Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

Pro tribunal: Wenderoman III
Pro tribunal: Wenderoman III
Pro tribunal: Wenderoman III
Ebook1,010 pages13 hours

Pro tribunal: Wenderoman III

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

Ein abschließendes Werk der "Wende"-Ereignisse 1989 / 1990. Die DDR und ihre Menschen in Nah- und Draufsicht erscheinen ebenso wie die bundesdeutschen und US-amerikanischen Verantwortlichen bis hin zur Volkskammerwahl am 18. März 1990, wo die letzten Messen gesungen wurden.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateMay 25, 2021
ISBN9783347311305
Pro tribunal: Wenderoman III

Related to Pro tribunal

Titles in the series (3)

View More

Related ebooks

General Fiction For You

View More

Related articles

Reviews for Pro tribunal

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    Pro tribunal - Arno Legad

    Zweiter Satz

    Nicht schuldig

    Der dreißigste November war ein nebelgrauer, trüber Tag. Man konnte kaum weit sehen. Sylvia brachte einen erstkategorisierten Brief zu Egons Schreibtisch. Die Zuordnung war ihr nicht ganz leichtgefallen, aber sie konnte diese gut begründen. Er lag jetzt ganz oben auf der Postmappe.

    Egon Krenz betrat Sylvias Reich und ging zu seinem Arbeitszimmer. „Guten Morgen. Sie blickte auf ihre schmale, silbrige Armbanduhr. Es war 6.20 Uhr. „Guten Morgen

    Ihre zurecht gelegte Begründung sah etwa aus: Wir haben viele politische Kontakte und Absprachen oder Erklärungen erzielt, aber es sieht im Lande schlimmer aus als je zuvor. Es sieht schlimm aus, was Ideen für die Zukunft angeht, das Vertrauen in die Zukunft. Die Menschen haben das Vertrauen in die Zukunft verloren. Und hier ist ein Brief – nicht von einem Politiker, sondern einem Wissenschaftler, dem Direktor des Instituts für Internationale Politik und Wirtschaft der DDR.

    Egon blieb vor seiner Tür stehen und sah ihr ins Gesicht. „Mir gefällt gut, Sylvia, das wollte ich Ihnen schon lange sagen, dass da drüben immer eine frische Blume steht. Das ist sehr schön." Hier fiel der Sylvia etwas auf, was sie nie zuvor bemerkt hatte: Er ist weiß geworden. Innerhalb weniger Wochen ist er weiß geworden. Seine Haut wirkt grau. Er erscheint, als sinke er vor Müdigkeit gleich um, mit seinen eingefallenen Wangen.

    Egon lächelte. „Sie sehen müde aus Sylvia."

    „Ja, mh. Ich habe…"

    Egon lächelte weiter und sprach: „Denken Sie daran: Wenn Sie mir umfallen, haben wir alle nichts gekonnt! Und man fällt um, ehe man es ahnt."

    Idiot! dachte Sylvia ärgerlich. Warum lässt er mich nicht aussprechen?

    An die Tür vom Gang wurde geklopft. „Ja?" bat Egon.

    Sie öffnete sich. „Guten Morgen! – „Morgen Anne, sagte Sylvia. „Morgen, Anne!" murmelte auch Krenz freundlich und wandte sich seinem Büro zu.

    „Ich habe, setzte Sylvia erneut an. Egon öffnete seine Tür und wandte sich zurück. „Ist was?

    „Ich habe…, sagte Sylvia. Egon sah auf seine Armbanduhr. „Haben wir was Eiliges?

    „Idiot! dachte nun die Anne. „Warum lässt er sie nicht zu Wort kommen?

    „Nein, oder doch."

    „Wollen wir Frau Birkholz nicht warten lassen! mahnte Egon. „Noch viel offene Post? – „Anne, wies Sylvia hin. „Da drüben der Stapel noch bis Zehn Uhr. Dann muss Genosse Krenz…

    „Viel offene Post? wiederholte Egon freundlich. Verärgert verzog Sylvia die Stirn. „Ungefähr zweieinhalb Millionen Tonnen. Ich habe einen Brief von Max Schmidt ganz oben aufgelegt. Der enthält einen Vorschlag.

    Sie überwand alle gewohnte Zurückhaltung und sprach hastig weiter. „Wenn ich meine Meinung sagen darf."

    „Bitte! Ich bitte darum! – „Dann stochern alle Menschen in der DDR jetzt im Nebel. Sie fühlen sich völlig verunsichert und verlassen. Sie fühlen sich nicht schuldig an der entstandenen Lage. Sie sind auch nicht schuldig. Man hat ihnen… uns allen immer gesagt: Wir stehen zusammen! Und jetzt zeigt sich, dass jeder im Nebel steht, und ganz allein einen Weg suchen muss.

    Sie schluckte. „Meine Tochter Jasmin hat mal…"

    Egon lächelte etwas hilflos nickend und dachte: Ich wollte sie sofort beurlauben. Sie selbst wollte nicht.

    Anne strich der Sylvia über den Arm. Diese setzte fort: „gesagt: Dann müsst ihr einfach eine Echte Sozialistische Erneuerung gründen! ESE – als ganz neue Partei! Wär doch lässig! Sylvia schluckte und sah dem Egon offen in die Augen. Ernst und bestimmt sprach sie weiter: „Entschuldigen Sie, das würde ich von mir aus nicht ansprechen. Aber da ist dieser Brief vom Genossen Schmidt. Ich denke, wir haben nur noch wenig Zeit, sehr wenig. Der Aufruf wird nicht helfen. Da gehen viele aus verschiedenen Einzelfragen nicht mit. Es muss eine radikale Maßnahme her, eine Sortierung. Damit alle diejenigen, die in der Sache zusammen gehören, sich in diesem Nebel auch finden.

    Egon nickte nachdenklich, Anne nickte eifrig.

    Egon sprach: „Das sehe ich so ähnlich. So etwas ging mir durch den Kopf, als ich gestern diese demographischen Zahlen gesehn habe. Er drehte sich seiner Tür zu. Dann kam er ein paar Schritte zurück. „Da gibt es eine Hyperbelform. In den Zeiten als es eine vorwärtsgewandte Entwicklung gab, sind weniger ausgereist… Aber jedenfalls ist der Aufruf das einzige was wir jetzt haben. Und damit gibt es doch eine Sortierung! Natürlich muss es uns gelingen, den Bürgern der DDR wieder eine Perspektive zu geben.

    Er hielt die Türklinke in der Hand, wandte sich wieder um und fragte freundlich: „Und wie sehen Sie das, Frau Birkholz?"

    Schulterzuckend antwortete Anne: „Vor der Perspektive steht erstmal der gemeinsame Rahmen, denke ich, eine Struktur. Und das ist eben jetzt unklar."

    Intelligent! dachte Egon. Wir haben uns viel zu wenig um die junge Intelligenz gekümmert! Welches Potential da brach liegt!

    An seinem Schreibtisch fühlte er sich im Dunkeln. Es war eben ein grauer Tag. Er schaltete das Schreibtischlicht ein und nahm den Brief des Direktors zur Hand. Da stand zu lesen:

    „Noch gibt es einen Grundkonsens der SED und der anderen Parteien mit den Gruppen des Neuen Forum, ‚Demokratie Jetzt’, ‚Demokratischer Aufbruch’ und der Sozialdemokratischen Partei, den Grünen sowie der beiden Kirchen, dass die Wiedervereinigung nicht erwünscht ist. Auch hinsichtlich der antifaschistischen Tradition und der sozialistischen Ordnung gibt es noch eine Übereinstimmung. Zu fragen ist jedoch: Wie lange kann dieser Grundkonsens noch halten? Es droht die Gefahr, dass gegen diese ‚Wiedervereinigung’ weder von innen noch vom Ausland Maßnahmen ergriffen werden."

    Das heißt – überlegte Egon – diese wird vom Gegner erzwungen. Wir bekommen keine Schützenhilfe der SU mehr und würden überrollt. Ist das möglich? Die drüben haben jetzt die ökonomischen Hebel; die Anbindung an die großen internationalen Finanzinstitute. Die haben auch die Meinungsmacht, da uns die medienpolitische Programmatik fehlt.

    Ist es also möglich?

    Er scheute vor der Antwort zurück und las weiter: „Es ist hohe Zeit, in offene Gespräche mit den Parteien und Organisationen zu treten, um dem Grundkonsens Ausdruck zu verleihen. Die geeignete Form könnte eine Volksbefragung sein. Die Bevölkerung sollte darüber abstimmen, dass die deutsche Einheit oder der Anschluss der DDR an die BRD nicht auf der Tagesordnung steht."

    Eine gute Idee! fuhr Egon durch den Kopf. Wirklich gut. Ich werde sie auf der nächsten Sitzung des Politbüros zur Diskussion stellen.

    So hat er es sich tatsächlich gedacht. So teilt er es später wörtlich in seinen Erinnerungen mit. Und schreibt da in der Fußnote: Dazu kam es nicht mehr. Ich bin am 3. Dezember 1989 von meiner Funktion als Generalsekretär des ZK der SED zurückgetreten.

    Ähnlich inspiriert zeigte sich die Regierung Modrow: Sie hatte beschlossen, den „Aufruf" staatstragend zu begrüßen, mochte darin nun enthalten sein was wolle. Es schien die Zeit der Kompromisse. So in etwa hielt es denn auch der Thomas Arndt. Zwar hatte er gesagt: Interessiert mich nicht! – und der Bogen lag auf dem Tische und lag und wartete – und dieser und jener trat herein und heran und unterschrieb, und ging wieder. Schließlich trat am folgenden Morgen auch Thomas Arndt an den Tisch.

    Er las nochmals, schüttelte den Kopf – und unterschrieb. „Für unser Land!"

    Er glaubte nicht im Mindesten an irgendeinen Sinn, nicht einmal an einen ideellen oder indirekten. Er nahm den Bogen auf und hielt ihn dicht vor die Augen. Da standen die Unterschriften. Und niemand außer ihm las überhaupt noch durch, wer da stand. Da waren sie alle: die kindlich-unbeholfene Signatur von Schaltmeister, die sauber-naive von Narkose, die glatt geschwungene von Pjotr und ein krakeliger Zug von Haber, Züge vom Mainz und Weinkel, von LSD und Crab, von Kammersänger… Ja! Auch von diesem! Da hatte nun wohl doch die ganze Kompanie unterschrieben. –

    Er schüttelte in alter Gewohnheit den Kopf.

    Schließlich fand sich Ball ein. Er nahm die eng beschriebene Liste, stopfte sie in einen großen Umschlag, und trug diesen zur Post. Millionen unterschrieben diesen Anti-DDR-Salm nicht. Millionen aber unterschrieben nun im Lande. Sie unterschrieben nicht den Salm, sondern für ihr Land. Denn das stand darüber.

    Für die Regierung erklärte Sprecher Mayer im Fernsehen, sie fühle sich bestärkt durch diesen Aufruf, dass „eine Wiedervereinigung die auf eine Vereinnahmung unseres Landes hinausläuft, nicht auf der Tagesordnung steht".

    Soweit so mager. Man konnte es schlucken, und Thomas Arndt schluckte. Was kam jedoch im nächsten Halbsatz:

    „und dem Willen und Wollen breiter Bevölkerungskreise widerspricht."

    Die Journalisten aus aller Welt saßen im Saale, dem Mayer vor seinen Vorhangfalten gegenüber. Die Stifte glitten übers Papier. Handaufnahmegeräte wurden empor gehalten. Ball betrachtete mit runden Augen den Mayer vor den Vorhangfalten, wie er einem Schabe gelauscht.

    Sarkastisch lächelte Haber.

    Und eine seltsame Frage ging dem Arndt im Kopfe herum: Was soll der Vorhang? Alles geschieht doch davor! Was ist eigentlich hinter diesem Vorhang? Alles passiert hinter den Kulissen. Nur hier und für diese historische Minute geschieht alles für jeden offenkundig. Der Vorhang mag wohl sagen: Seht her! Dahinter ist noch was! Unsere Unbeholfenheit ist noch nicht alles! Jedenfalls ward gesagt: breiter Bevölkerungskreise. Er tauschte ein Grinsen mit Haber. Was steckt dahinter? Dahinter muss es heißen: Da ist wohl jemand… Wieviele können wir nicht genau sagen. Noch tiefer dahinter heißt es: Wir wollen es gar nicht genau wissen. Es gibt zwar soziologische Erhebungen, die sehr klar aussagen, dass die MEHRHEIT keinen Anschluss an die BRD wünscht. Aber wir haben ja diese Koalitionsregierung mit Leuten, die nicht ganz ehrlich sagen, an wessen Fäden sie hängen. Die es nicht sagen können, wollen oder dürfen. Wir müssen bitten, Rücksicht zu nehmen!

    Zudem ist da der Runde Tisch: Auch an diesem werden wir alle bald zusammentreffen, und auch dort wollen wir gemütlich sitzen. Auch dort soll der Kaffee schmecken, darf die Atmosphäre nicht leiden. Das Klima ist gefährdet genug! – Daher diese Unbeholfenheit. Das ist nun keine geistige Beschränktheit weiter. Das muss so sein! Das ist gewollt.

    Noch weiter gedacht, ergibt sich klar und zwingend der Eindruck den man im Übrigen unbewusst gewinnt: Hier ist ein Aufruf den wir begrüßen, dem wir uns auch anschließen. Glaubt bloß nicht, wir regieren! Wir laufen euch nach. Macht mal weiter; wir lassen uns zum Jagen schon von euch tragen! Wenn ihr dann zur nächsten Maßnahme schreitet, werden wir sie in unserer Koalitionsregierung auch bestimmt beraten.

    Sein Grinsen vertiefte sich so stark, dass Haber ihn erstaunt musterte.

    Der folgende Satz vom Mayer hieß: „Wahrung der Eigenständigkeit der Republik setzt eine funktionierende Wirtschaft und die Bewältigung einer Vielzahl ökonomischer Fragen voraus."

    Die erste Botschaft also ist: Wir haben das Regieren schon satt. Die zweite heißt: Wenn wir auch diesen Staat erhalten wollten… Es wird nicht gehen. Tut uns leid. Kurz darauf konnte man von Wirtschaftsministerin Christa Luft hören, dass bald ein Gesetz über Gemeinschaftsunternehmen vorgelegt würde, bei denen Fremdkapital bis zu 49 Prozent begrüßt würde.

    Indessen begutachtete der Egon Krenz an seinem Schreibtisch die nächste Post: eine Beschlussvorlage der CDU – die an der Koalitionsregierung beteiligt ist – an die Volkskammer. Es wird eine Entschuldigung gefordert, dass „Einheiten der Nationalen Volksarmee der DDR 1968 in der ČSSR beteiligt waren." Damals hatten westliche Gelder und Vatikan und CIA zur Störung von Versorgung und Staat im Nachbarland geführt, um Konterrevolution einzuleiten wie in Chile… Unter Wahrung völkerrechtlicher Regeln und mit Hilfe der Bruderländer hatte die Tschechoslowakei dies beruhigt und das Volkseigentum gesichert. Der Westen hatte vor Wut geschäumt. Undeutlich sah Krenz die brisanten Tage noch vor Augen. Er glaubte aber auch zu wissen, dass keine Teilnahme der NVA stattfand. Er forderte eine verbindliche Erklärung von Generaloberst Streletz an, im Jahre 1968 stellvertretender Chef des Stabes.

    Die Antwort lautete: „Zu keinem Zeitpunkt befanden sich im Zusammenhang mit Handlungen der Vereinten Streitkräfte Truppen der Nationalen Volksarmee auf tschechoslowakischem Territorium."

    Da hatte nur die kapitalistische Medienmacht zugeschlagen und dergleichen überall verbreitet. Und wenn die CDU es jetzt noch per Volkskammerdebatte verankern wollte, so lag deren Rolle im System-Kampf schon offen.

    Egon Krenz fiel es nicht auf. Er las weiter. Roland Claus aus Halle schreibt ihm, einer der neuen SED-Bezirksleiter:

    „Du solltest auf dem Sonderparteitag nicht wieder als Generalsekretär kandidieren. Im Gespräch mit vielen habe ich gespürt, dass man dir persönlich nicht das für die Leitung der Erneuerungsbewegung in Partei und Gesellschaft erforderliche Vertrauen entgegenbringt."

    Krenz ließ den Brief sinken und stützte das Kinn in die Hände. Ja! dachte er. Da schafft und ackert man und fällt fast um vor Müdigkeit… Aber vielleicht hat Roland Claus recht. Er schreibt nichts so dahin. Er muss sich seiner Sache sehr sicher sein.

    Der Staat besteht noch – schien dem ungläubigen Thomas Arndt:

    Er will sich nicht orientieren. Er will keine eigene Neudefinition und keine Selbstbestimmung mehr schöpfen, aber untergehen will er auch nicht. Die Menschen wollen sich nicht vereinnahmen lassen, einfach anschließen lassen. Was wird der Wolf tun? Er muss sie weiter locken. Er muss seine bunte Warenwelt verlockend glitzernd präsentieren und das dazu nötige Westgeld schwenken… Vor allem aber muss er so tun, als wünsche man hier eine „Vereinigung".

    Dies schien also die Zeit der Kompromisse. Die an der Koalitionsregierung beteiligten Leute schlossen mit dem Wolfe einen Kompromiss: Wir reden hier alle immer noch gemeinsam von Sozialismus. Und dann tun wir das genaue Gegenteil. Die Autoren des „Aufrufes" sagten: Alles Mist, aber unterschreibt, dass wir ihn nur behalten! Thomas Arndt konnte darin kein Wort finden, dass er unterschreiben mochte – und unterschrieb.

    Sonja Malmann hielt des Abends ein Schreiben der „Vereinigten Linken in der DDR empor. „Nonsens! sagte sie. „Die linken Brüder und Schwestern schreiben, dass sie sich dem Appell anschließen, Mutti."

    Mutti Malmann saß in einer plüschigen Sesselgruppe, beugte sich zur Seite und nahm ein Körbchen mit Nähzeug aus dem Durchreichen-Unterschrank.

    „Woher haben sie denn deine Adresse? fragte sie neugierig. – „Ach, da lag am Eingang so eine Liste wo man sich eintragen konnte. Mutti nickte. „Und wie geht’s dort weiter?"

    Sonja knurrte: „Es gibt eine Großdemo, eine Anti-BRD-Demo, am neunzehnten Dezember. Aber deine Frage war falsch."

    „Gehst du da hin?"

    „Du hörst mir ja gar nicht zu! Deine Frage war falsch!"

    „Achso… Ja, wie wäre denn die Frage richtig?"

    Sonja verdrehte die Augen zur Zimmerdecke. „Mutti! Es ist kein Wunder, wenn wir alle baden gehen. Ihr schlaft ja."

    Die Mutti hatte einen Faden eingefädelt und nickte. Sonja mochte alle Wände empor kriechen – gleichzeitig. Heiser begann sie zu schreien: „Ich habe gesagt ‚Nonsens’! Sie schrie lauter, und die Mutter fuhr zusammen. „Oder nicht?! Das muss doch dann heißen Wieso?!

    Die Mutti hielt einen Knopf und nähte. Sie nickte und fragte sanft: „Willst du einen Tee trinken? Oder einen Kaffee? Wir haben auch Apfelsaft! Und danach erzählst du mir von deiner Clique. Ich meine, wenn du mir das andere erzählt hast. Müde ließ sich Sonja aufs Sofa fallen. Sie sah der nähenden Mutter zu. Nach einer Weile sagte sie: „Geh mal, mach Kaffee! Vielleicht bringt uns das wieder hoch. Gib her! Ich mach das schon.

    Die Mutter wackelte in die Küche und klirrte mit Geschirr. In der mehretagigen gläsernen Durchreiche standen Wein- und Biergläser, buntes Kristall und eine sowjetische Matroschka-Puppe sowie eine bunte ungarische Tänzerin. Sie rief durch die blanken Scheiben: „Nachher kommt ein schöner Miss-Marple-Film."

    Sonja entgegnete: „Bei uns?"

    „Ja, bei uns, rief Mutti. „Im Ersten. Was wolltest du mir denn erzählen?

    „Diese linken Chaoten schließen sich dem Aufruf-Appell an. Das ist Nonsens. Das wollte ich sagen, rief Sonja zurück, packte das Nähzeug ein und stellte das Körbchen weg. Dann legte sie die Bluse zusammen. Die Mutter erschien mit einem Brett, darauf ein kaffeeduftendes Kännchen und zwei Zwiebelmuster-Tassen standen, außerdem ein Sahnekännchen und eine Zuckerdose. „Findest du den Aufruf falsch? fragte sie.

    „Irgendwie halbgewalkt, sagte Sonja nachdenklich. „So unentschieden. Die haben sich einfach gedacht: Alle hacken jetzt auf der DDR rum – also hacken wir auch mal ’ne Runde. Und dann fordern sie, dass man für dieses Land aktiv wird. Und das ist Nonsens. Das kann doch nicht überzeugen.

    Mutti goß Kaffee ein. „Man findet immer irgendwas das einem nicht schmeckt. Wichtig ist doch, dass jetzt alle DDR-Bürger diese Möglichkeit haben. Dass es wieder eine gemeinsame Plattform gibt. Aus meinem Betrieb höre ich, dass alle da unterschreiben, und auch von Vatis Arbeitsstelle. Das hört man von allen Seiten, sogar aus der Post. Das ist doch gut…"

    „Es wird uns nicht mehr helfen."

    Abends saß man gemeinsam vorm Fernseher. Im langgestreckten Wohnraum stand auf einem runden Tischchen ein zierlich geschmückter Adventskranz mit vier weißen Kerzen. Es lief die „Aktuelle Kamera". Da wurde natürlich auch der Mayer betrachtet. Dann war die Nachrichtensendung vorbei.

    Hierauf kommentierte der Narkose-Vater: „Mir sind drei Dinge aufgefallen. Vielleicht fällt das noch anderen auf? Beim DTSB sagen sie, dass bei uns die Sportvereine die nichts einbringen, genauso gefördert werden wie die wo Gelder ’reinkommen, sogar Devisen. Das nenne ich solidarisch! Das ist echte Gemeinsamkeit. Dann haben sie erzählt, dass irgendwo im Westen ein Picasso-Bild für Millionen versteigert wurde. Dass es einen Verkaufs-Rekord erzielt hat. Dreihundert Millionen France! Kunst als Geldanlage: Das ist barbarisch."

    „Aber, wandt Sonja ein, „es wurde null kommentiert! Einfach nur so berichtet. Als wären sie noch stolz darauf, so was erzählen zu können.

    „Jeder weiß doch, sprach der Narkose-Vater, „dass bei uns die Kunst dem Volk gehört. Jeder darf gleichermaßen daran teilhaben. Das gibt doch zu denken!

    „Hoffentlich! sprach die Mutter. „Pass bloß auf deine Zigarette auf! Brenn mir kein Loch in den Teppich!

    Dieser Teppich leuchtete bunt wie verzaubert. Sonja fragte: „Und das dritte?"

    „Zwischen dem 24. und 29. November gab es zweitausend Zoll- und Devisenvergehen, antwortete der Vater langsam. Noch langsamer setzte er fort: „In fünf Tagen. Das kann man hochrechnen auf den Zeitraum seit die Grenze offen steht. Dazu kommen noch die unentdeckten Schiebereien. Sie machen ja nur Stichproben. Sieht man immer bei den Aufnahmen von den Grenzübergängen. Das geht in die Millionen! Was bleibt uns dann?

    „So ungefähr, erklärte Sonja trübe. „habe ich’s mir gedacht. Und dann haben sie das erstemal einen DDR-Bürger erwischt, der Drogen bei sich hatte. Sie verstummte. „Und?" fragte Mutti.

    „Mir ist noch was anderes aufgefallen. Aber was sagt ihr zu diesem… zu diesem Schalck-Golodkowski und seinem Firmenimperium?"

    „Forum-GmbH, bestätigte Vati. Halb herausfordernd, halb spöttisch fragte Tochter Sonja: „Was sagst du denn dazu?

    „Das kommt jetzt rund um die Uhr, in jeder Sendung", sagte der Vati langsam. Im Fernsehen wurde der Kriminalfilm angesagt.

    Dann fügte er an: „Na und? Es gab eben auch Firmen die direkt von der Partei geleitet wurden. Da ging’s um die Devisenverwaltung. Wir haben nicht viel an konvertierbarer Währung. Außerdem werden wir ja boykottiert. Das muss damit zusammenhängen, dass sie externe Aufgaben hatten, also dem Volkswirtschaftsbereich nicht direkt zuzuordnen sind. Die waren international tätig. International gibt es doch keine sozialistische Planwirtschaft und kein gemeinsames Eigentum. Also können es nur solche Firmen sein."

    „Die haben, ergänzte die Mutti, „aber doch ihre Aufgaben erfüllt! So gut wie es ging. Den Kaffee und den Kakao gab es immer, und alles was man im Alltag so braucht. Und wer unbedingt per Genex einkaufen wollte, der konnte es auch tun. Das muss ja jemand organisieren.

    „Und was meint ihr zu dieser ständigen Korruption?"

    „Ich bin da skeptisch, gab Mutti kund. „Aber der Film hat schon angefangen. Man sah zur possierlich-emsigen Margret Rutherford, die in diesem Fall noch in Schwarz-Weiß ihre Mörder jagte. Es war wirklich vorzügliche Filmkost. „Mutti! fuhr Sonja auf. Schuldbewusst senkte Mutti den Blick. „Man redet jetzt darüber, dass der Willi Stoph ein Freizeit-Objekt gehabt haben soll. Aber das kann ich mir nicht vorstellen.

    „Ich kann mir das, sprach Vati mit quälender Langsamkeit, „gut vorstellen.

    „Mein Gott! rief Sonja. „Was sagst du denn dazu?

    Ja! Was sagt man als Vater dazu? Jemand aus der alten Zeit, als man noch an den lieben Gott glaubte, der mochte wohl sprechen vom allwissenden und vergebenden Weihnachtsmann, von der Sündhaftigkeit des Menschen und allverzeihender Gnade.

    „Man kann interpretieren. Millionen Leute…" Er verstummte.

    Dann schreckte er auf und schaute gerade in Sonjas ängstlichen Blick. „haben eine Datsche, eine Laube. Das ist alles ein ‚Freizeit-Objekt’. Was sonst? Er blickte auf den Bildschirm und fuhr übergangslos fort: „Bei diesen gutgemachten Krimis kann man schon in der ersten Häfte drauf kommen, wer der Mörder ist. Aber nur wenn man ganz scharf aufpasst. Und da fällt mir immer die klassische Kriminalistenfrage ein: Cui bono?

    „Wem nützt es? übersetzte Sonja. „Und diese… Aber diese Jagd-Gebiete? fragte sie begierig. Langsam erklärte Vater Narkose: „Jagden finden in Westdeutschland genauso statt – und mehr als hier, denke ich. Hier geht das vielleicht auf die Freunde zurück. Früher unterstanden wir ja der sowjetischen Besatzungsmacht. Drüben hatten sie die US-amerikanische und britisch-französische. Und wir waren, also die Deutschen waren ja die erbittertsten Feinde der Sowjetunion. Nach dem Krieg haben uns die Sowjets misstrauisch angesehen. Deutsche haben da drüben Dorfbewohner in Scheunen zusammengetrieben und diese mit Flammenwerfern in Brand gesteckt, haben gemordet, gefoltert, wie’s schlimmer nicht geht. Ganze Städte zertrümmert. Die Deutschen…"

    „Es ging um die Jagd", erinnerte Mutti.

    „Die Deutschen haben sich da als reine Barbaren und schlimmer gebärdet. Sie wurden also mit Skepsis gesehen, auch die deutschen Kommunisten. Da musste erst Vertrauen entstehen, wachsen… Zur russischen Tradition gehört die Jagd, vielleicht noch mehr als bei uns. Da ist man zusammen unterwegs, muss zusammen schweigen. Ich denke, daher kommt das. Das hat sich eben erhalten, dass der eine und andere zur Jagd ging. Da wirken die alten Zeiten noch nach. Man weiß es ja überhaupt nur von Mittag und Honecker. Ich halte es für kein Verbrechen, nicht mal…"

    „Vati!"

    „…für ein Privileg. Drüben muss man Geld haben für das Weidwerk. Bei uns kann sich jeder in einer Jagdgenossenschaft organisieren. Wo ist das Privileg? Wo ist da ein Amtsmissbrauch?"

    Man sah Miss Marple über den Bildschirm rasen. „Schade! seufzte Mutter Narkose. „Jetzt kommen wir nicht mehr rein!

    „Trotzdem, beharrte Sonja. „Und was ist mit dem Schwimmbad und der Sauna da in Wandlitz? – „Ja, das Schwimmbad, murmelte Vati. „Hast du das gesehen? Meine Kollegen haben mir erzählt, wie es da aussieht. Ziemlich klein… Ich glaube, das ganze Leben da in Wandlitz ist kein Vergnügen. Man kann natürlich sagen: Oh! Die haben ein eigenes Schwimmbad, eine Sauna.

    Der Narkose-Vater sann nach. „Jeder in unserem Land kann fast geschenkt in die Sauna gehen oder in ein Schwimmbad. Wo ist das Privileg? Das Ganze ist ja Unsinn. Da gibt’s einen Laden wo es normale Sachen gibt, und ein paar Delikat- und Intershop-Dinge. Dafür leben sie aber wie eingesperrt. Aber man muss sehen, was vielleicht noch kommt." –

    Da kam nichts mehr. Sie waren schuldig. Aber nicht dessen.

    Mutti sagte: „Trotzdem. Der schöne Film! Jetzt sind wir raus.

    Jetzt ist es vorbei. Jetzt kommen wir nicht mehr rein."

    „Mir, so redete Sonja ins Fernsehgeflacker, „ist bei den Nachrichten noch was ganz anderes ins Auge gestochen. Dieser Herrhausen! Jetzt hat’s ihn erwischt. Die machen einen Wind um den! Genau wie im Westen! Verbrechen, Terror und so weiter, schrecklich – Was hat das mit uns zu tun?

    Mutti sprach: „Vielleicht wissen sie gar nicht, was sie eigentlich berichten sollen. – „Kann schon sein, bestätigte Narkose-Vater. „Das alles ist ja sowieso unklar. Sie haben da ein Bekennerschreiben der Rote-Armee-Fraktion gefunden. Das kann sonstwer geschrieben haben, ein Konkurrent oder ein Komplize."

    „Herrhausen", murmelte Sonja. „Das klingt schon wie Herr im Haus der Bundesrepublick Deutschland. Deutsche-Bank-Chef! Und dann haben sie wirklich gesagt, er hätte mehr politischen Einfluss und mehr Macht gehabt als der Bundeskanzler Kohl.

    Warum muss man da so ein Geheul anstimmen? Bei uns! Der Vater nickte. „Die Deutsche Bank ist natürlich nicht nur in der Bundesrepublik ein Strippenzieher. Die sind überall auf der Welt aktiv mit ihren schmutzigen Öl- und Waffengeschäften, Drogen und Vernichtung von Menschen und Natur. Ich schätze Millionen Opfer, hunderte Millionen.

    Eifrig setzte Sonja hinzu: „Na also! Da hat es jetzt einmal den Richtigen erwischt. Was soll das Geschrei? Bei uns?"

    „Kapitalistische Bankiers sind immer Verbrecher, bestätigte Vati. „Das liegt in der Natur der Dinge. Selbst wenn sie einen Schuldenerlass für die Dritte Welt veranstalten. Dann nur deshalb, weil zahlungsunfähige Staaten ihnen nichts einbringen. Sie verurteilen bei uns lang und breit den Terror, sprach der Vater weiter. „Der wissenschaftliche Kommunismus lehnt den individuellen Terror auch ab. Nur, so lang und breit das zu bedauern, ist vielleicht übertrieben. Indirekt ist er natürlich ein Massenmörder. So wie der Schleyer damals ein SS-Verbrecher war. Drüben ist es normal, dass sie den Terror gegen die herrschende Klasse beweinen."

    „Und bei uns, rief Sonja dagegen: „weinen sie dem Herrhausen genauso bittere Tränen nach! Oder noch mehr! Das ist doch sinnlos, absolut!

    Sie lauschte den eigenen Worten nach. „Man musste ihn ja nicht unbedingt töten. Ich würde ihn in einem großen Glaskasten ausstellen mit der Aufschrift: ‚Der Menschheit größten Maden eine’. Da kann er mit seinem BMW im Kreis fahren. Die Eltern lachten. „Drachenmade, sagte Sonja. „Dicke Drachenmade! Es ist traurig, dass der Fahrer verletzt wurde. Aber der muss ja wissen, wen er da fährt. Oder nicht?"–

    Dreißig Jahre später liest die Großmutter Sonja, dass das Herrhausen-Attentat nicht der RAF zuzuschreiben ist. Sie liest auch, wie Terrorakte vom kapitalistischen Staat selbst organisiert werden, um rigider zu herrschen, und wie eine Partei mit „linkem" Etikett deren Vertuschung duldet. Und es überrascht sie nicht. Über dreißig Jahre später verdichten sich auch Hinweise, dass besagter Herrhausen seiner zögerlich bis ablehnenden Haltung wegen gemeuchelt wurde: zum hastigen DDR-Anschluss. Er wollte extra Zeit dafür. Als marode sollte die DDR dargestellt werden. Aber aus einer als marode deklarierten Wirtschaft konnte seine Bank zukünftig schlechter Zinsen saugen.

    „Eine dicke Drachenmade, spricht dann Großmutter Sonja vor sich hin, „war er also trotzdem.

    Mit diesen Worten nimmt sie bereits Abschied von uns.

    Und die Maden kriechen und kriechen.

    Der seltsame Mann und der Bakerman

    Thomas Arndts Träume hatten ihre düstere Tristesse und Melancholie verloren. Sie wurden unruhig, packend bis grausig. Er drehte und wand sich im Bett. Mit blauem Gesicht hielt der halbtote Maik die grazile Claudia im Arm und tanzte wild mit ihr im Kreise, schwang sie herum, heftiger als er selber seinerzeit. Neblig ward das Bild und verschwamm. – Stube 202 erstand. Durch die offenstehende Tür trat Arndt ein. Aber es gibt doch gar keinen Grund zum Erstaunen! Was verwundert er sich nur fortwährend? Alles befand sich an seinem Platz: In der Mitte des Zimmers steht der Tisch, die Kaffeemaschine darauf. Das Regal an der Wand enthält den Radiorecorder. Darunter steht der zerknackste Honecker. Oben an der Decke hängt die Lampe. An der Lampe hängt der Weisenkorn.

    Dann wieder saß er auf dem Kutschbocke eines gelben Wagens, gezogen von zwei riesigen Rappen. Neben ihm schwingt der Schwager in einem dunklen wallenden Umhang seine scharf knallende Peitsche. Der Wagen rast durch die Nacht, an verdorrten Bäumen entlang, über Berg und Tal und Städte. Er fliegt förmlich durch die Nacht. Neben ihm wächst und schwillt der Kutscher an und wird größer und gewaltig. Hinter der übergroßen Kragenecke ist sein Gesicht halb verborgen. „Nicht so schnell, Kutscher, krächzt Arndt. Dröhnend lacht dieser: „Ich bin kein Kutscher. Ich bin kaiserlicher Postillion! Hohnlachend donnert er: „Halt dich ja fest, Untermenschlein!" und brüllt vor Lachen. Arndt wird kleiner. Er sinkt zusammen, klammert sich ängstlich fest, wird auf und niedergeschleudert, hin und her, und kann sich kaum mehr halten. –

    Wiederum saß er in der Stube 202. Da kam der Egomon auf ihn. Er sah ein wenig aus wie LSD und auch etwas wie Ball. „Komm! grölte er laut wie ein Trunkener. „Komm! Armdrücken! Er hielt seine Klaue empor und sprach klirrend: „Du hast ja Angst! Ich werde dir zeigen, dass ich stärker sein kann als der Mensch. Stärker als mein eigener Gegner!"

    Langsam öffnete Thomas Arndt die Augen.

    Er spürte eine Hand auf der Stirn. Im Dämmerlicht erblickte er graue Unteroffiziers-Schulterklappen auf einer grauen Tarnuniform. Dann erst nahm er verschwommen Schaltmeister wahr. Dieser sah aufmerksam in sein Gesicht und sagte ohne jeden Fürwitz: „Bist krank."

    „Lass… Quatsch, murmelte Arndt dumpf. „Du riechst ein bisschen, musst mal wieder duschen. Er drehte sich weg. Dann verflochten sich die Träume. Claudia wurde vom Egomon vergewaltigt. Der gelbe Wagen flog über die ganze Erde, auf der sich Längen- und Breitengrade abzeichneten. Er selber hing nur noch mit einer Hand am Geländer. Über ihm brüllte es: „Du würdest wohl gerne noch blei-ei-ei-ben…"

    Plötzlich erblickte er auf dem Dache des Kutschwagens den Pjotr, der schwankend aufstand und hinab sprang in die Tiefe. Er spürte wie er selbst den Halt verlor und fiel. „Warte! schrie Pjotr. „Ich komm mit!

    „Du bist vorn! schrie Arndt zurück. Ins Bodenlose stürzend rief Pjotr: „Wir haben schon lange nicht mehr Skat gespielt.

    Plötzlich zeigte sich neben ihm fallend der Maik, der fröhlich rief: „Ich kenne ihn! Der taugt nicht viel."

    Das rief der hinabfallende Maik, der nun den Kopf abnahm. Er schleuderte diesen durch die Nacht davon. Sinkend und trudelnd rief der Kopf: „Ich kenne ihn! Der ist nichts wert. – „Nichts wert! klang es leiser werdend. „Nichts wee… – „Gleich, rief Pjotr zurück, „ist es vorbei."

    Als er schwitzend erwachte, schien die vormittägliche Spätherbstsonne niedrig durchs Fenster. Am Bett stand ein unbekannter UvD mit roter Armbinde. Sachlich sagte man zu ihm: „Hör zu, Junge! Du kannst nicht bloß im Bett liegen. Wenn du nicht aufstehst, ruf ich im Med-Punkt an. Du hast heute Wache."

    „Ich steht ja… gerade auf", flüsterte Arndt und meinte zu brüllen. Dann sprang er hoch. In Wirklichkeit kroch er vom Bette.

    In der Waffenkammer beäugte der Feldwebel ihn misstrauisch. „Alles fit?"

    Thomas Arndt nahm seine Maschinenpistole mit der Nummer 2587 aus dem Ständer.

    Dies war ein neuer Spieß. Der Bar war lange vergessen. Überhaupt schien von den führenden Personen nicht viel verblieben zu sein. Wie soll man eigentlich mit jemand in schwierigen Zeiten vertrauensvoll kooperieren, den man gar nicht kennt? Man war es gewohnt. Man hatte einfach Vertrauen zu jedem. „Und bei dir? brummte er. „Natürlich alles fit. Er dachte: Man meldet sich nicht krank. Punkt. Man verlässt seinen Posten nicht. Schon gar nicht als der „letzte Posten". Nur: Dieser da hatte nicht den Dienst im Kopf. Er mochte einfach keinen Kranken auf Wache sehen. Man machte sich mehr Sorgen um die Menschen als um deren Sache. Nur kein Kranker! Nur kein… Blut. Niemandem werde bitte auch nur ein einzelnes Härchen gekrümmt! Niemand sei verschnupft! Niemand sprach von Klassenkampf, scheinbar niemand dachte an Klassenkampf, wenn auch der härtesten einer sich soeben vollzog: Und zwar abstrakt. Da ist der zweite Schlüssel.

    Und zwar deshalb…

    „Das ist eine Frage der Ehre, erklärte er dem Waffenhans. „Da denkt nur niemand dran. Und zwar deshalb!

    Im dunkel-ehrwürdigen Saal wurde Sylvia vom Scheidungsgericht befragt. „Sehen Sie das Scheitern Ihrer Ehe als unabwendbar oder ist es einer besonderen Situation zuzuschreiben?"

    „Beides, antwortete Sylvia kühl. „Wir gehören nicht zusammen. Weil die Ausgangsbedingungen zu verschieden waren. Da ist es nur eine Notlösung, wenn man unbedingt zusammen leben will. Konkret zeigt sich das erst jetzt.

    „Ich möchte gern, erörterte die Richterin, „eine Klärung im Sinn weitgehender Übereinstimmung der Beteiligten. Sie sah bedachtsam auf Sylvia, welche zur Antwort gab: „Wenn aber die Übereinstimmung bei uns im Wesentlichen fehlt?"

    Die Schöffin, eine ältere Dame, stellte eine merkwürdige Frage:

    „Wir wollen Sie nicht verstören. Ich weiß aber nicht, ob wir ohne diese Frage eine Klärung schaffen. Kann es vielleicht sein, dass dieser… schwere Einschnitt Sie veranlasst überzureagieren?"

    Verneinend bewegte Sylvia den Kopf. „Das heißt, forschte die Schöffin weiter; „Sie könnten sich nicht vorstellen, wieder zusammenzufinden, wenn dieser schwere Einschnitt, wenn das gemeinsame Kind…

    Der Vorsitzenden brach der Schweiß aus. Muss man alles bis ins Detail durchkauen? Doch Sylvia blieb kühl. „Nein. Sie drehen das um. Die Voraussetzungen fehlen. Wir haben das nur vorübergehend überspielt. Jetzt fällt der Grund dafür weg. Wie sollen wir deswegen zusammenfinden, uns wieder vereinigen? Diese Wiedervereinigung wäre keine Wiedervereinigung, weil wir noch nie zusammengehört haben oder wirklich zusammen waren."

    Nun jedenfalls bestand erst recht kein Grund, sich wieder zu vereinigen. Jasmin war tot; tot letztlich aufgrund dieser Grenzöffnung, aber was kam es darauf noch an. Es konnte keine sinnvolle Wiedervereinigung geben.–

    „Ich vergleiche den Opportunismus – so dozierte an diesem Ersten Dezember der Dr. Kusseler vor seinen Hörern in der Humboldt-Universität, „mit der Massenanziehung, der Gravitation. Wir haben es mit Personen zu tun, die aufgrund einer spezifischen Stärke oft ein gewisses Selbstvertrauen besitzen und sich durch ihre Erfahrungen gemahnt sehen, bestimmte Grenzen nicht zu überschreiten. Sie wollen dann möglichst allen Seiten zusagen, auch gegensätzlichen. Weil das nicht funktioniert, fühlen sie sich von der Seite besonders angezogen, die mehr Aussicht, also Anziehungskraft besitzt. Da spreche ich schon von Besitz. Und wenn…, sagte er und sah sich durch Aufmerksamkeit der Studenten im Hörsaal bestätigt, „die wissenschaftliche Argumentation, der Marxismus-Leninismus, zu lustlos und schläfrig, zu bequem einher kommt und keine Anziehungskraft mehr entwickelt, tendieren sie desto stärker zur anderen Seite, zur Argumentation des Klassengegners, der Bourgeoisie –"

    Hätte man doch mehr Dozenten wie Kusseler!

    „…welche sich darauf einstellt und ihre Argumente sanft und einfühlsam vorträgt, gewissermaßen entschärft – Man schrieb mit. Man lauschte mit geschlossenen Augen. Kusseler genoß einigen Ruf. „…um den Seitenwechsel zu erleichtern, um den Übergang zu mildern und den Klassenverrat zu verniedlichen. Kusseler ging auf und ab und sprach weiter. „Wenn man den Opportunismus schärfer erkennen will, darf man sich auf die Erscheinungsebene begeben. Denn die verschiedenen Ausprägungen machen einen gemeinsamen Kern deutlich; die Dinge nie wirksam zu ändern. Im Wesen der Sache ist Opportunismus immer rechts. Er erscheint jedoch als linker Opportunismus in Form des Sektierertums, des Radikalismus oder als rechter Opportunismus in Form des Revisionismus, des Reformismus und Parlamentarismus."

    In Bonn saßen zwei Herren in einer großen BMW-Limousine mit abgedunkelten Scheiben am gepflasterten Straßenrand. „Wie sieht es aus?" fragte der eine.

    Der seltsame Mann gab kund: „Wir haben alles vorbereitet, Herr Kinkel."

    „Reden wir uns jetzt mit Namen an, Herr X Y?"

    „Entschuldigung. Was uns betrifft, wir sind zufrieden. Aber etwas habe ich dazugelernt. Man muss weiter ausholen, wenn man die DDR-Menschen von diesem Staat und von allem wegbringen will."

    Kinkel nickte. „Es gibt einen Vier-Stufen Plan. Zunächst wird die politische und vollziehende Gewalt in Frage gestellt und diskreditiert. Man wird diese mit allen möglichen Vorwürfen überhäufen. Dann wird sie peu a peu aufgelöst. Nach den Politikern wird auch die Justiz personell ausgetauscht, das ist ja klar. Politik und gehobene Verwaltung wird von zweitrangiger West-Auswahl übernommen. Die werden nach Osten umziehen und erhalten das extra vergütet. Die Richter ähnlich – so lange bis neue in unserem Sinn nachgewachsen sind. Dann die Geistes-Elite: Alle Rektoren, Professoren, Lehrstuhlinhaber und so weiter werden ausgewechselt. Wer sich wehrt, wird als Stasi-IM gebrandmarkt. Dann kommt die Medienfrage: Alle Zeitungen und Sender müssen sich marktwirtschaftlich aufstellen, werden von den großen Konzernen übernommen und erhalten von dort ihre neuen Chefredakteure. In den Schulen werden die Lehrer auf ihre Einstellungen und Gesinnung abgeklopft. Da kommt keiner raus. Und dann…"

    Kinkel lehnt sich entspannt zurück. „beginnt das eigentlich Spannende. Dann wird die DDR nämlich rigoros moralisch umgedeutet und abserviert. Es wird eine Prozesswelle gegen ehemalige Funktionsträger losgetreten, wo die Leute mit soviel Vorwürfen und Dreck beworfen werden, dass immer etwas hängenbleibt. Die Medien werden vollgestopft mit Geschichten über Privilegien und Korruption, bis keiner mehr hinterher kommt, das zu überprüfen und zu widerlegen. Wird natürlich auch nicht mehr gebracht. Damit wird der Staat und das gesamte Gesellschaftssystem delegitimiert. Alle Narrative werden dann umgeschaltet. Umschaltung heißt das Zauberwort der Stunde. Von Demokratie wird keiner mehr bei der DDR sprechen wollen, wenn hinter jedem Wort ‚Unrechtsstaat’ irgendeine Unrechtsgeschichte steht oder das Wort Mitläufer oder das Wort Apparat."

    „Ich kann, wandt der seltsame Mann ein, „mir das kaum vorstellen. Kinkel grinste. „Muss man sich alles vorstellen? Wir haben ein ganzes System zur Meinungsbildung entwickelt. Mit kritischen Einwänden. Eigentlich haben die Amerikaner es entwickelt. Geht wohl bis auf Goebbels zurück. Von verschiedener Seite wird immer dasselbe gesagt. Schon mit Begriffen kann man alles machen. Wenn es Unzufriedenheit gibt, kann man ein ‚linkes Establishment’ generieren. Man kann später von einer ‚Ost-West-Konfrontation’ sprechen. Das klingt allgemein und sachlich. Aber die Konfrontation ging dann vom Osten aus. Man kann vom ‚Ostblock’ sprechen und wird nie etwas von einem Westblock sagen. Block klingt einfach nach Blockwart oder -aufseher. Oder ‚Unrechtsstaat, Stacheldraht’. Dazu kommen die Fabeln. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Es gibt das Narrativ, die DDR sei von Grund auf antifaschistisch. Ich komme eben von einer Besprechung. Wir haben da einen eifrigen Schreiber, der ein ‚Braunbuch’ über die DDR geschrieben hat. Da hat er hunderte Fälle, wo frühere NSDAP-Mitglieder Karriere in der SED machten."

    „Das ist doch kein Geheimnis. Es waren doch keine höheren Chargen aus dem Dritten Reich, sondern einfache Parteimitglieder. Seinerzeit war ja fast jeder in der NSDAP."

    „Hunderte! wiederholte Kinkel. „Und jetzt können Sie sagen, im Westen sind es hunderttausende, und diese haben als Spitzen des Dritten Reiches den ganzen Staat aufgebaut. Aber genau das wird doch keiner mehr erfragen, wenn es in keinem Medium auftaucht. Und das wird auch nicht auftauchen! Es hängt eben viel an den Stichwörtern. Wir werden nur noch EIN Wort zulassen für den Sicherheitsdienst da drüben. Darauf wird man alles Linke runterbrechen: Stasi! Ganz einfach! Das klingt schon so wie Nazi.

    Kinkel grinste. „Sowas fällt einem nicht so einfach ein. Da braucht man Konzeption! Genauso wie jede Demokratisierungstendenz mit dem Stempel ‚links’ zu brandmarken, linkes Ding… und so weiter. Das heißt alles nur noch so. Weg ist der Müll. Bei uns ist die Demokratie – und nur bei uns! Dafür braucht man Denkfabriken und eine Konzeption."

    „Wir werden aber auch hier… Wir werden immer konkrete Geschichten brauchen."

    „Haben wir! Hinter jedem Vorwurf steht ein konkreter Name, ob echt oder nicht. Und sobald die MfS-Akten bei uns gelandet sind, haben wir die schönste Giftküche. Bei über neunzig Prozent der Leute ist wahrscheinlich nichts erfasst, außer Belanglosigkeiten. Wie bei uns auch. Aber das WAS politisch erfasst wurde, ist oft negativ hinsichtlich DDR. Und jetzt können wir sagen; das bildet die Stimmungslage der Bevölkerung ab! Dies ist eine Variante. Dann kann man immer jemanden vorzeigen und sagen: IM! Das allein wiegt dann schon schwer. Wir werden später gar nicht mehr so ins Detail gehen müssen. Günstig ist es genau dann, dem SED-Staat die Horror-Szenen anzudichten. Man kann sich doch alles ausdenken! Leute, die für ein bisschen Westwährung ihre Erinnerungen frei anpassen, werden sich genug finden. Die Beleg-Unterlagen lassen sich dann herstellen."

    Die Frage des seltsamen Mannes war: Wie? Aber er sprach sie nicht aus.

    Kinkel antwortete dennoch freimütig: „Im Büro des Politbüromitglieds Axen saß irgendein unwichtiger Referent namens Puscher. Dieser Mann wollte mal in den Sechzigern Karriere machen und ist trotz allen Kratzens nicht weiter gelangt als ins Zentralkomitee der SED. Irgendwie ist sein Vater auch mal gemaßregelt worden, konnte seine Karriere nicht weiter fortsetzen. Der frisst uns aus der Hand. Er ist auch schon seit Jahren mit Kontaktleuten aus Gorbatschows Lager umringt. Ein Spitzel nicht nur von uns – sondern auch von Gorbatschow. Der ist so hasserfüllt… Der würde behaupten, Honecker habe Konzentrationslager in Planung gehabt für politisch Verdächtige. Aber…"

    Kinkel schloss kurz die Augen. „Da muss man reflektieren. Er ist noch zu wenig schlüssig, kann nicht zusammenhängend schreiben. Wir werden also ein Interview mit ihm forcieren. Da kann er seinen Frust abladen. Da wird er erklären, die Stasi habe sein Kind töten wollen. Das Kind lebt zwar noch. Aber der schildert irgendwie, warum der Stasi-Anschlag missglückt ist. Der wird die These bearbeiten, nicht die Partei habe in Wirklichkeit die Macht gehabt, sondern die Stasi. Solche Leute brauchen wir. Und die kriegen wir. Denn bei uns ist das Geld!"

    Kinkel lächelte süffisant. „Die Stasi hat mal eine Abhörleitung installieren wollen, quer durch sein Büro, und nur der Einspruch des SED-Sicherheitsmenschen Herger hätte es verhindert."

    Moment mal! fiel Kinkel auf. Hier stimmt etwas nicht! Dieser Herger ist ja Parteifunktionär. Dort durfte ja die Stasi gar keine Leute haben… Muss ich prüfen lassen. Muss geändert werden. Hoffentlich vergesse ich’s nicht!

    „Diese Leute, sinnierte Kinkel, spöttisch mit den Mundwinkeln zuckend, „findet man doch überall, diese Puschers und Gysis, an jeder Straßenecke… Drüben und bei uns auch. Die verstehen Ehre zu Recht als literarisches Füllwort und glauben gleichzeitig, Doppel- und Dreifachagenten seien ungewöhnlich. Er lachte spitz auf. „Ja, ohne die könnten wir einpacken. Mit denen lässt sich immer sagen; die Stasi hat alles gewusst, hatte Agenten bis in die Wehrsportgruppe Hoffmann. Also terroristisch-kommunistische Weltverschwörung und so weiter…"

    „Was wird mit mir?" fragte Herr X Y.

    „Wenn die Regierung Kohl wieder klargeht, bin ich Justizminister, nehme ich an."

    „Und… Herr Minister?"

    „Dann, sagte Kinkel gönnerhaft, „fallen Sie hundertprozentig nicht nach unten. Das ist doch selbstverständlich, Herr X Y.

    Dieser fragte nach: „Niemand kennt so einen Puscher, weder in Ost noch West. Und dann; diese Enthüllungsstorys von angeblichen Insidern wird niemand abkaufen. Man weiß doch im allgemeinen, wie es tatsächlich war."

    Kinkel winkte ab. „Ja, der Mann spinnt zu offensichtlich, der ist völlig überdreht. Gutes Beispiel. Dieser Mann, den niemand in West oder Ost kennt, erzählt Ihnen alles über Ost und West, was man sich nur erträumen kann. Dass er an sogenannten Abrüstungsgesprächen mit der SPD im Westen beteiligt war, obwohl die SPD gar nicht in der Regierung saß. Ich habe den Interview-Entwurf gelesen. Da im Osten hätte auch die Mafia im Politbüro gesessen. Der erzählt ganz locker den größten Unsinn. Die Stasi-Leute hätten ihm freimütig mitgeteilt, zu welchen Zimmern sie Nachschlüssel haben. Man muss immer aufpassen. Aber irren Sie sich nicht… Je absurder eine Behauptung, und je öfter wiederholt, desto eher wird sie geglaubt. Der macht sich auch nichts daraus, einen Buchenwald-Häftling zu denunzieren, macht hinter jedem Satz drei Ausrufezeichen."

    „Was hilft es dann?" fragte X Y zweifelnd.

    „Es ist nur wieder eine Variante unter vielen, die öffentliche Meinung zu bekommen. Die Wirkung zählt. Man muss es nur glätten. Wir schaffen ein ganzes Geflecht von Behauptungen, die aufeinander bezogen sind und sich ergänzen. Da erkennt keiner die DDR wieder. Bei uns ist dann nämlich auch die Zeit. Die arbeitet für uns. Er sinnierte weiter. „Sie erinnern sich wohl daran, wie wir die Wörter Perestroika und Glasnost popularisiert haben – durch fortgesetzte Wiederholung in den Nachrichten. Es gibt auch eine ganze Clique junger Filmemacher, die lauern nur darauf, sich auf die Schreckensgeschichte DDR zu stürzen und wissen kaum, wie sich das schreibt. Wieder lachte Kinkel auf. „Die werden natürlich gezielt gefördert. Ja, dieser Andreas Tresen… Leander Blaumann… In diesen Filmen erkennt man ein paar Automarken wieder und sonst gar nichts. Kinkel griente. „Marc von Donnerbalken. Völlig überdreht. Aber insgesamt wertvoll für uns. Wir müssen es zügeln. Dosieren. Aber auch das gehört zum Geschäft. Mit diesem Manipulations-Handwerkskasten kann man inzwischen die Weltmeinung prägen. Man kann bei jedem verdächtigen Wort wie fortschrittlich oder auch progressiv in Klammern dahinter setzen: Stasi-Attribut. Und von der DDR wird generell nur im Zusammenhang mit dem Wörtlein ‚ehemalige’ geredet werden. Damit ist klar: Es ist vorbei.

    Er stützte das Kinn auf die Hand. „Sozialismus ist vorbei."

    Dann rutschte die Hand weg. Der Wagen ruckte an, fuhr ein paar Meter und stand. „Verdammte…, knurrte Kinkel. Er fragte in raschem Tempo: „Was macht eigentlich Ihr Sonderbudget?

    Der seltsame Mann wiegte den Kopf. „Momentan ist alles klar."

    „Unterschreiben Sie, forderte Kinkel, „ab sofort mit Xaver Hygi. So jetzt Schluss. Ich muss weg.

    „Und trotzdem, bemerkte Herr Hygi, „habe ich noch einen Hinweis zu diesen Sachen.

    „Bitte! Aber seien Sie nicht so ängstlich. Wir werden die Chefredakteure noch speziell briefen. Wie Goebbels schon; das haben die drüben vergessen. Die haben geglaubt, alles geht wie von selbst. Aber… Er lachte. „Das tut es eben nicht. Da sind wir auch noch da!

    „Platzieren Sie, riet der seltsame Herr Hygi, „diese irren, die irrsten Geschichten nicht so weit vorn! Nicht so auffällig! Dann fällt man zu sehr drüber. So etwas darf erst in der Mitte kommen. Das sollte man bei all diesen zukünftigen Erzählungen beachten. Man darf die Leute im Osten nicht überfallen, man muss auch mal Nachsicht walten lassen. Man muss sie mitnehmen. Vielleicht ein spezielles Ostblatt etablieren. ‚Ost-Super-Illustrierte’ oder so ähnlich. Mit ein paar Ost-Stars. Und dann mit harten Überraschungen rauskommen! Man sollte ruhig auch mal, ehe wieder die Systemfrage gestellt wird, ein kleines revolutionäres Zeitungsblättchen zulassen. Da können die Betonköpfe jahrelang Stimmung machen. Man kann das lesen oder abonnieren, ohne dass sich etwas ändert, und ohne dass die Leute auf die Idee kommen, sich wirklich zu organisieren, um etwas zu ändern. Und im Falle echter gegenläufiger Meinungsbildung habe ich dann das Vergnügen, das von der Spitze her…

    „Zur Seite zu bringen, ja." Kinkel lachte.

    Es war dunkel – wie ja stets seit einiger Zeit. Beim Wachposten am Muni-Punkt widersprach der Arndt einem jungen Gefreiten. „Natürlich, sagte er nachdenklich, „wollten oder brauchten wir im Kern der Sache keine Mauer. Natürlich behindert sie uns, sogar extrem. Wie sollten wir den Rest der Menschen überzeugen? Wie sollen sie unser gemeinsames Leben erkennen, um teilnehmen zu wollen?

    Er stand hinter der Mauer am Turm. „Die Mauer und die ganze Grenzbefestigung waren nur ein Notbehelf, sprach der Thomas Arndt zum Turm hinauf. „Solange sie uns auskaufen wollen, Volkseigentum verschieben, uns ausspionieren und bespitzeln, unsere Währung verramschen. Milliarden hat der Westen uns gestohlen, ehe wir die Grenze schlossen. Wir wurden boykottiert und sabotiert. Weil die uns immer ersticken, ehe wir uns richtig entwickeln können. Sie wollen uns doch nicht groß werden lassen. Das gilt oder galt, bis es unserem Gemeinschaftsmodell weltweit an Stärke nicht mehr fehlt. Diese befestigte Grenze bot uns Schutzraum. Wir haben nur nichts mehr draus gemacht. Nun haben sie da oben beschlossen, es ganz zu beenden. Und damit wird die Mauer ebenfalls hinfällig. So rum wird ein Schuh daraus. Die Mauer kann verschwinden, weil die Zukunftsaussichten für die Menschheit sowieso aufgegeben werden.

    Nach einer Zeitlang Schweigen fragte der junge Gefreite: „Kennst du Bakerman? Arndt antwortete: „Nein. Bakerman kenn ich nicht.

    „Das ist ein Lied… Hört man jetzt überall im Radio. Irgendwie gefällt mir das. Der Junge summte vom Turme herab: „Mmhmmh- Bakerman… is baking bread.

    „Sehr ruhig", sagte Arndt.

    „Ja, das ist ruhig. „Na-la-mmh – is baking bread."

    „Ein Zeuge", sagte Arndt. „Dies Lied ist ein Zeitzeuge. Nichts was sonst noch besteht. Da ist nichts mehr, kein Nachdenken, keine Wissenschaft, keine Kunst… Nur noch Bakerman, der bäckt.

    Tja, Jörg…"

    – „Die Zeit bäckt ihr Brot!"

    „Jeder backt sein Brot."

    Es war sehr still im Wald. Nichts regte sich. Nur sehr weit fern war ein vorbeifahrendes Auto zu hören. „Was wird man später über uns sagen?" klang es vom Turme herab. Arndt schwieg.

    Nach längerer Stille fragte es erneut herab: „Wie werden die Leute uns später sehen?"

    „Die Leute gibt es nicht."

    „Man wird uns beschimpfen. Aber warum? Der Gefreite Jörg schwieg vom Turme herab. Dann sagte er. „Es wird aber auch Leute geben, die etwas anderes sagen. – „Es gibt immer Leute, die etwas anderes sagen."

    „Lausig kalt, ließ es sich vom Turme vernehmen. „Warum wird jetzt wieder ein Doppelposten eingesetzt?

    „Weil die HSA abgeschaltet ist."

    „Und warum DAS?"

    „Passt nicht mehr in die Zeit, antwortete Arndt. „Nur kein Ernst, nur kein Nachdenken, keine Konsequenz. Die Waffen, die Munition werden nicht mehr im Sinne des Volkes eingesetzt; also können sie uns ganz gestohlen bleiben. Sie sind zwar noch da. Aber wenn ein Terrorist unbedingt zugreifen will – soll er doch! Soll er die Freiheit jetzt haben… Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.

    „Vielleicht…, sann es laut herab, „wird man später sagen: Die waren blöd! Oder man sagt: Die waren zu leichtsinnig.

    „Beides, bestätigte Arndt. „Beides. Aber wenn man das Wesen einer Sache begriffen hat, ist es völlig egal, was einem dann einer sagt. Auch wenn einen manche Einzelheit irre machen kann. Es ist doch immer so, dass der Regen von oben nach unten fließt, auch wenn es manchmal nach oben spritzt. Wir hier sind ja auch gar nicht so leichtsinnig. Wir stehen noch doppelt da, um die Waffen des Volkes zu schützen. Aber die da oben haben alle Verantwortung weggeschmissen.

    „Es wird sogar, raunte es von oben, „Leute geben, die sagen; wir waren kriminell. Diese Bürgerrechtler. Man hört nur noch diese Leute. Wer soll denen später widersprechen?

    „Zeitzeugen, sagte Arndt. „Auch Zeitzeugen gibt es, die etwas Wirkliches wissen. Da sind also die Zeugen der Zeitgeschichte und andererseits diese Bürgerrechtler. Wer kann recht behalten? Es ist sehr einfach zu prüfen: Die DDR und ihre gesamte Verfasstheit waren im Sinne aller einfachen Menschen eingerichtet, wie jedes ihrer Gesetze belegt. Bei uns heißt es in der Verfassung: Im Mittelpunkt steht der Mensch. Bei uns steht in der Verfassung zum Beispiel das Recht auf Wohnen. Das ist real. Wer dagegen auftritt, der agiert also im unmenschlichen Sinne. Er sagt damit: Nur Kapitalismus ist menschlich. Glaube das wer will.

    Er sah scharf hinauf. „Hast du immer noch die Waffe über der Schulter? Stell doch ab!"

    Von oben war ein dumpfes Poltern zu hören.

    „Nachher, erklärte Arndt, „wechseln wir. Du kommst runter. Ich geh hoch. Mit froststarren Fingern zog er eine Zigarette aus der Pappschachtel Juwel. „Rauchst du?"

    „Nein. Als ich sieben Jahre alt war, erzählte der Jörg vom Turm, „habe ich mal mein Kinderzimmer überprüft. Ich hatte so viel Spielzeug… Baukästen, Vero-construc, Modelleisenbahn, Elektro-Baukasten, Optik-Baukasten. Da konnte man alles mögliche machen; ein Mikroskop oder ein Fernglas. Und einen Chemie-Baukasten. Und Autos. Einen großen Plastik-Kipper, Unmassen Bücher und Teddys und Plüschtiere jederart.

    Arndt betrachtete das Stahltor. Plötzlich schaute ein weißes Gesicht darüber – zu ihm hin. Es zeigte sich scharf und prägnant und rund wie ein Vollmond, und hatte spärliche Haare. „Warte mal!"

    Auf den Wangen war ein Prickeln zu spüren, der Herzschlag beschleunigte sich. Arndt überlegte. Er riegelte das knarrende eiserne Tor auf und sah um die Ecke zu den großen und dunkel schweigenden Stämmen.

    Woher kenne ich das? Niemals zuvor habe ich dort ein weißes Gesicht gesehen? – Dann schloss er das Tor, stellte sich wieder unter den Turm und bat: „Erzähl weiter!"

    „Natürlich auch Spiele; Tischfußball, Tisch-Eishockey, Federball- und Tischtennisschläger, Fußbälle, erzählte der Jörg vom Turme. „Jedenfalls war kaum noch Platz in den Schränken. Dann kommt der Augenblick, wo man denkt: Jetzt bist du eigentlich schon groß. Ein Lachen erklang leise vom Turm. „Ich habe sogar gedacht: Du kennst die Welt! Du weißt jetzt Bescheid."

    „Wirklich?" fragte Arndt erstaunt.

    „Vielleicht war ich auch schon acht. Dann ging ich schlafen.

    Aber es arbeitete in mir. Man will doch langsam mal erwachsen werden! Da habe ich den Entschluss gefasst, einen schweren Entschluss. Und habe dann mein ganzes Spielzeug weggeschenkt. Da ging ich durchs Wohngebiet mit einer Handvoll Plüschtiere und einem Beutel voll Autos und bin einfach auf jedes Kind zugegangen. Je nachdem wie es guckte, habe ich dem ein kleines Lastauto oder ein Plüschtier hingehalten. Ich seh mich noch, wie ich meinen Lieblingshasen übergebe. Der hatte silbergraues Fell und eine grüne Samtschleife am Hals. Der Junge war sogar ein bißchen größer als ich. Er war rotblond, wirkte ein bisschen struppig. Aber es schien zu passen."

    Längeres Schweigen.

    „Ich hatte das Gefühl, ich mach’s richtig." –

    „Warst du nicht traurig? Tat’s nicht weh?"

    „Das hat mich meine Schwester damals auch gefragt. Tut es dir nicht leid? Der Schmerz kam etwas später, die Traurigkeit. Komischerweise als ich mitbekam, als ich mich ganz sicher fühlte, dass es richtig war."

    Schweigen.

    „Vielleicht, sprach es von oben herab, „wollte ich diesen Schmerz.

    „Selbstmitleid! bestätigte Thomas. „Ich nehme an, du hast deine Einsicht dann erst völlig erfasst. Du hattest wegen der richtigen Tat für dich selber Sympathie.

    Thomas Arndt dachte nach.

    „Man mag sich selbst."

    „Ist das falsch?"

    „Nein, natürlich nicht. Aber es darf unser Handeln nicht bestimmen. An erster Stelle muss schon eine größere Einsicht stehen. Die muss den Ausschlag geben. Aber das hat ja auch einen Umkehrschluss."

    Die Wolkendecke riss auf. Einzelne Sterne blinkten. Es verging eine unglaublich lange Zeit. Dann fragte es von oben: „Ja, und welchen?"

    „Einen sehr schroffen, sehr gegenwartsbezogen…"

    Jörg sann diesen Worten hinterher. „Sehr schön! bestätigte er von oben. „Den hätte ich gern!

    „Wer sich selbst nicht liebt wie wir, klärte Arndt auf, „weil wir nichts mehr aus diesem Staat zu machen wissen, spürt keinen Schmerz darum. Deshalb wird auch der Schmerz um die DDR sich erst später entfalten können. Und in anderen. Bei deiner Schwester war es anders. Die hat dich persönlich geliebt, und deshalb hat sie diesen Schmerz empfunden – aber nur um deinetwillen. Wir dagegen lieben ja auch diejenigen nicht, die für uns stellvertretend die DDR aufgeben. Also kann kein Schmerz aufkommen, auch nicht um unserselbstwillen.

    Plötzlich – und mit dieser Einsicht – sah Thomas den kleinen Jörg mit seinem geliebten silbergrauen Plüschhasen mit grüner Samtschleife am Hals und rosa Schnuppernase, den er langsam einem rotblonden struppigen Jungen entgegenstreckt. Und dies war richtig. Und da empfand er unversehens selbst den schneidenden Schmerz, bitter und tief.

    „Dabei, sagte er langsam, „passt die Metapher noch nicht einmal besonders gut.

    „Was für eine Metapher?"

    „Mit deinem Spielzeug. Denn du hast ja aus richtiger Einsicht gehandelt. Wir hier dagegen geben unseren Staat weg – ohne Sinn. Er nützt ja keinem anderen mehr. Er verschwindet nur. Das ist einfach eine große Schande."

    „Und das heißt?"

    „Das heißt wahrscheinlich, dass wir es zeitlebens nur verdrängen werden. Wie man eine Schande eben verdrängt. Und je größer die Schande, um so gründlicher wird sie eben verdrängt. Umso weniger Trauer wird aufkommen. Der Aufschrei hält sich in Grenzen. Warum? Wir waren alle Kinder der DDR, folgsame und unartige, frech-verwegene und still beobachtende. Die DDR war unser Vater- und Mutterland. Irgendwann sagt man dem Kind, dass dieser und jener nun fehlen und für alle Zeit fehlen werden. Der Verlust ist unfassbar, und darum erfasst das Kind diesen nicht." –

    Ein Psychologe spräche an dieser Stelle vielleicht von dissoziativer Amnesie? Etwas das zu schrecklich ist, um es auszuhalten zu können, wird vergessen. Eine andere Stelle wird dafür eingenommen. Überrascht fragte Jörg: „Schätzt du das wirklich so ein?"

    „Das nehme ich an, präzisierte Arndt. „Oder noch besser gesagt, ich sehe es. Die Verdrängung läuft doch schon. Jeder sieht alles zusammenkrachen. Und jeder schwatzt von einer besseren DDR. Keiner sagt: Wir werden nichts behalten. Das ist wie bei… Bakerman. Wahrscheinlich ist es deshalb so ein Hit. Es hilft zu verdrängen. Es duddelt uns ein: Alles ruhig. – Alles nett… Bakerman is baking bread…

    Unwohlsein

    Sie wurden von Gargamel und einem Unbekannten abgelöst. „Brauchst keine Runde mehr zu machen, bestimmte Arndt eigenmächtig als die Ablösung durchs Stahltor eintrat. „Was hast du denn da?

    „Eine Kerze, erklärte Gargamel und pflanzte sie auf einen Schaltkasten, der an der Mauer hing. „Erster Advent!

    Dumpf scheppernd fiel das Türchen im großen grauen Tor zu.

    Sie gingen durch den Wald und schwiegen.

    Vorm Wachgebäude kam ihnen in der Finsternis der Offizier vom Dienst entgegen. „Genosse Hauptmann, keine Vorkommnisse! flachste Arndt. – „Reißen Sie sich zusammen!

    „Komisch, sagte Jörg, als man die Treppe stieg. „Jetzt klingt es lustig. Früher war es nur eine Formel.

    Im Aufenthaltsraum saßen ein paar Leute hinter Kaffeetassen, rauchten und blickten den beiden entgegen. „Ja, eine Formel, bestätigte Arndt und zog den Mantel aus. „Genosse Hauptmann… „Aber nicht nur! sprach einer der Sitzenden am Tische, und nahm seine Tasse in die Hand, und erklärte: „Wenn man einen Höhergestellten mit Genosse anredet, wenn man sagt Genosse Generalmajor – dann wird Gleichwertigkeit als Mensch betont. Damit wird gesagt: kein Herr-Knecht-Verhältnis!

    Kommentarlos ging Arndt zum Ruheraum und legte sich hin. Er vermeinte, sogleich einzuschlafen. Doch es wurde nur ein dumpfbrütendes Dämmern.

    Dann fuhr er auf. Wer hatte es gesagt? Slim? Der Kammersänger? Er sank auf die rauhe Decke zurück. „Genosse Hauptmann – Unversehens klingt es komisch. Vordem, bis soeben noch war es unvermeidlich. Da hatte man noch gleichrangig und gleichwertig eingestanden. Es war eine Formel; gut. Aber war die Wirklichkeit deswegen nicht so? Nun war von oben die Weisung erfolgt, man sei kein Genosse mehr. Und prompt ist man keiner mehr. „Reißen Sie sich zusammen!

    Das ist dann wohl der Opportunismus. Aber eine schönere Bestätigung jeder Marxistischen Weltanschauung und Leninschen Revolutionstheorie ist ja nicht denkbar! Widerständler gleich Genosse! Opportunist gleich Herr und Knecht! Der Staat dieser „Opposition kennt keine Genossen mehr. Demnach serviert sich der Staat selbst ab, auf eine sehr konkrete, sehr unmittelbare Weise. Er will sich nicht mehr. Und zwar von oben. Das ist denn also die Konterrevolutions-Theorie zu Lenins Revolutionstheorie: Dort können die oben nicht weiter wie bisher, und wollen die unten nicht weiter wie bisher. Hier nun wollen die „oben nicht weiter, und die unten können deshalb gar nicht weiter… Die System-Alternative scheint aufgegeben. Niemand sagt es ausdrücklich von oben. Indirekt besagen es alle offiziellen Verlautbarungen sehr deutlich. Alles läuft darauf hinaus. Man verdrängt es dabei. Was wird kommen? Wenn dieser Staat der Menschen nun wirklich komplett eingepackt werden sollte: Was müsste geschehen? Wie macht man wohl in dieser Hinsicht Nägel mit Köpfen? Dann käme zur bislang blumig-vernebelten Ansage jetzt die gesetzliche. Dann würde die sozialistische Verfassung geändert… abgeschafft.

    Was ist eigentlich eine Verfassung? Sie ist ein theoretischer Anspruch, eine gewissermaßen begrifflich-identikative Prämisse. Und anderseits beschreibt sie annäherungsweise einen Zustand – eine reale Situation. Die Führung der marxistisch-leninistischen Partei ist nichts, was man einem sozialistischen Staat einfach amputieren kann. Sie ist Voraussetzung dafür, dass alles erkannt wird wie es ist, wenn auch nicht die einzige. Die wissenschaftliche Weltanschauung ist Voraussetzung für wissenschaftlichen Sozialismus. Wenn es keine solche Weltsicht und keine solche Partei mehr gibt, müsste wirklich eine neue Sicht und Partei doch her! – Da kam dem Arndt auch folgender Gedanke: In der Verfassung steht durchaus nichts von SED. Wenn diese Partei marxistisch-leninistisch nicht mehr gilt – dann schreibt die Verfassung eine Neugründung wohl vor! Statt dessen wird der Passus komplett getilgt. Aber es ist ja zwangsläufig!

    Natürlich! Auch so wird der Widerspruch aufgehoben!

    Er genoss die Wärme, welche unter der rauhen Decke entstand. Unvermittelt fiel ihm die mehrbändige Ausgabe „Mayers kleines Lexikon" ein, die im elterlichen Wohnzimmer stand: eine gigantische Enzyklopädie, bestehend aus unwahrscheinlich dicken Bänden und enthaltend hunderttausende Stichwörter, lange Textbeiträge, sauber gegliedert und bunt illustriert. Ein Ergebnis unvorstellbarer Arbeit. Die Welt in DDR-Sicht.

    Wie kann das alles vorbei sein?

    Unmöglich! – so schien es. Und wie sollte es nicht vorbei sein? Unmöglich!

    Er drehte sich von links nach rechts. Die Dinge sind wie sie sein müssen. Der erste Artikel der Verfassung besagt: „Die Deutsche Demokratische Republik ist ein sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern. Sie ist die politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei."

    Inzwischen hatte er es wieder einmal nachgelesen. So steht es dort. In Artikel Zwei hieß es: „Der Mensch steht im Mittelpunkt aller Bemühungen."

    So steht es dort. Arndt drehte sich von rechts nach links.

    Es ist ein Zusammenhang! Äußerst deutlich formuliert, fast spürbar, dass beides nur zusammen funktioniert: Der Marxismus-Leninismus postuliert das Verständnis jeder Welt wie sie wirklich ist… mit all ihren Schleifen, mit allen Haken und Ösen. Nur von diesem Verständnis ausgehend, kann der Mensch praktisch im Mittelpunkt stehen.

    So muss und soll es also sein. So steht es dort. Aber so ist es nicht mehr. Denn die Partei ist keine marxistisch-leninistische mehr. Zwar hatte man Leninsche Sicherungshebel im Statut der SED eingezogen, gegen Erstarrung und Bequemlichkeit. Zwar waren dort Kollektiv, Offenheit und Kritik und Selbstkritik gefordert. Doch wenn sich niemand mehr daran hielt, waren die Hebelchen nutzlos. Man hatte nur nach oben gestarrt, wo nach und nach und Stück um Stück vereinfacht ward: Lasst uns mal machen – und wenn ihr keine Lust zu Selbstkritik mehr habt, dann ist es gut verständlich. Sie ist nicht sehr bequem. Aha. Dann ist es eure eigene Schuld. Wir haben auch keine Lust mehr.

    Und da stehen Modrow und Krenz und scheinen zu denken: Dann gesteht nur auch uns zu, keine Lust zur Selbstkritik zu haben!

    Was kann man da tun? Sie halten sich am Händchen und singen im Duette: Bakerman is baking bread!

    Er drehte sich von links nach rechts. Ja! dachte er. So habt ihr es euch gedacht! Auch ihr wollt sofort die bequemste Lösung – für euch selbst. Und wir haben es verlernt, euch auf die Finger zu hauen. Bei uns haut man eben nicht mehr gern. Nein, korrupt seid ihr nicht. Materielle Vorteile habt ihr euch nicht verschafft. Das behauptet ja von euch auch niemand. Denn ihr serviert dem Wolfe. Behauptet wird es von euren Vorgängern, die dem Wolfe noch nicht zu servieren bereit waren!

    Wieder fuhr er empor. Natürlich! So ward ein Schuh daraus!

    Er sank auf die Wolldecke und vernahm ein Schnarchen. Es gibt in der DDR jedenfalls eine Putschregierung. Dann schlief er doch ein. –

    Da kam es ja zum „Runden Tisch, ursprünglich angeregt oder gefordert von der Evangelischen Kirche in der DDR. Die Weisung aus West hieß: „Noch immer wird die Regierung zu stark getragen von der Sympathie für den SED-Funktionär Modrow. Dieses Fundament muss jetzt aufgelöst werden durch reale Machtverschiebung. Dazu ist ein Runder Tisch mit den Oppositionsgruppen zu bilden für die tatsächliche Machtausübung.

    Die Evangelische Kirche hatte dann geschoben. Zuerst wurde

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1