Vieles haben wir dann nicht mehr mitgemacht: Die 50er-Jahre aus Sicht der Nachkriegsgeneration
By Silke Kruse and Udo Kruse
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Illustriert mit historischen Fotos wird in diesem Buch geschildert, wie zwei Generationen die 50er-Jahre aus unterschiedlicher Sicht erlebten. Da ist einmal die Kriegsgeneration, die sich nach entbehrungsreichen und unsicheren Kriegsjahren vor ihrem häuslichen Herd nach Wärme, Geborgenheit und Sicherheit sehnt. Ordnung, Disziplin und gute Manieren sind ihr enorm wichtig. In der Tanzschule, in die sie ihre Kinder schickt, regieren Knigge und Etikette. Es ist die Zeit, in der Kinder immer wieder das mahnende "Das tut man nicht!" zu hören bekommen. Die ganze Steifheit aber nervt auf die Dauer die Nachkriegsgeneration; denn so recht versteht sie so manches Verbot oder Gebot nicht.
Es kommt wie es kommen muss: Die jungen Leute lehnen sich auf. Das beginnt zunächst mit der Durchsetzung kleiner Freiheiten und steigert sich schließlich in einer radikalen Modernisierung der Nachkriegsgesellschaft. Nach den 68er-Studentenunruhen sind die Alten dann weitgehend abgemeldet. In diesem Buch werden diese Veränderungen anhand zahlreicher Beispiele geschildert. Die jungen Frauen gewinnen den Kampf um ihre Jeans und natürlich auch den Minirock. Die Männer binden ihre eben noch so wichtige Krawatte ab. Und viele drückten sich vor den ausgeprägten Sonntagsritualen.
Geschildert wird auch, wie die Jugend mit der prüden Sexualmoral ihrer Eltern Schluss macht undwie sie eine neue Partnerschaft in der Ehe anstrebt, und das ausgehend in einer Zeit, in der es einen strengen Kuppelparagraph und heute kaum noch zu glaubende antiquierte gesetzliche Vorschriften über die Aufgabenverteilung in der Ehe gibt.
Fast in Vergessenheit geraten ist, dass sich die Nachkriegsgeneration engagiert um einen ideellen Aufbruch bemühten, der sich nicht hinter der Fridays-for-Future-Bewegung. Im Gegenteil! Es lohnt sich, auch diese Darstellung anzuschauen.
Silke Kruse
Zusammen mit ihrem Mann Diplom-Volkswirt Udo Kruse, hat Silke Kruse seit Anfang der 70er-Jahre über 200 Aufsätze vor allem in Fachzeitschriften, aber auch in der Publikumspresse über sozialpolitische und sozialgeschichtliche Themen veröffentlicht. Dazu kommen verschiedene Buchveröffentlichungen. Bei den gemeinsamen Veröffentlichungen kommt es ihnen darauf an, fachspezifische Themen populär darzustellen, also auf der Basis von Fachinformationen (meistens mit Literaturangaben belegt) verständlich und interessant Themen aufzuarbeiten. Dass das gelungen ist, wird ihnen immer wieder bestätigt (auch bei Lesungen und Info-Veranstaltungen). Eine große Rolle spielen hierbei auch jahrzehntelange berufliche Erfahrungen (auch und gerade im sozialpolitischen Raum). Zurzeit liegt ihnen viel daran, mit dem so wichtigen zeitlichen Abstand quasi als Zeitzeugen die Nachkriegszeit aufzuarbeiten. Hierbei können sie auch auf ihr Familienarchiv (u.a. SW-Fotos ihrer Eltern) zurückgreifen. Silke Kruse hat Ende der 60er-/Anfang der 70er-Jahre an der Universität Hamburg Betriebswirtschaftslehre studiert. Das war damals eine männliche Domäne. Es gab nur wenige Frauen, und der Abschluss lautete „Diplom-Kaufmann“. Aber das ist lange her. Jetzt haben die Frauen aufgeholt, und ihr Abschluss heißt „Diplom-Kauffrau“. Ebenso wichtig wie das Studium der Betiebswirtschaftslehre waren für sie sechs Semester Soziologie – gerade in den damals so bewegenden Jahren der Soziologie. Vieles davon ist eine wertvolle Grundlage, um mit Abstand die Nachkriegszeit zu interpretieren, - so zum Beispiel Alexander Mitscherlichs „vaterlose Gesellschaft“ oder Karl Martin Boltes „Deutsche Gesellschaft im Wandel“. Erfahrungen in der Selbstverwaltung und Kontakte zu zahlreichen Kommunen (und deren Selbstverwaltung) sind Grundlage der Neuerscheinung „Wir sind die Obrigkeit“. An allen geschilderten Orten waren beide im Laufe der vergangenen Jahrzehnte, und den Wandel zur bürgernahen Verwaltung haben sie selbst miterlebt und auch mitgestaltet. Sie sprechen insofern also auch aus der Praxis.
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Book preview
Vieles haben wir dann nicht mehr mitgemacht - Silke Kruse
Einleitung
Das soll uns nicht noch mal passieren!
Die Kriegsgeneration auf der Suche nach stabilen Verhältnissen und Geborgenheit
Wir befinden uns im Nachkriegsdeutschland. Der mörderische Krieg und der totale Zusammenbruch beherrschten noch bis tief in die 1950er-Jahre das Denken und Fühlen der arg gebeutelten Kriegsgeneration, insbesondere der in den 1920er- bis Mitte der 1930er-Jahre Geborenen. Was lag da näher, als dass sie sich nach stabilen Verhältnissen und Geborgenheit sehnten? Und weil ihr Sicherheitsbedürfnis gewaltig war, suchte sie Halt in unzerstörten Traditionen und überkommenen Rollenbildern. Unter dem Motto „Keine Experimente! wurden Wahlen gewonnen. Passend dazu sang Heinz Erhard 1952 das Lied „Das soll uns nicht noch mal passier‘n!
¹
Anders sahen das die nach dem Krieg Geborenen, zu denen die Verfasser dieses Buches gehören. Für uns war die „kaputte Nachkriegswelt" normaler Alltag. Auch wenn überall Mangel herrschte. Auch wenn die Wohnungen eng und kärglich ausgestattet waren. Wir kannten das alles ja nicht anders. Selbst dass wir auf den Straßen immer wieder Kriegsversehrten begegneten und viele unserer Freunde und Freundinnen ohne Vater aufwuchsen, wunderte uns nicht. Das war eben so. Kinder wollen leben und nehmen die Verhältnisse verständnisvoll als gegeben hin. So spielten viele denn munter zwischen Trümmern und gingen in die oft mit mehr als 50 Kindern überbesetzten Schulklassen. Und das mit der gleichen Freude oder der gleichen Abneigung wie heute Kinder in Klassen mit halb so vielen Schülerinnen und Schülern gehen.
Einschulung: Die Nachkriegsgeneration ging in die oft mit mehr als 50 Kindern überbesetzten Schulklassen. Und das mit der gleichen Freude oder der gleichen Abneigung wie Kinder heute in Klassen mit halb so vielen Schülerinnen und Schülern gehen.
Jüngere Kinder sind eben meistens verständig und wollen sich anpassen. Sie wollen von den Erwachsenen lernen, wie man sich „in der Welt bewegt. Wir befanden uns in der wichtigen ersten Phase unseres lebenslangen Sozialisationsprozesses
² – so wie Generationen vor uns und so wie später unsere Kinder und Kindeskinder.
Eine Welt aus zweiter Hand
In unseren Erinnerungen sind deshalb die kargen Nachkriegsjahre denn auch nicht die schlechteste Zeit in unserem Leben. So war dieser Mangel auch nicht die Ursache der späteren, stark auch von der Pubertät geprägten Auflehnung gegen die Welt unserer Eltern, die letztlich in die 68er-Studentenunruhen mündete. Die Ursachen der späteren Auflehnung lagen vielmehr in den steifen, oft zudem überbetonten Verhaltensnormen und Rollenvorstellungen der Erwachsenen. Und diese waren eben stark von deren frustrationsgeprägten Erlebnissen und Empfindungen geprägt. Sie nämlich waren die noch einmal Davongekommenen. „Damit das nicht noch mal passiert", legte die Kriegsgeneration jetzt nämlich großen Wert auf diese Verhaltensnormen und Rollenbilder. Im Grunde genommen schuf sie sich damit eine Welt aus zweiter Hand. Andererseits: Woran sollte sie sich auch sonst orientieren? Schließlich hatten viele von ihnen den Alltag in normalen Zeiten nie erlebt. Viele Männer hatten nur in Kasernen, Schützengräben und Kriegsgefangenenlagern gelebt. Das Berufsleben kannten sie dagegen kaum oder gar nicht. Woher sollten sie da die den „normalen bürgerlichen Alltag bestimmenden Umgangsformen kennen? Wie sollten sie da jetzt zurechtkommen – ohne Ausbildung, ohne Perspektive, ohne Geld und auch ohne moralische Identität? So begann für sie ein verspäteter Sozialisationsprozess. Kein Wunder, dass bei dieser Unsicherheit Anstandsbücher reißenden Absatz fanden. „Man benimmt sich wieder!
hieß eines von ihnen (Abb. auf Seite 7). Sie versprachen Hilfe für alle Lebenslagen – vom sozialen Kontakt im Alltag über Feste, Reisen, Briefeschreiben bis hin zur Haushaltsführung und zu Vorstellungsgesprächen. So krempelte der arg gebeutelte Otto Normalverbraucher – ein abgemagerter, ehrlicher Typ – die Ärmel hoch. Er wollte lernen. Er wollte das Versäumte nachholen. Und er war auch zur Anpassung bereit. Heute verstehen wir ihn.
Heute wissen wir, dass diese verspätete Sozialisation – wie rückständig auch immer man sie heute betrachten mag - für die Stabilität der Nachkriegsgesellschaft enorm wichtig war. Weitgehend einheitliche und vor allem allgemein akzeptierte Normen bilden nämlich den Kern der Stabilität der sozialen Ordnung.³ Nach dem Ersten Weltkrieg verlief die Entwicklung anders und erschütterte dadurch die Weimarer Republik. Das sollte man nicht vergessen.
„Das tut man nicht!"
Vor diesem Hintergrund gab die Kriegsgeneration ihre Gefühle und Vorstellungen an uns Kinder weiter – so wie es jede Generation vor ihr auch getan hat. Wen wundert es, dass diese Generation auf Ordnung und Disziplin, gute Manieren, Sparsamkeit und korrekte Kleidung setzte?! Anstand und Sitte schrieb sie groß. In der Tanzschule, in die sie uns Kinder schickte, regierten Knigge und Etikette. Wir lernten dort damals nicht nur tanzen, sondern auch gute Umgangsformen (siehe Abbildung auf Seite 7).
Dazu gehörte zum Beispiel für uns als junge Frauen das richtige Sitzen: „Die Knie eng zusammen und die Füße nebeneinander!" Noch waren die Knie der Mädchen beim Abtanzball bedeckt. Und wir Jungs mussten einen Diener machen, bevor wir eine der jungen Damen zum Tanz aufforderten. Es war die Zeit, in der wir immer und immer wieder das sicherheitsgeprägte „Das tut man nicht!" zu hören bekamen. Das gehörte zu unserem Sozialisationsprozess.
In der Tanzschule lernten die jungen Leute nicht nur tanzen, sondern auch gute Umgangsformen. Anstand und Sitte standen hoch im Kurs.
Anstandsbücher fanden reißenden Absatz.
Als wir älter wurden, nervte uns das alles allmählich, denn so recht verstehen konnten wir damals so manches Verbot oder Gebot nicht. Dafür fehlte uns die Erinnerungslast unserer Eltern. Das ganze schreckliche Kriegsgeschehen sowie die Not und die Entbehrungen der frühen Nachkriegsjahre hatten wir ja nicht bewusst miterlebt. Dafür waren wir noch zu klein. Deshalb dachten und empfanden wir unbelastet und damit ungezwungen. Deshalb wollten wir „das alles" denn auch nicht mehr mitmachen. Und damit zerfiel die für die weitere Sozialisation so wichtige Akzeptanz der so mühsam