Der Mann mit dem Tattoo am Hinterkopf: Ringo P. - der lange Weg aus dem Drogensumpf - Ihn brachte die Drogensucht nah an den Abgrund. Offen erzählt er seine Geschichte vom Abdriften in die Szene, dem Weg heraus aus dem Drogensumpf und
By Gerald Edinger, Ringo P., Jasmin Geiger and Janna Block
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About this ebook
Gerald Edinger
Gerald Edinger, Jahrgang 1953, war über 35 Jahre als freier Journalist, Pauschalist und Redakteur für regionale Tageszeitungen am Hochrhein tätig. Er wuchs in der ländlichen Idylle des Wutachtals auf, wo er noch heute lebt. Sein beruflicher Werdegang als Journalist begann in der Heimatsport-Redaktion des Alb-Bote in Waldshut-Tiengen. Danach zog es ihn für einige Jahre zum Verlagshaus Jaumann nach Lörrach, ehe er knapp zehn Jahre für den SÜDKURIER die Redaktion Bonndorf leitete. 2018 ging er in den Ruhestand, arbeitet aber weiterhin als Autor und freier Journalist für das Medienhaus SÜDKURIER.
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Der Mann mit dem Tattoo am Hinterkopf - Gerald Edinger
GEFÜHLSCHAOS
„Eigentlich war ich als Kind nicht der Richtige!" Ein bewegender Satz, der Ringo P. immer wieder über die Lippen kommt, wenn er an seine Kindheit zurückdenkt. Eigentlich hätte er nämlich ein Mädchen werden sollen – das war zumindest der Wunsch seiner Eltern, erzählt er. Dass er das immer wieder erwähnt, sagt viel über ihn und seine Empfindungen aus, die ihn auch heute noch beschäftigen. Er fühlte sich nicht wohl in seiner Haut, konnte mit sich und dem Gefühlschaos in seinem Kopf und seinem Herzen nichts anfangen. Nun ist er über 60 und immer wieder sagt er diesen einen Satz, wenn er vor Schülern sein Leben schildert. Eine Geschichte, auf die er nicht gerade stolz ist - zu großen Teilen jedenfalls.
Wenn er an seine Mutter denkt, glaubt er inzwischen: „Sie wollte mich zu jemand anders machen, als ich bin. Auf Bildern sehe ich aus wie ein Mädchen. Sie hat mich verbogen und nicht als Jungen angenommen. Bei meinem Vater war das anders, er hat mich so genommen wie ich bin!" Die langen Haare wurden erst abgeschnitten, als er in den Kindergarten ging. Plötzlich sollte er der Junge sein, der er bisher nicht sein durfte. Dieser harte Bruch, die völlige Wandlung in seinem Leben war für den Dreijährigen nicht zu verstehen. Sein Zuhause beschreibt er trotz dieser inneren Zerrissenheit als herzlich.
Der Eindruck, nicht fehlerfrei zu sein, weil er nicht die gewünschte Tochter, sondern ein nicht gewollter Sohn war, machte ihn aus seiner Sicht zu einem Sonderling: „Mein Innerstes war ganz geknickt, weil ich gespürt habe, dass ich nicht der Richtige war! Als er in die Schule kam, begann die zweite Katastrophe: Er war Linkshänder, was in den 1950er und `60er-Jahren ein Makel war, den es auch Sicht der Erwachsenen auszumerzen galt. So mancher Lehrer wollte Schülern deshalb das Schreiben mit der linken Hand mit fragwürdigen Methoden austreiben. Wie oft habe ich selbst den Satz gehört, wenn jemand in meiner Klasse mit links schrieb: „Nimm die schöne Hand!
Die „zwangsweise Umschulung der Linkshänder war in meiner Wahrnehmung damaliger Standard an den Schulen. Ringo traf es noch schlimmer, er schrieb mit der linken Hand in Spiegelschrift. „Da konnte mit mir ja etwas nicht stimmen
, erzählte er und machte dabei eine kleine Pause, die mich nachdenklich stimmte. Sein Selbstwertgefühl war zu dieser Phase praktisch nicht vorhanden. „Ich fing an zu stottern, weil ich irgendwie nicht reden konnte. Mir wurde das Lernen kaputtgemacht. Alles in mir war verdreht und ich habe ins Bett gemacht. Damals habe er sein Selbstbewusstsein verloren, das er bis dahin durchaus hatte. „Als meine Eltern etwas gemerkt haben, war es eigentlich viel zu spät …
Aufgrund des Stotterns kam der Junge auf eine Sonderschule für Sprach- und Hörgeschädigte.
„Sonderschulen, so nannte man in jener unsensiblen Zeit Einrichtungen, auf die Kinder mit geistiger und/oder körperlicher Behinderung geschickt wurden. Immerhin hatten sie einen Anspruch auf Schulbildung, den es erst ab Mitte der 1960er-Jahre gesetzlich verankert gibt. Landläufig wurden alle Kinder, die eine solche „Sonderschule
besuchten, als „Behinderte bezeichnet, was noch eine eher harmlose Formulierung war. In dem kleinen Dorf, in dem meine Eltern mit meinem jüngeren Bruder und mir lebten, waren die Ausdrücke für diese Außenseiter der Gesellschaft deutlich derber. Für uns Dörfler waren es „Dubel
oder „Dorfdeppen". Davon gab es in jedem Ort mindestens einen, daran erinnere ich mich sehr gut. Grausame Ausdrücke, die wir Sprösslinge den Erwachsenen nachplapperten, die diesen Kindern allerdings überhaupt nicht gerecht wurden. Heute sehe ich diese Menschen selbstverständlich ganz anders. Aus Erfahrung bin ich klug geworden. Menschen mit Behinderung sind ein Teil unserer Gesellschaft. Sie haben es verdient, dass wir uns um sie kümmern. Niemand kann etwas dafür, wie und wo er geboren wird, gesund oder mit einer Behinderung.
Ringo war nun also Sonderschüler in einer Einrichtung für Sprachund Hörgeschädigte, deshalb empfand er sich noch mehr als Außenseiter ausgegrenzt, abgeschirmt von der Welt der „Normalen". Dennoch beschreibt er als eine schöne Zeit, dort fühlte er sich angenommen und schloss Freundschaften.
FAMILIE
Viele Kindheitserlebnisse liegen schemenhaft hinter einem Schleier, der selbst für ihn, der alles erlebte, nur schwer zu durchdringen ist. „Ich war eher ein überbehütetes, letztlich aber verbogenes Kind. Meine Mutter saß auf mir wie eine Henne auf ihrem Küken. Mein Vater war ein herzensguter Mann, Grenzen gab es bei ihm für seine Kinder nicht. Er hat zu meiner Mutter immer gesagt: Lass ihn machen! Aus heutiger Sicht fehlten ihm Leitplanken und Regeln, an die er sich hätte halten können. „Ich konnte alles ausprobieren, musste mich nicht reiben.
Diese Reibung habe ihm gefehlt. Im Unterbewusstsein hatte er sich gewünscht, dass ihm Grenzen gesetzt werden.
*
Wie oft in Haushalten der 1950er und 1960er-Jahre waren die Rollen auch bei Familie P. klar verteilt: Der Mann ging zur Arbeit und brachte die Kohle heim, die Frau war für Kinder und Küche zuständig. Im Haus führte die Mutter das Regiment. Ringo beschreibt sie allerdings als ruhig, leise und zurückhaltend. Alles musste immer perfekt sein, nie lag etwas unordentlich herum. „Wir Kinder konnten es ihr nie recht machen. Wenn sie auf uns sauer war, hat sie mit mir und meinem Bruder nicht mehr gesprochen, war beleidigt und hat sich zurückgezogen", erzählt Ringo.
Der offene Umgang mit Konflikten gehörte in der Familie eben nicht zu den Gepflogenheiten. Probleme wurden lieber weggeschwiegen oder verharmlost!
Seine Mutter ging nicht gerne aus dem Haus, war eine „Hausmutter – die Wohnung war ihr Reich, hier bestimmte allein sie, wie es zu laufen hatte. Reinlichkeit spielte bei ihr eine beherrschende Rolle. Bevor sie zu einem Arzttermin ging, wurde erst einmal das Haus gründlich geputzt – man konnte ja nie wissen. Zum Arzt zu gehen, war für sie eine Sensation, ein wahres Glanzlicht in ihrem grauen Alltag, der nur wenig Abwechslung zu bieten hatte. Weil sie vorwiegend zu Hause war, kannte sie nicht viel anderes als die kleine, überschaubare Welt ihrer Familie. Ihre Wohnung in einem typischen Wohnblock der 1960er-Jahre und das Treppenhaus waren ihr Universum, Häkeln und Stricken ihre Freizeitbeschäftigung – ebenso gehörte das Beobachten der Nachbarn dazu. Ab und an gab es Besuch von ein paar Bekannten, mehr Abwechslung kam im Leben von Ringos Mutter nicht vor. Scheinbar genügte es ihr. Die emotionale Distanz zu seiner Mutter schwingt mit, wenn er von ihren berechnenden Schachzügen erzählt, mit denen sie immer wieder ihren Willen durchsetzen konnte. „Sie war schwer lungenkrank, allgemein ein kränklicher Typ. Damit hat sie aber auch viele Dinge in unserer Familie manipuliert
, erzählt Ringo.
Aber sie hatte auch ihre liebevollen Momente im Umgang mit den Kindern, wie folgende Geschichte zeigt: „Wenn wir im Winter vom Spielen nach Hause kamen, wurden wir gleich gebadet und vor den großen Ofen gesetzt, um uns aufzuwärmen. Dort schlief der kleine Junge oft ein, worauf ihn sein Vater auf seinen starken Armen ins Bett trug. „Das war schon schön
, erzählt Ringo und lächelt dabei.
*
Zu seinem Vater hatte der Filius der Familie ein freundschaftliches Verhältnis. Mit ihm er und sein älterer Bruder unvergessliche Abenteuer erlebt. Der Vater war mit den beiden Jungs im Wald oder ging mit ihnen zum Spielen in eine Kiesgrube. In dieser Schottergrube kam es zu einer lustigen Begebenheit. „Unser Vater hat dort mal seine Zähne verloren. Wir mussten sofort aufhören, mit unseren Händen im Wasser zu graben. Er tauchte unter, hat seine Zähne gesucht und er hat sie auch wieder gefunden", erzählt Ringo diese Schmunzelgeschichte aus seiner Kindheit. Solche unbeschwerten Tage gab es gerade mit seinem Papa immer wieder.
Auf der Seele seines Vaters lagen freilich dunkle Schatten: Krieg, Flucht und Vertreibung. „Das Schlimme war, dass er seine Heimat im Zweiten Weltkrieg verloren hatte, darüber kam er zeit seines Lebens nie hinweg. Das ist Ringos Überzeugung. Im Riesengebirge aufgewachsen, liebte der ehemalige Soldat die schneereichen Winter, erzählte seinen Kindern von Weihnachten und wie er mit einer Laterne durch den tiefen Schnee in seiner schlesischen Heimat gestapft war. Im Sommer ging es raus an den See zum Schwimmen. „Er hatte eine sehr starke, romantische Erinnerung an seine Heimat
, erzählt Ringos Frau Zoe. Sein Vater fühlte sich entwurzelt, das ist ihm nach all den Jahren, die vergangen sind, bewusst geworden. Dies erklärt viele Verhaltensmuster seines Vaters. Gespräche mit seinen Eltern über ihre Kriegserlebnisse und die Vertreibung kamen nur gelegentlich zustande. Einen dieser seltenen Momente gab es, als der Vater davon berichtete, dass der Panzer, den er fuhr, von einem Geschoss getroffen wurde. Als er aus dem Fahrzeug sprang, um sein Leben zu retten, erwischte ihn eine Granate, die ihm eine schwere Verletzung zufügte. „Es war eine Episode, aber viel vom Krieg hat er nicht erzählt, diese Erlebnisse hat er mit sich selbst ausgemacht", sagt Ringo grüblerisch. Nach diesen Berichten folgte wieder das große Schweigen. Geschichten aus der Vergangenheit blieben das ganz persönliche Geheimnis der Eltern - für ihre Kinder für immer verborgen. Lieber wollten sie das Erlebte mit sich selbst ausmachen. Zu einer richtigen Aussprache kam es dementsprechend nie, auch, weil Ringo in jungen Jahren in die Drogensucht abglitt und seine Familie ihm ab diesem Punkt nichts mehr bedeutete. Viel zu früh waren die unbeschwerten Tage der Kindheit für ihn vorbei. Dazu später mehr.
*
Wie vertraut das Verhältnis zu seinem Papa lange Zeit war, zeigen unvergessliche Begebenheiten. Gut kann sich Ringo zum Beispiel an die mahnenden Worte der Mutter erinnern, wenn er mit seinem Bruder wieder einmal nur Quatsch machte und Dummheiten im Kopf hatte: „Wartet nur, bis der Vater nach Hause kommt …" Als der schließlich von der Arbeit kam, beklagte sich die Mutter, dass ihre Kinder nicht auf sie gehört und nur Unsinn im Kopf gehabt hätten. „Als wir schon im Bett lagen, kam unser Vater ins Zimmer. Er klatschte kräftig in beide Hände, hat also nur so getan, als würde er uns schlagen und mit uns schimpfen. Wir Jungs haben nur gelacht. Wenn unsere Mutter den