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Der Mann, der sich Vincent nannte: Eine satirische Doppelbiografie
Der Mann, der sich Vincent nannte: Eine satirische Doppelbiografie
Der Mann, der sich Vincent nannte: Eine satirische Doppelbiografie
Ebook173 pages1 hour

Der Mann, der sich Vincent nannte: Eine satirische Doppelbiografie

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About this ebook

Eine moderne Robin Hood Erzählung.
Ausgehend vom Existenzkampf Vincent van Goghs, der sein Leben und seine Kunst den Ärmsten der Armen widmete, beschreibt diese satirische Doppelbiografie wie es heute ist als Künstler zu überleben.
Wie hat sich der Kunstmarkt seit der Zeit van Goghs
gewandelt?
Wer bestimmt heute, was Kunst ist und wessen Werke zu Höchstpreisen gehandelt werden?
Wie hat sich die Ausbildung von Künstlern verändert?
Welche Folgen hat das für das Angebot und für die Kunstschaffenden selbst?
Welche Rolle spielt Kunst heute im öffentlichen Leben?
Wie kann sie wieder zu einem kulturellen Dialog beitragen?
In einer Zeit, in der Kunst vor allem der Selbstdarstellung der Geldeliten dient, scheint es erforderlich das kritische und emanzipatorische Potenzial der Kunst neu zu beleben, damit sie wieder ihren Beitrag zu einer demokratischen Gesprächskultur leisten kann.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateFeb 2, 2021
ISBN9783347219014
Der Mann, der sich Vincent nannte: Eine satirische Doppelbiografie
Author

Roland Greis

Roland Greis studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie und arbeitete von 1977 bis 2015 als Gymnasiallehrer, wo er auch Streitschlichter ausbildete. Fortbildung in Waldorf- und Montessori-Pädagogik. Heute ist er als Bildhauer, Maler und Autor tätig.

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    Der Mann, der sich Vincent nannte - Roland Greis

    1

    Die Vögel waren verstummt. Er lag am Rande des Weges und horchte in sich hinein. Keine Schmerzen. Mit einer Hand tastete er nach der Wunde. Es fühlte sich feucht an. Nur wenig Blut. Der Himmel über ihm war blau. Das Licht blendete ihn. Er schloss die Augen. Langsam wurde es kühler. In seiner Brust begann es zu klopfen. Ein Ziehen da, wo die Kugel eingedrungen war.

    Als er die Augen wieder öffnete, war der Himmel tiefblau. Er drehte sich auf die Seite, stützte sich auf den Ellenbogen und zog die Knie seitlich an. Er drückte seinen Oberkörper hoch. Auf Händen und Knien hielt er kurz inne, bevor er einen Fuß auf den Boden setzte und sich mühsam aufrichtete.

    Der Weg zum Gasthaus war nicht weit. Er taumelte in sein Zimmer und fiel auf das Bett. Dort fand ihn der Wirt. Sein Hemd war jetzt an Brust und Bauch mit Blut durchtränkt. Der herbeigeholte Landarzt und sein Freund, Dr. Gachet, beschlossen die Kugel nicht zu entfernen.

    Sein Bruder Theo wurde benachrichtigt und kam am nächsten Nachmittag an. In der folgenden Nacht um halb zwei starb Vincent in seinen Armen.

    Ich habe mir gewünscht so zu sterben, hatte er zuletzt gesagt.

    Vielleicht kannst du meine Bilder jetzt besser verkaufen.

    2

    Mein Bruder ist tot. Seitdem ist viel Zeit vergangen. Aber geändert hat sich wenig.

    Sein Wunsch hat sich allerdings erfüllt. Vincents Bilder werden heute auf den Kunstbörsen der Welt für Summen verschachert, von denen er Jahrhunderte hätte leben können - ohne die bleierne Armut, die sein Leben bestimmte und letztendlich vernichtete. Die ihn täglich zu wählen zwang zwischen Nahrung und Malmaterial. Er entschied sich meistens für letzteres.

    Ich weiß, wovon ich spreche. Auch ich hatte zu wählen zwischen einem Leben für die Kunst und einem mit Familie. Als ich zu studieren begann, war mir klar, dass ich die nächsten zehn bis zwanzig Jahre kaum von meiner Arbeit würde leben können. Geschweige denn eine Familie ernähren. Das ist die Wahl, vor die der Kunstmarkt diejenigen stellt, die sich zu einem Leben als Künstler entschließen.

    Die Alternative mich von einer Frau aushalten zu lassen, kam für mich nicht in Frage. Ich wusste wie demütigend es ist, finanziell abhängig zu sein. Was es bedeutet mit einem Mann verheiratet zu sein, der von seiner Arbeit nicht leben kann. Ich wusste, dass eine Beziehung, die auf Abhängigkeit beruht, nicht wert ist gelebt zu werden.

    Aber was mir erst mit den Jahren klar wurde: Dass dieses Leben von der Hand in den Mund, die tägliche Frage wie es weiter geht, dieses ewige die Haut zu Markte tragen auf der Suche nach einem gnädig gewogenen Abnehmer meiner Ware, dass diese elende Routine des Scheiterns auch die Freude an der Arbeit zunichte macht und nur so lange zu ertragen ist, wie die Hoffnung auf Durchbruch mühsam auf-recht erhalten werden kann.

    Ich habe das Gefühl, dass ich unbedingt produzieren muss, bis ich davon seelisch zerstört und physisch leer bin, weil ich ansonsten kein anderes Mittel habe, jemals unsere Ausgaben wieder herein zu holen.

    Ich kann nichts dafür, dass meine Bilder sich nicht verkaufen. Aber der Tag wird kommen, wo man sehen wird, dass sie mehr wert sind als das Geld, das wir für die Farbe und meinen insgesamt sehr kümmerlichen Lebensunterhalt aufwenden.

    Was das Geld oder die Finanzen angeht, so habe ich keinen anderen Wunsch und keine andere Sorge, als erst einmal keine Schulden zu haben.

    Aber, mein lieber Bruder, meine Schulden sind so groß, wenn ich die abbezahlt habe, was ich denke, schaffen zu können, dann wird die Mühe, Bilder zu produzieren, mein ganzes Leben bestimmt haben, und es wird mir so vorkommen, als hätte ich nicht gelebt. (Brief an Theo van Gogh, 25. Oktober 1888) (Alle Zitate aus: Vincent van Gogh, Briefe, Reclam, Stuttgart, 2011)

    Mein Bruder hat das gefühlt, dass es irgendwann nicht mehr geht.

    Diese Unausweichlichkeit des Leidens und der Verzweiflung. (5./6. September 1889) Und er hat, als alle Hoffnung erloschen war, das getan, was blieb um seinem Leiden ein Ende zu machen.

    3

    Es ist wirklich wahr, dass eine Menge Maler verrückt werden (3. Mai 1889 aus der Irrenzelle von Arles)

    Es war für mich sehr traurig, zu wissen, dass so viele aus unserem Beruf: Troyon, Marchal, Méryon, Jundt, M. Maris, Monticelli und noch eine Menge anderer so geendet sind. (23. Mai 1889 aus dem Irrenhaus von Saint-Rémy)

    Mein lieber Bruder, in Deinem lieben Brief meinte ich soviel brüderliche Sorge zu spüren, dass ich mich verpflichtet fühle, mein Schweigen zu brechen. Ich schreibe Dir in vollem Besitz meiner geistigen Kräfte und nicht als ein Verrückter, sondern als der Bruder, den Du kennst. - Hier die Wahrheit. -: eine gewisse Zahl von Leuten von hier hat eine Eingabe beim Bürgermeister (ich glaube, er heißt M. Tradier) gemacht (es gab mehr als 80 Unterschriften) und hat mich als einen bezeichnet, der nicht in Freiheit leben dürfe, oder so etwas Ähnliches. Der Polizeikommissar oder der Bezirkskommissar hat daraufhin die Anordnung erlassen mich wieder einzuweisen.

    Also bin ich schon wieder seit Tagen hinter Schloss & Riegel unter Bewachung in der Irrenzelle eingesperrt, ohne dass meine Schuld bewiesen oder auch nur beweisbar wäre. (Arles, 19. März 1889)

    Am 23. Dezember des Vorjahres hatte sich Vincent nach einem heftigen Streit mit seinem Mitbewohner und Freund Gauguin das linke Ohr abgeschnitten, es in ein Taschentuch gewickelt und im Bordell einer der Frauen geschenkt. Anschließend ging er nach Hause, wo er zusammenbrach. Wegen des hohen Blutverlustes und Wahnvorstellungen war er für einige Wochen ins Spital eingewiesen worden, ebenso nach einem erneuten Wahnanfall am 7. Februar. Als er wieder entlassen wurde, beschlossen die besorgten Bürger von Arles, dass er eine Gefahr für sie sei. Sie verlangten vom Bürgermeister und Polizeipräfekten, ihn wieder einzuweisen und er musste die folgenden 6 Wochen in Zwangshaft verbringen.

    Es versteht sich von selbst, dass ich tief in meinem Herzen viel darauf zu erwidern hätte. Es versteht sich von selbst, dass ich mich nicht aufrege, und mich entschuldigen schiene mir in diesem Fall, mich selbst anzuklagen. Nur um Dich zu informieren, ich verlange zunächst nicht, dass Du mich hier herausholst - denn ich bin überzeugt, dass diese ganzen Beschuldigungen sich in nichts auflösen werden. - Außerdem, sage ich Dir, würdest Du Schwierigkeiten haben, mich hier herauszuholen. Wenn ich nicht meine Empörung zurückhielte, würde man mich sofort für einen gefährlichen Irren halten. Wir wollen hoffen und uns gedulden, übrigens könnten heftige Gefühlserregungen meinen Zustand nur verschlimmern. Wenn Du in einem Monat noch keine direkten Nachrichten von mir hast, dann handle, aber solange ich Dir schreibe, warte noch. Deshalb bitte ich Dich mit diesem Brief, sie gewähren zu lassen, ohne Dich einzumischen. Sei gewarnt, dass dies vielleicht die Sache komplizieren und verschlimmern könnte. (19. März 1889)

    4

    Das Ohr meines Bruders. Ein Damian Hirst würde es heute in einem Glasgefäß als Konserve ausstellen und dafür Millionen kassieren. Durch Finanzmanipulationen reich gewordene Spekulanten würden sich in dem Versuch überbieten, eine vergleichsweise reale Anlage zu erwerben. So wie sie es mit Hirsts in Formaldehyd schwimmendem Haikadaver getan haben, der sinniger Weise von einem Hedgefond-Manager für 9,3 Millionen Euro seiner Kunstsammlung einverleibt wurde.

    Warum hat sich mein Bruder sein Ohr abgeschnitten? Hätte er es statt es einer Prostituierten zu schenken lieber an einen Hedge-Fond-Manager verkauft, wenn er dadurch sich neben seinem Malmaterial auch noch etwas zu essen hätte kaufen können?

    Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zurück gehen in das Kohleminendorf von Wasmes in Belgien.

    5

    Nach sieben Jahren Tätigkeit als Kunsthändler in der Firma seines Onkels war Vincent im April 1876 die Kündigung nahe gelegt worden. Es war ihm zunehmend schwerer gefallen Bilder an Menschen zu verkaufen, die diese zur Dekoration ihrer Villen benutzten, um den Anschein von Kunstgeschmack zu erwecken.

    Vincent besaß nicht die Gewinn bringende Fähigkeit zu heucheln und den Käufern das Gefühl zu geben, dass sie von Kunst etwas verständen.

    Auf der Suche nach einem Sinn im Leben hatte er ein Jahr Theologie studiert, bevor ihm klar wurde, dass ich die ganze Universität, die theologische wenigstens, für einen unbeschreiblichen Schwindel halte, wo lauter Pharisäertum gezüchtet wird. (Brief 326)

    Ab August 1878 besuchte er ein Seminar für Laienprediger in Brüssel und wurde danach probeweise als Hilfsprediger ins Bergarbeiterdorf Wasmes im belgischen Steinkohlerevier geschickt.

    Hier lernte er Menschen kennen, die täglich unter ständiger Lebensgefahr für einen Hungerlohn ihre geschundenen Leiber in die Minenhölle trugen, im Winter ihren ausgemergelten Kindern beim Erfrieren zusahen, weil die Abraumhalden nicht genug Kohle hergaben um ihre zugigen Holzverschläge zu erwärmen, bei Minenunglücken verschüttet wurden, weil Sicherheitsmaßnahmen die Bergwerkseigner Geld gekostet hätten und schließlich in ihren Dreißigern sich die Staublungen heraus husteten, was ihre Frauen und Kinder zum Hungertod verurteilte.

    Vincent versuchte in seinen Predigten ihnen Trost zu geben, verschenkte seine Kleider, kaufte von seinem Lohn Nahrungsmittel im verzweifelten Versuch etwas von dem Leid zu lindern, das ihn überall umgab. Er gab Kranken seine Matratze, nahm sie in seine Hütte auf, pflegte sie bis er selber zusammenbrach und wurde schließlich von seinen Vorgesetzten wegen seines unchristlichen Benehmens seines Amtes enthoben, weil er sich mit den Armen gemein gemacht hatte.

    Danach hatte er die Fähigkeit verloren den christlichen Glauben zu predigen.

    Aber er hatte eine Liebe entdeckt, die ihn sein Leben lang nicht mehr verlassen würde: Die Liebe zu den Menschen, die mit ihrer Hände Arbeit das schufen, was andere als Ausgangsbasis für ein bequemes, angenehmes, im materiellen Überfluss schwelgendes Leben benutzten.

    Diese Menschen mit den abgehärmten, verwitterten Gesichtern, den verdreckten, schwieligen Händen zu malen wurde nun zu seiner Lebensaufgabe: Die Kartoffelesser.

    6

    Vincent beginnt nach seiner Entlassung aus dem kirchlichen Dienst die Minenarbeiter, ihre Frauen und Kinder zu zeichnen. Er teilt weiter ihr Elend, ihre Verzweiflung und versucht festzuhalten, was niemand sehen will, am wenigsten diejenigen, für deren Wohlleben diese geschundenen Menschen ihr Leben geben.

    Unzufrieden mit sich und seiner Fähigkeit, das zu zeigen, was ihn so sehr bedrückt,

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