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Bildteppich Eines Lebens: Erzählungen Meiner Mutter, Fragmente Und Schweigen
Bildteppich Eines Lebens: Erzählungen Meiner Mutter, Fragmente Und Schweigen
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Bildteppich Eines Lebens: Erzählungen Meiner Mutter, Fragmente Und Schweigen

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About this ebook

Bildteppich Eines Lebens: Erzählungen Meiner Mutter, Fragmente Und Schweigen ist ein biografischer Bericht über eine Frau, die im Deutschland der 1930er Jahre erwachsen wird. Malve von Hassell erforscht das Leben ihrer Mutter durch die fragmentierte Linse der überlieferten Erinnerung und deren Auswirkungen auf die zweite Generation.


1923 im Haus ihres Großvaters in Hinterpommern auf die Welt gekommen, musste sich Christa von Hassell mit dem zunehmenden und allgegenwärtigen Einfluss des Nazi-Regimes auseinandersetzen. Als Kind eines deutschen Armeeoffiziers zog sie mit ihren Eltern oft um. Über Internat, Universität, Heirat, den Zweiten Weltkrieg, das Leben unter sowjetischer Besatzung und einen Neuanfang im Westen, schließlich in Amerika, ist die Biografie eine unglaubliche, emotionale Reise über Kindheit, Überleben und Beziehungen.


Die Darstellung von Christas Leben konzentriert sich auch auf die Rolle der Erinnerung: geformt, verzerrt und neu ausgerichtet im ständigen Prozess des Erzählens von Geschichten aus der Vergangenheit in Verbindung mit dem Schweigen über viele Aspekte. Kinder von Frauen, die ähnliche Erfahrungen und Lebenswege geteilt haben, standen vor der Herausforderung, etwas über das Leben ihrer Eltern in außergewöhnlichen Zeiten zu erfahren, verwirrt durch eine Fülle von Geschichten auf der einen Seite und einen scheinbar undurchdringlichen Schleier des Schweigens auf der anderen.


Die Aufarbeitung solcher Erinnerungsstücke sowie der Erzählungen der Vergangenheit kann Wege aufzeigen, wie man sich mit dem ererbten Gedanken- und Erinnerungsschutt auseinandersetzen kann. Dieser Bericht über das Leben eines einzigartigen und komplexen Individuums ist auch insofern von allgemeiner Bedeutung, als er uralte Fragen der Beziehung zwischen einer Generation und der nächsten anspricht.

LanguageDeutsch
PublisherNext Chapter
Release dateNov 29, 2022
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    Bildteppich Eines Lebens - Malve von Hassell

    1

    EINE REISE INS GEDÄCHTNIS

    Christa verbrachte die ersten Stunden ihres Lebens in einer Schublade.

    In meiner Vorstellungswelt war diese Schublade mit Zeitungspapier ausgelegt und roch nach getrockneten Lavendelblüten. Es war die oberste Schublade einer Kommode im Haus ihres Großvaters, dessen Leinentaschentücher eilig herausgenommen wurden, um Platz für das Baby zu machen.

    Christa kam im Haus ihres Großvaters mütterlicherseits, Friedrich Karl von Zitzewitz in Muttrin, Pommern, auf die Welt. Ihre Eltern Erika und Bogislav von Studnitz wohnten dort zwischen den militärischen Einsätzen von Christas Vater.

    Am Tag von Christas Geburt, dem 21. Dezember 1923, herrschte ein Schneesturm. Als Erikas Wehen einsetzten, schickte mein Großvater Chauffeur Reimann los, um den Arzt zu holen. Aus unbekannten Gründen beschloss der Chauffeur, nach Stolp, der etwa 25 Kilometer entfernten Kreisstadt, zu fahren, anstatt in einem nahe gelegenen Dorf einen Arzt ausfindig zu machen. Auf dem Weg dorthin blieb er prompt im Schnee stecken. Er stapfte zurück zum Haus. Nach einer eiligen Besprechung zwischen Bogislav und meinem Urgroßvater wurde August, der Kutscher, angewiesen, die Pferde anzuspannen und zum nächstgelegenen Dorfarzt zu fahren. Genau wie Chauffeur Reimann blieb auch August im Schnee stecken.

    In der Zwischenzeit war der Strom ausgefallen, wie so oft bei einem Gewitter oder Schneesturm. Christas Vater musste der Hebamme mit einer schwachen Öllampe beistehen und nachdem Christa endlich erschienen war, verlor Erika das Bewusstsein. Vielleicht war ihr Blutdruck gesunken, nachdem sie zu viel Blut verloren hatte. In der allgemeinen Panik wickelten sie Christa in Zeitungspapier ein und legten sie in die Schublade. Als die Panik nachließ und sie sich an das Baby erinnerten, fanden sie es zufrieden und ruhig in seiner Schublade.

    Wenn ich auf das Leben meiner Mutter zurückblicke, schien dies ein passender und vielsagender Anfang zu sein. Christa hatte eine erstaunliche Fähigkeit, sich anzupassen. Wenn die Umstände es erforderten, war sie gefügig. Wenn sie frei war, zu handeln, handelte sie. Wenn sie die Kontrolle ergreifen konnte, ergriff sie diese. Wenn ihr die Kontrolle unwiderruflich entzogen wurde, schuf sie sich innerhalb der Grenzen, die das Leben vorgab, einen Raum.

    Dieser dramatische Auftritt hat mir nicht geschadet, sagte Christa lachend, als sie den Tag ihrer Geburt beschrieb.

    Muttrin, ein Gut in Pommern, war vom 13. Jahrhundert bis 1945 im Besitz von Christas Familie mütterlicherseits. Es umfasste zehn abgelegene Zweigbetriebe. Der Haupterwerbszweig war der Anbau von Saatkartoffeln. Zu Muttrin und den verschiedenen Zweigbetrieben gehörten dreißig landwirtschaftliche Betriebe, die sich über etwa 2253 Hektar verteilten. Während es in der Region einige Bauernhöfe gab, gehörte der Großteil des Landes der Familie Zitzewitz sowie zwei weiteren Familien, Puttkamer und von der Marwitz.

    Im Jahr 1939 zählte das Dorf Muttrin 748 Einwohner und verfügte über fünfundachtzig Wohnhäuser für die Arbeiter. Es gab eine Bäckerei, ein Bauunternehmen, eine Brennerei, einen Kartoffeltrocknungsbetrieb, ein Gasthaus, einen Kartoffelgroßhandel, ein Kaufhaus, einen Saatgutproduktionsbetrieb, eine Sattlerei, eine Schneiderei, einen Schuster, einen Tischler und einen Viehhändler. Muttrin war im Wesentlichen selbstversorgend; fast alles, was benötigt wurde, wurde auf dem Gut produziert.

    Dazu gehörte auch Leinen. Noch heute besitze ich Servietten, Tischtücher und Kissenbezüge aus Muttrin, wo der Flachs dafür angebaut, gesponnen und gewebt wurde. Sie sind mit roten Monogrammen und mit Nummern gekennzeichnet, z. B. Nr. 9 aus einem Set von sechsunddreißig. Die Zimmer waren nummeriert, um den Mädchen das Sortieren der Laken und Handtücher der jeweiligen Zimmer zu erleichtern.

    Es gab nur selten die Notwendigkeit, etwas von außerhalb des Gutes zu kaufen. Gelegentlich fuhr Christas Großvater nach Stolp. Christa behauptete, dass dies nur einmal im Jahr geschah. Wenn er zurückkam, wurden die Kinder in sein Arbeitszimmer gerufen und er überreichte jedem Kind ein einzelnes gestreiftes Pfefferminzbonbon.

    Muttrin war ein typisches Landgut in Pommern. Doch im Gegensatz zu vielen anderen Gütern hat es die Weltwirtschaftskrise gut überstanden. Mit Beharrlichkeit und harter Arbeit machte Christas Großvater Muttrin zu einem der modernsten und einträglichsten Landgüter in ganz Pommern. Er initiierte viele Neuerungen und Verbesserungen, darunter eine bessere Wasserversorgung im ganzen Dorf, ein Telefonnetz, das alle Ortsteile miteinander verband, und den Bau der Eisenbahnlinie (Stolpetalbahn) von Stolp über Rathsdamnitz, Jamrin und Muttrin nach Budow. Sie wurde zwischen 1894 und 1906 gebaut und existierte bis 1945. Dadurch erhielt Muttrin drei Verladestationen in Muttrin, Nimzewe und Jamrin. Während der Amtszeit meines Urgroßvaters entstanden neue Ställe, Scheunen, Fabrikanlagen und Wohnungen sowie ein Gemeinschaftshaus und ein Jugendzentrum. Muttrin war bekannt für gute Beziehungen zu den benachbarten Bauern und genoss den Ruf eines vorbildlichen landwirtschaftlichen Betriebes.

    Sein Sohn, Friedrich von Zitzewitz, der letzte Besitzer von Muttrin, setzte diese Arbeit fort. Er veranlasste den Bau weiterer Wohnungen mit fließendem Wasser und den Ausbau des Stromnetzes. Wasser und Strom wurden für alle auf dem Gut tätigen Personen kostenlos zur Verfügung gestellt. Er verbesserte die Straßen und baute das Telefonnetz aus, sodass er den gesamten Betrieb effizient von einer zentralen Stelle aus leiten konnte.

    Christa und ihr Bruder Hans-Melchior verbrachten mehrere Jahre ihrer Kindheit in Muttrin und besuchten sogar eine Zeit lang die Dorfschule. Bis in die letzten Kriegsjahre kehrte sie regelmäßig in den Ferien nach Muttrin zurück. Nach den Beschreibungen meiner Mutter hatte ich den Eindruck, dass unbegrenzt Platz für all die Tanten, Onkel, Vettern und Kusinen und andere Gäste, die vor allem in den Sommermonaten nach Muttrin kamen, vorhanden war.

    Jahrelang hatte meine Mutter mit ihren leidenschaftlichen Worten und ihren leuchtenden Augen ein Bild für uns gemalt. In meiner Erinnerung verschiebt sich der Mittelpunkt, als wäre er im wackeligen Kreis eines Suchscheinwerfers gefangen. Der Lichtkegel gleitet über das Kopfsteinpflaster des großen Hofes vor dem Herrenhaus, an den roten Backsteinfassaden der Ställe und der Molkerei vorbei, entlang der Mauer, die den Park umschließt, bis zur Fassade des Hauses, wo er kurz auf der gelben Tapete im Salon ruht. Er schwebt über den Türen zum Wintergarten und streift die Öffnung, die zu den Zimmern meiner Urgroßmutter führte, aus denen das kurze, scharfe Bellen ihrer schneeweißen Spitze dringt.

    Das Licht dreht sich, schleicht durch den Park über die Wipfel der Buchen, vorbei am Obstgarten und über den Hügel des Eiskellers und kehrt zum Eingang des Kellers zurück, wo sich die große Küche befindet. Der Kegel fängt den zitternden Schatten des Gespenstes Zickelbart ein, bevor er verschwindet und das Licht erlöscht.

    Christas Beschreibungen waren so anschaulich, dass es mir vorkam, als würde ich neben ihr hergehen, wenn sie von draußen hereinkam. Einer ihrer Lieblingsorte war die für pommersche Gutshäuser typische Garderobe neben dem Eingang. Sie umfasste eine ganze Welt der Jagd, der Pferde und der Hunde und roch nach Leder, alten Lodenmänteln, Waffenöl, Rauch und Sattelseife. Es fiel mir nicht schwer, mir Christa als kleines Mädchen vorzustellen, wie sie in die Garderobe spähte und die vertrauten Gerüche einsog.

    Das Haupthaus hatte zwei Pole, das Büro von Christas Großvater und das Boudoir ihrer Großmutter.

    Christa saß gerne auf einem kleinen Lederhocker im Büro ihres Großvaters, betrachtete die Lithografien berühmter Pferde von Franz Krüger über dem Schreibtisch und hörte ihrem Großvater zu, wenn er abends mit den verschiedenen Betriebsleitern telefonierte. Christas Lieblingsmoment war, wenn sich die strenge Stimme ihres Großvaters milderte. Das bedeutete, dass er mit Hermann, dem vertrauenswürdigsten der Betriebsleiter, auf dem Nebenbetrieb Nimzewe sprach.

    Der andere Pol war das Reich von Christas Großmutter. Während des Schuljahres, wenn keine anderen Besucher im Haus waren und nachdem Christa und ihr Bruder ihre Hausaufgaben gemacht hatten, saßen sie mit ihrer Großmutter in deren Boudoir am großen Tisch.

    Emmy von Zitzewitz, né Blank, hat immer gearbeitet. Nie waren ihre Hände müßig. Sie nähte oder strickte und unterrichtete Christa in diesen Künsten. Christa strickte, während ihr Bruder Hans-Melchior bastelte, klebte und malte. Die Kinder aßen Äpfel und die Großmutter erzählte ihnen Geschichten aus ihrer Kindheit, Legenden, Märchen und vor allem Gruselgeschichten, die teils erfunden waren, teils auf wahren Begebenheiten beruhten.

    Christa meinte, dass in diesen Zeiten die sonst zurückhaltende Persönlichkeit ihrer Großmutter zum Vorschein kam – sie war entspannt, lustig und voller Fantasie. Zu anderen Zeiten verstand sie ihre Rolle als jemand, der hinter ihrem imposanten Mann zurücktrat. Mit unendlicher Geduld ertrug sie ein ganzes Heer von Tanten, die sich in den Sommermonaten auf Muttrin stürzten und es genossen, sie mit ihrer Kritik in Stücke zu reißen. Ihre ruhige Antwort war immer: Das ist ihr Haus, während sie sich unermüdlich um alle im Haus und darüber hinaus kümmerte.

    In der Zwischenzeit gab es einen weiteren Bereich, um den sich das Leben drehte, nämlich die Küche unter der strengen Regie von Mamsell Hübner.

    Mamsell leitet sich vom französischen Wort Mademoiselle ab, wurde aber auch für verheiratete Damen als eine Form des Respekts verwendet. Und Mamsell Hübner war als mächtige und unantastbare Herrscherin ihres Reiches eine imposante Erscheinung. Aus dem Gleichgewicht gebracht wurde sie nur durch die periodische Geistererscheinung von Zickelbart. Bei solchen Gelegenheiten befand sich Mamsell Hübner tagelang in einem Zustand äußerster Bedrängnis, der sich auf alles in ihrem Einflussbereich auswirkte. Gerichte verbrannten, Milch wurde sauer und die berühmte Vier-Männer-Wurst – warum sie diesen einprägsamen Namen trug, konnte meine Mutter nie herausfinden – wurde bis zur Ungenießbarkeit versalzen. Wenn die Kinder auf der Suche nach Nachschlag in Form von Brot und Käse auftauchten, wurden sie mit leeren Händen weggeschickt. Die Küchenmädchen schlichen an ihr vorbei, aus Angst, angebrüllt zu werden, und selbst meine Urgroßmutter machte einen großen Bogen um Mamsell Hübner. Schließlich ging die Krise vorbei und das Haus kehrte zur Normalität zurück.

    Meine Lieblingsgeschichten betrafen das Essen, das Christa in köstlichen Details beschrieb. Ich weiß nicht, was mir beim Zuhören wichtiger war – das Essen, verlockend, geheimnisvoll und erschreckend zugleich, oder die offensichtliche Freude meiner Mutter. Es gab Schmalz, diese besondere deutsche kulinarische Spezialität aus ausgelassenem Gänsefett, das man erstarren ließ, bis es eine feste gräuliche Masse war. Man aß es als Aufstrich auf Brot oder Toast, am liebsten mit einer Prise Salz. Es gab Gänsezungen mit Apfelmus – offenbar eine pommersche Delikatesse. Christa schwärmte von etwas, das den vielsagenden Namen Floom trug und aus groben Gänseschmalz bestand, mit klein geschnittenem Gänsefleisch vermischt und mit Majoran gewürzt. Sie bestand darauf, dass der Ofen in der Küche das beste Brot auf der ganzen Welt herstellte – warm und duftend, mit einer Kruste, die immer leicht angebrannt war. Christa und die anderen Kinder in Muttrin besuchten regelmäßig die Küche und plünderten die Speisekammer, um sich großzügig mit Brot, Käse und Schmalz zu bedienen.

    Christa und ihr Bruder waren mit der Tochter des Kutschers August Schallock bzw. dem Sohn des Dieners Friedrich befreundet, die sich ein Haus in Gehweite des Gutes teilten. August wohnte auf der einen Seite und Friedrich auf der anderen. Wenn sie Mutter Schallock, die Frau von August, besuchte, liebte Christa es, in den scheinbar bodenlosen Eisentopf auf dem Herd zu schauen, in dem Stampfkartoffeln zubereitet wurden. Sehnsüchtig starrte sie auf die große, grüne Glasflasche auf dem Tresen, die mit sanft gärendem Johannisbeerwein gefüllt war. Die Kinder durften ihn nicht trinken und liebten ihn deshalb umso mehr.

    Mutter Schallock war immer besorgt, dass die Kinder vom Schloss nicht genug zu essen bekämen – ein Irrtum, den die Kinder ohne zu zögern ausnutzten. Aus lauter Herzensgüte bereitete sie Pfannkuchen zu; trotz des gerade verzehrten Nachmittagstees und Kuchens zu Hause, benahmen die Kinder sich, als ob sie am Hungertuch nagten. Christa trug zu dem Festmahl bei, indem sie Eier aus dem Hühnerstall ihrer Großmutter stibitzte. Der Hofverwalter hat sie mehrmals dabei erwischt, aber nie verraten.

    Als Kind Pommerns, vor allem als Kind, das auf einem der größten Saatkartoffelbetriebe der Region aufwuchs, liebte Christa Kartoffeln – gekocht, mit Öl und Salz gebacken, im Feuer geröstet, gebraten und gestampft. Frisch geerntete Kartoffeln im Spätsommer waren für sie ein kulinarisches Paradies. Doch zu ihrem ewigen Zorn wurden in Muttrin die frischen Kartoffeln eingelagert. Die alten mussten zuerst gegessen werden.

    Diese Sparsamkeit erstreckte sich auf alles. Verschwendung wurde nicht toleriert und die Kinder aßen, was auf den Tisch kam. Protzen und Angeben waren verpönt. Frauen, die zu viel Schmuck trugen, wurden als mit fetten Steinen geschmückt oder als Bling Damen verspottet. Von Christa und ihren Kusinen wurde erwartet, dass sie mit dem auskamen, was sie hatten.

    Zur Mittagsmahlzeit versammelten sich alle Hausbewohner um die lange Tafel und warteten auf den Hausherrn. Als seine Schritte im Eingang zu hören waren, stürmte Diener Friedrich in den Speisesaal. Aufgeregt, als würde er die Wiederkunft ankündigen, rief er: "Herr Rittmeister, Herr Rittmeister. Als Regimentskamerad von Friedrich Karl von Zitzewitz während des I. Weltkrieges benützte Diener Friedrich grundsätzlich seinen militärischen Titel. Nachdem er Platz genommen hatte, begann Christas Großvater seine übliche Befragung. Hatte Emmy daran gedacht, ein Päckchen Gänsepastete an Kusine Berta zu schicken? Hatte sie geräucherte Fasane an Erika geschickt? Hatte sie eine Rehkeule an Vera geschickt? Auf diese Weise ging er eine lange Liste durch, streng und unerbittlich. Schließlich änderte sich seine ganze Haltung, als er sich nach seinem Enkel, Christas Bruder Hans-Melchior, umsah und fragte: Und wie geht es meinem kleinen Bübchen? Was hast du heute gemacht?"

    Meiner Mutter zufolge war das kleine Bübchen ein Lausbub, dessen Erfindungskraft für Unfug keine Grenzen gesetzt waren. Christa liebte ihren Bruder über alles und jeden und es kam ihr nie in den Sinn, an dem Arrangement zu zweifeln, demnach sie, die zwei Jahre Jüngere, grundsätzlich die Schuld bekam, wenn ihr Bruder etwas angestellt hatte. Sie erzählte mir später, dass sie immer das Bedürfnis hatte, Hans-Melchior zu beschützen, als hätte sie eine Vorahnung gehabt, dass sein Leben zu früh enden würde. Er fiel im Alter von zweiundzwanzig Jahren.

    Das Leben drehte sich um den landwirtschaftlichen Zyklus und die Festtagstraditionen.

    Ich konnte nie genug bekommen von Christas Beschreibungen der Traditionen, die in der Weihnachtszeit gepflegt wurden. Drei große Tannenbäume waren im Salon aufgestellt und mit weißen Kerzen geschmückt. Ein paar schlichte Ornamente belebten dieses schlichte Arrangement. Sie wurden hinzugefügt, um die Kinder zu trösten, die den farbenfreudigeren Baumschmuck der Dorfbewohner bevorzugten. Der Salon war für die Kinder bis Heiligabend gesperrt.

    Von noch größerem Interesse war für mich eine Tradition, die Christa "finsteln" nannte. Dieses Wort taucht in keinem Wörterbuch auf; die Wurzel des Wortes deutet auf etwas Dunkles und Düsteres. Ihrer Erzählung nach ging es darum, dass alle Mitglieder des großen Haushalts im Dunkeln um einen großen Tisch saßen und Gegenstände unter dem Tisch weiterreichten. Christa sagte, dass es nichts Beängstigenderes gab, als einen mit nassem Sand gefüllten Handschuh anzufassen, wenn man ihn nicht sehen konnte. Meine Großmutter war besonders erfinderisch, wenn es darum ging, eklige und gruselige Dinge zu erfinden, die im Dunkeln von einer Hand zur nächsten wanderten.

    Am Morgen von Heiligabend fuhren die Kinder Geschenke aus. Normalerweise lag so viel Schnee auf den Straßen, dass August, der Kutscher, mit einem Schlitten fahren konnte, an dessen Pferdegeschirr Glocken befestigt waren. Alle waren in dicke Felldecken gehüllt. Die Kutsche rollte durch die Straßen und hielt an allen Nebenhöfen, wo die Kinder Geschenke verteilten und Kekse aßen, während August reichlich Schnaps trank. Das wiederum trug dazu bei, dass der Schlitten auf seinem Weg zurück nach Muttrin immer schneller dahinsauste.

    In der Silvesternacht wurde ein altes Ritual vollzogen. Es sollte für Gesundheit, Wohlstand und Fruchtbarkeit im neuen Jahr sorgen. Es handelte sich um den sogenannten Neujahrsschimmel. Vier junge Männer aus dem Dorf suchten das Herrenhaus heim, verkleidet als Pferd, Bär, Frau und Storch. Sie trugen Ruten, mit denen sie eifrig um sich hauten. Ihre Ankunft wurde von kreischenden Küchenmädchen angekündigt, die die Treppe aus der Küche hinauf huschten, um einer Verfolgung zu entgehen. Die vier zogen durch das Dorf und erhielten Geld und Schnaps für ihre Bemühungen.

    Christa liebte es, die Streiche zu beschreiben, die die Kinder den ahnungslosen Besuchern zugefügt hatten. Diese Tätigkeit hatte sich zu einer Art Mannschaftssport entwickelt, der von den teilnehmenden Erwachsenen, darunter meine Großmutter, mit großem Vergnügen betrieben wurde. Einige davon sind mir vertraut; so habe ich meinen Brüdern gelegentlich geholfen, die Beine der Schlafanzüge eines Gastes zusammenzunähen, und ich habe fasziniert beobachtet, wie sie ein Glas Wasser auf dem Türrahmen balancierten, damit es sich im richtigen Moment auf den eintretenden Gast entleerte. Andere Streiche waren mir neu, wie die Idee, Sand auf das Bettlaken zu streuen oder ein Stück stinkenden Käse unter die Matratze zu legen. Ein beliebter Streich war, Brausepulver in den Nachttopf zu streuen – in einem Fall führte dies zu einer Panikattacke des betreffenden Gastes, der um seinen Gesundheitszustand fürchtete, als er sich morgens erleichterte und sah, wie der Inhalt anfing zu schäumen und sich hellgrün färbte. Die Beschaffung eines Hahnes und seine Unterbringung im Kleiderschrank eines Gastes, damit er sich dort zu früher Stunde bemerkbar machen konnte, schien ans Fantastische zu grenzen, aber Christa schwor, dass sie und ihre Komplizen dies getan hatten.

    Mit boshaftem Vergnügen schilderte Christa die Reaktion ihrer Muttriner Verwandten, als sie den Brief einer älteren Tante las, in dem sie ihre Verlobung und die Ankunft ihres Verlobten ankündigte. Ihre Ermahnung: Seid lieb zu Adolf, verbunden mit dem Namen, den der durchaus liebenswürdige Verlobte ohne sein Verschulden erhalten hatte, löste bei den Empfängern hemmungsloses Amüsement aus. Christa liebte es auch, uns mit den Namen der Kinder einer anderen Tante zu unterhalten – Iris, Isis und

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