliz.

    Reichlich spät lief er aus dem Haus, hinunter zu den Marswiesen am Rhein. Es war ein kühler und nasser Mai in diesem Jahr und feine Regenschleier wehten über den Wald und die Berge am Rhein.

    Quintus rannte, um nicht gleich am ersten Tag zu spät zu kommen. Mit fünfzehn Jahren durften die Jungen an den Kampfsportübungen teilnehmen, aber mit sechzehn wurde aus dem Dürfen ein Müssen, wenn man nicht schwachsinnig oder körperlich gebrechlich war. Seitdem die römischen Legionen abgezogen waren und durch die örtlichen Stadt-Milizen ersetzt wurden, achtete man sehr darauf, dass alle männlichen Einwohner auch kampffähig waren. Stadt-Milizen, das klang zwar gut, hieß aber eigentlich nur, dass die Städte weitgehend auf sich selbst gestellt waren. Die Limitanei genannten Grenztruppen waren die Legionen Roms, die an den Außengrenzen aus der örtlichen Bevölkerung aufgestellt wurden. Sie waren weniger kampferprobt als das mobile Heer, mit dem die Heerführer zu den Brennpunkten des Reiches eilten, wenn es zu großen Konflikten kam. In allen Städten entlang des Rheins war dies nun so, nur in Augusta Raurica im Süden und in Mogontiacum in Norden waren noch größere Verbände von Reiterei.

    Anders als sein Vater und sein Bruder hätte Quintus liebend gern auf diese Übungen verzichtet, doch das war nicht möglich, zudem hätte es die Ehre der ganzen Familie verletzt. Titus hatte als junger Mann lange Jahre in Aquitanien gegen die sächsischen Piraten gekämpft, danach auch an der unteren Donau gegen die Goten.

    Flavius, sein um ein Jahr älterer Freund, hatte ihn schon damit aufgezogen, dass er ein Feigling sei.

    Leicht außer Atem kam er auf dem großen Marsplatz am Flussufer an, der eigentlich nur eine große unbefestigte Wiese war. Oft schon hatte er die Abende hier im Spiel mit den Freunden verbracht. Auf der dem Fluss abgewandten Seite war eine steinerne Tribüne für Publikum angelegt worden, die bei verschiedenen Zeremonien und Wettkämpfen genutzt wurde, vor allem früher, als es noch die Vestalinnen und die heidnischen Feste gab.

    Er war einer der Letzten, aber noch früh genug, um sich keinen Rüffel einzufangen. Etwa vierzig junge Männer standen um Rufus und Aetius, die beiden Ausbilder, herum. Die beiden waren langgediente Legionäre im Rang von Centurionen, die nun in der Stadtmiliz die jungen Männer an den Waffen ausbildeten. Beide waren sehr beliebt, aber Quintus mochte sie nicht. Die Kämpferei und das ganze hahnenhafte Männergetue, das damit einherging, stießen ihn ab. Nicht, dass er nicht gern mit einer guten Waffe umzugehen verstand, doch er hätte lieber heimlich geübt.

    Rufus, groß, breitschultrig und in einem glänzenden Lederharnisch, trat auf ihn zu: „Ich freue mich, dass du endlich zu uns gefunden hast, Quintus Aurelius. Ich schätze deinen Vater sehr, wir haben schon zusammen gekämpft. Er hat mir gesagt, ich solle dich nicht schonen." Dabei grinste er halb böse, halb scherzhaft, so dass Quintus nichts anderes übrig blieb, als verkrampft zurück zu grinsen.

    Schnell hatte man ihm ein kurzes Holzschwert und einen kleinen Schild in die Hand und einen halbwegs passenden Helm auf seinen Kopf gedrückt. Es wurden Paare gebildet und schon krachte Holz auf Holz. Quintus Gegenüber war ein kräftiger Junge, etwas älter als er selbst. Er kannte ihn nur flüchtig. Gleich bei den ersten zwei Schlägen merkte er, dass dies kein Spiel war. Nur mit Mühe konnte er den Schild am Arm halten, als das Holzschwert des Gegners auf ihn niederging. Unwillkürlich machte er einen Schritt nach dem anderen zurück, der Gegner folgte ihm, ein Hieb nach dem anderen sauste auf seinen kleinen Schild. Jeder Versuch eines Gegenhiebs seinerseits ging jämmerlich ins Leere, er schnaufte schon atemlos, da verfing sich sein Fuß an einer Wurzel, er fiel rücklings hin, den Schild über sich. Lachend schlug der Gegner weiter auf ihn ein, der Schild begann zu bersten. Quintus wollte schreien, unterdrückte es aber. Er drückte fest die Augen zu, hielt den Atem an und hoffte, es würde einfach vorbei sein.

    Das war es dann auch. Quintus öffnete die Augen, lugte vorsichtig hinter seinem Schild hervor und sah, wie ein rothaariger Riese seinem Gegner den Arm verdrehte, das Schwert entwand und ihn anzischte: „Der da ist neu. Er soll was lernen und nicht verhauen werden!"

    Sein Gegner, eben noch ein prahlerischer Haudrauf, heulte auf und stand klein und jämmerlich da. Sein Retter aber drehte sich einfach um, ging zurück zu seinem eigenen Gegner und setzte die Übungen fort.

    Quintus stand auf, stellte sich in Kampfposition und war mit neuem Mut bereit, die nächsten Schläge einzustecken. Aber da rief Rufus schon wieder alle zusammen, um mit verlangsamten Bewegungen zu zeigen, wie man stehen, laufen, schlagen und stechen sollte, und wie man den Schild auch zum Angriff einsetzen konnte.

    Anschließend wurde wieder paarweise geübt, Aetius ging durch die Gruppe und zeigte immer auf zwei, die sich begegnen sollten. Quintus hielt nach dem fremden Hünen Ausschau, aber der war schon wieder im Gefecht mit einem anderen. Da sah er, dass er gegen seinen Freund Flavius antreten musste. Sie lachten sich an, grüßten sich übertrieben förmlich und begannen mit dem Schwertkampf. Flavius war viel geübter als Quintus, nutzte das aber nicht aus. Er ermutigte Quintus, anzugreifen, parierte ihn geschickt und zeigte ab und zu mit gekonnten Schlägen, dass er ihm weit überlegen war.

    Nachdem sie danach alle noch einige Leibesübungen im Gras absolviert hatten, entließ Rufus sie für heute. Erschöpft setzten sie sich in den Schatten alter Weiden am Fluss, denn inzwischen hatte sich die Sonne durchgesetzt. Quintus schwitzte kräftig und er war heilfroh, als er ohne Helm im kühlen Gras saß, die Beine von sich gestreckt. Mit einiger Genugtuung betrachtete er die Schrammen an seinem Körper. Da entdeckte er seinen Retter, der nur ein paar Meter weiter saß. Quintus stand auf, setzte sich neben den Hünen und hüstelte. Der sah sich zu ihm um, grinste breit und reichte ihm die Hand.

    „Ich heiße Friedger, und wer bist du, Kleiner? Quintus ärgerte sich über das „Kleiner, aber er ließ es sich nicht anmerken.

    „Ich bin Quintus. Meine Eltern führen das beste Gasthaus der Stadt, den Bären. Ich habe dich noch nie gesehen, bist du schon lange in Vangiones?"

    Der Riese drehte sich vollends zu ihm.

    „Nein, ich bin erst seit ein paar Wochen in Vangiones, meine Mutter ist mit mir aus Treveris gekommen, weil wir hier Verwandte hatten und dort Probleme. Grinsend fügte er hinzu: „Musstest du zu diesen Übungen, oder wolltest du?

    „Beides", gab Quintus zu und grinste zurück, etwas verlegen, dass der Fremde das sofort erkannt hatte.

    „Ich wollte mich bei dir bedanken. Ich dachte eben, der Kerl erschlägt mich."

    „Das ist Holgur, ein wüster Kerl. Halte dich fern von ihm. Oder in meiner Nähe."

    „Ich schulde dir was, erwiderte Quintus, „ich kann dir unser Gasthaus zeigen und etwas Ordentliches zu Essen gibt es sicher auch.

    Friedger lachte, stand auf und klopfte sich den Staub aus seiner Tunika.

    „Ich habe einen Bärenhunger", sagte er nur und lachte.

    Als Quintus neben ihm stand und zu ihm hochsah, konnte er die Ausmaße seines neuen Freundes bewundern. Er war fast einen Kopf größer als er, obwohl er selbst nicht als klein galt. Dazu hatte er Schultern, so breit wie eine Tür und halblanges, leuchtend rotes Haar. Unter dem Helm hatte es nur halb so wild ausgesehen wie jetzt, wo der Wind es umwehte.

    Als sie in der Gaststube saßen, lobte Friedger das Haus und machte Chara artig Komplimente für ihr Essen.

    Chara lachte nur und holte Nachschub, da die zwei sich nicht anschickten, jemals satt zu werden. Aber sie war Friedger dankbar dafür, dass seinetwegen die ersten Kampfübungen für ihren Quintus gut begonnen hatten.

    „Wo kommen deine Eltern her, dass du so groß bist?" wollte Quintus wissen, während er kaute.

    „Meine Eltern sind oben aus Friesland, da sind die Sachsen eingefallen und viele mussten zu den Römern fliehen. Hier war Frieden, Land und es gab bezahlte Arbeit. Und weil wir Friesen nicht klein und schwächlich sind, wie du siehst, wurden viele Männer Soldaten."

    Dank Friedger, der nun meist in seiner Nähe blieb, und Flavius, mit dem er gern übte, machten Quintus die Übungen in den folgenden Wochen mehr Freude, als er erwartet hatte. Dem wüsten Gegner seiner ersten Stunde wich er aus, wünschte sich aber heimlich, ihm eines Tages unter günstigen Umständen wieder über den Weg zu laufen. Rufus, der Ausbilder, mochte Quintus, vielleicht fühlte er sich auch nur seinem Vater verpflichtet. Er sorgte dafür, dass Quintus keinen unnötigen Schikanen ausgesetzt war und gab ihm aufmunternde Ratschläge, was er besser machen könne.

    Friedger besuchte Quintus nun oft, nicht nur wegen des guten Essens im Bären. Zusammen mit Flavius trainierten sie den ganzen Sommer hindurch mit selbstgebauten Holzwaffen abends vor der Stadt im Wald. So wurde aus Quintus ein geschickter Schwert- und Messerkämpfer. Das Ringen und der Speerwurf lagen ihm weniger, doch mit dem Bogen waren alle drei geschickt.

    So verging der Sommer für ihn in einem steten Wechsel zwischen der Geisteswelt bei Demosthenes, wo er Griechisch und Mathematik lernte und dem Kampf mit Schwert und Schild auf den Marswiesen. Wenn er vom Denken und Rechnen zu viel hatte, freute er sich wieder auf die Übungen mit den Freunden an der frischen Luft. Und wenn er matt und voller Schrammen nach Hause zurückkehrte, war er erleichtert, dass es am nächsten Morgen mit Rhetorik oder Winkelberechnungen weiterging.

    An einem dunstigen, schon spätsommerlichen Morgen lief er wieder hinunter an den Fluss, wo heute ein Wettkampf im Bogenschießen und Speerwerfen stattfand. Er wusste, dass er in diesen Disziplinen nur wenig Aussichten auf Erfolg hatte, aber spannend und unterhaltsam waren diese Wettkämpfe allemal. Als er durch das südliche Stadttor die Straße entlang lief, sah er in der Ferne eine kleine Gruppe von Reitern näher kommen.

    Quintus versuchte angestrengt, sie zu erkennen, denn er musste sofort an seinen Vater Titus denken. Die ganze Familie erwartete ihn nun schon seit Wochen. Er war seit dem zeitigen Frühjahr unterwegs und hatte sich vorgenommen, zurück zu sein, bevor das Laub gelb wurde. Langsam ging Quintus weiter, die kleine Gruppe blieb plötzlich stehen. Ein Reiter löste sich von den anderen und sprengte auf die Stadt zu. Als er näher kam, winkte er. Es war tatsächlich sein Vater. Jauchzend rannte Quintus ihm entgegen, Titus brachte sein Pferd in einer Staubwolke zum Stehen, sprang ab und umarmte ihn.

    „Mein Junge. Was machst du hier, vor der Stadt?"

    „Heute ist Wettkampftag, ich wollte zu den Marswiesen. Aennius ist schon dort."

    „Und lass dich ansehen, du bist ja richtig kräftig geworden, diesen Sommer." Titus betrachtete seinen Sohn stolz von oben bis unten, und der strahlte ebenso stolz zurück.

    „Sollte aus dir doch noch ein richtiger Mann werden?" zwinkerte ihm Titus zu, und sie liefen zu Fuß zum Bären. Die Begleiter waren inzwischen dazu gestoßen und hatten den Jungen begrüßt. Quintus kannte sie nicht, meist suchte Titus sich seine Helfer erst für die Rückreise, das war billiger.

    Unterwegs erzählte er schon hastig, was in diesem Sommer alles geschehen war, auch von dem Unterricht und seinem griechischen Lehrer.

    Im Bären gab es eine freudige Begrüßung und lange lagen sich Titus und Chara in den Armen, die die Hände noch voller Mehl hatte, weil sie gerade beim Brotbacken gewesen war.

    Titus war zufrieden mit seinen Geschäften. Schon unterwegs hatte er Vieles gekauft und anderswo wieder besser verkauft. Er hatte eine Nase für gute Geschäfte. Langschwerter, kostbare Gläser, seltene Gewürze, Duftöle, kurzum: teure und knappe Güter waren sein Spezialgebiet. Und natürlich waren nun die Lastpferde schwer beladen mit Essenzen, Pasten, Ölen und Kräutern für den Bären. Auch einige große Flaschen guten Gewürzweines aus Gallien waren dabei.

    Quintus wurde mit Verspätung zum Wettkampf geschickt, von wo er mit Aennius am frühen Nachmittag zurückkam. Titus hatte ein gründliches warmes Bad genossen und ein wenig geschlafen, jetzt saßen sie alle um den großen runden Tisch in der Gaststube versammelt.

    Er hatte den Norden Italiens durchquert und war von Aquileia aus mit dem Schiff bis nach Antiochia gefahren. Dort kamen die großen Karawanen aus dem fernen Osten an und brachten Waren mit, die es nur dort gab und deren Preis sogleich in die Höhe schnellte, wenn sie in andere Teile des Reiches weitertransportiert wurden. Pfeffer, Kapern, Zimtstangen und Nelken waren solche Kostbarkeiten. Und wer reich war und etwas auf sich hielt, dessen Küche konnte nicht darauf verzichten. Deshalb mussten sie auch im Bären immer ein paar Gerichte anbieten, die den guten Ruf des Gasthauses aufrecht erhielten und Leute wie den Präfekten als Gäste anlockten. Selbst der Dux aus Mogontiacum, der höchste Militärkommandant am Oberrhein, kehrte bei ihnen ein, wenn er nach Rom oder Mediolanum reisen musste.

    Gespannt saßen nun alle am Tisch und sahen Titus erwartungsvoll dabei zu, wie er seine Taschen auspackte.

    Als erstes zog er stolz ein Papyrus aus der Tasche, entrollte es und zeigte ihnen ein Bild, das er selbst gezeichnet hatte. Darauf waren zwei Männerköpfe, soviel man erkennen konnte. Sie waren jedoch ganz rund, hatten viel zu kleine Nasen und ganz schmale Augen, wie Schlitze. Die Jungen kicherten und Chara sagte sanft, dass Zeichnen nie seine Stärke gewesen sei. Da war er etwas eingeschnappt.

    „Sie sahen wirklich so aus, deshalb habe ich sie ja gemalt. Sie kamen aus dem Land, aus dem auch die Seide kommt. Aus Neugier und Abenteuerlust waren sie mit der Karawane bis nach Antiochia mitgereist. Alle lachten. „Ach was wisst ihr denn.

    Immer noch eingeschnappt kramte er weiter und reichte Chara ein Lederbündel hin. Es enthielt eine wunderbar glänzende, hauchdünne Tunika, es war grüne Seide. Chara war ganz gerührt und gab ihm einen dicken Kuss.

    „Das habe ich den zwei Menschen abgekauft, über die ihr gerade so gelacht habt", erklärte er dazu mit unüberhörbarem Vorwurf in der Stimme.

    Den beiden Söhnen gab er zwei lange, leicht geschwungene Dolche, mit silbernen Beschlägen auf dem Griff, dazu einen breiten Ledergürtel und eine passende Scheide daran. Stolz gürteten sie sich beide sofort damit.

    „Hier ist noch etwas, eigentlich ist es für deinen Lehrer, aber ich denke, du hast auch einen Nutzen davon, damit reichte er Quintus ein in Leinentuch eingeschlagenes Paket, das sehr schwer war. Er packte es neugierig aus, es war ein in griechischer Sprache verfasstes Buch mit vielen Bildern darin. „Über die Natur und „Von Alexandros von Samos nach Aristoteles" stand auf dem hölzernen Deckel. Drinnen waren mit bunten Zeichnungen und winziger Schrift zahllose Pflanzen, Tiere und auch der Mensch und sein Körper beschrieben. Quintus war glücklich, am liebsten hätte er sich sofort damit auf sein Zimmer gestohlen, doch das gemeinsame Wiedersehensabendessen mit Titus war natürlich wichtiger.

    „Danke, Vater. Demosthenes wird begeistert sein und ich bin es schon."

    In den folgenden Herbstwochen nahm der Grieche das Buch zum Anlass, sich mit der Lehre von den Pflanzen und Tieren sowie der Anatomie des Menschen zu befassen.

    Einmal untersuchten sie mit scharfen Messern ein totes Huhn, und zwar vor allem die Innereien, die man sonst nur schnell herausnahm und den Hunden gab. Ein anderes Mal studierten sie ein Herz von einer Kuh, das der alte Grieche auf dem Markt beschafft hatte und das schon ein wenig stank. Quintus musste anfänglich seinen Ekel überwinden. Er lernte, welche Verbindung die Organe untereinander hatten und welche Funktionen sie im Körper erfüllten. Das faszinierte ihn so sehr, dass Scheu und Widerwillen schnell gewichen war.

    Demosthenes achtete sehr darauf, dass sie dabei nicht gestört wurden. Ehe man sich versah, kam man in den schlechten Ruf von Zauberei und Weissagerei, wenn man Tiere zu anderen Zwecken aufschnitt, als dem, eine gute Mahlzeit aus ihnen zu bereiten.

    In dem auf den milden Herbst folgenden Winter gab es nur wenig Schnee, dafür aber umso mehr Wolken und Nebel. Quintus musste sich um die vielen Öllampen und Öfen in dem großen Gasthaus kümmern und die Kampfübungen fielen oft wegen schlechten Wetters einfach aus. Umso mehr aber wandte er sich mit Demosthenes den Sprachübungen und der Literatur zu. Sie lasen Homer und griechische Tragödien und Demosthenes erzählte oft und ausschweifend über ferne Länder und Städte.

    2. Bücher und Bäder

    Stolz saß Quintus auf dem kleinen Esel, der Titus sonst als Lasttier gedient hatte. Zum ersten Mal nahm Titus ihn mit auf eine Reise. Es ging nach Colonia Agrippina und Treveris. Titus wollte Schmuckglas und Waffen kaufen. Vor allem aber musste er in Colonia Agrippina bei einem Geldhändler Lizenzen für die münzgeldlose Zahlung erneuern, und in Treveris brauchte er Ausweisdokumente, die er für seine fernen Reisen benötigte.

    Sie kamen am ersten Tag bis Mogontiacum, der Provinzhauptstadt Obergermaniens. Quintus staunte beim Anblick der mächtigen Stadttore und Türme, die viel größer und stärker waren als die in Vangiones. Besonders bewunderte er die riesige Brücke, auf der man einfach über den Rhein reiten konnte, während es daheim nur eine Fähre gab. In der ersten Nacht schlief er auf dem Bauch, weil ihm sein Hinterteil vom Reiten wehtat. Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, denn er wollte nicht riskieren, dass sie umkehren würden oder er bei der nächsten Reise nicht mitkommen durfte.

    Am nächsten Tag kamen sie nach Confluentes, einer zu einer starken Festung ausgebauten Stadt. Sie lag strategisch günstig an zwei Brücken, einer über die Mosel und einer weiteren riesigen Brücke über den Rhein. Zu seiner Enttäuschung übernachteten sie hier nicht, sondern ritten noch über zwei Stunden weiter bis Antunnacum, einem lebendigen Städtchen, in dessen Zentrum sich eine starke Burganlage befand. Hier aßen und schliefen sie in einer kleinen Herberge direkt an der Festungsmauer. Zwar hatte Quintus eine Sitztechnik entwickelt, bei der er weniger Schmerzen beim Reiten hatte, dennoch musste er eine weitere Nacht in Bauchlage verbringen.

    Titus schien alle und jeden zu kennen, ob es die Kommandanten der Stadtwachen waren oder die Gasthausbesitzer.

    Erst am vierten Tag steuerten sie direkt auf Colonia Agrippina zu, der Provinzhauptstadt Untergermaniens am Rhein. Nur Treveris im Westen und Augusta Raurica weit im Süden konnten sich in Reichtum und Lebendigkeit mit ihr messen. Es war ein kühler Tag im Frühjahr, und das Wasser des Rheins floss in einer fast mystischen blaubraunen Farbe dem kalten germanischen Meer entgegen. Die Bauern bestellten ihre Felder auf einem fruchtbaren, dunklen Boden.

    Schon ein ganzes Stück vor der Stadt wurde der Verkehr lebhafter, sie überholten viele Menschen, die neben ihren Ochsenkarren oder Maultieren herliefen. Als sie das südliche Stadttor durchritten und Titus seine Papiere vorgezeigt hatte, blickte Quintus auf ein Häuser- und Gassengewirr, das kein Ende zu haben schien. Die Hauptstraße war breit und mit imposanten Gebäuden gesäumt, viele davon hatten großzügige Säulenarkaden und üppig verzierte Giebel. Überdies gab es ein Geschäft neben dem anderen, Barbiere, Badehäuser, ehemalige Tempel, christliche Kirchen und Tavernen zuhauf. Quintus jauchzte innerlich und schloss dichter auf, als er merkte, dass er seinen Vater in der Menschenmenge fast verlor.

    Es war schon spät und sie spürten die Stunden auf dem Pferd in allen Knochen. Titus steuerte deshalb ohne Umweg zum Fluss hinunter, wo er eine gute Herberge kannte.

    „Morgen gehen wir ins beste Badehaus der Stadt und erholen uns einen Tag. Bleib aber immer nah bei mir, es ist nicht ungefährlich. In dem Gedränge auf den Märkten wimmelt es von Strolchen und Dieben", sagte Titus, als sie die Pferde im Stall des Gasthauses abgaben.

    Gisbert, der Besitzer des Silbernen Kruges, empfing sie herzlich, denn er kannte Titus aus der gemeinsamen Zeit beim Militär, sie hatten derselben Centurie angehört. Titus stellte seinen Sohn voller Vaterstolz vor und Quintus fühlte sich beäugt und gemustert wie ein edles Pferd. Gisbert, ein kleiner, dicker Mann mit lichtem Haar und kugelrunden wachen Augen erwies sich als perfekter Gastwirt. Er kümmerte sich liebevoll um sie, ließ ihre Taschen sogleich auf ihr Zimmer im oberen Stockwerk bringen und platzierte sie am besten Tisch im Haus, einer langen und dicken Eichentafel.

    Erst jetzt schaute Quintus sich gründlicher um. Die Gaststube war um einiges größer als die des Bären, es mochten sicherlich hundert Menschen darin Platz finden. Vielleicht dreißig Männer und wenige Frauen saßen an den verschiedenen Tischen, manche aßen schweigend, andere spielten mit Würfeln oder Karten. Zwischen den Lichtern an den Wänden hingen üppiger Schmuck, alte Lederharnische und Helme, eine Wand war mit einem lebensgroßen Bild von Kaiser Trajan verziert. Hier fühlte Quintus sich wohl. Er streckte seine Beine unter dem Tisch aus und gähnte. Da stellte Gisbert ihnen zwei große Steinkrüge hin, es war ein Bier mit viel Schaum, das sehr gut roch.

    „Wie ich sehe, seid ihr müde, aber das ist auch kein Wunder nach der Reise. Kostet trotzdem von meiner Cervisia. Sie ist die beste weit und breit und man kann

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