Wunderliche Liebesgeschichte 1914
By Alfred Bekker, W. A. Hary and Silke Bekker
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Wunderliche Liebesgeschichte 1914
Roman von W. A. Hary, Alfred Bekker und Silke Bekker
nach einem Exposé von Silke Bekker & Alfred Bekker
Eine Liebe während des Ersten Weltkriegs! Fabian Wilbert findet durch Zufall einen Stapel Briefe und will die den Besitzern zurückgeben. Doch dabei findet er selbst die Liebe und erlebt beim Lesen der Briefe die unglaublichen Gefühle der damaligen Schreiberin mit. Aber die Briefe haben Lücken. Was wurde aus den Liebenden?
Ein Roman mit zwei ineinander verwobene Liebesgeschichten in Vergangenheit und Gegenwart vor dem Hintergrund der geschichtlichen Zeitläufe.
Alfred Bekker
Alfred Bekker wurde am 27.9.1964 in Borghorst (heute Steinfurt) geboren und wuchs in den münsterländischen Gemeinden Ladbergen und Lengerich auf. 1984 machte er Abitur, leistete danach Zivildienst auf der Pflegestation eines Altenheims und studierte an der Universität Osnabrück für das Lehramt an Grund- und Hauptschulen. Insgesamt 13 Jahre war er danach im Schuldienst tätig, bevor er sich ausschließlich der Schriftstellerei widmete. Schon als Student veröffentlichte Bekker zahlreiche Romane und Kurzgeschichten. Er war Mitautor zugkräftiger Romanserien wie Kommissar X, Jerry Cotton, Rhen Dhark, Bad Earth und Sternenfaust und schrieb eine Reihe von Kriminalromanen. Angeregt durch seine Tätigkeit als Lehrer wandte er sich schließlich auch dem Kinder- und Jugendbuch zu, wo er Buchserien wie 'Tatort Mittelalter', 'Da Vincis Fälle', 'Elbenkinder' und 'Die wilden Orks' entwickelte. Seine Fantasy-Romane um 'Das Reich der Elben', die 'DrachenErde-Saga' und die 'Gorian'-Trilogie machten ihn einem großen Publikum bekannt. Darüber hinaus schreibt er weiterhin Krimis und gemeinsam mit seiner Frau unter dem Pseudonym Conny Walden historische Romane. Einige Gruselromane für Teenager verfasste er unter dem Namen John Devlin. Für Krimis verwendete er auch das Pseudonym Neal Chadwick. Seine Romane erschienen u.a. bei Blanvalet, BVK, Goldmann, Lyx, Schneiderbuch, Arena, dtv, Ueberreuter und Bastei Lübbe und wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.
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Wunderliche Liebesgeschichte 1914 - Alfred Bekker
Copyright
Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von
Alfred Bekker
© Roman by Author
© dieser Ausgabe 2022 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen
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Alles rund um Belletristik!
Vorwort
Dieser Roman schlägt einen großen Bogen von einer Liebe während des Ersten Weltkrieges zu einer Liebe in der Gegenwart.
Geschichte vollzieht sich in solchen großen Bögen.
Mein Großvater kämpfte im Ersten Weltkrieg.
Für meinen Sohn ist diese Zeit so lange her, wie für meinen Großvater die Zeit Napoleons.
Die großen Bögen sind einem meistens kaum bewusst.
Ein Anlass, darüber nachzudenken war in diesem Fall ein Stapel Briefe.
Wie kommen Schriftsteller zu den Ideen für ihre Romane? Da gibt es viele Wege. Und manchmal kommen die Ideen einfach aus der Realität zum Autor. Eine Bekannte meiner Frau sprach sie wegen eines Stapels uralter Briefe an, der gefunden worden war. Briefe, die eine gewisse Elisabeth an ihren Geliebten Werner Wunderlich während des Ersten Weltkrieges geschrieben hatte.
„Ihr Mann ist doch Autor! Der müsste doch eigentlich etwas daraus machen können!"
Nun kann man nicht aus jeder dramatischen Familiengeschichte einen guten Roman machen, und ich gestehe, dass ich erst mal ziemlich skeptisch war, als Silke, meine Frau, mir davon berichtete.
Ein paar Tage später besuchte uns der Mann der Bekannten und überbrachte uns die Briefe.
Sie wären wohl sonst auf dem Müll gelandet, denn mit seiner Familie oder der Familie seiner Frau standen sie in keinem Zusammenhang. Niemand wusste, wer dieser ominöse Werner Wunderlich gewesen ist, an den die genauso mysteriöse Elisabeth Sch. ihre Briefe geschrieben hat.
Silke und ich sahen uns diese Zeugnisse einer längst vergangenen Zeit an.
Und tatsächlich war hier eine dramatische, mitreißende Geschichte verborgen. Eine Geschichte, von der nur Bruchstücke letztlich überliefert waren. Denn der Satz Briefe war nicht vollständig. Es gibt nur Briefe von Elisabeth. Werners Antworten sind nicht erhalten. Und irgendwann brechen die Briefe einfach ab. Man weiß nicht, was danach geschah, aber fest steht, dass irgendjemand diese Briefe viele Jahre aufbewahrt haben muss.
Über vieles, was diese Briefe und die Geschehnisse betrifft, kann man nur spekulieren. Aber genau das tun Autoren ja.
Was stand in Werners Briefen? Ist er zu seiner Elisabeth zurückgekehrt? Haben die beiden geheiratet? Hatten sie Kinder? All das kann man nur erschließen. Es muss jemanden gegeben haben, dem diese Briefe so wichtig waren, dass sie über ein Jahrhundert aufbewahrt wurden. Also ist anzunehmen, dass es Nachfahren gab. Vermutlich ist dann bei irgendeinem Umzug ein Teil der Briefe verloren gegangen.
Silke und mir war sofort klar, dass man aus diesem Stoff etwas machen kann und dass das Potenzial einer großen Geschichte darin steckt. Aber wie genau man damit umgehen sollte, da fehlte uns zunächst der zündende Gedanke.
Manchmal muss man einen Stoff lange liegen lassen, bis man wirklich alle Komponenten zusammen hat, um einen guten Roman daraus formen zu können. Das kann manchmal Jahrzehnte dauern. Silke und ich waren noch Schüler, als wir gemeinsam eine Radtour durch Holland machten. In einem Antiquariat in Enkhuizen stieß ich auf ein Exemplar des historischen Romans „De zwarte Engel von Mika Waltari. Es handelte sich um eine Übersetzung ins Niederländische. Ob dieses Buch, des durch Bestseller wie „Sinuhe der Ägypter
berühmten finnischen Autoren jemals ins Deutsche übertragen worden ist, weiß ich nicht. Aber die Thematik von „De zwarte Engel" zog mich in den Bann. Es ging um die letzten Tage Konstantinopels, kurz vor der Eroberung durch die Türken. Diese Szenerie für den Hintergrund eines Romans zu nehmen, war seitdem mein Plan. Geschrieben wurde der Roman dann aber erst mehr als dreißig Jahre später. Erst zu dem Zeitpunkt war alles beieinander, was für die Geschichte nötig war.
Mit den Briefen an Werner Wunderlich schien sich das ähnlich zu entwickeln.
Immer wieder nahmen Silke und ich uns diese Briefe vor und überlegten, wie man damit etwas machen könnte. Briefe oder Dokumente in einen Roman einzuarbeiten und sie collagenartig zu gestalten, ist ja eine durchaus anerkannte Methode, wie sie zum Beispiel von Schriftstellern wie Walter Kempowski genutzt wurde.
Silke und ich beschlossen schließlich, erst mal den ersten Schritt zu unternehmen und das Briefkonvolut abschreiben zu lassen und zu ordnen.
Nach mehreren weiteren Anläufen entwarfen Silke und ich schließlich eine Rahmenhandlung, die die Lücken der Briefe füllt. Schließlich zogen wir noch meinen Kollegen Wilfried A. Hary hinzu, mit dem zusammen ich schon über Jahrzehnte diverse Romane gemeinsam geschrieben habe – darunter auch etliche historische Sagas. Wilfried war sofort Feuer und Flamme für das Projekt.
So liegt jetzt ein Roman vor, der zum Teil aus Originalbriefen besteht, zum Teil aber auch aus einer Handlungsebene in der Gegenwart, die die Leerstellen des Originalmaterials füllt.
Es ist eine ergreifende Liebes- und Familiengeschichte geworden.
Die teilweise eigentümlichen und für den heutigen Leser gewöhnungsbedürftigen Abkürzungen sowie stilistischen und rechtschreiblichen Eigenheiten des Originals haben wir so belassen, wie Elisabeth sie einst aufgeschrieben hat.
So wie Sie es hier lesen, könnte es tatsächlich gewesen sein ...
Alfred Bekker, Lengerich, November 2022
Kapitel 1
Braunschweig, den 01. Dez. 1913
Lieber Freund!
Alle sind fort. Da will ich mich schnell hinsetzen u. endlich mal von mir hören lassen. Die kleine Deta hat Ihnen schon neulich einen Brief geschrieben. Es hat ihr niemand gesagt. Wir haben schon einige Male sehr über sie lachen müssen. „Mein lieber Werner" rief sie neulich aus u. drückte eine Karte von Ihnen ans Herz. Es wird schon ganz gefährlich!
Sie wundern sich gewiss, dass ich so lange nicht geschrieben habe. Ich wollte aber keine Karte schreiben, weil ich Detas Brief mitschicken wollte. Es war hier ja so viel Trubel. Frl. Issel war von Sonnabend bis Mittwoch hier u. jeden Tag hatten wir was vor. Vorigen Sonntag waren wir mit Ihren Geschwistern in der Buchhorst. Ihre Eltern waren zu sehr erkältet. Jetzt geht es wieder besser. Gestern haben wir so fidel Geburtstag bei ihnen gefeiert. Sie wären gewiss gern dabei gewesen. Wir haben auch auf das Wohl der Abwesenden getrunken. Haben Ihnen die Ohren nicht geklungen? „Nicht wahr, Frl. E., auf das Wohl der Abwesenden müssen wir trinken, meinte Ihre Tante Almers. – Ihre Frau Mutter u. Hete hatten alles so schön gemacht. Es hat uns so herrlich geschmeckt. Ich bin ganz unsolide gewesen, habe Fleisch mitgegessen. Ich lebe ja neuerdings nur von Obst. Es bekommt mir aber sehr gut. Ihr Herr Vater hat mir einen dicken Rettich zum Geburtstage geschenkt, damit ich nicht verhungere. Mit Frl. Issel sind wir sehr fidel gewesen, vor allem auch am Sonnabend. Wir schickten Ihnen ja eine Karte, von mir sogar 2 mal Grüße. Ich hatte die ersten Grüße so versteckt geschrieben, dass keiner sie entdecken konnte. „O, Elisabeth will Werner keine Grüße schicken
schrien alle. Ich musste furchtbar lachen u. schrieb schließlich noch mal. Wir haben so viel gesungen. Beim Grafen von Rüdesheim haben Hete u. ich den Schwager in die Mitte genommen u. ihn ordentlich geschunkelt. Er war ganz aus dem Häuschen vor Vergnügen. Wir haben so viel Trall gemacht, dass Frl. I. ganz erstaunt war u. immer rief: „Das ist was fürs Kränzchen." Sie fand es hier sehr amüsant. Jetzt müssen Hete u. ich ganz brav sein u. fleißig Weihnachtsarbeiten machen. Es wird wohl wieder im Sturm gehen. Es kommt mir dieses Jahr gar nicht weihnachtlich vor. Ich weiß nicht, wovon es kommt.
Gestern hörte ich, dass Sie im Kirchenchor mitsängen. Das macht Ihnen gewiss viel Spaß. Hete u. ich sind bei Frl. Ottmer auch sehr eifrig. Sonntag in 8 Tagen ist großer Vortragsabend. Bei Frl. Fette spiele ich auch vor. Frl. Ernesti übt einen Zigeunertanz ein. Ich betätige mich auch. Hete wollte nicht jetzt vor Weihnachten. Wir sind nach Hannover eingeladen zu Weihnachten. Ich habe aber schon gestreikt! Der kl. Hermann bleibt ja auch ziemlich bestimmt hier. Da können wir ja nicht alle weg. – Den Sonnabend bekommen Sie wohl frei? Oder ist es noch nicht bestimmt? – Von Ihren Angehörigen höre ich ja immer von Ihnen. Ich würde mich aber freuen, wenn Sie auch bald mal ausführlich schrieben.
Vom Einzuge habe ich nun gar nichts geschrieben u. Sie wollten doch gerade davon hören. Nun müssen wir Ihnen Weihnachten davon erzählen.
Für Ihre letzte hübsche Karte vielen Dank. Ich hatte es mir sehr schwer gedacht, Ihnen zu schreiben, aber es ging nun doch ganz gut. Hoffentlich können Sie alles lesen. Ich musste schnell schreiben, weil meine Schwester mich erwartet.
Seien Sie herzlich gegrüßt von Ihrer
Elisabeth Sch.
Brief von Deta:
Lieber Onkel Werner
wie geht es dir ich bin Bußtag in die Kirche gegangen es war da sehr schön ich habe in Muttis Gesangbuch gelesen. Wie ist es dir gegangen gut. Viele grüße deine Greta Ernesti. Papi und Mammi laßen vielmals grüßen und Mammi dankt auch noch vielmalz für die schöne Karte die sie geschrieben haben.
Kapitel 2
Gegenwart
Überdeutlich stand dort oben über dem Haupteingang geschrieben: „PETERSEN ZACK UND WECH und darunter in kleinerer, bescheidenerer Schrift: „Entrümpelungen GmbH
. Überhaupt sah der Haupteingang so aus, als würde er in einen Hochsicherheitstrakt führen. Dabei betrat man dahinter nur ein eher bescheidenes Büro mit insgesamt nur fünf Räumen, wobei der eine Raum Küche und Sozialraum in einem darstellte.
Fabian Wilbert, der hoch aufgeschossene junge Mann, der hier in Hamburg Geschichte und Archäologie studierte, hatte sich beim ersten Mal den blonden Wuschelkopf gekratzt und unwillkürlich gefragt, ob man da nur nach erfolgter Leibesvisitation hinein durfte. Er vermisste jedoch das bis an die Zähne bewaffnete Wachpersonal ebenso wie die Sicherheitsschleuse. Es sah nämlich von außen nur so aus, als müsste es seine solche geben. Und Fabian hatte bis heute nicht herausbekommen, ob sein Chef das absichtlich so gewollt hatte oder ob sich das einfach nur rein zufällig so ergeben hatte. Er wollte aber auch nicht so direkt danach fragen. Schließlich war er nicht hier, um solches zu ergründen, sondern um zu arbeiten.
Genauer: Er war hier, um hier sein Studium zu finanzieren. Es konnte nicht jeder soviel Zuwendungen von daheim erhalten, dass er auf so etwas wie Arbeit nicht angewiesen war.
Andererseits musste er zugeben, dass er bei dieser zwar harten und manchmal auch schmutzigen Arbeit nicht nur ordentlich ins Schwitzen kam, sondern auch so manches Interessante hatte entdecken können.
„Kleine Schätzchen" nannte er das. Schließlich hatte sich Fabian nicht umsonst dazu entschlossen, ausgerechnet Geschichte und Archäologie zu studieren. Da fühlte er sich zuweilen beinahe schon in seinem angestrebten Beruf, wenn so ein Haushalt aufgelöst werden sollte, der teilweise vielleicht schon seit Jahrzehnten bestand.
Diese Ehrfurcht allein schon vor dem Haupteingang zu seinem neuen Betätigungsfeld, der übrigens kein Haupteingang war, weil der einzige Eingang überhaupt zum Firmensitz, hatte er natürlich längst schon überwunden. Sein Chef hatte sich als ziemlich umgänglich erwiesen, und seine Kollegen akzeptierten ihn, obwohl sie anfangs durchaus Bedenken geäußert hatten ob seiner schlaksigen Erscheinung. So ganz nach dem Motto: „Ob der wohl überhaupt ordentlich zupacken kann?"
Nun, Fabian wusste durchaus zuzupacken, und er war sich für keine noch so schmutzige und anstrengende Arbeit zu schade. Damit hatte er sehr schnell die Zustimmung und Sympathie seiner Kollegen erlangt.
Diesmal waren sie mit einem kleinen Team von drei Mann unterwegs. Normalerweise schickte ihr Chef zu einer größeren Haushaltsauflösung mehr Leute, doch alle anderen waren anderweitig beschäftigt. Was für die drei bedeutete, dass sie besonders hart zupacken mussten.
Eine große Altbauwohnung im zweiten Obergeschoss, natürlich ohne Fahrstuhl. Jedes Stockwerk mindestens drei Meter hoch. Dort oben dann schließlich: Fünf Zimmer, Küche und Bad. Voll möbliert das Ganze selbstverständlich.
Das Bad war irgendwann nachträglich eingebaut worden in diesem Haus, das schon um einiges mehr Jahre überstanden hatte, als die Bewohner hier jemals würden alt werden können.
Die letzte Eigentümerin, Thea Wunderlich, geborene Brodersen, war im respektablen Alter gestorben. Immerhin Jahrgang 1940. Sie hatte hier allein gelebt, als Witwe. Und sie war eben auch hier gewesen bis fast zum letzten Atemzug. Für diesen schließlich war sie wohl kurzzeitig in ein Krankenhaus gebracht worden.
Dass Fabian Wilbert dies überhaupt wusste, als einziger der drei, war nur deshalb, weil es ihn ganz speziell interessierte. Er machte sich jedes Mal erst sachkundig. Soweit dies überhaupt für ihn möglich war, hieß das. Ehe er eben einen solchen für ihn stets denkwürdigen Ort betrat. Mit angemessener Ehrfurcht, wie er es bezeichnete, wobei seine Kollegen darüber nur regelmäßig schmunzelten. Sie sahen das natürlich völlig anders. Eher pragmatisch. Sie schauten sich um, beschlossen, wo sie als erstes anpacken mussten, um auch wirklich alles in dem großen Möbelwagen unterbringen zu können. Außer dem natürlich, was im Container zur Entsorgung landen musste.
Für Fabian Wilbert hingegen war es beinahe schon so wie das Betreten einer Ausgrabungsstätte. Ja, er sah da durchaus Parallelen. Der Archäologe tat ja im Grunde genommen nichts anderes: Er sichtete die Spuren vergangenen Daseins. Wobei Fabian Wilbert beim Betreten einer Wohnung, in der vielleicht bis vor Kurzem noch ein Mensch gelebt hatte, wie auch in diesem speziellen Fall, um hier seine unübersehbaren Spuren zu hinterlassen, es ungleich leichter hatte, diese Spuren zu lesen und zu interpretieren. Alles war sozusagen noch frisch genug.
Obwohl die Faszination natürlich niemals lange andauern durfte. Denn schließlich war er nicht wirklich hier, um Spuren eines vergangenen Schicksals zu sichten, sondern um hier aufzuräumen, ja, womöglich diese Spuren sogar für immer zu vernichten.
Doch nicht ohne sie vorher gesehen zu haben! Soviel musste man ihm durchaus zubilligen. Und die Kollegen billigten es ihm zu. Es galt sowieso zunächst einmal, alles zu sichten. Zwar hatte ihr Chef schon im Vorfeld vor der Auftragserteilung vor Ort eine Besichtigung durchgeführt, um den zu erwartenden Aufwand für seine Firma kalkulieren zu können, weil manche Kunden natürlich einen Kostenvoranschlag verlangten, aber jetzt galt es, vernünftig auszuräumen, alles nach der richtigen Reihenfolge, damit es zwischendurch keine Pannen gab und auch der Platz im Möbeltransporter reichte, mit dem sie dann alles noch einigermaßen Brauchbare ins große Zwischenlager bringen würden.
Oh, sie waren bereits ein eingespieltes Team. Einschließlich Fabian Wilbert natürlich, obwohl er das erst seit ein paar Wochen machte.
Doch er beschäftigte sich erst einmal lieber mit dem, was in den Schränken übrig geblieben war. Die Auftraggeber für die Haushaltsauflösung, ein gewisses Ehepaar Ralf und Elke Wunderlich, die selbst offensichtlich nicht wohnhaft waren hier in Hamburg, hatten sicherlich schon alles aus der Wohnung entfernt, was für sie noch von Interesse hätte sein können. Also erwartete Fabian eigentlich nicht mehr viel in den Schränken.
Aber er wurde überrascht. Die Schränke waren zwar nicht gerade randvoll, aber da hatte sich einiges angesammelt im Laufe von vielen Jahren, in denen diese Thea Wunderlich ihr Leben hier verbracht hatte, was ihre Erben Ralf und Elke offensichtlich nicht mehr interessiert hatte.
Persönliche Dinge eben, wie auch Kleidung, verwaiste Haushaltsgegenstände, zum größten Teil sogar noch original verpackt. Vieles auch von einem bekannten TV-Shop und Internetversandhaus, ebenfalls größtenteils niemals benutzt. Das alles musste man aussortieren. Schließlich waren sie zwar eine Entrümpelungs-, aber keine reine Wegwerffirma. Da wurde wirklich nur weggeworfen, was man nicht mehr weiter verwenden konnte. Ansonsten versuchte ihr Chef stets, daraus noch einen kleinen Gewinn zu erwirtschaften. Manch ein Markt für Gebrauchtes war dafür schon dankbar gewesen.
Nicht nur mit Gegenständen solcher Art konnte man da noch kleinere Geschäfte machen, sondern auch mit Möbeln, sofern sie eben noch taugten. Daher die grundsätzliche Unterscheidung Container oder Möbelwagen.
So schaffte es die Firma immerhin, die Kosten für ihre Kunden möglichst niedrig zu halten. Also diente diese Vorgehensweise allen Beteiligten gleichermaßen. Und es war in dieser Branche auch durchaus üblich, wie Fabian Wilbert inzwischen gelernt hatte.
So begann er schon mal mit dem Vorsortieren. Er verglich das immer mit dem sogenannten Erbsenzählen: „Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen!" Hatte das nicht schon Aschenputtel so gesagt?
Wenn er an diesen Vergleich dachte, musste er immer unwillkürlich grinsen.
Seine Kollegen verstanden das so, dass ihm der Job tatsächlich Spaß machte. Und Fabian Wilbert hatte dem auch noch nie widersprochen. Denn natürlich hatte er einen gewissen Spaß bei dieser Tätigkeit, die er trotzdem nicht sein Leben lang hätte machen wollen. Aber vorübergehend war das durchaus in Ordnung, und irgendwie redete er sich dabei auch erfolgreich ein, dass es ihm in gewissem Sinne bei seinem späteren Beruf nützlich sein konnte, wenn er hier bereits entsprechende Erfahrungen sammelte.
Da er bereits geübt genug war im Aussortieren, ging es ihm ziemlich flott von der Hand. Unterdessen hatten seine Kollegen bereits begonnen, schwerere Möbelstücke abzutransportieren.
Einer rief schon: „Bist du bald soweit?"
„Was?"
„Der schwere Schrank im Wohnzimmer benötigt noch zwei zusätzliche Hände."
„Okay."
„Wir bringen jetzt erst einmal diese Couch nach unten, die anscheinend irgendwer mit Blei gefüllt hat. So schwer jedenfalls fühlt sie sich an."
„Ja, ich bin dann soweit. Wenn ihr wieder oben seid!", versprach Fabian Wilbert und beugte sich tiefer in den Schlafzimmerschrank hinein, den er soweit schon komplett ausgeräumt hatte. Da hatte er nämlich etwas entdeckt: Den Boden konnte man anheben. Er lag nur locker auf. Der aus schwerer Eiche gefertigte Schrank hatte geschnitzte Füße und einen stabilen Sockel, und wenn Fabian das richtig sah, müsste sich unter der Schuhablage hier unten noch ein niedriger Hohlraum befinden.
Er hob das Brett an und fand seine Annahme bestätigt: Der Hohlraum war keine zwei Zentimeter hoch, und eine Menge Papier befand sich darin. Offenbar einfach dort deponiert, irgendwann in der Vergangenheit, ob nun von jener Thea Wunderlich oder schon vor noch längerer Zeit. Irgendwie wie weggeworfen, so dass sich die Blätter ein wenig unregelmäßig verteilt hatten.
Fabian nahm ein paar auf und sah, dass es sich um Briefe handelte. Die Schrift war schon reichlich verblichen. Nicht alles war noch gut genug zu lesen. Es schien auch kleinere Lücken zu geben, wo das jeweilige Blatt beschädigt war oder die Schrift so verblichen, dass man sie eben überhaupt nicht mehr entziffern konnte.
Dem Datum nach handelte es sich um Briefe von ungefähr um 1914. Jedenfalls anhand der Blätter, die er sich vor Augen hielt, zu urteilen.
Fabian entfernte das Brett vollständig, was er sowieso tun musste, damit der Schrank