Zauberdrachen unter uns
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Zauberdrachen unter uns - Waltraud Edele
Von Zauberdrachen
Was weißt du von Zauberdrachen? Nichts? „Zauberdrachen gibt es gar nicht!, wirst du jetzt sagen. Da bin ich natürlich ganz deiner Meinung, das heißt, ich war es bis gestern. Da las ich nämlich in der Zeitschrift „Prähistorische Tiere
einen interessanten Artikel. Darin wird berichtet, dass in alten Schriften, die jetzt endgültig entziffert werden konnten, von wunderbaren Wesen die Rede ist, die sich selbst „Zauberdrachen" nannten.
Ich las, sie seien von Gestalt und Größe dem Auroraceratops sehr ähnlich, einem kleinen Pflanzenfresser aus der Gruppe der Neoceretopsia, und ähnlich wie diese frühen Dinosaurier gehörten sie zu den bipedalen Arten, also jenen, die Zweibeinigkeit entwickelt haben, um die Hände
für die Nahrungsaufnahme benutzen zu können.
Wie die meisten pflanzenfressenden Dinosaurierarten seien die Zauberdrachen sehr friedlich, zudem wunderschön und geradezu Meister des Farbenspiels.
Zur Tarnung, zum Schutz oder um abzuschrecken, könnten sie ihre feine, glänzende Schuppenhaut ähnlich wie Tintenfische oder Chamäleons in alle Farbschattierungen verändern, aber ihre Möglichkeiten seien noch wesentlich vielfältiger. Sie könnten ihre Farbe wählen, wie Menschen ihre Kleidungsstücke.
Zudem zauberten sie gerne Muster auf ihre Körper, ja, es steht sogar geschrieben, dass sie sich zum Beispiel das Aussehen eines Mauerwerks, eines Gebüsches, des Wolkenhimmels oder einer Landschaft geben könnten, um sich zu tarnen oder auch um Schabernack zu treiben. Meist aber trügen sie ganz normales Drachengrün, eine hellgrüne bis dunkelgrüne Farbe.
Eine besondere Gabe sei ihre Fähigkeit, sich durch einen Zauber gänzlich unsichtbar zu machen.
Das Schönste an ihnen seien ihre großen, strahlenden Augen, über denen zwei bunt schillernde Hörnchen aus der Stirn ragten. Wie Scheinwerfer leuchteten ihre Pupillen im Dunklen in Rot, Gelb, Orange oder Drachengrün.
Gespannt las ich weiter, dass sie, wenn sie sich ärgern, grünen, dicken Qualm durch die Nase und die Ohren pusten, die als kleine Gehöröffnungen direkt neben den Hörnern liegen. Wenn sie sehr wütend sind, was aber selten vorkommt, fauchen sie und spucken heiße, rote Flammen aus ihrem Rachen.
Gerne blasen sie sich auch auf. Das können sie wohl unglaublich gut. Sie pumpen sich zu doppelter Größe auf, indem sie Luft holen und die Hälfte davon schlucken. Kugelrund werden sie dann und können wie ein Ballon durch die Lüfte segeln, ganz ohne Flügel.
Im Wasser bewegen sie sich wie Fische und atmen wie sie. Das ist bei weiten Reisen übers Meer sehr hilfreich.
Den alten Schriften war scheinbar auch zu entnehmen, dass Zauberdrachen alle Sprachen verstehen und sprechen, auch die Sprachen der Tiere, weil sie durch ihre angeborene Zauberkraft die Gedanken der anderen sehen und sie deshalb natürlich verstehen.
Zauberdrachen beherrschen auch alle die Künste der Magie, denn mit Hilfe ihrer starken Vorstellungsgabe können sie ihre Wünsche Wirklichkeit werden lassen.
Oft haben sie in alter Zeit diese Kunst den Menschen zur Verfügung gestellt. Das taten sie immer freiwillig, ohne Gegenleistung, aus purer Freundlichkeit.
Leider geschah dann aber das Unvermeidliche:
Immer mehr Menschen versuchten nämlich, die verschiedensten Zauber von ihnen zu verlangen, ja, sie wollten sie sogar durch Androhung von Gewalt in ihren Dienst zwingen. So kam es, dass die Zauberdrachen die Menschenwelt verließen und sich auf einer Insel mitten im Ozean ansiedelten, die sie durch eine Bannmeile schützten. Sie waren nun verborgen, kein Suchender konnte sie mehr finden.
Und so kam es auch, dass die Zauberdrachen in unserer Welt nach und nach vergessen wurden, und bald glaubte kaum noch ein Mensch daran, dass sie wirklich existieren.
Für die Wissenschaftler allerdings, die die alten Schriften entdeckten und sie nun erforschen, steht fest, dass diese Zauberwesen tatsächlich leben. Sie stellten weiter fest, dass sie mit manchen Menschen, vor allem mit Kindern, immer wieder in Kontakt treten. Sie kommen auch heute noch in deren Träume. Im Traum sprechen sie zu ihnen, geben Rat und bieten Hilfe an, oder nehmen sie mit in ein lockendes Abenteuer. Und wer im Traum mit ihnen unterwegs war, kann sicher sein, dass dieser Traum auch wahr wird.
Im Bauch des Schiffes
Vor langer, langer Zeit flog ein Zauberdrache übers weite Meer. Es war eine Drachenfrau, und sie war unterwegs zur Dracheninsel, weil sie drei Eier in ihrem Bauch trug und wollte, dass ihre Kinder dort das Licht der Welt erblicken. Für alle Drachenkinder ist es am besten, auf der Dracheninsel aufzuwachsen, es gibt dafür keinen schöneren Ort.
Der Flug war anstrengend, denn ein starker Wind trieb sie immer wieder weit von ihrer Route ab. So beschloss sie, ihren Weg im Wasser fortzusetzen. Aber als sie durch einen heftigen Windstoss hart auf die Wellen plumpste, verlor sie im bewegten Wasser eines ihrer Eier. Es sank sofort und verschwand blitzschnell im Strudel der Fluten.
„Jetzt habe ich mein Kind verloren!", weinte die Drachenfrau verzweifelt. Panisch tauchte sie nach dem Ei, schwamm hierhin und dorthin, peitschte mit dem Schwanz die Wellen auf, spähte und griff nach allen Seiten. Ihre Mühe war umsonst, das Ei blieb verschwunden. So zog sie traurig nach langem Suchen weiter, der Dracheninsel zu.
Das Ei aber trudelte immer tiefer und tiefer zum Meeresgrund hinab, bis es an einer weichen Stelle im sandigen Schlamm liegen blieb. Es sank hinein, und bald war nur noch ein kleiner Hügel zu sehen, dort wo es lag. Das Drachenbaby aber schlief im Ei lange Zeit behaglich in seiner Eihülle und träumte von einem schönen Drachenleben. Es sah sich selbst mit anderen Drachenkindern auf den weichen Wiesen der Dracheninsel spielen und lachen, im Traum erfuhr es von den erstaunlichen Fähigkeiten der Zauberdrachen und es träumte davon, selbst einmal ein guter und starker Zauberdrache zu werden.
Vielleicht hätte der kleine Drache noch ewig weiter geschlafen, wenn er nicht eines Tages durch Zufall geweckt worden wäre.
Es geschah nämlich, dass ein großes Frachtschiff auf dem Meer in einen schrecklichen Sturm geriet, auseinanderbrach und sank. Die Männer der Besatzung konnten sich in letzter Minute in die Boote retten. Sie trieben mehrere Tage orientierungslos auf dem Wasser, bis sie endlich ein Marineschiff rettete. Ihr Schiff aber war verloren. Es lag zerstört auf dem Meeresgrund, ganz in der Nähe des kleinen Hügels über dem Drachenei.
Beim Aufprall aber hatte sich in einem Teil des Schiffes eine große Luftblase gebildet, die Beleuchtung schaltete sich ein, und aus einem Radio ertönten Musik und Stimmen. Es waren laute Stimmen und Geräusche, die sich allmählich in die Träume des Drachenbabys schlichen und es beunruhigten. Es erwachte, lauschte gespannt und verspürte plötzlich den zwingenden Wunsch, seine Eihülle jetzt zu verlassen. „Was ist da los? Ich will hier raus!", dachte es und stemmte sich mit aller Kraft gegen die Eischale. Eine mühsame Arbeit war das, aber der kleine Drachenjunge gab nicht auf. Endlich knackste es laut, ein langer Riss war in der Schale entstanden. Jetzt ging es natürlich leichter, ein Stück nach dem anderen brach ab, und das Baby konnte aus dem Ei herausschlüpfen. Zuerst reckte und streckte es sich und sah sich verwundert um. Dann machte es vorsichtige Schwimmbewegungen, die es vorwärts brachten, den Geräuschen und dem Licht zu.
Durch eine Bresche* in der Schiffswand gelangte das Drachenkind in das Innere des Wracks und fand auch bald den hell erleuchteten Raum, in dem das Radio stand. Die fröhliche Musik gefiel ihm sehr gut, und es machte sich mutig daran, alles im Raum zu erkunden.
Gespannt durchstöberte es auch die nächsten Räume und die Schränke darin. Dabei entdeckte es in einem Regal viele kleine goldene Päckchen. Es riss eines auf und roch - oh, das roch gut! Es hatte Schokoladenkekse gefunden! Sie waren nass und aufgeweicht, aber schmeckten ihm sehr gut. Aus der Kombüse*, die mit Scherben übersät war, nahm es nur einen großen Stoffbeutel mit. Ihm gefiel das Bild, das darauf gedruckt war, ein lachendes Mausgesicht.
Im Frachtraum des Schiffes, das wohl ein Kühlschiff gewesen sein musste, fand der kleine Drache allerlei Essbares, vor allem Früchte. Bananen, Ananas, Walnüsse, Äpfel und Weintrauben, daneben viele Backwaren. Hier im Bauch des gesunkenen Schiffes hatte der Drachenjunge seine erste Heimat gefunden. Das Radio leistete ihm Gesellschaft, und die Vorräte an Essbarem, die er im Schiff fand, hätten für viele Drachenkinder ausgereicht. Er richtete sich neben dem Radio einen bequemen Schlafplatz ein und war mit sich und seinem Schicksal zufrieden.
Niemand weiß natürlich, wie lange er auf dem Meeresgrund lebte. Waren es Monate oder Jahre?
Sicher ist nur, dass Drachenkinder, wie alle Tierkinder, schnell wachsen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass auch er schnell wuchs, und bald schon recht groß und stark geworden war.
Dings und Zaubertgut
Auf seinen Streifzügen durch das Schiff entdeckte er viele Fotografien an den Wänden der Flure. Meist waren darauf Seemänner abgebildet, die den Drachenjungen streng und stolz ansahen.
Er fürchtete sich zuerst sehr vor ihren Augen, aber als sie ihn immer nur gleich anglotzten, verflog seine Angst bald, und er bekam Lust, sie zu ärgern. Immer wieder hüpfte er übermütig an ihnen vorbei, streckte die Zunge heraus oder äffte sie nach, indem er die Brust herauswölbte, das Kinn reckte und sie hart und frostig anstarrte.
Aber als er eines Morgens einen weiteren Teil des Schiffes erkunden wollte, geschah es, dass er sich selbst plötzlich in einem Spiegel auf sich zuhüpfen sah. Erschrocken fuhr er zurück und versteckte sich hastig hinter einer kaputten Tür. „Wo kommt der denn her? Hoffentlich tut mir der nichts!", durchfuhr es ihn heiß. Er lauschte angestrengt, und als sich nichts rührte, näherte er sich dem Spiegel ganz langsam und sehr leise. Beim Näherkommen blickte er in ängstlich aufgerissene, große Augen. Er winkte vorsichtig lächelnd, um das fremde Wesen zu beruhigen, und natürlich auch, um sich selbst Mut zu machen. Das Wesen winkte zurück. Mutiger geworden, streckte er lustig die Zunge heraus, das Wesen tat das auch. Er wackelte mit dem Bauch, das Wesen wackelte auch mit dem Bauch. Er kniff ein Auge zu, das Wesen tat das auch. Schließlich traute er sich, seine Finger nach ihm auszustrecken - und berührte den glatten, kalten Spiegel. Jäh fuhr er zurück, und blieb reglos stehen.