Discover millions of ebooks, audiobooks, and so much more with a free trial

Only $11.99/month after trial. Cancel anytime.

IM GARTEN DER EWIGKEIT: Das Werk des Hubert Katzmarz: Texte und Fragmente
IM GARTEN DER EWIGKEIT: Das Werk des Hubert Katzmarz: Texte und Fragmente
IM GARTEN DER EWIGKEIT: Das Werk des Hubert Katzmarz: Texte und Fragmente
Ebook481 pages6 hours

IM GARTEN DER EWIGKEIT: Das Werk des Hubert Katzmarz: Texte und Fragmente

Rating: 0 out of 5 stars

()

Read preview

About this ebook

»Was die Artefakte dort unten auch immer darstellen mögen, es handelt sich bei ihnen n i c h t um Gärten und um antike Bauwerke! Dies sind menschliche Begriffe, die wir auch deshalb nehmen, weil uns keine anderen zur Verfügung stehen. Eine gewisse Ähnlichkeit ist vorhanden, zweifellos, doch wir können nicht wissen, was das alles für sie zu bedeuten hat. Darum sollten wir uns hüten, aus unseren Hilfsbegriffen die vertrauten Schlußfolgerungen zu ziehen!« (Hubert Katzmarz, Im Garten der Ewigkeit)

Science-Fiction und Fantastik stehen im Mittelpunkt der Geschichten von Hubert Katzmarz, der auch unter dem Pseudonym Bertram Kuzzath veröffentlichte. Die Erzählungen des 2003 verstorbenen Schriftstellers sind unheimlich, manchmal grausam oder kurios und spiegeln dessen fast surreale Welt wider, die den Leser schnell gefangen nimmt. 1987 gründete Katzmarz einen Verlag, in dem er Kriminalromane, Science-Fiction und Literatur aus dem Bereich der Fantastik veröffentlichte, u. a. in der Zeitschrift daedalos. »daedalos – der vhk Story Reader für Phantastik« etablierte sich rasch als angesehenes Magazin für die zeitgenössische fantastische Geschichte, hat heute Kultcharakter und ist 2022 mit der Nr. 13 und den Herausgebern Michael Siefener, Ellen Norten und Andreas Fieberg wieder aufgelebt.
Hubert Katzmarz setzte als Schriftsteller und Kleinverleger, weit über seinen Tod hinaus, Zeichen und Maßstäbe. Als Autor ließ er sich schwer zuordnen, da seine Werke eine große Bandbreite zeigen. Als Verleger und Herausgeber widmete er sich schwerpunktmäßig der Fantastik und der Science-Fiction, letztere hatte ihn bereits als Kind und Jugendlichen stark fasziniert.
Beim Schreiben, wie beim Veröffentlichen ging es ihm immer um die Sache. Gute Literatur sollte aus seiner Sicht unsterblich gemacht werden und nicht zuletzt damit auch den Autor vor dem Vergessen bewahren. Diese Werkausgabe, die zu seinem 70. Geburtstag erscheint, soll diesem Anliegen dienen.
LanguageDeutsch
Publisherp.machinery
Release dateDec 2, 2022
ISBN9783957657978
IM GARTEN DER EWIGKEIT: Das Werk des Hubert Katzmarz: Texte und Fragmente

Read more from Hubert Katzmarz

Related to IM GARTEN DER EWIGKEIT

Related ebooks

Fantasy For You

View More

Related articles

Reviews for IM GARTEN DER EWIGKEIT

Rating: 0 out of 5 stars
0 ratings

0 ratings0 reviews

What did you think?

Tap to rate

Review must be at least 10 words

    Book preview

    IM GARTEN DER EWIGKEIT - Hubert Katzmarz

    Das Werk des Hubert Katzmarz: Texte und Fragmente

    herausgegeben von Ellen Norten

    Außer der Reihe 75

    IM GARTEN DER EWIGKEIT

    Das Werk des Hubert Katzmarz: Texte und Fragmente

    herausgegeben von Ellen Norten

    Außer der Reihe 75

    Die Texte in diesem Buch werden in der alten Rechtschreibung aus der Zeit vor 1996 veröffentlicht. Es wäre der Wunsch des Autors gewesen.

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © dieser Ausgabe: 3. November 2022

    p.machinery Michael Haitel

    Titelbild: Thomas Hofmann

    Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

    Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

    Herstellung: global:epropaganda

    Verlag: p.machinery Michael Haitel

    Norderweg 31, 25887 Winnert

    www.pmachinery.de

    ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 308 6

    ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 797 8

    Vorwort

    Hubert Katzmarz setzte als Schriftsteller und Kleinverleger weit über seinen Tod hinaus Zeichen und Maßstäbe. Dabei richtete er an seine Autoren die gleichen hohen Ansprüche wie an sich selbst. Als Schriftsteller ließ er sich schwer zuordnen, da seine Werke eine große Bandbreite zeigen.

    Als Verleger und Herausgeber widmete er sich schwerpunktmäßig der Phantastik und der Science-Fiction, letztere hatte ihn bereits als Kind und Jugendlichen stark fasziniert.

    Neben seinen eigenen phantastischen Erzählungen schuf er mit daedalos. Story-Reader für Phantastik ein richtungsweisendes Periodikum. Zusammen mit Michael Siefener, später auch mit Andreas Fieberg, brachte er bis 2002 dreizehn Ausgaben (inklusive einer Nullnummer) heraus. Zwanzig Jahre danach folgt nun daedalos Nr. 13, fortgesetzt von seinen beiden Mitstreitern und mir, seiner Ehefrau, die Konzept und Ideen hinter daedalos genauestens kannte. Und es werden weitere Ausgaben folgen, denn das Interesse an daedalos ist groß.

    Hubert Katzmarz’ Vermächtnis lebt noch in einem weiteren Projekt weiter. »Willkommen in Bleiwenheim«, die Geschichte, an der er noch an seinem Todestag im Oktober 2003 arbeitete, ist heute Ausgangspunkt für eine gleichnamige Anthologie. Weggefährten, aber auch neue Phantasten, die Hubert nicht mehr persönlich kannten, haben dem Ort Bleiwenheim nachgespürt und ihn als Schauplatz für ihre Storys gewählt. Da die Anthologie gleichzeitig mit diesem Buch im selben Verlag ins Programm kommt, habe ich darauf verzichtet, dieses wichtige Fragment in den vorliegenden Band aufzunehmen. Und noch ein weiteres Werk hat einen eigenen Platz gefunden. Die Novelle »Ein Meisterwerk der Weltliteratur. Die Geschichte einer Geschichte« flankiert das gleichnamige Romanfragment, das – herausgegeben von Andreas Fieberg – ebenfalls in diesem Jahr in der p.machinery erscheint. Hier reihen sich also drei Bände aneinander, die in engem thematischem Zusammenhang stehen, aber auch einzeln gelesen werden können.

    Was zeichnet nun diesen Werkband gegenüber dem zweibändigen Gesamtwerk aus, das 2012 von mir zusammengestellt wurde? Als ich zu Huberts 60. Geburtstag seine Manuskripte auswertete, stieß ich dabei auf einige sehr frühe Werke und eine Reihe von Fragmenten. Die Fragmente liefern, jedes in seiner Art, ihren eigenen Reiz, und so habe ich einige von ihnen in die damalige Gesamtausgabe aufgenommen. Andere beließ ich »in der Schublade«, denn mir schien, dass der Anteil der Fragmente in den beiden Bänden nicht zu raumgreifend sein sollte. So blieben zwei Manuskripte bis heute unveröffentlicht, »Im Garten der Ewigkeit« und »Hinter verschlossenen Türen«. Andere Texte waren von Hubert Katzmarz nicht oder nicht mehr für eine Veröffentlichung geplant. Das gilt für seine Gedichte, die in einer sehr frühen Schaffensperiode um 1970 entstanden und in Originalmanuskripten, zum Teil handschriftlich, aufbewahrt blieben. Die Gedichte, wie auch einige sehr frühe Werke, habe ich nicht in den vorliegenden Band übernommen. Mir war es wichtig, ein Buch zu schaffen, dass den hohen Anspruch und das künstlerische Schaffen von Hubert Katzmarz widerspiegelt. Einige seiner Texte schrieb er unter dem Pseudonym Bertram Kuzzath, ein weiteres Anagramm seines Namens ist Zamburt Zarthek, den er für sein Romanfragment verwendete.

    Ich habe die Texte verschiedenen Themenfeldern zugeordnet. Da sind die reine Science-Fiction und die Phantastik, denen seine Leidenschaft gehörte. Dann Texte, die ich seinem Sarkasmus zugeschrieben habe. Hier spiegelt sich eine gewisse Absurdität und Frustration, aber auch sein Umgang mit den Alltäglichkeiten des (Verleger-) Seins wider, die er in Ironie und Polemik verpackte. Zielscheibe waren für ihn der Literaturbetrieb und dessen selbsternannte Kritiker, was sich u. a. in den humorösen Stücken »Radio«, »Diptychon« und nicht zuletzt in »Das größte anzunehmende Arschloch« Luft macht. Die Reflexionen sind seiner frühen Schaffensperiode zuzuordnen und wurden zum großen Teil bereits zu seinen Lebzeiten veröffentlicht. Zu den gesellschaftskritischen Texten, die einen starken politischen Bezug haben, gehört »Der Steckbrief«, der in den Siebzigerjahren unter dem Eindruck des RAF-Terrorismus geschrieben wurde und heute als Zeitdokument anzusehen ist. Einen klaren Zeitbezug hat auch »Eine kleine menschliche Geste«, die 1992 während der Diskussion um das Erlanger Baby entstand – eine Geschichte, die den Gedanken der toten Kindsmutter als Gebärmaschine ausreizt, dabei aber bis heute nichts an Aktualität verloren hat. Komplett verweigert hat sich Hubert Katzmarz der Rechtschreibreform von 1996. Ausdrücklich hat er verfügt, dass schon aus diesem Grund in seinen Werken nichts, auch kein Punkt oder Komma geändert werden dürfe. Daran habe ich mich stets gehalten.

    Literatur und das Schreiben schlechthin war die Triebfeder in seinem Leben. So entstand seine erste Geschichte bereits im Alter von fünf Jahren, nachdem er bei seiner Schwester das Schreiben abgeguckt hatte. Zwar hat er diese Parabel später überarbeitet, doch zeigt »Die Geschichte vom fliegenden Fisch« schon in ihrer Erstfassung eine tieftraurige Note. Diese Düsternis war u. a. durch seine chronische Erkrankung bedingt.

    Hubert Katzmarz litt seit seinem vierten Lebensjahr an Epilepsie. Grund war eine zu spät behandelte gefährliche Mittelohrentzündung. Die daraus resultierende Krankheit wurde von den Eltern dem Kind gegenüber verschwiegen. Die Diagnose erhielt Hubert Katzmarz erst 40 Jahre später im Krankenhaus, als der Epilepsieherd zu einer lebensbedrohenden Gehirnblutung führte. Mit »Im Wahnsinn« setzt Hubert Katzmarz 1973 einen schweren epileptischen Anfall literarisch um, ohne sich dessen bewusst zu sein. Doch auch wenn die Krankheit ihm schwer zu schaffen machte, seine Konzentration immer wieder blockierte, so eröffnete sie ihm auch spezielle Blickwinkel, die vom Alltag stark abweichen. Diese besondere Kreativität, hervorgerufen durch eine schwere Krankheit, ist auch von anderen Künstlern bekannt. Prominentes Beispiel ist der Maler Vincent van Gogh, der wohl an einer vergleichbaren Symptomatik litt. Seine Bilder der schwarzen Krähen auf den sommerlichen Kornfeldern bei Arles, die er wenige Tage vor seinem Tod malte, erzählen ein ähnliches Grauen, wie Hubert Katzmarz dies mit Worten in verschiedenen seiner Geschichten ausdrückt.

    Beim Schreiben, wie beim Veröffentlichen ging es ihm immer um die Sache. Gute Literatur sollte aus seiner Sicht unsterblich gemacht werden und nicht zuletzt damit auch den Autor vor dem Vergessen bewahren – die Projekte, die zu seinem 70. Geburtstag erscheinen, sollen diesem Anliegen dienen.

    Ellen Norten

    im Sommer 2022

    Science-Fiction

    Ellen Norten

    Begleittext zu ›Im Garten der Ewigkeit‹

    Der Disput zwischen dem Raumschiffkommandanten der Circe Isabella Bernstein (Hubert Katzmarz hat hier, obwohl es sich um eine Frau handelt, auf die männliche Formulierung Wert gelegt) und dem Bordpsychologen Prof. Richard Klug enthüllt in seiner Präzision und der brillanten Wortwahl derer beider Charaktere, in all ihrer Vielschichtigkeit. Aus der fast den gesamten Text umspannenden Auseinandersetzung wird der Plot der Geschichte, die ernsthafte Problematik, vor der nicht nur die beiden, sondern die gesamte Besatzung der Circe stehen, deutlich. Was oder wer befindet sich auf dem Planeten, für den Bernstein keine Landeerlaubnis erteilen will? Ein Planet eines Sonnensystems in ca. 8.000 Lichtjahren Entfernung zur Erde mit einer Durchschnittstemperatur von 23 Gard Celsius und einem Typ Sonne, der unserer Sonne entspricht, präsentiert paradiesische Zustände. Doch gerade die wundervolle Ebenmäßigkeit und Perfektion der Planetenoberfläche ist ohne Bewohner unbegreiflich.

    Viele Denkmöglichkeiten sind für den Garten der Ewigkeit denkbar. Hubert Katzmarz hat uns die Lösung seines Szenarios nicht geliefert, doch stellt sich die Frage, ob er dies mit zunehmender Arbeit am Text noch wollte und ob wir überhaupt von einem Fragment sprechen müssen. Natürlich, Hubert Katzmarz hat den Text eindeutig als Roman konzipiert, das geht aus diversen Hinweisen hervor. So gibt es eine handschriftliche Verlaufsskizze, in der Nebenfiguren aus dem vorliegenden Manuskript mehr Handlungsspielraum zugestanden wird. Hier werden ausgedehnte Forschungsfahrten und eine Katastrophe angedeutet, außerdem ein Mausoleum sowie das Referat eines Kommunikationstheoretikers, das auf seinen Lehrer Prof. Gerold Ungeheuer hinweist.

    Begonnen hatte Hubert Katzmarz das Werk um 1975, zu einer Zeit, in der er wichtige Begegnungen mit verschiedenen Sprachtheoretikern hatte, so auch mit Umberto Eco. Die letzte und vorliegende Version vom Garten der Ewigkeit stammt von der Jahreswende 1982/1983. Diesem Text ist die Widmung vorangestellt: »Dem Andenken meines Lehrers Prof. Gerold Ungeheuer (1930–1982)«. Der Kommunikationsforscher Gerold Ungeheuer hatte mit seinem besonderen Blickwinkel und seinen Theorien über das Funktionieren von Sprache bei seinem Studenten Hubert Katzmarz einen enormen Eindruck hinterlassen. Gängige Interpretationen wurden von dem Forscher in Frage gestellt, und diese Herangehensweise drückt sich auch in der vorliegenden Fragestellung aus. Desgleichen gilt für das Höhlengleichnis von Plato, das diesem Manuskript ebenfalls vorangesetzt ist (siehe S. 18).

    Von entscheidender Bedeutung ist für mich folgende Passage, die er (zunächst) Kapitel 5 zuordnen wollte.

    Was die Artefakte dort unten auch immer darstellen mögen, es handelt sich bei ihnen nicht um Gärten und um antike Bauwerke! Dies sind menschliche Begriffe, die wir auch deshalb nehmen, weil uns keine anderen zur Verfügung stehen. Eine gewisse Ähnlichkeit ist vorhanden, zweifellos, doch wir können nicht wissen, was das alles für sie zu bedeuten hat. Darum sollten wir uns hüten, aus unseren Hilfsbegriffen die vertrauten Schlußfolgerungen zu ziehen!

    Dies halte ich für die Schlüsselaussage, die das Dilemma der Expedition der Circe zusammenfasst. Die Interpretation der Dinge, die es auf dem Planeten zu sehen gibt, übersteigt den Horizont der handelnden Personen und ist demzufolge auch für uns als Leser nicht gegeben. An dem Text dürfen sich Generationen von Schülern die Zähne ausbeißen, so hätte Hubert Katzmarz es vermutlich formuliert, und wir, die wir den Text nun vor uns haben, dürfen dies ebenfalls tun. Eine endgültige, abschließende Antwort auf die Phänomene gibt es nicht. Und diese Perspektive darf viel weiter gefasst werden, im Grunde können wir die Frage der Interpretation für alle Phänomene stellen, die uns umgeben. Wir sind es, die ihnen eine bestimmte Bedeutung zuerkennen. Dies verleiht dem Garten der Ewigkeit eine zusätzliche Bedeutungsebene, die den Boden der Science-Fiction verlässt.

    Eine Textpassage, die der Autor lediglich unter römisch Eins abgespeichert hat, birgt für mich das Potenzial für eine abschließende Bemerkung und damit für ein abstraktes Textende.

    Schweigendes Dunkel: der Blick verliert sich in gewaltiger Nacht, treibt ziellos durch den erhabenen Schlund und stürzt hinab. Erschrecktes Wimpernzucken; die Hand fährt über hellwache Augen, als wollte sie den finsteren Schleier beiseiteschieben. So kommt der Blick frei, stemmt sich nun kraftvoll gegen den mächtigen Strudel, drängt endlich einer Lichtoase zu und trifft auf kalt starrende Feuerpünktchen, die als gemächliche Prozession dem Schlund entsteigen und ihren gleißenden Staub in die Schwärze des Himmels ergießen. Berauscht von millionenfacher Pracht muß man die Augen wegwenden; sie finden neuen Halt an der bauchigen Kante zwischen Lichterglanz und tiefem Schatten, tasten sich längs des großen Bogens über die Himmelskugel, hin und her, kommen am Ende doch zur Ruhe, voll von Staunen und Verzauberung. – Plötzlich explodiert die blendende Lohe des Sonnenaufgangs über die Schattenkante und entflammt sie zu einer schmalen Sichel weißen Feuers, das die dunkle Himmelskugel in zwei Hälften schneidet.

    Hubert Katzmarz

    Im Garten der Ewigkeit

    Roman

    Dem Andenken meines Lehrers

    Prof. Gerold Ungeheuer

    (1930–1982)

    »Stelle dir Menschen vor in einer unterirdischen Wohnstätte mit lang nach aufwärts gestrecktem Eingang, entsprechend der Ausdehnung der Höhle; von Kind auf sind sie in dieser Höhle festgebannt mit Fesseln an Schenkeln und Hals; sie bleiben also immer an der nämlichen Stelle und sehen nur geradeaus vor sich hin, durch die Fesseln gehindert, ihren Kopf herumzubewegen; … Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, daß sie der Meinung wären, die Benennungen, die sie dabei verwenden, kämen den Dingen zu, die sie unmittelbar vor sich sehen? … wenn einer von ihnen entfesselt und genötigt würde, plötzlich aufzustehen, den Hals umzuwenden, sich in Bewegung zu setzen und nach dem lichte emporzublicken, und alles dies nur unter Schmerzen verrichten könnte, und geblendet von dem Glanze nicht imstande wäre, jene Dinge zu erkennen, deren Schatten er vorher sah, was, glaubst du wohl, würde er sagen, wenn man ihm versichert, er hätte damals lauter Nichtigkeiten gesehen, jetzt aber, dem Seienden nähergerückt und auf Dinge hingewandt, denen ein stärkeres Sein zukäme, sehe er richtiger? Und wenn man zudem noch ihn auf jedes vorübergetragene Menschenwerke hinwiese und ihn nötigte, auf die vorgelegte Frage zu antworten, was es sei, meinst du da nicht, er werde weder aus noch ein wissen und glauben, das vordem Geschaute sei wirklicher als das, was man ihm jetzt zeige? … Und wenn man ihn zwänge, seinen Blick auf das Licht selbst zu richten, so würden ihm doch seine Augen schmerzen, und er würde sich abwenden und wieder jenen Dingen zustreben, deren Anblick ihm geläufig ist, und diese würde er doch für tatsächlich gewisser halten als die, die man ihm vorzeigte? Wenn man ihn nun aber von da gewaltsam durch den holprigen und steilen Aufgang aufwärts schleppte und nicht eher ruhte, als bis man ihn an das Licht der Sonne gebracht hätte, würde er diese Gewaltsamkeit nicht schmerzlich empfinden und sich dagegen sträuben, und wenn er an das Licht käme, würde er dann nicht, völlig geblendet von dem Glanze, von alledem, was ihm jetzt als das Wahre angegeben wird, nichts, aber auch gar nichts zu erkennen vermögen?«

    (aus: PLATON, Das Höhlengleichnis)

    Der Kommandant war eine in vieler Hinsicht außergewöhnliche Frau. Man kann zwar nicht sagen, daß die Leute mit ihr bedenkenlos durch Dick und Dünn gingen; dafür provozierten ihre oftmals recht eigenwilligen Entscheidungen zu sehr Empfindlichkeiten und Widerspruch. Doch im Nachhinein stellte sich ihre resolute Weitsicht stets als wohlüberlegt und schlüssig heraus. Wehe dem also, der es gewagt haben sollte, an seines Kommandanten weisem Ratschluß vorlaut Zweifel kundzutun! Der riskierte allemal, später erneut als begossener Pudel dazustehen, nachdem er während einer dieser obligaten Diskussionen bereits Isabella Bernsteins gewitzten Spott zu spüren bekommen hatte. Nun war der Kommandant weder rechthaberisch noch despotisch; solche profanen Attribute zielen schlicht am Charakter der Bernstein vorbei. Ihre liberale Einstellung und Aufgeschlossenheit beeindruckte selbst hartgesottene Skeptiker und Dogmatiker. Aber was konnte die Bernstein dafür, daß sie ihren Mitmenschen meist zwei oder auch drei Gedankenschritte voraus war, und die Entwicklung der Dinge ihr dann Recht gab? – Kritische Zeitgenossen, das heißt: hauptsächlich Damen und Herren, die auf einer interstellaren Weltraumfahrt die Gelegenheit zum näheren Kennenlernen ihres Kommandanten ausgiebig nutzten, ziehen es allerdings vor, den erwähnten Effekt der gewinnenden Art Isabella Bernsteins gutzuschreiben. Liebenswürdigkeit läßt aufkommenden Ärger schnell vergessen, und auch die Situation, in der er entstand; zum Beispiel: wer was bei welcher Gelegenheit wie gesagt hatte. Man hielt sich indes mit der öffentlichen Bekundung jener Erkenntnis tunlichst in Deckung, zumindest solange der Kommandant in Reichweite war, denn hinter der Liebenswürdigkeit lauerte Jähzorn, der sich des öfteren unversehens Bahn brach, um gegen die Dummheit im allgemeinen und gegen die Dummheit des erstbesten Nörglers im besonderen loszuschlagen. Trotzdem sollte man der Bernstein keinesfalls Ignoranz vorwerfen. Für intelligente Ratschläge hatte sie immer ein offenes Ohr, auch wenn sie sich das nicht anmerken ließ und den Erfolg, so er sich einstellte, gleichermaßen schamlos wie charmant dem eigenen Konto zuschusterte. Doch wer will schon kleinlich sein und mit der Erbsenzählerei beginnen, zumal da die Menschen nach einer überstandenen Krise erleichterte Dankbarkeit pflegen und sich wie Küken um die Glucke, sprich hier: den Kommandanten scharen? Da nun gerade während einer Expedition in die Tiefen des Alls jede Menge Krisen zu meistern sind, stehen potentielle Besserwisser natürlich von vornherein weit im Abseits, und wer das nicht begriffen hat, muß eben auf drastische Art und Weise seine Lektion lernen! – Kurzum: Isabella Bernstein wußte eine derartige Forschungsreise ausgezeichnet zu leiten; sie hatte ihre Leute voll im Griff, ließ ihnen, wann immer möglich, die lange Leine oder tat zumindest so, und gab ihnen doch das beruhigende Gefühl, eben an dieser Leine zu liegen. Alle auf der CIRCE liebten ihren Kommandanten mehr oder weniger voll inbrünstigen Hasses.

    Professor Richard Klug gehörte weder zu den Begriffsstutzigen noch zu den Besserwissern an Bord der CIRCE; das brachte allein schon sein Beruf und seine Stellung als Psychologe mit sich. Die üblichen Hakeleien und Intrigen und Denunziationen mied er wie der Teufel das Weihwasser, denn nur so konnte Klug eine Art noble Distanz wahren, die ihm Autorität von allen Seiten bescherte. Jetzt aber war er ganz und gar nicht einverstanden mit den Entscheidungen – oder besser gesagt: mit der Entschlußlosigkeit seines Kommandanten, und das aus maßgeblichen Erwägungen, die sein Fach angingen. Ernste Sorgen um das Schicksal der Expedition bereiteten dem Professor für Raumpsychologie schon seit einiger Zeit Kopfzerbrechen und veranlaßten ihn nunmehr, die Bernstein persönlich aufzusuchen, was angesichts der vielfältigen Kommunikationseinrichtungen des Schiffs ein durchaus absonderliches Benehmen darstellen mochte. Je mehr sich Klug also seinem Ziel näherte, desto länger schien die kurze Wallfahrt über den Hauptkorridor zum Allerheiligsten der CIRCE zu werden, wobei sich Klug an den Gang nach Canossa erinnert fühlte, nur daß es hier nichts zu beichten und zu bereuen gab.

    »Treten Sie ein, Professor! Ich habe Sie bereits erwartet. Treten Sie ungeniert ein!« plärrte der kleine Lautsprecherkasten des Intercom über der Tür. Direkt daneben befand sich ein Videoauge, durch das die Bernstein des Psychologen Gebaren wahrscheinlich schon eine ganze Weile inspiziert hatte. Klug erstarrte gegen seinen Willen in der langsam schlurfenden Vorwärtsbewegung. Als sich die Tür sogleich geräuschlos öffnete, zuckte er schreckhaft zusammen. Doch dann straffte er seinen gedrungenen Körper, um das Allerheiligste demonstrativ entschlossenen Schritts zu betreten. Schließlich hatte er ein äußerst wichtiges Anliegen vorzubringen! Das Überraschungsmoment war zwar dahin, umso mehr galt es jetzt, das Beste aus der so nicht erwarteten Situation zu machen.

    Commander Isabella Bernstein hockte unscheinbar und verloren hinter dem riesigen Schreibtisch, der die kleine Frau wie ein Schutzwall gegen den forsch heranstürmenden Besucher abschirmte und wohl eigens zu diesem oder einem ähnlichen Zweck quer in der Kabine aufgestellt worden war. Während die Bernstein den Psychologen wachsam musterte, hantierten ihre Finger mit einem Kugelschreiber herum. Der Kommandant lächelte aufreizend.

    »Was verschafft mir die Ehre, Professor? – Sie sind ein seltener Gast in diesen Hallen.« Die nervösen Finger ließen den Kugelschreiber los und schoben ihn unwillig beiseite. Ohne ihre angespannte Haltung zu verändern, lächelte die Bernstein noch immer. Klug machte einen Schritt vor dem Schreibtisch halt, wußte nicht, ob die Pose des Kommandanten als taktisches Verwirrspiel oder als Ausdruck großer Bedrängnis zu werten sei. Man war sich bei der alten Hexe nämlich nie sicher! Wie dünnhäutig, leutselig, ratlos oder souverän diese Frau auch wirken mochte: manch einer hatte sich davon schon täuschen lassen und sich unter dem plötzlichen Feuerwerk ihrer intelligenten Scharfzüngigkeit wegducken müssen. Klug jedenfalls gedachte nicht, ins eventuell verborgene aber offene Messer zu laufen, um demzufolge unverrichteter Dinge und mit ein paar Blessuren mehr an seiner empfindlichen Seele wieder abzuziehen. Für das, was sich die Bernstein in letzter Zeit leistete, sollte sie gefälligst geradestehen! Der Psychologe trug allemal eine besondere Verantwortung gegenüber der Mannschaft, insbesondere dann, wenn der Kommandant sich langsam aber sicher aus dem Kreis der zivilisierten Menschen verabschiedete! So zwang Klug die in viele Richtungen losgaloppierenden Gedanken zurück auf das ihn ängstigende Thema und ließ deshalb jene Strategien an seinem geistigen Auge Revue passieren, die er während der letzten Stunde im Hinblick auf den unvermeidlichen Disput so mühevoll ausgeklügelt hatte. Indes zeigte sich keines der schlau ersonnenen Manöver imstande, seinem Urheber die angestrebte günstige Ausgangsbasis zu verschaffen: Mit der überraschenden Initiative konnte die Bernstein ihre bessere Position wahren und den Herausforderer fürs erste auf Distanz halten. Schweißperlen bildeten sich an den haarlosen Stellen seines Schädels und begannen lästig zu jucken. Den Impuls, sich entblößend zu kratzen, unterdrückte Klug allerdings schnell. Er öffnete den Mund, schloß ihn wieder, und indem er mit einer vagen Geste zur Tür deutete, drängte sich ihm die spontane Frage über die Lippen: »Warum haben Sie den Intercom auf Dauerbereitschaft gestellt?« Dabei ärgerte er sich selbst wegen des provokativ und beleidigt klingenden Tonfalls seiner Stimme. Um den Lapsus wieder wett zu machen, fügte er möglichst beiläufig hinzu: »Das ist doch nur bei Alarm üblich. Sie verletzen hiermit das legitime Bedürfnis der Leute nach einer gewissen Intimität!« Aber so war es auch nicht besser.

    Isabella Bernstein schien das wenig zu stören, denn sie lehnte sich offenbar entspannter in ihrem Sessel zurück. »Nun«, erwiderte sie gedehnt, »ab und zu muß ich mir Klarheit darüber verschaffen, was auf dem Schiff gespielt wird. Und da der Intercom zweiseitig arbeitet, kann ja jeder prüfen, der eine Schweinerei plant, ob ich mich eingeschaltet habe oder nicht.« Die Bernstein grinste jetzt noch breiter.

    »Big mother is watching you!« entfuhr es Klug.

    »Wie bitte?«

    »Ach nichts«, wehrte Klug ab. »Ich frage mich nur, ob Sie es gern hätten, ständig mit Lauschern an der Wand rechnen zu müssen.«

    »Die technischen Möglichkeiten des Schiffs sind nun einmal so gegeben, und das mit voller Absicht. Im übrigen profitieren davon alle Besatzungsmitglieder in gleicher Weise: Jeder kann jeden bespitzeln, wenn er will. Da Sie selbst diese Konzeption theoretisch ausgearbeitet haben, sollten Sie sich auch mit deren praktischen Folgen abfinden! Schließlich war es Ihre Idee, daß eine Schiffsgesellschaft der reinste Tratschklüngel zu sein hat. – Aber es steht Ihnen natürlich frei, Ihre Theorien anhand der praktischen Erfahrungen, die Sie hier sammeln, zu revidieren. Technisch sehe ich keine Probleme, das Schiff wieder umzurüsten.«

    »Darum geht es doch gar nicht!« empörte sich Klug. »Sie nutzen schamlos die Tatsache aus, daß Sie sich beliebig einschalten können, wohingegen man zu Ihnen nur durchdringt, wenn Sie es gestatten.«

    »Das ist ein Privileg des Kommandanten.« Die Mundwinkel der Bernstein zogen sich spöttisch nach unten. »Professor Klug, glauben Sie wirklich, daß ich nichts anderes zu tun habe, als dreihundert Leuten ständig auf die Finger zu schauen?«

    »Wenn man Sie hier so sitzen sieht und reden hört, drängt sich einem diese Vermutung allerdings auf.«

    Isabella Bernsteins Gesicht wurde ernst. Sie beugte ihren Oberkörper nach vorn und stützte sich mit angewinkelten Armen auf der Schreibtischplatte ab. »Ihr Besuch war zu erwarten, Professor Klug«, sagte die Bernstein dann. »Sehen Sie: früher oder später mußten Sie kommen. Ein jeder auf dem Schiff meint zu wissen, daß irgendetwas – äh – Außerordentliches im Gange ist. Sie als Psychologe sind solchen Ereignissen gegenüber natürlich besonders hellhörig.« Sie räusperte sich, bevor sie weiterredete: »Ich mag es nicht, wenn jemand unangemeldet bei mir hereinplatzt. Die primitivsten Formen der Höflichkeit geraten während einer Sternenreise mehr und mehr in Vergessenheit, wie Sie mit Ihrem Sachverstand sicherlich auch schon bemerkt haben. Und da kann der Intercom eben sehr nützlich sein, sozusagen meine Intimsphäre wahren helfen, was mir ja wohl ebenso zusteht wie den anderen Besatzungsmitgliedern.« Sie endete, obschon ihre Mimik den Eindruck erweckte, als würde sie gleich fortfahren.

    Klug nahm die altmodische Nickelbrille ab und polierte sie mit einem blütenweißen Taschentuch sehr sorgfältig. Dabei wurde ihm erneut bewußt, wie pedantisch er doch das selbstgewählte Image eines Gelehrten im Stil des Neunzehnten Jahrhunderts pflegte. Er scheute sich nicht, ja wünschte sogar, daß seine Bewunderung für und seine innere Verbundenheit mit dem Geist jener Zeit zum Ausdruck käme, als die Wissenschaft anfing, sich in schwindelnde Höhen emporzuheben, und den Boden bereitete, auf dem etwa zweihundert Jahre später die interstellare Raumfahrt üppig gedeihen sollte. Nun, die Bernstein ließe sich wohl kaum mit solchem Pathos einwickeln, aber hinter der von vielen Zeitgenossen als schrullig empfundenen Gestik war hier und jetzt das Durcheinander in Klugs Kopf trefflich zu tarnen. Die Bilanz der ersten Runde zeigte ja auch ein miserables Ergebnis für den Herausforderer. Da hatte er sich so gut vorbereitet und war doch gleich zu Beginn wegen einer unerwarteten Kleinigkeit vollkommen aus dem Konzept geraten. – Die Probleme des Intercom … Wen brachte denn dieser Mist schon auf die Palme? Höchstens die zwei oder drei verklemmten Liebespärchen, die es auch bei interstellaren Fahrten immer wieder gibt, weil Verklemmtheit für das Gelingen einer derartigen Expedition ohne Belang ist und in den Eignungstests dementsprechend nicht überprüft wird. Er aber, ausgerechnet er: Richard Klug, Professor und Nestor der Raumpsychologie, hatte beim ersten tiefgründenden Zwist bezüglich seines Ressorts prompt auf dem glatten diplomatischen Parkett das Gleichgewicht verloren und diskutierte infolgedessen dieses lächerliche Thema mit seinem sich gnädig gebenden Kommandanten bereits seit einer geschlagenen Viertelstunde! Ebensogut hätte man das schöne Wetter draußen im All erörtern können; man kannte ja die Vorliebe der Bernstein für absurdes Theater, dem sie insbesondere dann mit großem Entzücken frönte, wenn einer ihrer vermeintlichen Widersacher die Hauptrolle spielte. – Und gerade deshalb stimmte da irgendetwas ganz gewiß nicht! In der Regel amüsierte sich die Bernstein nämlich auf eine laute und ordinäre Art und fand kaum ein Ende damit. Hier aber brachte sie bestenfalls ein gequältes Lächeln zustande, wobei sie ihre gefürchtete schroffe Ablehnung möglichen Kontrahenten gegenüber ohne Nachdruck praktizierte und sogar eine Kehrtwendung von 180° machte, als sie unaufgefordert mit einigen hingeworfenen Sätzen genau das antippte, dessentwillen Klug überhaupt gekommen war. Er fühlte sich verwirrt, zutiefst verwirrt. Behutsam würde er der Spur nachgehen müssen. Deshalb improvisierte er jetzt einen neuen Anfang, formulierte vorsichtig, gab seiner Stimme jene nüchterne aber eindringliche Klangfarbe, die den guten Psychotherapeuten ausmacht: »Commander! Sie sind redseliger als sonst. Dies läßt vermuten, daß Sie ebensosehr wie ich die Klärung gewisser … nun, gewisser Sachverhalte wünschen. Sie hätten zu mir kommen sollen! Ich stehe jedem Besatzungsmitglied zur Verfügung, – auch Ihnen, Commander.«

    Die Bernstein schwieg eine Weile. Sie nahm den Kugelschreiber wieder in die Hände und drehte ihn zwischen ihren Fingern hin und her. »Ich nehme an, Sie haben irgendwelche Schwierigkeiten, Professor Klug«, sagte sie schließlich auf eine Art und Weise, wie geduldige Mütter mit ihren Kindern sprechen. »Ich hoffe, ich kann Ihnen behilflich sein.«

    »Oh nein, Isabella!« Klug riß sich zusammen und blieb die Liebenswürdigkeit in Person. Er hatte die vertrauliche Anrede als Zeichen für seine Bereitschaft gewählt, die Probleme des Geprächspartners ernst zu nehmen. »Nicht ich bin in Schwierigkeiten. Vielmehr möchte ich Ihnen meine Hilfe anbieten.« Nun war Klug es, der gönnerhaft-freundlich lächelte. Mit Genugtuung beobachtete er, wie die rührigen Hände des Kommandanten abrupt innehielten.

    »Was soll das heißen: Sie bieten mir Ihre Hilfe an?«

    »Commander! Machen Sie sich doch nichts vor! Das Wasser steht Ihnen bis zum Hals. So schlimm dies für uns alle ist, so gibt mir Ihre Gleichgültigkeit demgegenüber viel mehr Anlaß zur Sorge. Sie müssen einfach zur Kenntnis nehmen, daß der Tanz jeden Augenblick losgehen kann!«

    »Entschuldigen Sie bitte! Aber ich verstehe nicht, was Sie meinen.« Die Bernstein kam schwerfällig aus ihrem Sessel hoch, ging um den Schreibtisch herum und baute ihre schmächtige Gestalt vor dem erheblich größeren Mann auf. Mein Gott, dachte Klug, sie wirkt ja noch winziger als sonst! Und wie gebückt sie sich bewegt! »Professor Klug«, unterbrach die Bernstein seine Überlegungen, »wenn ich Ihre Hilfe brauchen sollte, dann bitte ich darum. Ich kann es aber nicht ertragen, daß sich andauernd jemand mit geschwätzigen Vorwänden in meine Angelegenheiten einmischt. Haben Sie mich verstanden, Professor Klug?« Die Stimme der kleinen Frau fuhr schneidend durch den Raum.

    »Commander Bernstein, schreien Sie nicht so ‘rum!« sagte Klug ruhig. »Und stellen Sie vor allen Dingen den Intercom ab! Einige Leute könnten sich sonst köstlich über Ihren Auftritt amüsieren. Falls Sie es noch nicht mitgekriegt haben: Man wartet nur darauf, Sie endlich in delikater Pose zu erwischen.«

    »Wofür halten Sie mich eigentlich?« zischelte die Bernstein. Doch Klug war voller teuflischer Freude der suchende Blick des Kommandanten nach dem Kontrollbord des Intercom nicht entgangen.

    »Isabella, Sie sind unsicher. Das verraten mir Ihre Gesten, Ihre Bewegungen, ja in letzter Zeit auch einige Ihrer Befehle. Sie sind unkonzentriert und machen Fehler. Auch die Crew merkt das. Bisher hat man Sie lediglich zur Witzfigur gekürt, aber sie wissen selbst, wie schnell sowas in Ernst umschlagen kann. – Wollen Sie mir nicht endlich sagen, was Sie seit Wochen bedrückt?« Klug legte seine ganze theoretische Erfahrung über Therapiegespräche in diese Worte. Als die Bernstein sich abwendete ohne zu antworten, fügte er eindringlich hinzu: »Ich sorge mich sehr um das Schiff!«

    Die Bernstein drehte sich wieder um und fixierte Klug mit ihren grauen Augen. Leise erwiderte sie: »So, so. Eine Witzfigur bin ich. Und Sie sorgen sich um das Schiff. Was glauben Sie eigentlich sei meine ureigenste Sorge, wenn nicht das Schiff?« Dann wurde ihre Stimme lauter und energischer: »Offen gestanden, Sie sprechen in Rätseln!«

    »Lassen wir doch wenigstens für einen Moment das Katz-und-Maus-Spiel beiseite!« fuhr Klug auf. »Kommen wir zum Kern der Sache!«

    »Und der wäre?«

    »Nennen Sie mir den Grund für Ihr Zögern, Commander! – Oder geben Sie unverzüglich den Befehl zur Landung! Die Leute wollen ‘raus.«

    Beide schwiegen. Sie musterten sich gegenseitig herausfordernd. Schließlich lächelte Isabella Bernstein erneut, ging langsam zu ihrem Sessel und ließ sich vorsichtig darin nieder. »Und hierfür brauchen Sie eine so lange Vorrede?« sagte sie dann. »Ich neige fast zu der Ansicht, daß Sie Hemmungen haben, Ihren Spruch loszuwerden. Das ist nicht gut, Professor Klug, ganz und gar nicht. Sie als Psychologe sollten sich in Ihrem Verhalten nicht von Hemmungen leiten lassen, das zumindest nicht offen zur Schau tragen! Sie geben damit der Moral der Mannschaft ein schlechtes Beispiel. Man achtet nämlich auf das, was Sie tun. Man beobachtet gerade den Psychologen sehr aufmerksam. Der Psychologe ist eine Art Übervater für die Leute, ein Magier und Tröster in allen Lebenslagen, – mehr, viel mehr als der Kommandant. Am Kommandanten kühlt man sein Mütchen, beim Psychologen weint man sich aus. Deshalb ist es für Sie besonders wichtig, Professor Klug, nicht zur Witzfigur zu avancieren. – Ich hatte bisher wirklich angenommen, daß diese elementaren Thesen der Raumpsychologie für Sie Handlungsmaximen darstellen. Aber das war offenbar ein Irrtum. – Nein, lassen Sie mich ausreden: Als Wissenschaftler, als Vertreter der reinen Lehre ist Ihnen die Praxis natürlich fremd. Seit Beginn unserer Reise frage ich mich schon, warum gerade Sie uns als Psychologe zugewiesen worden sind, – Ich weiß, ich weiß …«, und die Bernstein hob in einer beschwichtigenden Geste die Hände, »… Sie gehören zur Elite, zum führenden Kreis der Raumpsychologen, ja, Sie sind die Inkarnation der Raumpsychologie schlechthin, und es war nun fällig, daß auch Sie, der Sie so viele seelische Barrieren gegen die interstellare Raumfahrt beiseite geräumt haben, endlich auch einmal auf große Fahrt gehen durften. Die Zentrale trifft neuerdings ihre Entscheidungen leider auch unter solchen Gesichtspunkten. Sie berücksichtigt vor lauter Ehrfurcht den großen Namen gegenüber nicht mehr die Tatsache, daß es etwas anderes ist, mit Leib und Seele in die Tiefen des Alls vorzustoßen, als im stillen Kämmerlein zu diesem Thema gelehrige Abhandlungen niederzuschreiben. – Bevor Sie jetzt theoretisch fundierte Einwände erheben: Ich habe sehr wohl Ihre beiden Grundlagenwerke ›Ätiologie der Raumangst‹ und ›Psychische Struktur und Kosmos‹ gelesen. Sehr brillante Gedankengänge, Professor Klug. Meine Hochachtung für Sie – als Wissenschaftler! – Sie sehen: ich bin in Ihrem Fach nicht so unbewandert, wie Sie vielleicht angenommen haben. Auch ein Kommandant muß etwas von Psychologie verstehen, wenn er ein Schiff erfolgreich führen will. – Im Raum braucht man Praktiker, keine Menschen, deren Erfüllung im Ausarbeiten von Theorien besteht. Man braucht hier Leute, die in der Lage sind, unbekannte und schwierigste Situationen zu meistern, ohne Hilfe von Zuhaus, ganz allein auf sich und ihre Findigkeit gestellt. Rückversicherungen gibt’s im Raum nicht. Leute also, die bei der erstbesten Abweichung von theoretischen Voraussagen Ohrensausen und bei der Witterung von Gefahr Knieschlottern bekommen, sind auf einem Forschungsschiff entschieden fehl am Platze. Trotz allem Respekt vor Ihren Verdiensten, Professor Klug: Sie gehören nicht in den Raum! Sie sind der typische Schreibtischgelehrte, der den Pionieren das grundlegende Wissen mit auf den Weg gibt, dem es jedoch während der Expedition an notwendiger Courage und Umsicht mangelt. Dieses Urteil haben Sie mir durch Ihren konfusen Auftritt von vorhin noch einmal deutlich bestätigt. Zu meinen Pflichten als Kommandant zählt auch, die Leute entsprechend ihren Fähigkeiten und Schwächen sinnvoll einzusetzen. Aussuchen kann ich mir die Crew dummerweise nicht. – Darum will ich Sie in den Führungsgremien nicht dabeihaben, selbst

    Enjoying the preview?
    Page 1 of 1