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Tom Clancy's The Division: Rekrutiert
Tom Clancy's The Division: Rekrutiert
Tom Clancy's The Division: Rekrutiert
Ebook365 pages5 hours

Tom Clancy's The Division: Rekrutiert

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Ein spannungsgeladener Roman zu dem Ubisoft-Game Tom Clancy's The Division. In diesem brandneuen postapokalyptischen Thriller ist eine neu rekrutierte Agentin die beste Hoffnung der Strategic Homeland Division, um zu verhindern, dass ein ruchloses Komplott die Behörde zerreißt. Maira Kanhai hat die Nase voll: Seit die Green-Poison-Epidemie DC heimgesucht hat, ist ihr Cybersecurity-Abschluss wertlos, sie kann nicht wieder in die US-Marine eintreten und ihre frühen Bemühungen, Maryland zu sichern, führten zu einem teuren Fehler: dem Tod ihres Bruders. Jeden Tag tauchen neue Fraktionen auf, die versuchen, ihre Stadt niederzubrennen – bis die Division auftaucht und ihr neue Hoffnung gibt. Als eine Granate einen ihrer Agenten tötet, hat Maira plötzlich die Chance, als unerfahrene neue Rekrutin der Division wirklich etwas zu bewirken … wenn sie die Tests besteht und die Feinde besiegt, die die Division ein für alle Mal ausschalten will.
LanguageDeutsch
PublisherCross Cult
Release dateMay 26, 2022
ISBN9783966586696
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    Book preview

    Tom Clancy's The Division - Thomas Parrott

    KAPITEL 1

    »Ich glaube allmählich, dass das eine schlechte Idee war«, sagte Maira Kanhai.

    Sie und ihr Bruder Kazi saßen in ihrem Auto. Die Nachmittagssonne glänzte auf dem silbernen Lack, der an einigen Stellen verrostet war. Die Luxuskarre war nagelneu gewesen, als sie sie bei ihrer Ankunft an ihrem ersten Dienstort in einer Art Kaufrausch erworben hatte. Damals hatte es sich wie etwas Besonderes angefühlt, sich beim Militär zu verpflichten. Das Ganze war wie eine Brücke in ihre Zukunft gewesen. Große Pläne, große Hoffnungen.

    Jetzt wusste sie nicht mehr, was sie sonst tun sollte.

    »Es hat auf jeden Fall etwas Unheimliches«, sagte Kazi.

    Der Parkplatz war so gut wie leer. Da es Mittagszeit war, hätte es hier eigentlich vor Leuten wimmeln sollen, die zum Mittagessen kamen. Stattdessen standen nur zwei weitere Fahrzeuge auf dem asphaltierten Parkplatz. Die unberührte Schneeschicht auf dem einen verriet, dass es sich schon seit Tagen hier befand. Das andere war schräg geparkt, quer über drei Plätze hinweg. Es sah so aus, als sei der Fahrer mit hoher Geschwindigkeit schlitternd zum Stehen gekommen.

    Das mehrstöckige Gebäude vor ihnen wirkte kein bisschen beruhigender. Durch die kalte Wintersonne über dem Gebäude war nur schwer zu erkennen, ob drinnen die Lichter eingeschaltet waren. Aus diesem Blickwinkel erschienen die Fenster wie undurchsichtiges schwarzes Glas. Maira hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Die Haut in ihrem Nacken kribbelte. Unglücklicherweise, ob gruselig oder nicht, war dies die Rekrutierungsstation für ihr Gebiet. Was sonst sollte sie unter diesen Umständen tun? Zum Strand laufen und ein vorbeifahrendes Schiff anhalten?

    »Das ist doch bescheuert«, sagte sie, um ihrem Frust Luft zu machen.

    »Gehen wir nach Hause?«, fragte Kazi.

    »Nein«, sagte Maira mit fester Stimme. »Ich gehe rein. Wir haben ein Achtel einer Tankfüllung verbraucht, um herzukommen.«

    »Ich komme mit«, verkündete ihr Bruder sofort.

    Er griff nach seinem Sicherheitsgurt und sie hielt ihn am Handgelenk fest.

    »Nein, du bleibst hier«, sagte Maira.

    »Ich bin kein Kind mehr, Mai. Ich habe die Nachrichten gesehen.« Er wedelte mit seinem Handy. »Auf der Welt wird alles immer verrückter.«

    Das stimmte. Kazi war zehn Jahre jünger als sie, doch er war immerhin schon sechzehn. Nicht viel jünger als Maira gewesen war, als sie sich verpflichtet hatte. Sie lächelte ihn an, aber das schien ihn nur noch mehr zu ärgern. Also zerzauste sie sein dunkles Haar, nur um noch eins draufzusetzen. Er verzog das Gesicht, konnte sich aber ein Lachen nicht verkneifen.

    »Ich weiß, dass du kein Kind mehr bist. Wenn du dich in zwei Jahren verpflichten willst, wie ich es getan habe, fahre ich dich persönlich zum Rekrutierungsbüro. Aber das hier muss ich alleine machen. Es gibt nichts, wovor man sich fürchten müsste.«

    Kazi legte die Stirn in Falten und warf ihr einen skeptischen Blick zu. »Wenn daran nichts Gefährliches ist, warum kann ich dann nicht mitkommen?«

    »Wenn keine Gefahr besteht, gibt es dafür eben auch keinen Grund.«

    Kazi kaufte ihr das nicht ab. Sie konnte es an seinem Gesicht ablesen. Maira schürzte die Lippen und seufzte, denn sie wusste, dass ihr Argument ohnehin eher Sprachakrobatik war.

    »Hör zu, wenn etwas Schlimmes passiert, wäre es besser, wenn jemand hier draußen wäre, der das Auto zum Laufen bringt, damit wir direkt abhauen können, oder?«

    Er dachte einige Augenblicke darüber nach. »Okay.« Kazis Miene hellte sich sichtlich auf. »Dann werde ich wohl auf dem Fahrersitz Platz nehmen müssen, oder? Nur für alle Fälle?«

    Maira warf ihm einen ausdruckslosen Blick zu. Ihr Bruder grinste nur.

    »Na schön.« Sie seufzte erneut. »Aber wenn du den Sitz verstellst, bringe ich dich um. Verstanden?«

    »Verstanden, Petty Officer«, antwortete er und verstellte dabei die Stimme, um ihr eine tiefe, kehlige Note zu verleihen.

    »Trottel«, sagte sie.

    Maira öffnete die Autotür, stieg aus und suchte das Gebäude erneut mit Blicken ab. Nichts rührte sich. Die Temperatur war knapp über dem Gefrierpunkt. Die spärlichen Sonnenstrahlen taten wenig, um die Kälte zu lindern. Dunkle Wolken zeichneten sich am Horizont ab und versprachen Neuschnee an diesem Abend. Kazi rutschte hinter ihr auf den frei gewordenen Sitz.

    Maira beugte sich hinunter und sah ihn an. »Du öffnest die Türen für niemanden außer mir, ja?«

    Irgendetwas an ihrem Tonfall ließ das Lachen aus seinen Augen verschwinden.

    Kazi nickte. »Ja, natürlich.«

    Maira drückte schnell seine Schulter und machte sich auf den Weg zum Gebäude. Sie öffnete die Eingangstür. Dahinter erwartete sie Stille. Die Beleuchtung war ausgeschaltet, aber durch die Fenster drang genug Sonnenlicht, damit sie sich zurechtfinden konnte. Die Luft hing schwer und reglos im Raum. Es war unangenehm kalt. Die Heizung musste kaputt oder ausgeschaltet sein. Schon wenn man in der Lobby stand, fühlte sich das Gebäude eher wie eine Gruft statt wie ein Arbeitsplatz an.

    Sie sah prüfend auf den Zettel in ihrer Tasche: Zimmer 450. Die Offiziersrekrutierungsstelle. Die Entscheidung, wieder zur Navy zu gehen, fühlte sich immer mehr wie eine idiotische Idee an, aber ein Teil von ihr bestand darauf, das Ganze durchzuziehen. Obwohl sie gewartet hatte, hatten die Bilder von Chaos und Krankheit aus den Nachrichten sie eine ganze Weile verfolgt, bis ihr klar geworden war, dass sie etwas unternehmen musste. Wenn das Land zu zerfallen drohte, musste sie tun, was sie konnte, oder? Sie hatte einen Eid geschworen, und der hatte kein Verfallsdatum.

    Sie versuchte es zuerst mit dem Aufzug, aber der Knopf leuchtete nicht einmal auf, als sie ihn drückte. Maira machte sich auf die Suche nach der Treppe. Selbst wenn kein Personalverantwortlicher im Büro war, dachte sie, hätte er sicher einen Zettel hinterlassen, an wen sie sich wenden konnte. Sie ging die ruhigen Gänge entlang, vorbei an leeren Büros. Einige waren verschlossen, als würden die Angestellten nach einem langen Wochenende sicher bald zurückkommen. Andere standen einfach offen.

    Maira warf einen Blick in eines davon, die Neugierde war zu groß. Im Büro herrschte ein einziges Durcheinander aus Papieren, als hätte jemand alles durchwühlt und sämtliche Schubladen ausgeleert, die er finden konnte. Vielleicht auf der Suche nach etwas Wertvollem? Unmöglich, das zu wissen. Rote Schlieren und Fingerabdrücke befanden sich auf ein paar Seiten, die in ihrer Nähe lagen. Sie konnte die Farbe im Zwielicht gerade eben ausmachen. Tinte, sagte sie sich fest. Zweifellos von einem ausgelaufenen Füller.

    Das fensterlose Treppenhaus, das sie schließlich fand, war stockdunkel. Maira zog ihr Handy aus der Tasche und schaltete die Taschenlampe ein. Sie wollte nach dem Geländer greifen, zögerte aber. Es wurde viel darüber geredet, dass sich das Virus über kontaminierte Oberflächen verbreiten könnte. Sie wischte eine verschwitzte Handfläche an ihrer Jacke ab und konzentrierte sich stattdessen auf ihren vorsichtigen Aufstieg.

    Als sie im vierten Stock ankam, schlug ihr ein beunruhigender Geruch entgegen. Übelkeiterregend, kupfern, mit einem ekelhaften süßlichen Hauch. Sie versuchte, den Geruch einzuordnen, während sie die Taschenlampe wieder ausschaltete. Etwas aus ihrer Zeit beim Militär? Nein. Älter als das. Sie machte sich auf den Weg durch den Flur in Richtung Zimmer 450.

    Maira wünschte sich, sie hätte eine Waffe. Auf den ersten Blick war das ein absurder Gedanke. Wozu hätte sie eine gebraucht? Sie konnte nicht auf ein Virus schießen. Wollte sie eine arme Bürodrohne erschießen, die zur falschen Zeit am falschen Ort war? Nein, das wollte sie natürlich nicht.

    Die Nachrichten waren jedoch von Gewalt geprägt. Die anhaltenden Unruhen und Plünderungen in Manhattan hatten sich bis in ihr Revier in der Nähe von Washington, D.C. ausgebreitet. Dies waren unsichere Zeiten und verängstigte Leute taten schreckliche Dinge. Die Welt war schon vorher ein Pulverfass gewesen. Dieses Virus war wie weiterer Druck auf bereits gesprungenes Glas.

    Maira war an der Tür zu Zimmer 450 angekommen. Mit zitternder Hand griff sie nach der Klinke. Ihre Intuition flehte sie an zurückzuweichen, schrie, dass hier etwas nicht stimme, dass hinter dieser Tür nichts Gutes zu finden sei. Sie flehte sie an, zurück zum Auto zu gehen und diese ganze Sache zu vergessen.

    Sie sträubte sich gegen diesen Impuls. Ich bin keine Drückebergerin, dachte sie kämpferisch. Eine Flut von hartnäckigem Mut verdrängte ihre Ängste. Maira drückte mit dem Ellbogen die Klinke nach unten und die Tür schwang auf.

    Der Gestank, doppelt so stechend, traf sie wie ein Ziegelstein ins Gesicht. Maira taumelte rückwärts, hustete und würgte. Sie presste sich eine Hand auf den Mund und versuchte verzweifelt, den üblen Geruch zu verdrängen. Es half nicht viel. Der abartige Geschmack lag ihr auf der Zunge wie ein Ölfleck auf dem Meer.

    Die verdrängte Erinnerung, die sie zuvor gepiesackt hatte, drängte sich in den Vordergrund. Es war ein Moment aus ihrer Kindheit. Ihre Mutter hatte sie ins Krankenhaus gebracht, um ihren Vater zu besuchen. Sie hatten ihn schon viele Male besucht, während seines Kampfes gegen den Krebs. Aber dieses Mal war es anders. Dies war das letzte Mal. Sie hatte es in dem Moment gewusst, als sie das Zimmer betraten. Dieser Geruch hatte in der Luft gelegen. Der gleiche Geruch.

    Tod.

    Allerdings war es hier noch schlimmer. An diesem Ort hatte sich etwas in seiner ganzen grausamen Endgültigkeit abgespielt. Der Raum lag halb im Schatten. Es gab drei Schreibtische, aber nur einer von ihnen war besetzt und befand sich im dunkelsten Teil des Büros. Die Gestalt auf dem Stuhl war nach hinten gesackt, als würde sie ein Nickerchen machen.

    Maira bewegte sich auf unsicheren Beinen vorwärts. Fliegen schwirrten im Raum umher, als sie sich näherte. Der Gestank wurde immer schlimmer, je näher sie kam. Auf halber Strecke blieb sie taumelnd stehen. Krampfende Bauchmuskeln sorgten dafür, dass sie sich zusammenkrümmte. Sie hielt sich vergeblich eine Hand vor den Mund. Das Erbrochene spritzte zwischen ihren Fingern hindurch und verteilte die Reste ihres Essens auf dem Teppichboden.

    Sie betrachtete angewidert ihre nasse Hand und wischte sie verzweifelt an ihrer Hose ab. Sie würde nicht näher herangehen, das war ihr klar. Mit der anderen Hand hob sie wieder das Handy und schaltete die Taschenlampe ein. Sie richtete den Strahl auf die schattenhafte Gestalt am Schreibtisch.

    Es war ein Bild, das sie nie wieder loswerden würde. Maira wusste das in dem Moment, als sie es in sich aufnahm. Es war die Verzweiflung eines Menschen, die in jedem Detail deutlich wurde. Eine verrottende Leiche in einer einstmals schönen Uniform. Der Körper war allerdings schon vor seinem Tod verunstaltet worden. Altes Blut um die Augen, die Nase und den Mund kündete von einer möglichen Virusinfektion.

    Maden krabbelten über die kalte Haut und labten sich am toten Fleisch. Das Namensschild auf der Uniform war von der Fäulnis völlig unkenntlich gemacht worden. Wer auch immer diese Person gewesen war, sie hatte nicht darauf gewartet, dass das Grüne Gift sie holte. Eine Beretta M9 lag auf dem Schreibtisch neben einer geschwollenen Hand. Ein sauberes Loch zierte eine Schläfe. Auf der anderen Seite war ein viel größerer Krater zu sehen.

    Langsam ließ Maira das Handy sinken. Sie würde sich heute nicht wieder für den Dienst melden. Vielleicht bei einer anderen Rekrutierungsstation …

    Ein Schrei ertönte von draußen, hoch und schwankend vor Angst. Es folgten weitere Stimmen und schroffes Gebrüll.

    »Kazi«, flüsterte Maira.

    Angst und Abscheu verflüchtigten sich innerhalb einer Sekunde. Sie stürzte vorwärts, schnappte sich, ohne nachzudenken, die Pistole und rannte zur Tür.

    Maira schoss in die Höhe. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war – oder welches Jahr es war. Der Traum klammerte sich an sie und wollte sie nicht loslassen. Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust und ihre Hände gruben sich so fest in die Matratze, dass es wehtat. Die Realität setzte sich nur langsam wieder durch.

    Ungefähr ein Jahr. Es war mehr als ein Jahr vergangen seit jenem Tag im Rekrutierungsbüro. »Kazi«, sagte sie in die stille Luft.

    Maira rieb sich mit einer Hand über das Gesicht, ihre Haut fühlte sich glitschig an. Sie war durchgeschwitzt und die Laken klebten an ihrer Haut. Daran war nicht nur der Albtraum schuld. Die Luft war heiß und stickig. In der Wohnung war alles dunkel, bis auf die Stellen, an denen fahle Strahlen durch die schweren Vorhänge fielen. Der Strom war wieder ausgefallen. Das war bereits das zwölfte Mal in dieser Woche.

    Sie schlug die Laken weg und quälte sich aus dem Bett. Sie schob die Vorhänge zur Seite, die den Blick auf die von der Morgendämmerung erleuchteten Straßen freigaben. Das Licht ließ sie zusammenzucken und brachte sie dazu, ihre Augen mit der Hand abzuschirmen, aber der Schmerz verging schnell. Es war schätzungsweise 07:00 Uhr. Als sie sich erholt hatte, öffnete sie das Fenster. Es war nicht gerade kühl da draußen … bestenfalls um die zwanzig Grad. Trotzdem war es besser als die erstickende Hitze in ihrem Zimmer.

    Kein Strom bedeutete keine Kaffeemaschine. Maira seufzte und holte Instantkaffee aus einem der Schränke. Wasserkanister standen in der Wohnung verstreut. Sie nahm einen in die Hand und betrachtete ihn mit Argusaugen. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass es sich tatsächlich um Wasser handelte, füllte sie eine Thermoskanne und mischte das Granulat hinein. Es löste sich in der lauwarmen Flüssigkeit nicht richtig auf, aber die Alternative war kein Kaffee. Und das war undenkbar.

    Sie nahm einen Schluck der braunen Plörre, die unangenehm zwischen ihren Zähnen knirschte, zog eine Grimasse und machte sich daran, sich anzuziehen. Der erste Schritt bestand darin, an den einzelnen Kleidungsstücken zu schnuppern, um diejenigen zu finden, die am wenigsten schmutzig waren. Mode war in diesen Tagen nicht besonders wichtig. Robuste Kleidung, die nicht durch getrockneten Schweiß steif geworden war, war zum neuen Standard geworden.

    Maira nahm ihre Armbanduhr vom Nachttisch, die neben dem stehen gebliebenen Wecker lag. Die meisten Menschen hatten aufgehört, Uhren zu tragen, bevor die Dollar-Grippe die Stadt heimgesucht hatte. In den Tagen danach hatten sie ein echtes Comeback erlebt. Mit der Art von Uhr, die man trug, gab man eine dezentes Statement ab: Die Optimisten, die glaubten, dass die Welt spätestens in ein paar Jahren wieder auf den Beinen sein würde, trugen elektronische Uhren. Eine Uhrenbatterie würde immerhin für diesen Zeitraum halten.

    Mairas Uhr musste aufgezogen werden; sie war robust und verlässlich. Mit ein wenig Wartung würde sie den Rest ihres Lebens halten. Im Moment zeigte sie 7:38 Uhr an. Sie seufzte. Die Versammlung sollte in zweiundzwanzig Minuten beginnen. Sie musste sich beeilen.

    Das letzte Teil, das ihr tägliches Ensemble vervollständigte, war die M9. Sie zögerte, als sie die Waffe in ihrem Holster in der Hand hielt. Oberflächlich betrachtet war nichts Merkwürdiges daran, sie zu tragen. Nur wenige Menschen liefen heutzutage unbewaffnet durch die Gegend. Aber diese hier war dieselbe, die sie in dem Albtraum, der aus ihren Erinnerungen entstanden war, mitgenommen hatte; ein Abschiedsgeschenk von einem Toten. Seitdem hatte sie sie behalten, auch wenn sich mit der Zeit Gelegenheiten ergeben hatten, eine andere Waffe zu wählen. Sie hatte ein paarmal versucht, den Leuten ihre Entscheidung zu erklären, doch andere hatten das stets als morbide empfunden. Sie verstanden es nicht. Die Pistole war ein Andenken an den Tag, an dem das Ende der Welt für sie zu etwas Persönlichem geworden war.

    Maira seufzte und schnallte das Holster an ihren Gürtel. Jetzt war nicht die Zeit, solchen Gedanken nachzuhängen. Sie brauchte einen klaren Kopf für die Versammlung. Es war bestenfalls unwahrscheinlich, dass es eine angenehme Diskussion werden würde.

    Sie trat auf den Flur hinaus und schloss die Wohnungstür hinter sich, ohne sie abzuschließen. Die meisten Leute in diesem Komplex machten sich nicht mehr die Mühe. Die Gefahren der Welt nach dem Grünen Gift kümmerten sich nicht um Türschlösser. Es gab keine Notdienste, wo ein Schloss dazu dienen könnte, Zeit zu schinden, bis sie eintrafen. Wenn du dich nicht selbst schützen konntest, waren deine Nachbarn deine einzige Hoffnung.

    Für Maira wohnten besagte Nachbarn in den anderen Wohnungen des Gebäudes. Sie konnte das Rascheln hinter einigen der Türen hören; Menschen, die sich auf den Tag vorbereiteten. In anderen Wohnungen war es still, die Bewohner waren schon weg oder schliefen noch. Es gab nur wenige leere Wohnungen in dem Gebäude, doch es stand inmitten von Trostlosigkeit.

    Sie nannten diese Gemeinschaft Athena, ein Dorf in den verfallenen Überresten einer Stadt. Dieses Gebäude hatte einst aus Luxus-Eigentumswohnungen bestanden, in denen wohlhabende Leuten lebten. Das Grüne Gift machte jedoch keinen Unterschied zwischen Arm und Reich. Es hatte Leichen und leere Städte hinterlassen. Nachdem sich der Staub gelegt hatte, hatte sich eine Gruppe von Überlebenden hier versammelt, entschlossen, das Beste daraus zu machen.

    Dass sie sich zusammengetan hatten, war kein Zufall. Sie gaben sich gegenseitig Sicherheit, so wie es ihre Vorfahren getan hatten, wenn sie sich nachts um das Feuer versammelt hatten. Hier gab es keine Wölfe zu fürchten, zumindest keine buchstäblichen. Nicht jeder hatte die Pandemie mit intaktem Verstand überstanden. Nach der viralen Apokalypse waren andere Menschen das Gefährlichste, was es auf der Welt noch gab.

    Der Aufzug war wegen des Stromausfalls mal wieder vollkommen nutzlos. Maira nahm stattdessen die Treppe. Das Geräusch von Schritten kündigte an, dass jemand zur selben Zeit heraufkam. Sie warf einen Blick über das Geländer und lächelte, als sie Elena sah. Die Blondine schlurfte die Stufen mit dem Gang völliger Erschöpfung herauf und winkte schwach, als sie Maira entdeckte.

    »Wie war die Nachtwache?«, erkundigte sich Maira.

    »Glücklicherweise ereignislos«, antwortete Elena. »Ich musste mich in der letzten Stunde ein Dutzend Mal kneifen, um wach zu bleiben.« Sie konnte ein gewaltiges Gähnen nicht unterdrücken, ihr Kiefer knackte hörbar.

    »Sei vorsichtig, wenn du das auf dem Dach machst. Am Ende verschluckst du noch eine Fledermaus.« Maira klopfte ihr auf die Schulter, als sie aneinander vorbeigingen. »Hast du vor, zur Versammlung zu kommen, bevor du dich schlafen legst?«

    »Ach, verdammt«, murmelte Elena. »Die ist heute Morgen, oder? Worum geht’s denn diesmal?«

    »Die Versorgungslage«, sagte Maira. »Das ist wichtig.«

    Elenas Lächeln verschwand. »Gut. Nach dir, Boss.«

    Die Athena-Gemeinschaft hielt ihre Versammlungen in einem Konferenzsaal im Erdgeschoss ab. Es war der größte Raum im Gebäude, trotzdem gab es nicht viel Platz für die Versammelten. Fast vierzig Familien bevölkerten das Gebäude und mindestens eine Person aus jeder Familie drängte sich im Raum. Ein paar Eltern hatten sogar ihre Kinder dabei. Ein Vater stand mit einem Baby auf dem Arm an der Rückwand. James und seine Tochter Christine. Ihre Mutter, Tara, hatte die Geburt nicht überlebt. Das war ein finsterer Tag für die Gemeinde gewesen.

    Maira arbeitete sich durch die Menge nach vorne. Die Leute machten ihr Platz, als sie sie kommen sahen. Die meisten Blicke waren freundlich, doch ein paar wirkten auch verärgert. Als nominelle Leiterin des Sicherheitsdienstes der Gemeinde war sie gezwungen gewesen, einige Entscheidungen zu treffen, die den Leuten sauer aufstießen. Manche wollten nicht, dass man ihnen sagte, was sie zu tun hatten, selbst wenn die Welt sich anfühlte, als ginge sie unter. Das und …

    Es waren Fehler gemacht worden. Schmerzhafte Fehler, die von allen einen Preis gefordert hatten. Maira vermied den Blickkontakt mit Kelly, einer Frau mittleren Alters in schmutziger Arbeitskleidung. Sie starrte Maira auf dem ganzen Weg durch den Raum kalt an.

    Jonah wartete am vorderen Ende des Saals vor der Menschenmenge auf sie. Er war ein vornehm wirkender schwarzer Mann Anfang sechzig, mit kurz geschnittenem Haar und grau meliertem Bart. Die Gemeinde hatte keinen eigentlichen Anführer – offiziell wurde alles auf Versammlungen wie dieser entschieden. Aber wenn Jonah sprach, hörten die Leute zu.

    Er streckte den Arm aus, als sie sich näherte, und sie begrüßten sich mit festem Händedruck.

    »Petty Officer«, sagte er mit stoischer Förmlichkeit.

    »Schon seit Jahren nicht mehr, Jonah«, erwiderte Maira.

    Jedes Mal, wenn sie sich trafen, hatten sie den gleichen Austausch. Jonah war der Meinung, dass es für die Gemeinschaft von Vorteil war, wenn man sich an ihren militärischen Hintergrund erinnerte. Dadurch würden sich die Bewohner sicherer fühlen, behauptete er. Maira hatte, gelinde gesagt, ihre Zweifel. Das Militär war schließlich nicht in der Lage gewesen, irgendjemanden zu schützen. Heutzutage mussten die Bürger selbst für sich sorgen und Milizen bilden, um ihre eigene Sicherheit zu gewährleisten.

    Jonah schenkte ihr ein kleines Lächeln und sie antwortete mit einem viel breiteren. Ungeachtet aller Meinungsverschiedenheiten mochte sie den Mann. Er war freundlich und gewissenhaft – seltene Eigenschaften in einer Welt, die mit jedem Tag härter wurde.

    »Sind Sie bereit dafür?«, fragte er mit leiser Stimme.

    Mairas Lächeln erstarb. »Wahrscheinlich nicht. Keiner mag schlechte Nachrichten.«

    »Keine Situation hat sich je verbessert, indem man sie ignoriert hat«, meinte Jonah. Maira schaute auf ihre Uhr. 7:59 Uhr. Sie nahm einen tiefen Atemzug. »Ja. Zeit, in den sauren Apfel zu beißen.«

    Jonah klopfte ihr beruhigend auf die Schulter und ging einige Schritte beiseite, um sich unter die Menge zu mischen.

    Maira drehte sich zu den Versammelten um und fixierte sie mit festem Blick. Sie hob die Stimme, um sich über das allgemeine Geschnatter Gehör zu verschaffen. »Guten Morgen, alle zusammen.«

    Eine Reihe von Antworten kam zurück. Die Leute unterbrachen ihre persönlichen Gespräche und drehten sich zu ihr um, um sie anzusehen. Maira wurde schnell zum Fokus von mehr als hundert Augenpaaren. Sie zauderte einen Moment lang. Öffentlich zu sprechen war noch nie ihre große Stärke gewesen. Sie beruhigte ihre Nerven, indem sie sich auf das Notwendige konzentrierte. In diesem Raum gab es viele besorgte Gesichter, und dafür gab es einen guten Grund.

    Maira beschloss, nicht um das Thema herumzureden. »Wie einige von Ihnen bereits wissen und andere vielleicht schon gehört haben, haben wir ein Versorgungsproblem.«

    »Geht uns das Essen aus?«, mischte sich ein Mann besorgt ein.

    Die Menge bewegte sich unruhig.

    »Meine Güte, lass sie ausreden«, sagte ein anderer.

    Maira hob eine Hand und das Gemurmel verstummte wieder. »Wir sind nicht in unmittelbarer Gefahr. Wir haben genug Vorräte für einen weiteren Monat eingelagert. Zwei, wenn wir sorgfältig rationieren.«

    »Warum gehen sie uns jetzt aus? Was ist mit den Sammlern?«, fragte Tiffany, eine braunhaarige Frau, die recht weit vorne stand.

    »Tja, das ist das Problem«, sagte Maira. »Wir haben die Umgebung so gut wie leer gefegt.«

    »Das ist unmöglich«, rief jemand aus dem hinteren Teil des Raums. »Wir sind nicht viele und all diese Läden …«

    Maira schüttelte den Kopf und unterbrach ihn. »Es ist schon Monate her, dass die Gesellschaft zusammengebrochen ist. Alles, was verderblich ist, ist schlecht geworden. Die gefrorenen Sachen sind aufgetaut und verrottet, weil es immer wieder Stromausfälle gab. Im Moment sind wir auf das angewiesen, was haltbar ist. Dosen, Trockenwaren und dergleichen, und davon gibt es nicht gerade riesige Lagerbestände.«

    »Was ist mit dem Gewächshaus?«

    Maira seufzte und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Mitglieder der Gemeinschaft hatten sehr hart daran gearbeitet, den größten Teil des Dachs in einen Garten umzuwandeln, um etwas anzupflanzen. Es war ein Herzensprojekt, das mit den besten Absichten durchgeführt wurde, und sie hasste es, diese Hoffnung mit der Realität zunichte zu machen.

    »Es hilft ein bisschen. Es könnte uns etwas zusätzliche Zeit verschaffen. Leider ist das nicht genug«, sagte sie.

    »Vielleicht sollten wir einige der umliegenden Gebäude übernehmen und auch deren Dächer umbauen …«

    »Nein.« Das Wort kam unverblümt heraus, schärfer, als sie beabsichtigt hatte. Maira runzelte die Stirn und senkte kurz den Blick, um nicht mit ansehen zu müssen, wie die Hoffnung aus ihren Gesichtern wich. »Wir bräuchten mehrere Hektar Ackerland, um diese Gemeinschaft zu ernähren. Jeder Versuch, unsere landwirtschaftlichen Bemühungen auf die umliegenden Gebiete auszudehnen, hat bisher nur weitere Angriffe auf uns nach sich gezogen. In diesem Gebäude leben einhundertachtzig Leute. Die Selbstversorgung funktioniert nicht und uns läuft die Zeit davon.«

    Diesmal herrschte eine Stille im Raum, die so eisig war, dass es schmerzte. Die Mienen waren grimmig. Ein Mann, der in Mairas Nähe stand, bewegte langsam den Kiefer, als ob er versuchte, diese Information buchstäblich herunterzuschlucken.

    »Was schlagen Sie also vor, Petty Officer?«, fragte Jonah.

    Maira warf ihm einen Blick zu, der sowohl Verärgerung als auch Dankbarkeit ausdrückte. »Es gibt Dinge, die wir tun können, um die Situation kurzfristig zu erleichtern. Das Vordringlichste ist, den Umkreis unserer Sammeltouren auszuweiten.«

    Leises Gemurmel erfüllte den Raum. Einige Leute sahen besorgt aus, aber die meisten verstanden die Konsequenzen ihres Vorschlags nicht. Maira biss sich auf die Unterlippe, unfähig zu entscheiden, ob das gut oder schlecht war.

    »Könnten wir uns das anhand einer Karte genauer ansehen?«, fragte Jonah ruhig.

    Diesmal war sie noch gereizter, als sie ihn ansah, aber sie unterdrückte das Gefühl. Er hat recht, dachte sie. Sie mussten es verstehen. Wenn sie damit einverstanden sein sollten, war Ehrlichkeit der Schlüssel.

    »Natürlich«, sagte sie.

    Sie zog eine Übersichtskarte an der gegenüberliegenden Wand herunter. Sie hatten sie vor ein paar Monaten in einem Regierungsbüro entdeckt. Darauf war die Umgebung mit nützlichen Details abgebildet. Maira tippte mit einem Finger auf die Karte.

    »Hier befinden wir uns.« Sie zeichnete mit dem Finger einen großen Kreis um diesen Punkt. »Bis jetzt haben wir uns darauf geeinigt, dass wir unsere Beutezüge auf dieses Areal einschränken.«

    Die Anwesenden nickten. Die meisten von ihnen verstanden die allgemeinen Details, auch wenn sie im Alltag nicht viel darauf achteten. Es waren schließlich nur kleine Gruppen, die sich auf den Weg machten, um Vorräte zu beschaffen. Die Fähigsten, die am besten ausgebildet waren. Diejenigen mit den größten Chancen, heil wieder nach Hause zu kommen.

    »Ich schlage vor, dass wir diesen Ring erweitern. Damit würden wir das Gebiet, in dem wir sammeln, beinahe vervierfachen, und wenn unsere Schätzungen richtig sind, gewinnen wir dadurch wesentlich mehr Zeit.«

    Wieder ging ein Raunen durch die Menge. Niemand

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