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Islamische Philosophie: Band 3: Die Blütezeit der Falsafa
Islamische Philosophie: Band 3: Die Blütezeit der Falsafa
Islamische Philosophie: Band 3: Die Blütezeit der Falsafa
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Islamische Philosophie: Band 3: Die Blütezeit der Falsafa

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Mit der Begriffsbestimmung der Falsafa als einer islamisierten aristotelisch-neuplatonischen Philosophie durch den Philosophen Al-Farabi setzte diese in der muslimisch geprägten Welt zu ihrem Siegeszug an.

Die Autoren führen multiperspektivisch in die Gedanken jener Philosophen ein, die diese Blütezeit prägten: von den Lauteren Brüdern und Al-Biruni, über Ibn Sina, Ibn Al-Haitham bis zu Umar Khayyam.

Der vorliegende dritte Band setzt sich u. a. mit dem islamischen Humanismus der Lauteren Brüder, Ibn Sinas Vermählung von Philosophie und Mystik, sowie Khayyams existentialistischen Zweifeln an der Gewissheit Gottes und eines Lebens nach dem Tod auseinander.

Dabei wird deutlich, wie sehr diese Philosophen auch die europäische Aufklärung mitbeeinflusst haben.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateMar 5, 2019
ISBN9783748246770
Islamische Philosophie: Band 3: Die Blütezeit der Falsafa
Author

Muhammad Sameer Murtaza

Muhammad Sameer Murtaza ist Islam- und Politikwissenschaftler, islamischer Philosoph und Buchautor. Als freier Mitarbeiter wirkt er bei der Stiftung Weltethos, wo er zu Gegenwartsströmungen im Islam, islamischer Philosophie, Gewaltlosigkeit im Islam und Islam und Weltethos forscht. Weiter wirkt er als wissenschaftlicher Gutachter bei der renommierten in Pakistan herausgegebenen islamwissenschaftlichen Fachzeitschrift Hamdard Islamicus mit. Er ist gefragter Vortragsredner und publiziert in verschiedenen Magazinen und Tageszeitungen.

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    Book preview

    Islamische Philosophie - Muhammad Sameer Murtaza

    Geleitwort

    Muhammad Sameer Murtaza

    Der marokkanische Gelehrte und Ideologe Abdessalam Yassine (gest. 2012) schreibt in seinem Buch The Muslim Mind on Trial der Philosophie in der muslimischen Welt die Rolle zu, die Muslime vom Islam weggeführt und somit empfindlich geschwächt zu haben. Muslime würden nichts weiter als den Qurʾān und sie sunna benötigen. Philosophien würden kommen und gehen, doch das Buch Gottes bleibe auf ewig.¹

    Es ist schon interessant, dass sich Muslime stets auf die kulturelle und wissenschaftliche Blütezeit ihrer Zivilisation besinnen, jedoch wird dabei unterschlagen, dass dieses der intellektuellen Liberalität und den Philosophen geschuldet war.

    Ideologen wie Yassine, die durch ihren islamischen „Protestantismus wieder an dieses „goldene Zeitalter anknüpfen möchten, übersehen, dass sie von einem falschen Geschichtsverständnis ausgehen und somit die zivilisatorische Rückwärtsgewandtheit vieler muslimischer Länder nur weiter bestärken: „Schriftgläubigkeit und Obskurantismus sind die Schlagwörter der Stunde. Für Rationalität oder gar Philosophie scheint in diesem Bild kein Platz zu sein. Gleichwohl ist es unbestreitbar, dass dieselbe [islamische] Welt vor nicht allzu langer Zeit ganz anders wahrgenommen wurde. Da war häufig von Kultur, von Philosophie, von Avicenna und Averroes die Rede: mithin von einer Tradition, die nur als Entfaltung höchster Rationalität verständlich ist"², so der Islamwissenschaftler Ulrich Rudolph. Die Buchreihe zur islamischen Philosophie hat sich vorgenommen, die philosophische Tradition im Islam multiperspektivisch darzustellen und ihre Entwicklung zu skizzieren.

    Der nun vorliegende dritte Band knüpft an den Siegeszug der falsafa, der islamisierten neuplatonischen Philosophie, an, wie sie von Al-Farabi definiert wurde. Der Leser wird eingeführt in die Blütezeit der falsafa, die geprägt wurde von Namen wie Al-Biruni, Ibn Sina, Ibn Al-Haitham, Umar Khayyam oder dem Bund der Lauteren Brüder. Begleitet wird diese Epoche von der zunehmenden Fragmentierung des abbasidischen Reiches in de facto relativ autonome Kleinreiche. Diese zunehmende Instabilität wird letztlich zu politischen Erosionen und einer geistigen Gegenrevolution führen – die aber Gegenstand der vierten Bandes werden soll.

    Im Namen von Murad Hofman und mir gilt unser ausdrücklicher Dank Prof. Dr. Merdan Güneş, Prof. Dr. Hamid Reza Yousefi, Dr. Sedigheh Khansari Mousavi, Dr. Detlev Quintern und Prof. Dr. Ecevit Polat für ihre herausragende Mitwirkung an diesem Band.

    1 Vgl. Yassine, Abdessalam (2003): The Muslim Mind on Trial. Divine Revelation versus Secular Rationalism. Iowa City: 61-66.

    2 Rudolph, Ulrich (2004): Islamische Philosophie: Von den Anfängen bis zur Gegenwart. München: 7.

    Die Lauteren Brüder und ihre Philosophie der Menschlichkeit

    Muhammad Sameer Murtaza

    Im 10. Jahrhundert veröffentlichte eine anonyme Gruppe namens iḫwā aṣ-ṣafāʾ (Die Lauteren Brüder) eine Sammlung von 52 Sendschreiben³ (Sing. risāla, Pl. rasā il) im Irak. Bei dem Werk handelt es sich um eine Übersicht über das gesamte Wissen der damaligen Zeit, didaktisch aufbereitet. Nach Giese zählt es zu den bedeutendsten Werken islamischer Literatur.⁴ Bis heute rätselt man aber, wer die Urheber der 52 Sendschreiben waren.

    Wer waren die Lauteren Brüder?

    Die Vermutungen und Spekulationen über die Identität der Lauteren Brüder sind zahlreich. Man hat sie schon mutazilitischen Theologen, der Siebener-Schia, also den Ismailiten, oder der radikal schiitischen Gruppierung der Qaramaten zugerechnet. Mittlerweile dürfte sich aber die Position von Detlev Quintern und Kamal Ramahi durchgesetzt haben, dass sie nichts hiervon waren. Die Vermählung von Glaube und Vernunft war nicht alleiniges Merkmal der Muʿtazila-Schule, sondern ebenso der falsafa. Zudem vertraten die Lauteren Brüder keine Imamats-Lehre, wie sie der Siebener-Schia zu eigen ist.⁵ Nach Farrukh waren die Lauteren Brüder Muslime, die sich aber keiner Konfession zugehörig fühlten, sondern eine Synthese von Sunnitentum und Schiitentum anstrebten.⁶ So finden sich in ihrem Werk sowohl die Anerkennung von Ali ibn Abi Talib (gest. 661) als Imam, was sie als Schiiten identifizieren würde, als auch lobende Worte für die ersten drei Kalifen, die von den Schiiten abgelehnt werden.⁷

    Über ihre Weltanschauung schreiben die iḫwān aṣ-ṣafāʾ:

    [U]nsere ist keine neue Sichtweise noch die einer erfundenen Sekte, sondern die alte Sichtweise, gefolgt zu allen Zeiten von Philosophen, Weisen, Propheten, Kalifen und Imamen, es ist die Religion Abrahams.⁸

    Es ist nicht einmal sicher, ob es sich bei den Lauteren Brüdern um mehr als nur einen Autor gehandelt hat. Giese schreibt zwar zunächst: „Die Vorstellung von einem einzigen Autor ist zum größten Teil abgelehnt worden mit dem Argument, dass ein so umfangreiches und vielfältiges Werk nicht von einem einzigen Autor hätte hervorgebracht werden können⁹, um dann jedoch den Einspruch zu erheben: „Dagegen lässt sich einwenden, dass es »eine Vielzahl von Gegenbeispielen weit umfangreicherer Produktion in der islamischen wissenschaftlichen Literatur« gibt, das Ganze außerdem »in einem einheitlichen Stil geschrieben ist« und »dass sich in der islamischen Literatur kein zweites Beispiel dieser Art für ein Werk findet, das auch nur angeblich als Gemeinschaftsarbeit mehrerer namentlich genannter Autoren entstanden und dann von einem Mann überarbeitet worden wäre«.¹⁰ Der Islamwissenschaftler Godefroid de Callataӱ wirft ebenso die Frage auf, ob es sich bei den „Lauteren Brüdern" nicht um eine Maskerade gehandelt habe. Zwar werden alle Sendschreiben als Werk einer Bruderschaft dargestellt, indem die 1. Person Plural verwendet wird, jedoch wird im 31. Sendschreiben mit einem Male die 1. Person Singular benutzt. Handelte es sich hierbei vielleicht um eine Nachlässigkeit, die den Rückschluss zulässt, dass die Sendschreiben doch kein Gemeinschaftswerk waren?¹¹ Oder interpretiert man hier in eine mögliche Nachlässigkeit eines Schreibers der Autorengruppe vielleicht zu viel hinein?

    Als die ergiebigste Quelle hinsichtlich der Identität der Lauteren Brüder kann wohl der Philosoph Abu Sulaiman Al-Mantiqi (ca. 912-985) bezeichnet werden, der Abu Sulaiman Muhammad ibn Maʿschar Al-Busti, genannt Al-Maqsidi, als alleinigen Urheber der Sendschreiben benennt. Al-Mantiqis Schüler, der Literat Abu Hayyan Al-Tauhidi (gest. 1023) erwähnt neben einer Reihe weiterer Autoren ebenfalls Al-Maqsidi.¹² Auch die Behauptung, dass die iḫwān aṣ-ṣafāʾ jede Schicht der Gesellschaft infiltriert hätten, wertet Callataӱ als Fiktion.¹³ Vielleicht könnte eine solche Übertreibung auch auf die Bruderschaft an sich zutreffen. Andere Wissenschaftler gehen davon aus, dass das Werk zwar definitiv eine Gemeinschaftsarbeit ist, aber nicht alle Autoren zu den iḫwān aṣ-ṣafāʾ gehörten. Leider wird nicht verraten, wie man zu diesem Schluss gelangt.¹⁴

    Quintern und Ramahi schließen aus ihrer Lektüre der Sendschreiben, dass die Lauteren Brüder eine Gemeinschaft von Männern und Frauen waren, die in vielen Teilen der damaligen muslimischen Welt, allen voran Bagdad und Basra,¹⁵ Zirkel gebildet hatten, die alle zwölf Tage zusammenkamen Daneben soll es Fortbildungsseminare gegeben haben, die sich intensiv mit den Humanwissenschaften, der Erkenntnistheorie und den Offenbarungsschriften der abrahamischen Religionen beschäftigten.¹⁶ So heißt es in den Sendschreiben:

    Insgesamt dürfen unsere Brüder kein Werk außer Acht lassen, keine Wissenschaft ignorieren, kein Buch vernachlässigen und sich nicht für eine Weltanschauung fanatisch einsetzen. Unsere Sichtweise, Weltanschauung ist fähig, alle Weltanschauungen aufzunehmen und wir sind fähig, alle Wissenschaften ineinander zu integrieren. Unsere Aufgabe ist die umfassende Betrachtung alles Existierenden, sei es sinnlicher oder geistiger Natur. Von ihren Anfängen bis zu ihrer gegenwärtigen Entwicklung, ihre äußeren und inneren Strukturen, was wir von diesen verstanden und was wir nicht verstanden haben. All dies wird mit den Augen der Wahrheit begleitet.¹⁷

    Diese Aussage verdeutlicht, die Lauteren Brüder sind gewiss keine Stellvertreter einer islamischen Philosophie, aber einer Philosophie im islamischen Kulturraum, die eine Metaebene einnimmt und griechische Philosophie und abrahamische Religion miteinander in Harmonie bringen will. Der Philosoph Hamid Reza Yousefi schreibt, dass die Lauteren Brüder „von einer grundsätzlichen offenbarungsunabhängigen Erkenntnisleistung aus-[gehen], ohne die Offenbarungswahrheit völlig außer Acht zu lassen. (…) Philosophie und Religion sind für die Ikhwan keine Widersprüche, sondern sie beschreiben unterschiedliche Erkenntniswege, um Transzendenz und Immanenz zu begründen."¹⁸ Die Weltanschauung der iḫwān aṣṣafāʾ benennt Yousefi mit dem Begriff insāniyya, den er mit dialogische Menschengemäßheit wiedergibt, während Quintern Philosophie der Menschheit, Menschlichkeit bevorzugt,¹⁹ „in der Liebe, Nachsicht, Barmherzigkeit, Anteilnahme, gegenseitige Hilfestellung, Kooperation und Freundschaft dem Einzelnen gegenüber im Vordergrund steht."²⁰

    Da die Identität der Lauteren Brüder ein Geheimnis bleibt, stellt sich die Frage, was sie mit der Bezeichnung iḫwān aṣ-ṣafāʾ zum Ausdruck bringen wollten. Nach Callataÿ stammt sie von der Fabelsammlung kalīla wa dimna, ursprünglich indische Erzählungen, die in vorislamischer Zeit zunächst ins Mittelpersische und dann im 8. Jahrhundert in das Arabische übersetzt worden waren. Die Fabel handelt von einer Taube, die in ein Fangnetz geriet und mithilfe einer Maus, die das Netz zernagte, fliehen konnte. Die Geschichte gibt das Selbstverständnis der Lauteren Brüder wieder, nämlich dass alles Leben Begegnung, gegenseitige Hilfe und Freundschaft ist, da kein Mensch allein das Heil erreichen könne. Dieses Selbstverständnis spiegelt sich auch in einer anderen Selbstbezeichnung wider: ḫullān al-wafāʾ, die treuen Freunde²¹

    Die Zeit der Lauteren Brüder

    Quintern und Ramahi beschreiben die Zeit, in der die Lauteren Brüder lebten, folgendermaßen:

    Mit dem Auftreten von al-Kindī (st. 873) (…), auf den al-Farābī (870-950) und dann ar-Rāzī (865-955) folgten, war eine philosophiegeschichtliche Blütezeit eingeleitet, aus der Iḫwān aṣ-ṣafāʾ im 10. Jahrhundert (…) hervorgegangen waren. (…) Die Zentren des Kalifats rivalisierten auch in konstruktiver Hinsicht miteinander. Jede Metropole hatte den Ehrgeiz, die andere kulturell zu übertreffen. Dieser Wettbewerb wirkte positiv auf die wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Entwicklungen. Wissenschaftler, Philosophen und Literaten hatten die Möglichkeit im Rahmen von Forschung, Lehre und Bildung freigestellt zu werden. Es bestanden zwar seit 969 n. Chr. drei Kalifate in Bagdad, Kairo und Qurṭuba (Córdoba) nebeneinander, die jedoch keine analogen Grenzen im Bereich der Philosophie, Wissenschaft und Kultur nach sich zogen.²²

    Die iḫwān aṣ-ṣafā ʾ setzten die interkulturelle Philosophie fort, die mit Al-Kindi und Al-Razi ihren Anfang genommen hatte. In ihrem Philosophieren berücksichtigen sie sowohl die griechische Philosophie, hier insbesondere Plato (348/347 v. Chr.), die neuplatonische Philosophie und die spätere ägyptisch-hellenistische philosophisch-religiöse Lehre der Hermetik als auch die Offenbarungsschriften Thora, Evangelium und Qurʾān.²³

    Kosmogonie und Anthropologie

    In ihrer philosophischen Darlegung von der Entstehung der Welt (Kosmogonie) folgten die Lauteren Brüder der neuplatonischen Lehre, wie es bereits Al-Farabi getan hatte. Demnach ist alles Sein aus dem Einen ausgeflossen. Den Einen deuteten Juden, Christen und Muslime, die der neuplatoni schen Weltanschauung folgten, als den einen und einzigen Gott.²⁴ Er ist für die iḫwān aṣ-ṣafā der Erste und einzig Ewige, der Eine, der Unvergleichliche in jeder Hinsicht, der Erschaffer (al-bāriʾ).²⁵

    Die zweite Komponente der Lehre Plotins (gest. 270) stellt der immaterielle Intellekt (al-ʿaql) dar, der zugleich der große Schleier ist, der Gottes Existenz verbirgt. Indem Gott als der aktive Intellekt sich selber denkt, geht aus einem Emanationsprozess ein geschaffener, immaterieller Intellekt (I¹) hervor. I¹ denkt sowohl den aktuellen Intellekt, woraus ein weiterer immaterieller Intellekt (I²) hervorgeht, und sich selber, was die oberste Himmelssphäre hervorbringt. Diese Kaskade an immateriellen Intellekten setzt sich fort, wobei jeder eine Himmelssphäre (Sing. falak, Pl. aflāk) hervorbringt. Insgesamt entstehen so elf Sphären. Die Welt geht demnach aus Gott hervor und ist ewig, zugleich wird zwischen dem aktuellen Intellekt und den immateriellen Intellekten deutlich unterschieden, zumal die Himmelsphären sich durch Bewegung auszeichnen, was zugleich auf die Existenz von Zeit hinweist.²⁶ Nach den Lauteren Brüdern ist weder Raum noch Zeit Realität. Jedoch sei der endliche Raum konstanter, da die Zeit abhängig sei von der Bewegung der Himmelskörper im Raum, was folglich die Zeit relativ macht.²⁷

    Eine weitere Komponente ist die Weltseele (an-nafs al-kulliyya), aus der die Teilseele hervorgeht, die durch die Vermählung mit der Materie (al-hayūlā) das Leben auf der sublunaren Welt hervorbringt.²⁸

    Ausgehend von den vier Elementen (al-arkān) Feuer, Luft, Wasser und Erde beginnt die Entstehung des Lebens, das die Lauteren Brüder wie bereits Ibn Miskawai (gest. 1030) sich evolutionär vorstellten,²⁹ beginnend mit den Mineralien und daran anschließend der Pflanzen- und Tierwelt (zunächst Seetiere, dann Landtiere).³⁰

    Jedes Sein, so die iḫwān aş-şafā ʾ, besitzt eine Seele, die in ihrem Sein danach strebt, sich zu ihrem Da-Sein weiterzuentwickeln, also dem Grund ihrer Existenz. Je höher die biologische Entwicklung, desto weitreichender sind die Fähigkeiten des Selbst.³¹

    Für die Lauteren Brüder ist der Mensch, biologisch betrachtet, zunächst einmal nichts anderes als ein Tier. Wie diese vermag der Mensch zu fühlen und sich zu bewegen. Doch seine Seele ermöglicht ihm etwas, das allen übrigen Tieren verwehrt bleibt, nämlich ein Selbst-Bewusstsein zu entwickeln, das den Menschen in Distanz zur Welt treten lässt und dafür sorgt, dass er aus dem Naturzusammenhang deutlich herausbricht. Der Mensch stellt sich Fragen und diese überschreiten die Grenzen seiner engen materiellen Welt. Damit, so die Lauteren Brüder, ist mit dem Menschen der Endpunkt der biologischen Entwicklung erreicht. Der Mensch, so heißt es im Qur ʾān, wurde gewiss in schönster Gestalt (95:4) erschaffen und von Gott zu Seinem Statthalter auf Erden (siehe Sure 2, Vers 30) ernannt. In Anlehnung an Genesis 1, 26-27 folgern die iḫwān aṣ-ṣafāʾ, dass der Mensch Gott am ähnlichsten sei.³² Um dies zu erläutern, ziehen sie eine Analogie zum Handwerker. Dieser stellt sich Dinge vor und wandelt die von Gott gegebenen Ausgangsmaterialien entsprechend seiner Vorstellungskraft um. Gott schaffe nicht das Hemd, sondern der Mensch schaffe es durch seine Fertigkeiten, aber er bedarf der von Gott geschaffenen Ausgangsmaterialien. Der Mensch führt auf diese Weise Gottes Schöpfung fort und wird zum Mitarbeiter Gottes erhoben.³³ Die Lauteren Brüder wären wahrscheinlich von der monotonen und dumpfen Fließbandarbeit im industriellen Zeitalter angewidert gewesen, erstickt doch eine solche jegliches schöpferische Potenzial des Menschen.

    D. h. der Mensch steht für die Lauteren Brüder nicht am Anfang der Schöpfung, sondern an ihrem Ende. Zugleich besitzt er von allem Sein das höchste Potenzial, da er alle vorangegangenen Potenziale in sich vereint. Da die gesamte Schöpfung ihren Ursprung in Gott hat, gilt für den Menschen als Gottes Statthalter, achtsam mit ihr umzugehen, da er ethisch den kommenden Genrationen gegenüber verantwortlich ist, dass sie eine lebenswerte Welt erben.³⁴ Nur in der Wahrnehmung dieser Verantwortung kann der Mensch sein in ihm ruhendes Potenzial aktivieren und mehr sein als nur ein Tier.³⁵ Je konstruktiver die Menschen ihre Potenziale einsetzen, desto mehr nähern sie sich Gott an, d. h. sie finden zur Erkenntnis ihrer Selbst, ihres Da-Seins. Handelt der Mensch jedoch destruktiv sich selbst und der Pflanzen- und Tierwelt gegenüber, so entfernt er sich von der Erkenntnis über sein Selbst und damit von Gott.³⁶

    Den Menschen zu helfen, den rechten Weg einzuschlagen, hierin sahen die iḫwān aṣ-ṣafāʾ ihre Aufgabe, so schreiben sie in der 44. risāla:

    Ein Weiser, der mit Medizin und den Heilkünsten vertraut war, betrat eine Stadt, in der die Einwohner von einer latenten Krankheit befallen waren, ohne sie zu erkennen. Die Einwohner bemerkten nichts darüber, dass sie unter einer ihnen unbekannten Krankheit litten. Er beschloss die Leute davon zu heilen. Wäre er jedoch offen mit seiner Absicht aufgetreten, würde man sich ihm widersetzen und ihn verpönen. Deshalb wandte er sich zunächst an einen Vortrefflichen, welcher ebenfalls diese unbekannte, heimtückische Krankheit hatte. Aufgrund seiner Heilmittel gesundete dieser bald. Aus Dank darüber fragte der Geheilte, ob nun er selbst nicht ihm gegenüber mit einer Wohltat entgegenkommen könnte. „Jawohl, antwortete der Weise, „einer deiner Genossen leidet unter derselben Krankheit. Hilf mir, ihn zu heilen. Auch das war schließlich gelungen. Nun fuhr der Weise fort, mit Hilfe der beiden Geheilten einen Dritten zu heilen. So ging es weiter, bis dass die Mehrzahl ihm beistand und auch die letzten, die zu ihrer Heilung gezwun gen werden mussten, geheilt waren. Schließlich war die ganze Stadt von ihrem Übel befreit.³⁷

    Quintern und Ramahi erklären, dass „Krankheit bei den Lauteren Brüdern eine Metapher für eine autodestruktive Lebenshaltung ist, während „Heilung einen konstruktiven Weg darstellt, zu

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