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Pawels Kunstgeschichte
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Pawels Kunstgeschichte

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About this ebook

Pawel trifft am Wohnort seiner Mutter ein, bemüht um einen möglichst großen Fußabdruck und darum, wie einst in derselben Stadt sein Vater und der Vater seines Vaters, eine Frau für sich zu finden. Neben einem Bettler, einem Stromer, Frauen und anderen Bewohnern lernt er nach und nach vier alte Maler kennen: den im Rollstuhl sitzenden Nicolas, den auf Krücken angewiesenen Matthias, den vergesslichen Wassily und den halb blinden, Drachenauge genannten Paul. Nicht nur ihre Namen lassen an prominente Namensvetter denken. Die zweiundzwanzig Kapitel des mit Humor durchsetzten Romans erinnern an zweiundzwanzig kunstgeschichtliche Epochen, in deren Schatten sich allmählich Pawels eigene Vision entfaltet.
LanguageDeutsch
Release dateDec 12, 2022
ISBN9783969406083
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    Pawels Kunstgeschichte - Darius Amberger

    ARCHAISCHE EPOCHE

    Kurz nach Mitternacht trat ich mit meinem Rucksack auf dem Rücken und einem zerknüllten Fahrschein in der Hand aus dem Bahnhofsgebäude und sah zum Dach des Hauses gegenüber, wo als meterhohe Leuchtschrift ein Appell an einen längst Verstorbenen prangte. Mama hatte mir davon erzählt, wie die Worte, die einst Bürger auf dem Vorplatz riefen, nach knapp vier Jahrzehnten zum Dach hinauf gelangten. Auf diesem Dach jedoch standen jene Worte für provinziellen Stil und ich unterdrückte den dringenden Wunsch auszuspucken.

    Ich kannte die Gefahren falscher kultischer Verehrung und drei Stunden später war meine erste Tat in dieser Stadt vollbracht, die Leuchtschrift verschwunden und ich auf dem Weg zur mütterlichen Wohnung, als mir an der nächsten Straßenecke ein Mann mit ausdrucksloser Miene eine Hand entgegenstreckte und kaum hörbar murmelte: »Wir wussten, dass Sie kommen würden.«

    Nach einigem Stöbern in meinen beiden Hosentaschen ließ ich in seine Hand drei Münzen fallen.

    »Es darf auch gerne mehr sein. Das wäre kein Problem für uns.«

    »Mehr habe ich nicht.«

    »Dann geben Sie gut acht darauf!«

    Er saß am Eingang eines tristen Bogenganges und abgesehen von zwei Mandelaugen hatte er ein Allerweltsgesicht. Weit und breit war niemand außer uns zu sehen und ich überlegte, ob ich die Straßenseite wechseln sollte. Er lächelte, blickte zu der Brücke mit den Gleisen und sagte mit leichtem, von mir zuvor nicht bemerktem Akzent: »Als diese Bahnlinien gebaut wurden, führten sie nach Ost und West, nach Nord und Süd. Heute führen sie in eine Wildnis.«

    Ich musterte den ungepflegten Bart, den muskulösen rechten Arm, der aus der Mantelschlinge ragte, und die zerschlissenen Sandalen. Sein Rücken war ans Mauerwerk gepresst, die Hand noch immer ausgestreckt und selbst bei seinen Lippen war ich mir nicht sicher, ob sie sich bewegten. Meine Augen ruhten förmlich auf ihm aus und je länger ich ihn betrachtete, desto größer kam mir alles an ihm vor. »Als Sie ein kleiner Junge waren – was wollten Sie da werden?«

    »Dasselbe, was Sie sind.«

    »Was bin ich denn?«

    »Wenn Sie das selbst nicht wissen!«

    Ich neigte meinen Kopf, als dächte ich darüber nach, und ging durch die Arkaden tiefer in die Stadt, bis ich inmitten eines Dorfes war. Als es an einer Furt entstand, säumte es einen Völkerwanderweg und lange Zeit war es so winzig, dass der halbe Ort Platz auf einer Brücke fand, und wie viele alte Dörfer hatte auch dieses einen Anger, der nun zum Kern der Stadt gehörte.

    Im Rucksack klapperte mein Werkzeug und schreckte einen Hasen auf, kurz vor dem Haus des örtlichen Orakels. Dessen Tür war verschlossen. Ich konzentrierte meinen Blick auf das Schloss, ohne dass er es zum Öffnen brachte. Ich klopfte an und lauschte. Das Orakel schwieg, doch jeder wusste, wozu es sonst noch in der Lage war. Dein Schicksal weiß, wo es dich findet, stand über dem Portal. Ich hämmerte mit der Spitze meines rechten Schuhs gegen das alte Holz. Wenn die Tür mich lieben würde, müsste sie jetzt nachgeben, dachte ich, bevor ich ein letztes Mal dagegentrat und Richtung Norden ging.

    Das Morgengrauen war tausend Meilen weit entfernt und die Nacht war klar genug, um unter meine Haut zu gehen. Die Dunkelheit mochte mich. Sie ging sogar gelegentlich mit mir ins Bett. Das Licht hingegen eilte unentwegt so rasch davon, wie es gekommen war. Was verstand ich denn vom Licht? Erschreckend wenig. Doch bei der Finsternis, da wusste ich, was ich an ihr hatte.

    Über mir bemerkte ich die Silhouette eines Ladenschildes und zwanzig Schritte weiter auf der rechten Seite zwei grobe Türme wie Korken auf dem Schlund zur Unterwelt. Ringsum pupillenschwarze Fenster, die Mauern leicht nach vorn geneigt, doch keines dieser Häuser war in dieser Nacht derart entgegenkommend, dass es mir Angst einjagte. Zwischen ihnen sah ich Gassen, die nur einen Spalt breit offen waren, und ich fragte mich, wie lange.

    Auf dem Anger spürte ich sofort: Dieser Platz war gegen mich. Ich blieb in seiner Mitte stehen. In der Luft hing der Geruch von etwas, dessen Name mir nicht einfiel. Die Häuser waren weder nach der Zeit noch nach anderem sortiert und an Straßenecken lungerten Gestalten. Hier traf sich, wer nicht wusste, wohin er mit sich sollte. Das Dunkle ihrer Augenhöhlen ragte bis in meinen Kopf hinein. Solche Blicke gaben Halt. Allein der Sternenhimmel stellte sich wie gewohnt als Rätsel und drohte bei der rechten Antwort auf uns herabzustürzen.

    Sehnte ich mich nach Orten, wo ich nicht willkommen war? Statt meinem Vater mitzuteilen, dass ich zu meiner Mutter fahren werde, hatte ich verkündet: »Ich ziehe in die weite Welt hinaus.« Die weite Welt – war sie nicht das Gegenteil des Mutterleibes, der mich rausgeworfen hatte? Sie war ohne Rahmen, weshalb aus ihr kein Rausschmiss drohte, doch auch die Welt war Feindesland, das es zu erobern galt, denn zu irgendetwas würde sie von Nutzen sein.

    Meine Eltern lebten getrennt und Mama war in ihre alte Heimat gezogen. Meine Füße brachten mich ihr langsam näher. Gefühlt bewegte ich mich von ihr fort. Kein Ariadnefaden vermochte mich genau dahin zu führen, woher ich einstmals kam. Meine Wegweiser waren die Wege selbst, und wenn alles gut ging, würde ich am Ende wissen, wo ich gelandet war. In ihrer Wohnung in der Hefengasse hatte ich sie erst einmal besucht, obwohl sie extra für mich einen Schlüssel schleifen ließ. Zwei Jahre war dies her. An einem Nachbarhaus kam ich nun vorüber, dessen grüne Tür mit rotem Rahmen im Dunkeln zu erahnen war. Das Haus, in dem sie wohnte, hatte kleine Fensterhöhlen. Die Haustür hier war schlicht. Das Unscheinbare gab ihm etwas Göttliches. Vor zwei Jahren hatte jemand um das Schlüsselloch eine Zielscheibe gemalt, und Mama sagte damals: »Du darfst nicht glauben, dies hätte was mit mir zu schaffen.« Bei Nacht war nichts davon zu sehen.

    Ich betrat das Haus, stieg die Treppe bis zum ersten Stock hinauf und öffnete die Tür zur linken Seite, wo mir Kamillenduft entgegenkam. Schlafzimmer und Küche – mehr Räume hatte ihre Bleibe nicht. Die Wohnung war so eng, dass sie an den Schultern zwickte, und von der Decke hingen Kräuter. In der Küche streifte ich den Rucksack ab, nahm eine meiner Pillen und einen Schluck Wasser. Danach ging ich ins Schlafzimmer, wo ich mich entkleidete, die leere Seite von Mamas Doppelbett ertastete und ein Stück von ihrer Decke zu mir herüberzog. Ihr Bett roch intensiv nach Veilchen. So müde wie ich war, hätte ich ein Doppelbett für mich allein gebraucht, doch ließ ich Mama schlafen.

    KLASSISCHE EPOCHE

    Was soll ich Schlechtes sagen über mich, ohne mir übel nachzureden?

    Mama war eine Kräuterfrau und als solche regelmäßig auf dem Markt, wo sie in jungen Jahren meinen Vater traf. Er zwinkerte ihr zu und kurz darauf war sie mit mir und meinem Zwillingsbruder schwanger. Die Tage in ihr konnte ich nicht zählen, dafür war es zu dunkel, doch seit der Geburt war ich damit beschäftigt, den Augen etwas Tageslicht zu geben, was meinem Bruder nie gelang. Er war einer, mit dem das Schicksal keine Zeit verlieren wollte, weshalb er starb, als er entbunden wurde.

    Die Frau, die mich gebar, kam aus einem einstmals respektablen Haus, was ihrer Bildung anzumerken war. Mehrmals täglich legte sie die rechte Hand auf meine Stirn, um zu sondieren, was ich gerade dachte. Auch küsste sie ausgiebig meine Wangen, mal als Lob und mal als Tadel und selbst bei Schüttelfrost und Gliederschmerzen, während Papa nicht nur räumlich Abstand hielt. Papa war Redenschreiber. Eine Rose sah er nicht als Pflanze. Er sah sie als Idee und daneben allenfalls als Wort. Er misstraute sinnlich wahrnehmbaren Dingen und glaubte eher an Worte als an irgendwelche Taten, wenngleich manche seiner Sätze nach jedem zweiten Wort eine neue Richtung nahmen. Als Kind dachte ich, dass er inmitten eines Satzes seine Absicht korrigierte. Ich hasste es, wenn seine Sätze Haken schlugen, bis ich merkte, dass ich dies von ihm übernommen hatte.

    Obwohl es für die Eltern keine freien Tage gab, war ihr Einkommen gering. Besonders Papa drehte jede Münze dreimal um, wobei sie ihren Wert verlor. Nie wurde er so groß wie jene Reden, die er für andere zu schreiben hatte. Beruflich fiel er häufig tief, doch zog er sich an wohlgewählten Worten immer wieder hoch, zuweilen aus der Ferne unterstützt von seinem Vater, einem Liköristen, der Destillate, die partout nicht schmecken wollten, zu nur leicht erhöhtem Preis als Heilmittel vertrieb und daneben als ein Freund von Frauen galt, da er welche kaufte. Ich begegnete ihm nie, aber vergessen habe ich ihn auch nicht. Die Großeltern mütterlicherseits lebten verarmt in einer Siedlung, wo es ringsum alte Bäume gab und an Feiertagen ein Gotteshaus zu sehen war. Beide lernte ich als stille Wesen kennen, die allmählich kleiner wurden und nie mit mir spielen wollten. Erst nach ihrem Ableben fand ich auf dem Boden ihres Daches einige Geräte, von denen ich noch nicht mal wusste, dass sie schon erfunden waren.

    Die Schule, auf die mich meine Eltern gehen ließen, lehrte mich den Unterschied zwischen Schülern und dem Lehrer und der war nicht zu meinen Gunsten. Leider wuchsen meine Beine nicht so rasch wie mein Wunsch davonzulaufen, und mit Blick auf meine Kameraden merkte ich recht bald: Ich war wie all die anderen, doch keiner war wie ich. »Deine feine Kinderstube kannst du dir wohin stecken«, war das Erste, was ich in einer Pause hörte, und ich erzählte es Mama, die mich zu beruhigen suchte mit ängstlichem Gesicht. Nun, jene Phase ging vorüber, und eben weil meine Kindheit keine unbeschwerte war, will ich sie zumindest eine unbeschwerte Kindheit nennen.

    Ich fühlte mich nie wohl in meiner Haut, auch wenn ich erkannte: Dies war es, was ich brauchte. Ich hielt mich weiterhin für gut erzogen, jedoch davon abgesehen, kam ich fortan zurecht, und Prüfungen, die ich als Schüler nicht bestand, zählte ich später zu den Jugendwerken. Nach der Schule mit meist allgemeinem Unterricht wurde ich von Bion ausgebildet, der ein Maler und mir wohlgesonnen und für uns bezahlbar war. Es gelang mir nicht, mich so blöd anzustellen, um anderswo zu landen. Dass ich mit dem Pinsel nichts richtig wiedergeben konnte, hatte sicher einen Grund, und um diesen zu erfahren, begann ich mich den Farben zuzuwenden und tauchte letzten Endes so tief in die Malerei, dass diese über alle Ränder schwappte.

    Bion war ein alter Maler, mit mehr Falten, als er Muskeln hatte. Er glaubte an die Kräfte weißer Kleidung, weshalb farbige nicht statthaft war. Die ersten Monate ließ er uns Pinsel binden, die wir in der Stadt verkaufen mussten, bevor es gleichfalls über viele Wochen auf die Suche nach Pigmenten ging, wonach wir in den Umgang mit Mörser, Reibstein und Pigmenten eingewiesen wurden. Letztere verwahrte Bion in Keramikdosen auf Regalen an einer ganzen Wand verteilt: gelbe Erden, rote Erden sowie eine grüne Erde, direkt daneben Kupfergrün, Ägyptisch Blau, Asphalt und andere mit Namen, die ich mir nie merken konnte. Als Bindemittel Kasein und Bienenwachs, in jeweils einer Ecke. Bion sagte wiederholt, gemalt werde seit zigtausenden von Jahren und vielleicht sei es schon morgen nicht mehr zeitgemäß, wenn man nach einem Pinsel greife. Dabei hielt er seinen ständig in der Hand, mal wie einen Zeigestock, mal wie einen Flammenwerfer, und seine strenge Miene war nicht nur bei denen gern gesehen, die sie zum Lachen brachte.

    Nach einem Jahr begann der Zeichenunterricht und mitunter wurde bereits ausgemalt. Mein erstes Bild ließ einen alten Baum erahnen. Bion korrigierte nie ein Werk, doch mahnte er beständig, sich nicht selber auszudrücken, sondern von sich loszukommen. Ich solle mich nicht zwischen die Natur und deren Abbild stellen. »Was du willst, braucht dich nicht zu kümmern«, schärfte er mir ein, bis ich endlich malte, als würde ich nicht malen. Ob er ein begabter Lehrer war? Ich werde ihn nicht loben, dafür war er zu ernst, aber immerhin hasste ich den Lehrer nie so sehr, dass ich selber einer werden wollte.

    Während ich das Malerhandwerk lernte, erfuhr Papa, dass der auf Wunsch

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