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Der Rächer
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Der Rächer

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About this ebook

Zwei Frauen finden an einem Bahnviadukt bei der englischen Stadt Esher den Kopf eines Mannes. Bei dem Enthaupteten handelte es sich um Francis Elmer, einen Beamten des Foreign Office. Da der Mord politische Motive haben könnte, beauftragt Geheimdienstchef Major Staines den fähigen Sicherheitsbeamten Michael Brixan mit gesonderten Nachforschungen. Wie Brixan erfährt, war Elmer bereits das zwölfte Opfer des sogenannten "Rächers", der sich in Begleitschreiben als "Wohltäter" bezeichnet. Bei allen Ermordeten handelte es sich um Kriminelle oder Verdächtige, die durch die Maschen des Gesetzes geschlüpft sind. Edgar Wallace (1875-1932) war ein englischer Schriftsteller, Drehbuchautor, Regisseur, Journalist und Dramatiker. Er gehört zu den erfolgreichsten englischsprachigen Kriminalschriftstellern.
LanguageDeutsch
PublisherSharp Ink
Release dateDec 4, 2017
ISBN9788028246389
Der Rächer
Author

Edgar Wallace

Edgar Wallace (1875–1932) was one of the most popular and prolific authors of his era. His hundred-odd books, including the groundbreaking Four Just Men series and the African adventures of Commissioner Sanders and Lieutenant Bones, have sold over fifty million copies around the world. He is best remembered today for his thrillers and for the original version of King Kong, which was revised and filmed after his death. 

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    Book preview

    Der Rächer - Edgar Wallace

    Edgar Wallace

    Der Rächer

    Sharp Ink Publishing

    2022

    Contact: info@sharpinkbooks.com

    ISBN 978-80-282-4638-9

    Inhaltsverzeichnis

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    Inhaltsverzeichnis

    Captain Mike Brixan litt manchmal an gelinden abergläubischen Anwandlungen. Wenn er des Morgens durch die Felder ging und eine junge Krähe vor ihm aufflog, hatte er die bestimmte Überzeugung, daß er an diesem Tage noch eine zweite sehen würde.

    Als er nun auf der Durchreise in Aachen an der Bahnhofsbuchhandlung vorbeiging, fiel ihm der Titel eines Buches auf, und er kaufte den Roman »Statistin in Hollywood«. Das Wort »Statistin« übte eine fast magische Wirkung auf ihn aus. Die Geschichte handelte, wie er gleich darauf feststellte, von einer unbedeutenden Filmschauspielerin. Aber schon hatte er die dunkle Ahnung, daß dieses Wort für ihn eine schicksalsschwere Bedeutung haben würde.

    Der Roman interessierte ihn gar nicht. Er las einige Seiten des Buches, aber der schwülstige Stil ärgerte ihn so, daß er seine Zuflucht zu dem belgischen Kursbuch nahm. Wenn ihn auch der Titel fasziniert hatte, so reichte sein Interesse doch nicht aus, um die ganze sensationelle Laufbahn der Heldin von den bescheidensten Anfängen bis zu Berühmtheit, Ansehen und Reichtum zu verfolgen.

    Das Wort »Statistin« hatte sich Mike Brixan aufgedrängt, und es war ihm, als ob ihm in den nächsten Tagen unbedingt eine Statistin begegnen würde.

    Er war nicht nur bei seinen Freunden als der tüchtigste Agent des Nachrichtendienstes im Auswärtigen Amt bekannt. Obwohl er in seinem Beruf vollständig aufging, interessierte er sich für Kriminalfälle. Er spielte gut Golf, aber ebenso gern las er Berichte über aufsehenerregende Verbrechen. Seine dienstliche Beschäftigung bestand hauptsächlich darin, daß er merkwürdige Leute, die vom Kontinent herüberkamen, in obskuren Kneipen traf und mit ihnen lange und geheimnisvolle Unterredungen hatte. Zu diesem Zweck trat er in den verschiedensten Verkleidungen und Rollen auf. So blieb er in Kontakt mit den geheimen unterirdischen Strömungen, die nur zu oft das Schifflein der Diplomatie unerwünschten Zielen zutrieben. Zweimal war er als Tourist, der sich nur für schöne Landschaften und Sehenswürdigkeiten zu interessieren schien, durch ganz Europa gestreift. Viele hundert Meilen fuhr er mit einem Paddelboot durch die Stromschnellen der Donau. In den kleinsten Schenken am Ufer übernachtete er, um die Stimmung der Bevölkerung kennenzulernen. Wenn es solche Aufgaben zu lösen galt, war er ganz bei der Sache.

    Gerade jetzt rief man ihn von Berlin ab, als der wichtige Vertrag zwischen zwei Mächten kurz vor dem Abschluß stand. Er ärgerte sich gewaltig darüber, denn es war ihm unter Aufwand nicht geringer Geldsummen gelungen, eine Abschrift der wesentlichen Punkte des Vertrages zu beschaffen.

    »Wenn ich noch vierundzwanzig Stunden auf meinem Posten geblieben wäre, hätte ich die fotografischen Aufnahmen der Originaldokumente bekommen«, erklärte er seinem Vorgesetzten, Major George Staines, als er sich am nächsten Morgen in Whitehall zum Dienstantritt meldete.

    »Schade«, antwortete dieser etwas ironisch. »Aber wir hatten gerade eine vertrauliche Aussprache mit dem Ministerpräsidenten der betreffenden Macht, der uns den Text des Vertrages mitzuteilen versprach. Übrigens hat die ganze Sache mit hoher Politik nichts zu tun, sondern betraf nur die Handelsbeziehungen zu einem anderen Staat. – Mike, kannten Sie Elmer?«

    Der Detektiv setzte sich auf die Tischkante, während er eine Zigarette rauchte.

    »Haben Sie mich deswegen von Berlin geholt, damit ich Ihnen diese Frage beantworten soll?« sagte er ärgerlich. »Haben Sie mich deswegen aus meinem Café ›Unter den Linden‹ weggeholt, damit ich mich mit Ihnen über Elmer unterhalte? Er ist doch Sekretär im Regierungsdienst?«

    Major Staines nickte.

    »Er war es«, sagte er. »Er war in der Oberrechnungskammer angestellt. Vor drei Wochen verschwand er plötzlich. Man kontrollierte seine Bücher, und es stellte sich heraus, daß er systematisch größere Summen unterschlagen hatte.«

    Mike Brixan verzog sein Gesicht. »Tut mir leid, das zu hören«, meinte er. »Er schien doch ein ganz ruhiger und ehrlicher Mensch zu sein. Aber Sie wollen doch damit nicht etwa sagen, daß das mein neuer Auftrag sein soll? Solche Aufgaben gehören Scotland Yard.«

    »Ich will auch gar nicht, daß Sie ihm nachspüren sollen«, sagte Staines langsam, »weil – nun gut, man hat ihn schon gefunden.«

    Er sagte dies mit einem düsteren, bedeutungsvollen Unterton. Bevor er das kleine Papier aus seiner Mappe nehmen konnte, wußte Mike Brixan schon, was kommen würde.

    »Der Kopfjäger hat doch nicht seine Hand im Spiel?« fragte er interessiert. Selbst er im Ausland hatte von den grausigen Taten dieses Mannes gehört.

    Staines nickte. »Lesen Sie.«

    Er reichte seinem Untergebenen ein Blatt, das mit Maschine geschrieben war, über den Tisch.

    »Sie werden in der Hecke an der Eisenbahnunterführung bei Esher eine Kiste finden. Der Kopfjäger.«

    »Der Kopfjäger«, wiederholte Mike mechanisch und pfiff leise.

    »Wir haben natürlich sofort nachsuchen lassen und fanden die Kiste, darin lag der scharf vom Rumpf getrennte Kopf des unglücklichen Elmer«, sagte Staines. »Das ist nun der zwölfte Kopf innerhalb von sieben Jahren. Und jedesmal handelt es sich – allerdings mit Ausnahme zweier Fälle – um Leute, die sich der Gerichtsbarkeit entzogen hatten. – Selbst wenn die Vertragsfrage noch nicht geklärt wäre, Mike, hätte ich Sie zurückgerufen.«

    »Aber das ist doch gar nicht meine Sache – das geht doch nur die Polizei an«, sagte der junge Beamte etwas aufsässig.

    »Sie dienen der Regierung doch in Wirklichkeit als Detektiv«, unterbrach ihn sein Chef, »und der Sekretär des Außenministeriums wünscht, daß Sie diesen Fall aufklären. Ich möchte noch hinzufügen, daß dies außerdem der Wunsch des Innenministers ist, dem Scotland Yard untersteht. Bis jetzt wurde der Tod Francis Elmers und die grauenvolle Entdeckung seines Kopfes zur Veröffentlichung durch die Presse noch nicht freigegeben. In der letzten Zeit gab es an und für sich schon so viel Unruhe und Angriffe gegen die Regierung, daß die Polizei diese Sache vorläufig geheimhalten muß. Man hielt die Leichenschau ab – ich vermute, daß die Mitglieder der Kommission besonders ausgesucht wurden. Aber es würde Hochverrat sein, darüber in der Öffentlichkeit etwas zu sagen. Letzten Endes ist dann auch das übliche Gutachten erstattet worden. Leider kann ich Ihnen nur wenig Informationen geben. Das einzige, was uns weiterhelfen kann, ist die Tatsache, daß Elmer vor einer Woche in Chichester von seiner Nichte gesehen worden sein soll. Das junge Mädchen heißt Helen Leamington und ist bei der Knebworth-Filmgesellschaft beschäftigt, die ihre Ateliers in Chichester hat. Der alte Knebworth kam aus Amerika und ist ein famoser Kerl. Sie ist so eine Art Statistin –«

    Mike atmete schwer.

    »Statistin! Ich wußte doch, daß dieses verteufelte Wort mir wieder begegnen würde. Nun gut, was soll ich unternehmen?«

    »Besuchen Sie zuerst einmal die junge Dame. Hier ist ihre Adresse.«

    »War Elmer eigentlich verheiratet?« fragte Mike, während er den Papierstreifen in seine Tasche steckte.

    Der andere nickte.

    »Ja, aber seine Frau weiß über die Angelegenheit nichts. Sie ist übrigens die einzige, die von seinem Tod unterrichtet wurde. Sie hatte ihren Mann seit einem Monat nicht mehr gesehen. Anscheinend lebten die beiden in den letzten Jahren mehr oder weniger getrennt. Für sie war sein Tod in gewissem Sinne eine Wohltat, da er zu ihren Gunsten hoch versichert war.«

    Mike nahm das Papier wieder aus der Tasche und las die grauenvolle Nachricht des Kopfjägers noch einmal.

    »Wie erklären Sie sich diese Sache?« fragte er seinen Vorgesetzten interessiert.

    »Man könnte denken, daß es sich um einen Wahnsinnigen handelt, der sich berufen fühlt, Verbrecher zu bestrafen. Und diese Annahme würde auch stimmen, wenn nicht die beiden Ausnahmen wären, die diese Hypothese über den Haufen werfen.«

    Staines lehnte sich in seinen Stuhl und zog die Stirn kraus. »Nehmen Sie den Fall von Willitt. Man fand seinen Kopf vor zwei Jahren in Clapham Common. Willitt war ein Mann in guten Verhältnissen, ein Beispiel von Ehrenhaftigkeit, überall beliebt, und nach seinem Tod wurde bekannt, daß er große Guthaben auf der Bank hatte. Die zweite Ausnahme macht Crewling, der eines der ersten Opfer des Kopfjägers wurde. Er war ein über jeden Zweifel erhabener Charakter; allerdings stellte sich heraus, daß er einige Wochen vor seinem Tod seelisch nicht mehr im Gleichgewicht war.

    Die Briefe des Kopfjägers sind offensichtlich alle mit derselben Maschine geschrieben. Jedesmal haben sie das halbverwischte ›u‹, dann achten Sie bitte auf die schwachen ›g‹ und die außergewöhnliche Linienführung. Wir haben natürlich diese Umstände genau untersuchen lassen, und die Sachverständigen sind sich darin einig, daß die Schrift von einer alten, jetzt nicht mehr hergestellten Kost-Maschine herrührt. Wenn Sie den Mann ausfindig machen, der eine solche Maschine benützt, dann haben Sie vermutlich den Mörder gefunden. Aber wahrscheinlich wird man ihm nicht auf diesem Weg beikommen können. Die Polizei hat bereits Fotografien dieser eigentümlichen Schrift veröffentlicht und eine hohe Belohnung ausgesetzt. Und ich glaube nicht, daß der Kopfjäger die Maschine noch zu anderen Zwecken gebraucht als dazu, den Tod seiner Opfer anzuzeigen.«

    Mike ging in seine Wohnung. Dieser sonderbare Auftrag hatte ihn etwas aus der Fassung gebracht. Er bewegte sich für gewöhnlich in den Sphären der hohen Politik! Die Finessen der Diplomatie waren seine Spezialität. Diebe, Mörder und Straßenräuber, mit denen sich doch sonst nur die Polizei zu beschäftigen hatte, gehörten nicht zu seinem Wirkungskreis.

    »Bill«, sagte er zu seinem kleinen Terrier, der auf einer Decke vor dem ungeheizten Kamin im Wohnzimmer lag, »diese Sache bringt mich noch zu Fall. Aber ob ich nun Erfolg habe oder nicht – ich werde eine Statistin kennenlernen. Ist das nicht großartig?«

    Bill wedelte freudig mit dem Schwanz.

    2

    Inhaltsverzeichnis

    Helen Leamington wartete, bis das Atelier fast leer war, und auch dann zögerte sie noch, ehe sie in das Büro ihres Chefs eintrat. Ein weißhaariger Mann saß zusammengekauert in einem Segeltuchstuhl. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt und runzelte mißmutig die Stirn.

    Es war gerade kein glücklicher Augenblick, um ihm eine Bitte vorzutragen. Niemand wußte das besser als sie selbst.

    »Mr. Knebworth, kann ich Sie einen Augenblick sprechen?«

    Langsam schaute er auf. Sonst wäre der Amerikaner gleich aufgestanden, denn man rühmte an ihm allgemein seine bezaubernde Liebenswürdigkeit. Aber augenblicklich war seine Achtung vor den Frauen unter Null gesunken. Er sah sie mißmutig an, prüfte aber gewohnheitsmäßig als Filmmann unwillkürlich ihre Erscheinung. Sie war hübsch und hatte regelmäßige Gesichtszüge. Goldbraune Locken umrahmten weich ihr Gesicht mit dem festen, schöngeformten Mund. Ihre Gestalt war schlank. Man konnte nichts an ihr aussetzen.

    Jack Knebworth hatte schon viele schöne Statistinnen zu Gesicht bekommen. Wie oft war er von einem hübschen Mädchen begeistert, und wenn er es dann auf der Leinwand sah, war er verzweifelt. Sie bewegten sich meist steif wie hölzerne Puppen, ohne Seele und Ausdrucksfähigkeit. Er kannte diese Frauen, die zu hübsch waren, um Geist zu besitzen, und die sich ihrer Schönheit zu bewußt waren, um sich noch natürlich bewegen zu können. Sie waren nur Puppen – ohne Seele und Verstand –, Statistinnen. Man konnte sie nur in der Menge auftreten lassen, mit schönen Kleidern, wo sie sich dann mit ihrem Allerweltslächeln mechanisch bewegten. Sie waren vom Schicksal eben zu Statistinnen bestimmt und konnten in ihrem ganzen Leben auch nichts anderes werden.

    »Was gibt es?« fragte er unfreundlich.

    »Könnte ich nicht eine Rolle in diesem Film bekommen, Mr. Knebworth?« fragte sie. Seine glattrasierte Oberlippe zog sich zusammen. »Ich denke, Sie haben eine Rolle, Miss – wie war gleich Ihr Name – Leamington, nicht wahr?«

    »Gewiß spiele ich mit, aber nur im Hintergrund«, lächelte sie ihn an. »Ich verlange ja auch keine große Rolle. Aber ich bin sicher, daß ich mehr leisten könnte als an meiner jetzigen Stelle.«

    »Ich bin davon überzeugt, daß Sie sich schließlich auch nicht schlechter ausnehmen werden als andere«, grollte er. »Nein, meine Liebe, es gibt für Sie keine Rolle. Es wird überhaupt nicht weiter gefilmt, wenn sich die Dinge nicht ändern. So liegt die Sache!«

    Sie wandte sich zum Gehen, aber er rief sie noch einmal zurück.

    »Sie sind vermutlich aus guten Verhältnissen weggelaufen?« fragte er. »Sie dachten, wenn man beim Film ist, verdient man eine Million Dollar im Jahr und kann sich jeden Donnerstag ein neues Auto kaufen? Oder Sie hatten eine gute Stellung als Stenotypistin und bildeten sich ein, daß Hollywood nur auf Sie gewartet hätte? Gehen Sie ruhig nach Hause und erzählen Sie Ihrem Vater die alte Geschichte, daß Sie nicht länger Stenotypistin bleiben wollen, weil man sich da zu Tode schindet!«

    Ein schwaches Lächeln zeigte sich auf ihren Zügen.

    »Ich bin nicht zum Film gegangen, weil ich verrückt nach der Bühne war – wenn Sie das etwa meinen sollten, Mr. Knebworth. Als ich hierher kam, war ich mir klar darüber, wie schwer man zu kämpfen hat. Ich habe keine Eltern mehr.«

    Er schaute sie interessiert an.

    »Wie bestreiten Sie denn Ihren Lebensunterhalt?« fragte er. »Als Statistin verdient man doch nicht genügend. Vielleicht wenn ich einer der Direktoren wäre, die Riesenfilme mit Wagenrennen veranstalten – und Millionen verschwenden! Aber Sie wissen ja, daß ich nicht soviel Geld zur Verfügung habe. Wenn ich einen Film drehe, dann genügen mir fünf Hauptrollen.«

    »Ich habe etwas Zuschuß vom Vermögen meiner Mutter, und außerdem schreibe ich«, sagte das junge Mädchen schüchtern. Sie brach ab, als sie bemerkte, daß er nach dem Ateliereingang schaute, und drehte sich nach dorthin um. Eine merkwürdige Persönlichkeit stand dort. Zuerst vermutete sie einen Schauspieler, der zu einer Filmprobe kostümiert war.

    Es war ein älterer Herr, aber sein aufrechter Gang und seine hohe Gestalt ließen ihn jünger erscheinen. Er trug einen knapp anliegenden Rock mit langen Schößen. Seine Hosen waren mit Lederbügeln an den Schuhen befestigt. Der hohe, steife Kragen und die schwarzseidene Halsbinde gehörten dem Schnitt nach der Vergangenheit an, aber sie waren funkelnagelneu. Seine weißen Leinenmanschetten lagen über den Handgelenken, und seine zweireihige Weste aus grauem Samt war mit goldenen Knöpfen verziert. Es machte ganz den Eindruck, als ob ein Familienporträt der fünfziger Jahre zum Leben erwacht wäre. In seiner behandschuhten Rechten hielt er einen großen Hut mit geschweifter, breiter Krempe, in der anderen einen Spazierstock mit goldenem Knauf. Sein tiefgefurchtes Gesicht hatte einen angenehmen, ruhigen und wohlwollenden Ausdruck. Es schien ihm nicht bewußt zu sein, daß seine Kleidung durchaus nicht mehr in diese Zeit paßte.

    Jack Knebworth erhob sich schnell und ging dem Fremden entgegen.

    »Mr. Longvale, ich freue mich sehr, Sie bei mir zu sehen – haben Sie meinen Brief bekommen? Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr Sie mich dadurch verpflichtet haben, daß Sie mir Ihr Haus überlassen wollen.«

    Das Mädchen erkannte nun Mr. Sampson Longvale. Es war der Herr, der unten in Dower House wohnte. In ganz Chichester war er nur unter seinem Spitznamen »der altmodische Herr« bekannt. Als sie einmal Außenaufnahmen machten, zeigte ihr jemand das große, geräumige Haus mit dem verwilderten Garten und den schiefen Mauern, in dem er wohnte.

    »Ich dachte, es wäre das beste, wenn ich Sie einmal besuchte«, sagte der Fremde mit wohlklingender Stimme.

    Sie erinnerte sich nicht, jemals ein so klangvolles Organ gehört zu haben, und sah den merkwürdigen Mann mit großem Interesse an.

    »Ich hoffe, daß das Haus und das Grundstück sich für Ihre Zwecke eignen werden. Ich fürchte nur, daß das Anwesen nicht sehr in Ordnung ist, aber ich kann den Besitz leider nicht in so gutem Zustand halten wie mein Großvater.«

    »Das ist ja gerade das, was ich brauche, Mr. Longvale. Ich dachte schon, ich hätte Sie verletzt, als ich bat –«

    Der alte Herr unterbrach ihn mit einem leisen Lachen.

    »Nein, ich war durchaus nicht beleidigt. Sie brauchen ein Haus, in dem es spukt, und ich konnte Ihnen nun gerade ein solches anbieten. Aber ich kann Ihnen nicht versprechen, daß Sie der Geist meiner Ahnfrau nicht belästigen wird. In Dower House spukt es schon seit mehreren hundert Jahren. Einer meiner Vorfahren hat in einem Anfall von Wahnsinn seine Tochter ermordet, und man nimmt an, daß der Geist dieser unglücklichen Frau umgeht. Ich habe sie niemals zu Gesicht bekommen, aber vor einigen Jahren hat sie einer meiner Dienstboten gesehen. Ich habe mich von diesen Unannehmlichkeiten befreit, indem ich alle meine Dienstboten entließ«, fügte er lächelnd hinzu. »Aber wenn Sie eine Nacht dort zubringen wollen, wird es mir ein Vergnügen sein, fünf oder sechs Leute Ihrer Gesellschaft mit einzuladen.«

    Knebworth seufzte erleichtert auf. Trotz eifrigen Bemühens hatte er in der Nähe keine Unterkunft für seine Leute finden können. Es lag ihm aber viel daran, Nachtaufnahmen zu machen, und gerade für eine Szene brauchte er das gespenstisch blasse Licht des Morgengrauens.

    »Ich fürchte, das wird Ihnen zuviel Umstände machen, Mr. Longvale«, sagte er. »Wir müssen auch noch die schwierige Frage der Entschädigung –«

    Der alte Herr brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

    »Bitte, sprechen wir nicht vom Geld«, sagte er bestimmt. »Ich interessiere mich sehr für Filmaufnahmen. Ich beschäftige mich wirklich gern mit den modernsten Dingen. Im allgemeinen sind die alten Leute ja geneigt, die Fortschritte der Neuzeit abzulehnen, aber mir ist es ein großes Vergnügen, die Wunder der Wissenschaften, die uns die letzten Jahre gebracht haben, kennenzulernen.«

    Bei diesen Worten schaute er den Direktor merkwürdig an.

    »Einmal müssen Sie auch von mir eine Filmaufnahme machen, und zwar in einer Rolle, in der mich keiner übertreffen kann, wie ich glaube – nämlich als mein Vorfahre.«

    Jack Knebworth starrte ihn halb belustigt, halb erschreckt an. Er hatte schon öfters die Erfahrung gemacht, daß sich Leute gern selbst auf der Leinwand sahen, aber er hätte doch niemals vermutet, daß Mr. Sampson Longvale auch diese kleine Eitelkeit besitzen würde.

    »Ich werde mich freuen«, sagte er etwas kühl. »Ihre Familie ist ja sehr bekannt.«

    Mr. Longvale seufzte.

    »Zu meinem Bedauern stamme ich nicht von der Hauptlinie ab, zu der der bekannte Charles Henry Longvale gehört, der auch in der Geschichte eine Rolle gespielt hat. Er war mein Großonkel. Ich stamme von der Linie der Longvales ab, die in Bordeaux beheimatet ist. Aber auch sie haben sich hervorgetan.« Er schüttelte traurig den Kopf.

    »Sind Sie Franzose?« fragte Knebworth.

    Anscheinend hatte der alte Herr seine Frage nicht gehört. Er schaute starr auf eine Stelle und sagte dann plötzlich: »Ja, früher waren wir Franzosen. Mein Urgroßvater heiratete eine Engländerin, die er unter sonderbaren Umständen kennenlernte. Zur Zeit des Direktoriums kamen wir nach England.«

    Erst jetzt schien er die junge Dame zu bemerken und machte eine Verbeugung vor ihr.

    »Ich werde jetzt gehen«, sagte er, indem er eine große goldene Uhr aus der Tasche zog.

    Helen Leamington beobachtete die beiden, als sie aus dem Atelier gingen. Gleich darauf sah sie, wie »der altmodische Herr« in einem vorsintflutlichen Auto am Fenster vorbeifuhr. Der Wagen mußte einer der ersten gewesen sein, die je nach England gekommen waren. Es war eine große, hoch gebaute, äußerst unhandliche Maschine, die unter furchtbarem Lärm gemächlich die Chaussee entlangfuhr.

    Kurze Zeit später kam Jack Knebworth zurück.

    »Alle sind verrückt darauf, gefilmt zu werden, ob sie alt sind oder jung«, brummte er. »Gute Nacht, Miss – ich habe schon wieder Ihren Namen vergessen – Leamington, nicht wahr? Gute Nacht!« Auf dem Heimweg stellte sie fest, daß diese Unterredung, die sie so mutig begonnen hatte, doch zu einem wenig befriedigenden Resultat für sie geführt hatte. Sie war genauso weit davon entfernt, eine Rolle zu bekommen, wie vorher.

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