Aufwachsen in Telfs
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About this ebook
"Liebes Team der Bücherei & Spielothek, es ist eine super Idee, dem Lockdown ein Schnippchen zu schlagen und Erinnerungen in der Einsamkeit niederzuschreiben. Ich wünsche euch viele gute und lustige Briefe", meinte Monika Kluibenschädl in einem Brief.
Im vorliegenden Buch sind nun sowohl ihre Kindheitserinnerungen als auch die anderer Telferinnen und Telfer versammelt. Die heute drittgrößte Gemeinde Tirols hat im Laufe der letzten Jahrzehnte einen großen Wandel erlebt, welcher auch hier in ganz privaten Erzählungen unterhaltsam dokumentiert wird. So laden wir ein zu einem abwechslungsreichen Streifzug durch das "Dorf" Telfs mit all seinen Menschen, Straßen und Plätzen von damals und heute.
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Aufwachsen in Telfs - Marktgemeinde Telfs
ERINNERUNGEN AN FAMILIE UND KINDHEIT
An ihre Mutter hat Irene keine Erinnerung, denn sie war gerade einmal ein halbes Jahr alt, als diese starb. Sie hinterließ fünf Kinder – vier Mädchen und einen Buben. So sah sich der Vater nach dem Tod seiner Frau gezwungen, wieder zu heiraten. Seine zweite Frau war eine alleinstehende Mutter zweier Kinder, die sie in die Ehe mitbrachte.
Irene erinnert sich, dass ihre Kindheit und die ihrer Geschwister schwierig und alles eher unglücklich war. Die Stiefmutter wurde dem damaligen Bild einer Stiefmutter voll gerecht und bevorzugte immer ihre eigenen Kinder. Das und auch die räumlichen Gegebenheiten waren der Grund, warum die älteren Geschwister so bald als möglich von zuhause auszogen. Irene als Jüngste musste bleiben. Sie erwähnte immer wieder, dass die Stiefmutter, wenn sie keine eigenen Töchter mitgebracht hätte, eigentlich eine ganz feine, herzliche Frau gewesen wäre.
Irene erzählte, dass ihr Vater zwei Kühe hatte, die sie in den Sommerferien hüten musste. Sie wanderte oft mit ihnen zur Georgensiedlung (damals war das alles noch Wald und Feld). Oft gingen auch Kinder aus der Nachbarschaft mit, allerdings nur, wenn Irene ihnen Geschichten oder Märchen erzählte. Wenn die Kinder ein Märchen schon kannten, sagten sie immer: „Das kennen wir schon, erzähl uns eine neue Geschichte" – das konnte Irene sehr gut. Heute noch erinnert sich eines dieser Nachbarskinder daran und sagt, dass das für sie alle eine sehr schöne Zeit war.
IllustrationHaus im Puelacherweg, in dem Irene aufwuchs. © Fotograf unbekannt, zur Verfügung gestellt von Irene Pallasser
Eines ihrer prägendsten Ereignisse war die Rückkehr ihres Bruders aus dem Krieg. Irenes Bruder Herbert musste im Krieg nach Russland einrücken und kam in russische Gefangenschaft.
An einem schönen sonnigen Sonntag im Sommer nach dem Krieg machten Irene und ihr Vater gemeinsam mit einigen Telfern eine Wallfahrt nach Kaltenbrunn. Sie gingen den Inn entlang bis Roppen und von da über Wald, Leins, Wenns und den Gachen Blick nach Kaltenbrunn. Dort wurde eine Messe besucht und anschließend gab es ein Kracherl und ein Paar Frankfurter mit Brot. Zur damaligen Zeit war das etwas ganz Besonderes. Danach ging es zu Fuß über die Landstraße bis nach Landeck und von dort mit dem Zug nach Telfs zurück.
Als sie in Telfs ausstiegen, erzählten ihnen einige Telfer ganz aufgeregt, dass heute einige Soldaten, die in Russland in Gefangenschaft waren, mit dem Zug angekommen seien. Irene hoffte, dass Bruder Herbert dabei wäre, konnte ihn aber nirgends entdecken.
Dann geschah das Wunder! Als sie zuhause ankamen, saß Herbert auf der Bank und meinte, „Greift mich nicht an, ich bin voller Läuse und Flöhe!"
Das war Irenes schönste Wallfahrt und Erinnerung an ihren Bruder, die sie nie vergessen wird. Diese Geschichte erzählt Irene auch heute immer noch mit sehr viel Emotion und Tränen in den Augen.
Irene Pallasser, geb. Schreier, Jahrgang 1927; aufgezeichnet vom Team in der Tagesbetreuung „Griaß enk"
DER WOHL LÄNGSTE SCHULWEG EINER TELFERIN
Montag, 12. Jänner 1942:
Nach dem Frühstück stapfe ich durch den frisch gefallenen Schnee von Brand nach Sagl und weiter ins Dorf, durch die „Alte Straße" (Josef-Schöpf-Straße) und dann über die Innbrücke. Das Thermometer zeigt -29° C. Doch ich habe ja meine gestrickte (!!!) Unterhose an, die bei der Kälte eh nicht so fest juckt. Dann noch hinauf zum Kloster der Armen Schulschwestern.
Nach dem morgendlichen Fahnenhissen haben wir zu den üblichen Fächern Rechnen, Deutsch, Handarbeiten noch eine Stunde Italienisch. Nachmittags retour und nach den Arbeiten, die daheim noch zu erledigen sind, muss ich meine Hausaufgaben machen.
IllustrationKloster in Pfaffenhofen mit Blick auf Telfs. © MGT Archiv
Zum Wärmen meiner „Flitschenmatratze" (Maisblätter) hole ich mir den aufgeheizten Stein aus dem Ofen und gehe um 8 Uhr schlafen.
In Telfs durften nur die Buben eine Hauptschule besuchen, und so ging ich vier Jahre von Brand nach Pfaffenhofen in die Schule und anschließend noch ein halbes Jahr in die Haushaltungsschule. Ich glaube, es war in der 3. Klasse Hauptschule, als mir ein Kriegsheimkehrer ein Fahrrad schenkte, wodurch mein Schulweg um einiges erleichtert war.
Ida Waldhart, Jahrgang 1931
EINMARSCH IN TELFS
LIGHTNING
Von Telfs aus konnte man gut beobachten, wie doppelrumpfige Bomber, sogenannte Lightnings, die Bahnstrecke in Reith bei Seefeld zu treffen versuchten. Ich beobachtete das makabre Spiel vom Garten des Tilly-Hauses in der Lumma aus. Die Luft vibrierte.
1945
Im Frühjahr 1945 gelang es der Innsbrucker Flak, ein amerikanisches Flugzeug abzuschießen. Die Piloten, zur Hälfte waren es Afroamerikaner, waren für die Innsbrucker „Kannibalen"!1
MARIA-THERESIEN-STRASSE
Die gefangenen Afroamerikaner wurden in Handschellen durch die Maria-Theresien-Straße geführt, um der Bevölkerung zu zeigen, was ihnen bevorstand, wenn das Großdeutsche Reich den Krieg verlöre.
INVASION
Die Amerikaner rückten auf drei Seiten nach Telfs vor, über Sagl, über die Innbrücke und über das Meaderloch, in Form von Bataillon oder Streueinheiten, vollbehangen mit Eierhandgranaten.
IllustrationUS-Soldaten in der Telfer Südtiroler Siedlung. © Sammlung Stefan Dietrich
LUMMA
An jenem denkwürdigen 6. Mai befand ich mich hinter dem Holzzaun des Tilly-Hauses im Garten, als sich ein Bataillon Soldaten im Gleichschritt näherte. In der letzten Reihe, links außen, marschierte ein Afroamerikaner, der gefürchtete Kannibale.2
MUNDHARMONIKA
Als dieser mich Buben sah, trat er aus der Marschordnung hervor und überreichte mir eine Mundharmonika. Ich wusste nicht, wie mir ist.
IllustrationProfessor Tilly zeichnete 2021 speziell für dieses Buchprojekt seine Begegnung mit den US-Soldaten. Zur Verfügung gestellt von Sieglinde Auer
Rein rechnerisch war im Jahre 1944 der Zweite Weltkrieg schon vorbei, zugunsten der Alliierten. Die Engländer versenkten das deutsche Paradeschlachtschiff „Tirpitz". Die deutsche Propaganda lief weiter. Ich besuchte damals die 2. Klasse Hauptschule in Telfs, als ein Schulinspektor aus Innsbruck erschien, der die Aufgabe hatte, besonders talentierte Schüler ausfindig zu machen, für eine geistige Elite des Reiches. Die Ausbildungsstätte war in Andelsbuch in Vorarlberg. Meine Eltern, streng katholisch, ahnten Kirchenfeindliches und stimmten nicht zu.
KLV-REUTTE
Stattdessen steckte man mich in die Realschule Innsbruck, die dann als disloziert im Kinderland-Verschickungslager Reutte untergebracht war. Die letzten Monate vor Kriegsende wurde nicht mehr unterrichtet. In der Früh fuhren Lastautos vor und transportierten die Schüler nach Musau und Pflach zum „Ausheben von Panzergräben". Es wurde aber nicht mehr als der Grasboden abgehoben.
VATER
Schlimmes ahnend erschien mein Vater Ende April 1945 in Reutte und holte mich ab. Wir fuhren mit dem Personenzug von Reutte nach Seefeld, stehend, denn die Wagons waren voller italienischer Heimkehrer. Von Seefeld über Bairbach ging es zu Fuß nach Telfs. Ich glaube, dass mich mein Vater die letzten Kilometer getragen hat, so müde war ich.
FLAK-FLIEGERABWEHRKANONEN
Pünktlich und verlässlich flogen täglich amerikanische Bomber nach Innsbruck, aus Italien kommend, und ließen ihre tödliche Fracht nieder.
Heinrich Tilly, Jahrgang 1931
__________
1Dem Herausgeber ist bewusst, dass keine Verbindung zwischen Afroamerikanern und Kannibalismus besteht. Dies wurde aber während des Krieges in der Bevölkerung verbreitet und muss dementsprechend im historischen Kontext betrachtet werden.
2Siehe vorherige Fußnote.
ERINNERUNGEN
Vieles war anders, vor 80 Jahren, als ich noch ein Kind war. Den Kindergarten nannte man Anstalt und dieser wurde von geistlichen Schwestern geführt, ebenso wie das Altersheim, welches auch als Armenhaus diente und Spital hieß.
In der Volksschule waren alle Kinder schon untereinander bekannt, es gab ja viel weniger Einwohner in Telfs als heute. Wir Mädchen trugen Schürzen und die meisten Buben Knickerbocker-Hosen.
Bis zu drei Schulstufen saßen in einem Klassenzimmer beisammen und Disziplin war eine Selbstverständlichkeit. Wenn wir im Handarbeitsunterricht Socken strickten, war die Wolle oft so knapp, dass das Ergebnis aus verschiedenen Farben bestand.
IllustrationFrüher nannte man den Kindergarten Bewahranstalt. © Hugo Jäckel, Phot. Innsbruck
Für die Soldaten haben wir während des Krieges Isländisch Moos gesammelt und im Dachboden der Schule getrocknet. Daraus konnte ein Tee gemacht werden, der das Immunsystem stärken sollte.
Beim Erstkommunionunterricht durfte man nicht fehlen, da gab es eine Mappe, in die fleißig bunte Bilder eingeklebt wurden. Bei der Nachmittagsbetreuung im Kinderhort konnte man die Hausübungen machen.
Zum Besuch der Hauptschule musste man zu Fuß in das Kloster nach Pfaffenhofen gehen!
Der Winter war oft sehr kalt und ich kann mich daran erinnern, dass man an der gefrorenen Türschnalle kleben blieb. Über die alte Innbrücke pfiff der Wind durch die Kleidung, lange Hosen gab es für Mädchen noch nicht, aber wir kannten es nicht anders.
Wenn Fliegeralarm war, rannten wir vom Klassenzimmer schnell zum Knablhaus, in den Keller.
IllustrationFrieda Schreyer mit ihren Mitschülerinnen und Mitschülern im Jahr 1940. © Fotograf unbekannt, zur Verfügung gestellt von Frieda Schreyer
Nach dem Krieg mussten die Leute zum Einkaufen Lebensmittelmarken haben, dafür hat man im Geschäft das Nötigste bekommen. Mehl und Zucker wurden in großen Säcken gelagert und in kleine Papiersäcke abgewogen. Die Milch wurde mit der Milchkanne, meist von den Kindern, direkt von Bauern geholt. Am Heimweg habe ich die volle Kanne gerne mit kreisenden Armen rund um die Schultern geschwungen, durch die Zentrifugalkraft ging dabei wirklich kein Tropfen verloren. Auch mit vollen Einkaufstaschen funktionierte dieser Spaß.
Schuhe und Kleidung bekam man nur über einen Bezugsschein der Gemeinde, worauf man meist sehr lange warten musste. Geld war knapp und die Freude groß, wenn man von älteren Kindern Kleidung übernehmen durfte. Es gab ein Sonntagskleid, auf das man sehr gut aufpassen musste und bei dem der weiße Kragen immer wieder gewaschen und neu aufgenäht wurde.
IllustrationNach dem Sonntagsgottesdienst. © Fotograf unbekannt, zur Verfügung gestellt von Frieda Schreyer
Es war selbstverständlich, dass die Kinder von den Eltern kleinere Arbeiten wie Holz eintragen, Wasser holen und Geschirr spülen zugeteilt bekamen. Die Zeit dafür war knapp, denn meistens warteten schon die Freundinnen. Zum Spielen trafen wir uns im Freien und die Lieblingsspiele waren Verstecken, Fangen, Räuber und Gendarm, Goaßerletz, Kaiser, wie viel Schritte darf ich machen, Tempelhüpfen, Ich seh’ etwas, das du nicht siehst und viele mehr. Sogar das Einmaleins wurde aufgesagt und von Hundert auf Null rückwärts gezählt! Wir verkleideten uns gerne und spielten selbst erdachte Theaterstücke, langweilig war es nie! Da niemand allzu viel hatte, wurde geteilt und wenn jemand einen Apfel alleine aß, wurde halt um den Butzen gebettelt und dieser dann total abgenagt.
Eine Freundin besaß ein Paar Schlittschuhkufen, die sie mir leihen wollte. Da diese nicht auf meine Schuhe passten, wurden sie mit dem Riemen auf selbst gemachte Patschen geschnallt, was eine ziemlich wackelige Angelegenheit war. Damit fuhr man auf der vereisten Straße, Verkehr gab es da keinen.
Später, in der Jugendzeit, gingen wir sogar Schifahren! In der Wagnerei Heigl, in der Lumma, wurden in Handarbeit Rodeln und Schi aus Holz hergestellt. Nach jedem Gebrauch mussten diese mit Hilfe eines Keiles und Riemen wieder in Spannung gebracht werden. Die doppelt geschnürten Schi-Schuhe, ein Schuh-im-Schuh-Modell, gab es in der Schuhfabrik Neuner, in Pfaffenhofen.
Mit den Schiern auf dem Rücken ging man zu Fuß von Telfs über Mösern Seewald bis zum Gschwandtkopf, über das damals noch schmale Straßl, meist im Schneepflug-Stil, bis nach Telfs.
Damals war man sehr erfinderisch und wir Kinder freuten uns über Kleinigkeiten und wussten uns immer zu beschäftigen. Ja, auch ohne Fernsehen und Handy hatten wir viel Unterhaltung und ich finde, dass wir glücklich waren.
Frieda Schreyer, geb. Pöll, Jahrgang 1932
DIE INNBRUGGLER
Die Innbruggler: Soafnsieder, Meingele, Jendl, Tschigl, Malinger, Senn, Schöpferwirt, Schnoater, Sesselfabrik, Neuner
Geboren wurde ich 1936 als Sohn von Mimi und Max Wackerle. Mein Vater war zu dieser Zeit Maurerpolier bei der Fa. Schindler. Da Herr Schindler meinen Vater sehr schätzte und auch mochte, war ich damals eines der wenigen Kinder, das in der Schindler-Villa zu Besuch war. Ich bekam auch von deren Kindern einiges an Spielzeug und Büchern weitergeschenkt. Das waren immer tolle Geschenke, so durfte ich