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Der Eine
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Der Eine

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Eine Liebesgeschichte
oder die Geschichte einer Obsession,
vielleicht auch eine klinische Falldarstellung,

denn was man gemeinhin die große Liebe nennt, kann vieles sein, je nachdem, was die Liebenden mitbringen und ineinander sehen wollen, aber die Intensität des Erlebens hebt sie über alle anderen Beziehungen. Der Mythos von den Kugelwesen, die Zeus zur Strafe für ihren Übermut in zwei Hälften teilte, sodass seitdem jede Hälfte sehnsüchtig nach ihrer einzig richtigen anderen Hälfte suchen muss, spiegelt diese universelle Erfahrung.

Erzählt wird in 20 Kapiteln die Liebesgeschichte von Cordelia und Jonathan, die dreimal in ihrem Leben ein Paar sind, bis Cordelia endgültig zu der Einsicht kommt, dass diese Liebe nicht in ein gemeinsames Leben münden kann, und sich trennt. Die Geschichte spielt von 1958 bis 1980 in Deutschland.

Cordelia und Jonathan sind das klassische Liebespaar, das allen Widrigkeiten zum Trotz nicht voneinander lassen kann. Für Cordelia ist Jonathan der Eine, der wichtigste Mann in ihrem Leben, den sie nie aufhören wird zu lieben. Für Jonathan ist Cordelia die liebste Geliebte, die in ihm Gefühle weckt, die ihn, weil sie ihn überwältigen, um seine Unabhängigkeit fürchten lassen.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateOct 20, 2016
ISBN9783734564000
Der Eine
Author

Brigitte Halenta

Brigitte Halenta hat bis 2010 als Psychotherapeutin in eigener Praxis gearbeitet. 2000 erhielt sie für das Drehbuch „Lavendel ist blau“ den Förderpreis der Gesellschaft zur Förderung audiovisueller Werke Schleswig-Holstein. Im März 2007 erschien ihr Roman "DIE BREITE DER ZEIT" stark gekürzt im Orlanda Verlag, Berlin. Seitdem veröffentlichte sie Kurzprosa in Literaturzeitschriften. Die 1. Neuauflage des Romans "DIE BREITE DER ZEIT" erschien 2015 in ungekürzter Form als E-Book . 2016 folgten die Romane "DAS LETZTE WORT HAT DOROTHEE", "LAVENDEL IST BLAU" und "DER EINE". Alle Romane sind inzwischen nicht nur als E-Book, sondern auch als Taschenbuch und Hardcover erhältlich. Anfang 2017 erschien der Roman "EMILIA SCHLIEßT EINE TÜR" und die 2. Neuauflage der Romane "DAS LETZTE WORT HAT DOROTHEE" und "DIE BREITE DER ZEIT" ungekürzt als Taschenbuch, Hardcover und E-Book.

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    Der Eine - Brigitte Halenta

    Das Zimmer

    in der Willebrechtstraße

    Niemand kommt unverletzt aus seiner Kindheit. Heilung durch Liebe ist nicht sehr wahrscheinlich, aber möglich, und so hoffen alle Liebenden auf die gegenseitige Rettung vor dem Schmerz.

    Als Cordelia Becker nach dem Abitur ihr Elternhaus verließ, um in München Literaturwissenschaften zu studieren, war sie gerade siebzehn geworden. Ein ungeliebtes Kind, das zu Hause nichts mehr hielt, weil sie sich von jeder Ferne eine bessere Zukunft versprach. Die Mutter hatte sich immer mehr für ihre alteingesessene Weinhandlung und für ihren Sohn Clemens interessiert als für die Tochter, und der Vater, auf den Cordelia lange ihre ganze kindliche Hoffnung setzte, hatte sie, je älter sie wurde, immer weniger beachtet.

    Heinrich Johann Becker, geborener Höppken, stammte aus einfachen Verhältnissen. Als er als junger Mann in einer Kochlehre entdeckte, dass er eine außergewöhnliche Sensibilität für Aromen und Geschmacksnuancen besaß, wünschte er sich nichts sehnlicher als ein eigenes Geschäft. Für die Erfüllung dieses Lebenswunsches hatte er die Heirat mit der übergewichtigen Erbin der renommierten Hamburger Weinhandlung Becker samt der Aufgabe seines eigenen Namens in Kauf genommen. Allerdings hatte er nicht vorausgesehen, dass er diesen Handel mit dem Spaß am Leben bezahlen musste. Er wurde zu Hause schon bald ein misslauniger, verschlossener Mensch, den nichts mehr freute. Als pünktlich neun Monate nach der Heirat der Stammhalter zur Welt kam, waren seine Familienpflichten so gut wie abgeschlossen, nur im Geschäft hatte er sich unentbehrlich gemacht. Nach außen hatte seine Frau ihn als die Autorität aufgebaut – mein Mann meint, mein Mann hat entschieden, ließ sie wie einen Refrain in ihre Rede einfließen – , aber hinter verschlossenen Türen hatte er nichts zu sagen. Er war nur die Zunge des Geschäfts, die ein untrügliches Gespür für erstklassige Weine hatte.

    Dass nach dem Sohn zwei Jahre später noch ein Mädchen geboren wurde, war eigentlich nicht vorgesehen. Das Kind kam den Eltern ungelegen, und es war auch nichts weiter als ein Versehen, dass der Säugling Cordelia genannt wurde. Ein Hörfehler, ein Missverständnis zwischen den Eltern, an denen kein Mangel war, eine unbewusste Rache des Weinhändlers Becker an seiner übermächtigen Frau, vielleicht auch nur eine Verwechslung der Namen durch den Standesbeamten. Was auch immer oder alles zusammen, es führte dazu, dass das Mädchen nicht auf Cornelia, wie die Mutter es gewollt hatte, sondern auf den ungewöhnlichen Namen Cordelia getauft wurde.

    Cordelia, so hieß auch König Lears jüngste Tochter, deren Liebesbeweise den Vater so wenig überzeugen konnten, dass er sie verstieß; und Cordelia war ebenfalls der Name der ahnungslosen jungen Schönen, die in Kierkegaards Tagebuch des Verführers planmäßig von Johannes um den Verstand gebracht wird. Aber darüber machten sich die Eltern keine Gedanken, genauso wenig wie über die Bedeutung des Namens.

    Wenn einige Namensforscher recht haben, dann beeinflusst nämlich die verborgene Botschaft im Namen eines Menschen die Bildung seines Charakters und die Gestaltung seines Lebenswegs. Als Cornelia wäre dieses unwillkommene kleine Mädchen womöglich eine andere geworden, denn der Name leitet sich von dem altrömischen Geschlecht der Cornelier her, sodass seine Interpretation heute beliebig erscheint. Mit Cordelia aber, diesem Namen, den das Kind am Beginn seines Lebens zuerst und unter all den anderen Wörtern, die auf es eindrangen, am häufigsten wahrnahm, verhält es sich ganz anders. Die Sprachforscher sehen seinen Ursprung in dem griechischen Wort für Mädchen und dem lateinischen für Herz. Mädchen und Herz. Wer immer Cordelia beim Namen nannte, er beschwor auch die guten Wortbedeutungen mit, die besonders dem Herzen als Sinnbild des Lebens und der Liebe zugeschrieben werden. So wuchs sie, als sie größer wurde, sprechen lernte, sich selbst Cordelia nannte, in diesen anspruchsvollen Namen hinein, war Cordelia und niemand sonst. Den Versuchen ihrer Mitschüler, ihren Namen zu modernisieren oder zu verniedlichen, trat sie energisch entgegen. Sie war nicht Cora, nicht Cordel, sie war Cordelia.

    Die Vorsehung, die es auch sonst gut mit ihr meinte, hatte ihr nicht nur diesen bedeutungsvollen Namen geschenkt, sondern auch mit anderen guten Gaben nicht gegeizt. Cordelia war nicht nur mit herausragender Intelligenz, sondern auch mit einem nicht zu übersehenden Liebreiz ausgestattet, zwei Eigenschaften, die in der Schule mehr geschätzt wurden als zu Hause, sodass sie sich durch Leistung und Beliebtheit dort die Aufmerksamkeit hatte verschaffen können, die ihr zu Hause abging. Ohne Kindergarten und Schule, ohne eine Reihe von Lehrern, die, von ihrer Intelligenz fasziniert, sich ihrer besonders annahmen, ohne das warme Nestchen von Freundschaften, wäre wohl ein sehr düsterer Mensch aus ihr geworden, aber es wurde eine sehr beherzte Person aus ihr, liebevoll und mutig in einem. Sie konnte strahlen, wie sonst nur geliebte Kinder es tun, nicht immer, aber immer dann, wenn sie sich sicher fühlte.

    Früh hatte Cordelia in der Welt der Bücher einen Ort gefunden, an dem sie mehr zu Hause war als in der großen, düsteren Wohnung in Eppendorf. Für ihren Vater blieb sie das Mädchen, auch als sie schon studierte und nur in den Semesterferien nach Hause kam.

    „Wo ist das Mädchen?", fragte er bei Tisch, wenn sie sich verspätete.

    Mehr Aufmerksamkeit wurde ihr aber nicht zuteil. Der Vater übersah seine Tochter und gab ihr damit das Gefühl, sie wäre unsichtbar. Cordelia konnte in der Art der Kinder nur denken, dass es an ihr liegen musste, dass er sie nicht wahrnahm; sie war nicht hübsch genug, nicht klug genug, denn wenn sie es wäre, würde er sie ja liebhaben.

    Und doch musste es eine Zeit des gemeinsamen Glücks gegeben haben, den Anfang einer Zuneigung, die, jäh abgebrochen, so mit Scham besetzt war, dass der Vater seine Tochter nicht ansehen und nicht mit ihr sprechen konnte, denn sonst wäre Cordelia wohl nicht mit dieser sehnsüchtigen, ziellosen Liebe im Herzen erwachsen geworden.

    Waren es der Zufall, die Vorsehung, das Karma ihres Namens oder literarische Vorbilder, die derart auf ihren Lebensweg einwirkten, dass Cordelia, die verkannte Tochter, sich früh auf die Suche nach dem Einen begab, der alles wiedergutmachen sollte? Sie träumte von ihm; von ihrer eigenen Rolle, wenn sie ihn denn endlich träfe, ahnte sie nichts. Die Aussicht, dass sie wie Kierkegaards Cordelia sein würde, eine hingebungsvolle, sich selbst aufgebende Geliebte, die alles hinnahm, was der Geliebte ihr zumutete, hätte ihr ganz und gar nicht gefallen.

    In München war sie zum ersten Mal allein auf sich gestellt. Keine Freundinnen, keine bekannten Gesichter, keine vertrauten Straßen, nicht einmal das Tagesgerüst der geregelten Mahlzeiten am Familientisch. Es gelang ihr mit jedem Tag weniger, zwischen sich und den Studieninhalten Zusammenhänge herzustellen, die Sinn gehabt hätten. Dass sie Germanistik studierte, erschien ihr so beliebig wie die Straßen, die sie durchwanderte; sie hätte genauso gut sich für Romanistik oder Pädagogik einschreiben können. Als sich der fünf Jahre ältere Robert Ehrentraut, den sie in einer Vorlesung über die Deutsche Romantik kennengelernt hatte, in sie verliebte, war sie so dankbar und gerührt, dass sie seinem Drängen nachgab und sich bald mit ihm verlobte. Für ein ganzes Jahr hatte sie so an seiner Seite einen Platz gefunden, an dem ein Leben als Studentin der Literaturwissenschaften in der bayrischen Metropole seine Richtigkeit hatte. Aber dann, im Wintersemester 1958, ging Robert für sechs Monate nach Basel, weil er dort die Vorbereitung auf die anstehenden Examen mit einem willkommenen Verdienst als Aushilfslehrer in einem Internat verbinden konnte. Cordelia wollte nicht alleine in München bleiben, das ihr ohne Robert noch größer und kälter als vorher vorkam, und entschied sich für Marburg.

    Zwei Tage war sie in Marburg vergeblich auf der Suche nach einem Zimmer, das sie bezahlen konnte, dann fand sie das Zimmer in der Willebrechtstraße: vier Meter im Quadrat. Eng. Manchmal ein Nest, aber meistens eine Zelle, in der sie die Zeit absaß. Die zum Überleben nötige Ausstattung war vorhanden; im Detail sogar mit einer Andeutung von Luxus. So hatte das ausrangierte Untergestell einer Nähmaschine, das als Schreibtisch diente, Chippendale–Beine, das Kleiderschränkchen einen schön ausgesägten Aufsatz. Die Bettstatt, als Angelpunkt der ganzen Häuslichkeit, von Grund auf solide und nicht zu engbrüstig, war in Ordnung; sie hatte schon in schlechteren Betten in besseren Zimmern geschlafen. Zwei dicke, mit Chintz abgesteppte Decken lagen schwer darüber. Später im Winter, als die Kälte durch die Pappwände drang, baute sie einen Tunnel daraus, ein Meter sechzig von den Zehen bis zu den Augenbrauen.

    Zu ihrem ungläubigen Staunen statteten ihr die Eltern schon ein paar Tage nach ihrem Einzug einen Besuch ab. Sie sah sie schon von weitem vor ihrem Haus stehen, die Mutter wie immer in wallendem Dunkelblau, der Vater daneben so schmal, dass sie zuerst dachte, es wäre Clemens. Aber der saß noch im Auto. Sie hatten Weingüter in der Nähe besucht und waren auf der Rückfahrt. Wenn man die Tochter nicht angetroffen hätte, wäre das ihre Schuld gewesen. An einem Sonntagmittag konnte man erwarten, sie zu Hause vorzufinden.

    „Es ist zu teuer", sagte der Vater, nachdem er sich die schmale Stiege hinaufgequält hatte.

    Er hielt den Kopf noch immer eingezogen. Er stand unbequem. Er weigerte sich, sich hinzusetzen. Er blickte auf die Ansammlung von Gegenständen, die die Einrichtung darstellten, und war angewidert: von einem abgesessenen Korbstuhl, von einem selbst gebastelten Tischchen, von zwei mit Folie überzogenen Brettern, die auf schiefen Konsolen die Bücher hielten. So lebte eben das Mädchen.

    Cordelia schämte sich für die nette Wirtin, die für ein Viertel ihres Monatswechsels nichts Besseres zu bieten hatte als diese unansehnliche Kammer in ihrem zusammengeflickten Nachkriegshäuschen. Mutter und Vater füllten den knappen Raum derart mit ihrer Anwesenheit, dass Cordelia nicht mehr ordentlich atmen konnte. Sie war erleichtert, als die Mutter ein Restaurant vorschlug. Sie gingen im Hirschen essen, wo der Vater für eine Mahlzeit zu viert so viel bezahlte, wie das Zimmer im Monat kostete.

    Als die Familie wieder abgefahren war, fand sie auf dem Bett sitzend, die Beine untergeschlagen, dass das Zimmer in der Willebrechtstraße ihr angemessen war. Das Zimmer war wie sie. Sie war wie das Zimmer: eingeschränkt, aber davongekommen. Sie blieb lange an diesem Wort hängen, davongekommen; das Wort war von Grund auf richtig. Alleine mit sich selbst, ohne den Kontakt zu anderen, fühlte sie sich so: davongekommen. Sie konnte sich nicht erklären, warum das so war. Je länger sie darüber nachdachte, um so deutlicher wurde ihr, dass es nicht nur ein Gefühl war; es war ein Teil von ihr, es saß in den Beinen, den Armen und hinten am Rücken zwischen den Schulterblättern und flüsterte: davongekommen.

    Mit Robert in München war es ihr fast immer gelungen, dieses Gefühl abzuschütteln, dann war sie wie befreit gewesen und konnte ihre Lust auf das Leben spüren. In Marburg, wo sie am Anfang tagelang mit niemand redete, drückte sie das schlimme Gefühl wie eine schwere Last. Wenn es allzu unerträglich wurde, ging sie ins Bett, lag lange unfähig zu irgendeiner Bewegung unter der Bettdecke und starrte ins Zimmer. Die Entfernung zwischen Fenster und Tür betrug zwei Körperlängen. Das Wenige, das ihr gehörte, war nah. Bücher und Papiere, zwei Tassen mit Untertassen, drei Teller, zwei Bestecke.

    Das Einrichten und Ordnen hatte sie ein paar Tage beschäftigt, erst später fiel ihr auf, wie wenig sie besaß. Nicht länger abgelenkt durch den Mann, mit dem sie sich verlobt hatte, entdeckte sie täglich neue Wahrheiten über sich, die ihr bisher entgangen waren. Die ängstliche Cordelia, die sich im Dunklen auf der Straße fürchtete, lernte sie erst in Marburg kennen, und die wankelmütige Cordelia auch. Noch abends, wenn sie sich schlafen legte, konnte sie glauben, dass sie liebenswert und klug sei und mit Sicherheit einer glücklichen Zukunft entgegenging, aber wenn sie am Morgen aufwachte, war sie überzeugt, dass ihr alles misslingen würde, weil sie dumm und hässlich war und anderen nur Unglück brachte. Cordelia sah in jeden Spiegel, der sich ihr anbot, und hatte Mühe, sich wiederzuerkennen. Sie brauchte die anderen, um zu fühlen, wer sie war, so viel stand fest.

    Sie kannte lange niemanden in dieser Stadt, in die sie auf eigenen Wunsch gekommen war, um ihr Studium fortzusetzen. Das Semester hatte noch nicht begonnen. Wenn es ihr in ihrem Zimmerchen zu eng wurde, nahm sie ihren Mantel und lief stundenlang durch die Straßen, bis auch die Stadt für ihre namenlose Frühlingssehnsucht zu eng wurde und sie aus der Stadt heraus bis zum Spiegelslustturm lief. Da starrte sie auf die Stadt zu ihren Füßen, fragte sich, was das alles sollte, dieses unbändige Laufen, und entschloss sich mit dem Rest der ihr noch zur Verfügung stehenden Vernunft, nach Hause zu gehen, obwohl sie eigentlich hätte weiterlaufen wollen und nie zurückkehren. Je weiter sie an einem Tag gelaufen war, umso mehr zwang sie sich am folgenden Tag, an ihrem kleinen Schreibtisch fest auf der Stelle sitzenzubleiben und sich mit ihren Studieninhalten zu beschäftigen. Aber es gelang ihr nicht einmal, in den Werken, die auf ihrer Literaturliste aufgeführt waren, so aufmerksam zu lesen, dass sie mit sich zufrieden sein konnte. Auch Weltliteratur war manchmal ganz schön langweilig. Wenn sie dann so dasaß, den Blick im Kreis über diese eingeschränkte Welt des Zimmers laufen ließ, und die Stunden vorbeistrichen, ohne dass sie irgendetwas geschafft hatte, verzweifelte sie an sich selbst. Manchmal brachte sie eine plötzlich hochschießende Wut auf die Beine. Dann wünschte sie sich, jemand möge kommen und sie schütteln, möge ihre erstarrte Seele im Genick fassen und wie ein scheinbar lebloses Tierchen so lange schütteln, bis das Leben zurückkehrte.

    Sie telefonierte lange mit Robert, aber er verstand nicht, wie es ihr ging. Sie konnte es ihm nicht erklären, sie verstand es selber nicht. Es ging ihr nicht gut, so viel war sicher, nein, sie musste es sich eingestehen, es ging ihr richtig schlecht, ohne Robert hatte sie die Orientierung verloren. Aber gleichzeitig wurde ihr auch schmerzhaft klar, dass Robert nur eine Krücke war. Sie liebte in nicht, aber seine Liebe beschützte sie. Mit ihm an ihrer Seite, hatte sie sich einbilden können, dass niemand ihre Einschränkungen sah, dass sie so normal war wie alle anderen Leute auch.

    Indem die Tage voranschritten und sich die Vorzeichen des nahenden Sommers vermehrten, kamen auch die Studenten zurück, und plötzlich erschien ihr das schläfrig wirkende Marburg lebendig, jung und fröhlich. Ihre Laune besserte sich. Sie machte Tagespläne, die sie nicht einhielt. Sie wollte lieber draußen sein, als in ihrem Zimmerchen zu lernen, sie wollte in den Cafés sitzen und den Leuten zusehen, wie sie ihr Leben lebten. Selbst in der Universitätsbibliothek an ihrem Arbeitsplatz mit der vor ihr aufgetürmten Sekundärliteratur zu Goethes Wahlverwandtschaften interessierte sie das Kommen und Gehen, das Hin und Her ihrer Kommilitonen mehr als die Frage, ob man bei der Vaterschaft von Ottilies Kind auch eine geistige Zeugung in Betracht ziehen könnte, insofern die Mutter beim Koitus an einen anderen gedacht hatte. Weiß der Himmel, wovon Cordelia träumte. Es waren unbestimmte Träume, die vielleicht eher Fragen glichen. Fragen an das Leben im allgemeinen, an sich selbst, wer sie denn sein wollte, und Fragen an jeden einzelnen Mann, der ihr begegnete, ob er denn möglicherweise, vielleicht, gegebenenfalls derjenige wäre, den sie lieben könnte, weil er der Eine war, der sie erlösen würde.

    Jonathan Ruf

    Ein großer Hörsaal. Später Nachmittag. Eine Vorlesung über die Literatur des 17. Jahrhunderts. Die Eingänge waren an der Stirnseite, dort, wo auch das Rednerpult stand. Cordelia nahm sich einen Platz ziemlich hinten, aber in der Mitte. Es war noch alles leer, sie war zu früh da. Sie war immer und überall zu früh, weshalb sie den Eindruck hatte, dass sie immer warten musste. Sie beobachtete, wie die anderen hereinkamen, den Saal füllten, ihr näher rückten, mit Stimmen und Gerüchen. Mit einigen gab es schon eine scheue Vertrautheit, ein Wiedererkennen, ein Zunicken. Es war fast ein Defilee. Unter ihren Augen kamen sie zur Tür herein, links oder rechts, suchten ihren Weg durch die Reihen, tauchten unter im Gewimmel der Köpfe, wenn sie sich setzten. Dann kamen zwei, die ließen sich Zeit. Der eine von ihnen spielte keine Rolle, einfach ein Begleiter, größer oder kleiner, austauschbar, aber der andere! Ihn würde sie nie wieder in ihrem Leben vergessen.

    Als er da unten erschien, links vom Pult, den Schritt verzögert durch das intensive Gespräch, das er mit seinem Begleiter führte, langsam und mehr zufällig als wählend in den vorderen Reihen einen freien Stuhl fand, weckte jede Bewegung, die er machte, oder besser, wie er sie machte, ihre vollkommene Aufmerksamkeit. Während der ganzen Vorlesung konnte sie sein Profil sehen, ein mageres, scharfnasiges Profil, umrahmt von den weichen Wellen zu langer schwarzer Locken. Kein Mann trug 1958 die Haare lang.

    Sie kannten sich noch nicht, aber sie hatten einander bereits wahrgenommen. Später erzählte er ihr, dass er eben mit diesem Freund, mit dem er auch den Hörsaal betreten hatte, in der Präfektur unten auf einer Bank gesessen habe, als sie an ihnen vorbeigegangen und die Treppe in den ersten Stock hinaufgestiegen sei. Er habe ihr nachgeschaut, bis sie aus seinem Blickfeld verschwunden sei, und zu seinem Freund gesagt:

    So wie sie geht, möchte ich mit ihr schlafen.

    Sie hatte ihn in der Präfektur nicht gesehen und auch nicht bemerkt, dass er ihr nachsah. Aber als sie an einem Dienstagabend den Seminarraum betrat, in dem sich wöchentlich Studenten und Studentinnen der Germanistik trafen, um über eigene Gedichte zu sprechen, erkannte sie ihn sofort. Und er sie.

    Cordelia Becker und Jonathan Ruf schüttelten sich die Hand. Außer ihr war nur eine andere Frau da, sonst saßen nur Männer um den großen Tisch, der aus vielen kleinen Tischen zusammengestellt war, die allesamt älter waren als sie. Ein zarter blonder Student, der auch neu war, trug stockend sein Gedicht vor, das wie ein Sonett gebaut war. Über eine Stunde gab es eine heftige Diskussion über Form und Inhalt. Sie hatte nicht erwartet, dass man selbstverfasste Gedichte so ernst nehmen konnte, und wurde sich mit jeder Minute sicherer, dass sie ihr eigenes kleines Gedicht diesem Tribunal nicht ausliefern würde.

    Von niemanden dazu aufgerufen, einfach kraft der natürlichen Bedeutung, die all seinen Äußerungen anhing, war Jonathan Ruf hier die oberste Instanz in allen Fragen lyrischer Authentizität. Wenn er mit sanfter Stimme fragte: „Können Sie das vielleicht etwas präzisieren?", las sie in seinen blauen Augen hinter den Gläsern der Hornbrille Verurteilung. Er selbst sprach mit schmalem Mund deutliche Sätze. Wenige zumeist. Und häufig erst in das Schweigen, das entstand, wenn alles auf der Hand Liegende vorgebracht worden war. Besonderes, Überraschendes, das, weil es allen anderen entgangen war, nur ihm hatte einfallen können. Ging in dem Durcheinander sich widersprechender Meinungen der Zusammenhang verloren, er stellte ihn mit ein paar Worten mühelos wieder her. Die Hierarchie war unausgesprochen, aber augenfällig. Als zweiter konnte ein kleiner Krausköpfiger gelten. Es gab schnelle Seitengespräche zwischen ihm und Jonathan Ruf. Unauffällige Verständigung der Eingeweihten über den Köpfen der Menge. Das enfant terrible, das jede Gruppe brauchte, hieß Felix, ein Zweimetermann mit dicken Brillengläsern und der Stimme eines ausgebildeten Sprechers. Felix war ein besonders begabter Selbstdarsteller, der Wirklichkeit und Phantasie mischte allein nach Maßgabe der beabsichtigten Wirkung. Leidenschaftliche Ausbrüche von Felix, kühles Zurechtrücken von Jonathan Ruf. Jonathan Ruf hütete die Vernunft. Er hatte den Überblick. Felix hatte nur Gefühle. Sie hatten einander als Kontrast nötig, der ihre jeweilige Persönlichkeit erst recht zur Geltung brachte.

    Felix Mende entstanden über Nacht immer neue Gedichte. Jonathan Ruf fasste seine Lebenserfahrung ein für alle Male in dreißig beherrschten Zeilen zusammen. Sie hatten bequem Platz auf einer Din–A4–Seite. Cordelia war mehr an Beziehungen interessiert als an Gedichten. Die Art, wie die Männer miteinander umgingen, die Art, wie sie mit ihr umgingen. Da war ein anderer Ton, meistens besonders rücksichtsvoll, manchmal auch spöttisch.

    „Was hat denn das Fräulein Becker dazu zu sagen?"

    Jonathan Ruf war immer besonders höflich zu ihr. Während sie über Gedichte sprachen, probierte sie aus, wie lebendig sie mit ihm sein könnte, lebendiger als mit sich alleine. Am Ende des Semesters überreichte er ihr seine dreißig Zeilen.

    Warum gerade ihr? Die handschriftliche Widmung, mit der das Blatt versehen war, erklärte nichts.

    Fräulein Becker

    Zum Dank für ihre Anwesenheit

    Jonathan Ruf

    Nun hatte sie den ganzen Jonathan Ruf in dreißig Zeilen. Sie trug ihn nach Hause und behandelte das Blatt wie eine Ehrenurkunde: mit gewisser Achtung, aber ohne Gefühl.

    Eine Woche nach Beginn der Semesterferien kam ein Brief. Jonathan Ruf schrieb an Fräulein Becker. Es war ein Brief an eine Frau, die es gar nicht gab. Er war zwei Seiten lang, zwei große Bögen bedeckt mit Puppenbuchstaben, winzige, aber getreue Abbilder der gewöhnlichen Buchstaben. Sie leisteten sich keine Ausschweifungen oder Eigenbildungen, ausgenommen vielleicht den Zug zur Vereinfachung, der die großen Anfangsbuchstaben in die Nähe der Druckschrift brachte. Die einzelnen Wörter aber wahrten einen ungewöhnlich großen Abstand zueinander, was den beiden vollgeschriebenen Blättern eine merkwürdige Wirkung verlieh. Wie bei reversiblen Figuren heftete sich die Aufmerksamkeit abwechselnd auf die Schriftzüge oder auf die Leerstellen, sodass es eigentlich zwei verschiedene Briefe waren. Fasste man, wie es sich gehörte, die Buchstaben fest ins Auge, so erschienen die Wörter wie die Perlen jener auf Nylonfäden gezogenen Ketten, die durch unsichtbare Knoten vor und hinter jeder Perle auseinandergehalten werden, wobei man niemals ganz sicher sein konnte, ob der sorgfältig eingehaltene Abstand die einzelne Perle

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