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Sternentau: Die Pflanze vom Neptunsmond
Sternentau: Die Pflanze vom Neptunsmond
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Ebook334 pages4 hours

Sternentau: Die Pflanze vom Neptunsmond

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About this ebook

Der Roman Sternentau thematisiert den Besuch von Aliens auf der Erde. Harda, eine junge Fabrikantentochter entdeckt eine Pflanze. Gemeinsam mit einem Botaniker kommt sie dem Geheimnis des Sternentaus auf die Spur. Die Spezies ist nicht von dieser Welt... Kurd Laßwitz (1848-1910) gilt als Begründer der deutschsprachigen Science Fiction.
LanguageDeutsch
PublisherSharp Ink
Release dateOct 6, 2016
ISBN9788028259433
Sternentau: Die Pflanze vom Neptunsmond

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    Book preview

    Sternentau - Kurd Laßwitz

    Harda

    Inhaltsverzeichnis

    Auf dem breiten Gartenwege vor der Villa Kern hielt das Automobil zur Abfahrt bereit. Der Fahrer stand daneben, seinen Auftrag erwartend.

    Hermann Kern streckte seine zierliche Figur nach Möglichkeit in die Höhe. Er blickte suchend hinüber, wo ein Fußweg im Gebüsche verschwand.

    »Wo bleiben denn die Mädel?« sagte er ungeduldig vor sich hin. Und dann zum Diener gewendet, der mit dem Staubmantel im Arm hinter ihm stand:

    »Sie haben doch den Damen melden lassen, daß ich reise?«

    »Gewiß, Herr Direktor, vor zehn Minuten.«

    Kern zuckte mit den Schultern und wandte sich dem Wagen zu. In diesem Augenblick erschien ein helles Kleid zwischen den Büschen. Ein junges Mädchen im Tennisanzuge, den Schläger in der Hand, trat auf den Weg. Als sie das Auto vor der Tür stehen sah, begann sie zu laufen. Mit leichten, behenden Sprüngen näherte sie sich dem Vater, aus dessen Gesicht der unzufriedene Zug schon verschwunden war. Sie schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn.

    »Du willst fort, Vater?« rief sie. »Beim Kaffee sagtest du doch noch nichts. Wo willst du denn hin?«

    »Ich mußte mich ganz plötzlich entschließen. Es geht nur nach Berlin. Morgen in der Nacht komme ich zurück.«

    »Aber jetzt ist doch gar keine Abfahrtszeit. Und im Auto –«

    »Ich will den Blitzzug in Liebenau erreichen.«

    »Da hättest du auch noch eine Stunde Zeit.«

    »Will ich auch haben, aber in Liebenau. Ich muß dort noch mit Krakauer konferieren.«

    »Wohl wegen des Patents?«

    »Jetzt habe ich keine Zeit mehr, Kind. Wo bleibt denn Sigi?«

    Kern lüftete seine Mütze und strich das Haar von der Seite nach vorn über die kahle Stirn. Da rief Harda:

    »Ich glaube, jetzt kommt sie. Ich höre sie schon da hinten singen.«

    »So leb wohl, Harda, mein Herzel! Kurbeln Sie an, Pätzold.« Er küßte Harda. Sie hielt ihn fest.

    »Vater,« sagte sie, »nimm mich mit!«

    »Es wird zu spät. Ich kann dich diesmal wirklich nicht brauchen.«

    Ihre braunen Augen ruhten mit einem langen, forschenden Blicke in denen des Vaters. Er wandte sich ab, als sähe er nach Sigi aus.

    »Vater!« sagte Harda wie warnend.

    Über die kleinen Fältchen in dem energischen feinen Gesicht zuckte ein nervöses Lächeln, als er es Harda wieder zuwendete.

    »Sei unbesorgt, Dummköppel! Grüße Sigi! Wenn sie so langsam daherstolziert, kann sie das Nachsehen haben.«

    »Aber Vater, ich habe deinen Koffer seit vorgestern nicht revidiert. Du hast inzwischen doch nichts herausgenommen?«

    »Ich hab' ihn gar nicht geöffnet.«

    »Willst mich nicht mitnehmen?«

    Kern schüttelte den Kopf.

    »Aber ein Stückchen fahr' ich mit,« rief Harda.

    »Kind, du hast ja keine Zeit! Frickhoff hat sich zum Abend angesagt.«

    »Sigi ist doch da und Anna und Tante Minna.«

    »Minna wollte sich zu Bett legen. Sie bekam Kopfschmerzen.«

    Harda blickte wieder fragend zum Vater hin. Er war eifrig damit beschäftigt, den Staubmantel anzuziehen. Leise summte der Motor.

    Soeben setzte Kern einen Fuß auf den Wagentritt; doch zwei jugendliche kräftige Arme zogen ihn zurück. Sigi war herangekommen.

    »Reist man so ab, Vater?« sagte sie entschieden. »Hast mich aus meinem besten Spiel herausgerufen.«

    »Und du hast mich mindestens fünf Minuten warten lassen.«

    »Hier bin ich doch. Da hast du zwei Abschiedsküsse. Aber ich will auch was.«

    »Einen Sonnenschirm oder eine Reitpeitsche?«

    »Tielen und Randsberg –«

    »Gleich alle beide?«

    Der Vater und Harda lachten fröhlich.

    Sigi machte eine Handbewegung gegen Harda und sagte mit unerschütterlichem Ernste:

    »Wir sind ja auch zwei. Ich habe sie eingeladen, zu abend zu bleiben. Bist du böse?«

    »Schöpsel! Ist mir ganz recht. Frickhoff will nämlich kommen. Da hole dir nur auch noch einen Herren dazu, Harda? Wie wär' es mit dem langen Doktor? Dem bin ich's eigentlich schuldig. Zwei sind immer besser als einer.«

    »Vater, reis' ab,« lachte Sigi. »Du bist unausstehlich.«

    »Amüsiert euch gut, Kinder.«

    »Adieu, ich muß zum Tennis.«

    Sigi warf dem Vater noch eine Kußhand zu und ging gravitätisch von dannen.

    »Los!« rief Kern.

    »Ich fahre doch mit,« erklärte Harda. Sie sprang in den Wagen, der eben in Bewegung kam, indem sie über des Vaters Füße hinwegturnte.

    »Daß dich!« rief der Vater lachend. »Wo willst du denn hin? Ich habe Eile und werde gleich schnell fahren. An der Brücke mußt du hinaus.«

    »Nur noch den Berg hinauf bis zur Aussicht. Du fährst doch am Hellkamm entlang?«

    »Daß dir's nicht zu weit wird. Und in dem Anzug!«

    »Ich bin schon zur rechten Zeit zu Hause, direkt durch den Wald.«

    »Bei der Aussicht halten Sie,« rief Kern dem Chauffeur zu.

    Das Auto hatte inzwischen das Gartentor passiert. Auf der breiten Straße, die rechts nach den Hellbornwerken führte, bog es links ab und nahm mit mäßiger Geschwindigkeit die große Kehre, durch die der Weg ans Flußufer hinab gelangte. Jenseits der Brücke teilte sich die Straße wieder. Der Wagen fuhr am linken Ufer der Helle bergan, um in langgestreckten Windungen die Höhe zu gewinnen, die hier das weite Wiesberger Tal nach Nordwesten begrenzte.

    »Vater,« begann Harda mit einem ängstlichen Blick, »kommst du auch wirklich morgen nacht wieder?«

    »Kind, du weißt ja, absolut sicher ist nichts bei uns. Mir liegt sehr viel daran, hier zu sein. Übermorgen soll die Zwölfhundertpferdige fertig montiert sein. Aber wenn mir Krakauer Schwierigkeiten macht, muß ich vielleicht noch nach Hildenführ reisen, oder wenn die Berliner Vertretung der Nordbank nicht genügend instruiert ist, muß ich noch nach Hamburg, oder es kommt sonst eine neue Nachricht –«

    »Nun ja, also Abschluß »H« und Abschluß »N«, und dann vielleicht noch »X«, »Y« und »Z«. Das kann lange dauern.«

    »Mit dem »Z« kannst du recht haben, das kommt vielleicht noch. Aber erst kehre ich zurück. Ich habe die beste Hoffnung.«

    »Ja?« rief Harda fröhlich. »Mit beiden?«

    Kern nickte. Er sprach jetzt leiser in Hardas Ohr.

    »Hildenführ wird nachgeben, denn ich habe das Patent auf das Härtungsverfahren sicher und ohne das nutzt ihnen das Kochverfahren nichts. Das werde ich jetzt Krakauer sagen, dann wird er auf Hildenführ drücken. Sobald wir aber das Kochpatent besitzen, haben wir einen solchen Vorsprung, Resinit im Großen herzustellen, daß uns kein anderes Werk einholen kann. Und dann wird auch die Nordbank sich beeilen. Denn unsre Gebäude stehen, die Kocher werden in vierzehn Tagen fertig. Frickhoff weiß das sehr genau, und der gibt doch den Ausschlag; das weißt du ja.«

    »Acht Millionen,« sagte sie bedenklich.

    »Soviel brauchen wir. Aber das wird bald wieder verdient sein. Die Kautschukeinfuhr kann den Bedarf nicht decken, und das Resinit ist das vollständige Ersatzmittel. Wir werden es viel billiger liefern – – und es hat noch in andrer Hinsicht eine große Zukunft, falls es spezifisch leicht genug wird –«

    Kern verfiel in Nachdenken. Harda fragte nicht weiter. Sie wußte auch, warum er Frickhoff erwähnt hatte.

    So saßen Vater und Tochter schweigend neben einander, beide mit ihren Gedanken beschäftigt.

    Harda schrak auf, als der Vater plötzlich seine Hand auf die ihre legte und fragte:

    »Nun, Herzel, wo denkst du denn noch hin? Wir sind sofort da.«

    »Ich wollte, du nähmst mich mit.«

    »Du kannst ganz ruhig sein, Harda. Für alle Fälle weißt du ja –«

    »Ach Vater, ich möchte überhaupt fort, weit fort.«

    »Kind, du weißt doch, es geht nicht, jetzt nicht. Und später –«

    Harda schüttelte den Kopf. In diesem Augenblick hielt der Wagen.

    Harda war sofort herausgesprungen.

    »Adieu, Vater!«

    »Adieu! – Nun aber vorwärts!« sagte Kern zum Fahrer und griff nach seiner Schutzbrille.

    ***

    Harda stand auf dem Fußwege, der hier von der Straße links ab in den Wald führte, und blickte dem Wagen nach, der bald ihren Augen entschwunden war.

    Oberhalb der Straße am Waldrande befand sich ein Tisch mit zwei Bänken. Der Platz hieß die »Aussicht«, und mit Recht. Der Blick schweifte nach Osten über die gesamte Ebene des fruchtbaren Tales von Wiesberg, über weite Getreidefelder, unterbrochen durch die dunkelgrünen Obstgärten der Dörfer, die mit ihren weißen Häusern und roten Dächern freundlich hervorlugten. Am Fuße der Waldberge sah man die Gebäudemassen, Kirchen und Schornsteine der verkehrsreichen Kreisstadt, deren Vorstädte sich bis nahe an den Abhang heranzogen, von dem Harda herabschaute. Hier bezeichneten Rauchwolken das Gebiet, wo sich die Industrie angesiedelt hatte und die Bodenschätze ausnützte, die der Absturz des Gebirges darbot.

    Harda blickte weiter rechts in den nächsten Vordergrund. Daselbst trat der Fluß, die wasserkräftige Helle, durch eine kurze Schlucht von seinem Oberlaufe im Gebirge hervor, um durch das Wiesberger Tal einem größeren Strome zuzueilen. Gerade vor ihr, etwas tiefer, am bergansteigenden Ufer der Helle, leuchtete die stattliche Villa Kern mit ihren Nebengebäuden aus den parkartigen Anlagen. Die Entfernung war nicht groß, denn die Fahrstraße hatte sich in einer langen Kehre an der Berglehne dem Flusse wieder genähert, und hier, wo sie aufs neue zurückbog, lag die »Aussicht«. Harda konnte hinter der Villa auf dem höhergelegenen Tennisplatz die Figuren der Spieler sehen und glaubte sogar Sigi herauszuerkennen.

    Sie warf noch einen Blick hinüber nach den Fabrikgebäuden, unter denen die hohen Neubauten ihre Aufmerksamkeit anzogen. Sie beobachtete eine Weile die Bahngeleise, wo eben ein langer Lastzug hereindampfte; dann wandte sie sich entschlossen um und trat in den Schatten des Waldes.

    Der Fußweg senkte sich allmählich. Harda nahm sich Zeit. Unter die dunklen Fichten mischten sich breitästige Buchen, dazwischen bedeckte sich der Boden mit Gras und Kräutern, einzelne moosbewachsene Felstrümmer ragten hervor.

    Je weiter sie schritt, um so mehr schwanden die Falten zwischen ihren Augenbrauen, und die Wangen röteten sich wieder jugendlich. Das volle aschblonde Haar über der Stirne glänzte in dem gebrochenen Lichte des Waldes in grünlichem Schimmer. Hier und da bückte sie sich nach einer Blume oder einer frühen Erdbeere, die gerade auf dem nach Süden abfallenden Berghang ein sonniges Plätzchen gefunden hatte.

    Jetzt bog der Weg nach rechts. Harda blieb stehen und blickte in seiner Richtung. Ihre Augen ruhten wie in weiter Ferne, obwohl der sich windende Weg bald wieder im Walde verschwand. Sie seufzte leise.

    »Wozu erst das Haus sehen,« dachte sie. »Es ist ja niemand da.«

    Sie bog von dem Wege ab und stieg einen schmalen Pfad hinunter, der an der Kante des abfallenden Bergriegels hinführte. Dichter und wilder wurde der Wald. Über Steintrümmer, Baumäste und Wurzeln mußte sie ihren Weg suchen, und jetzt, an einer kleinen Waldwiese, hörte er ganz auf.

    Aber Harda wußte Bescheid. Sie schritt auf die gegenüberliegende Ecke der Wiese zu, nach einer Lücke im Unterholz, und gelangte wieder in Hochwald, wo mächtige Buchen über grünem Rasenboden einen weiten Dom bildeten. Der Bergrücken selbst verengte sich mehr und mehr und endete jetzt mit einem gewaltigen Felsblock, um den sich Harda auf schmalem Stege absteigend herumwand, und nun befand sie sich auf einem kleinen Plateau in völlig abgeschlossener Waldeinsamkeit.

    Hinter ihr erhob sich der überhangende Fels und bildete eine Art Grotte, die von einer breitästigen Buche, einem alten Waldriesen, überschattet war. An den drei andern Seiten blickte man direkt in die Wipfel hoher Fichten und Buchen; denn die Felsen stürzten steil ab, und es gab nur eine Stelle, an der man mit Hilfe einiger Stufen und einer Holztreppe, die in den Felsspalt geklemmt war, hinabsteigen konnte. Dies war die Fortsetzung des Pfades, auf dem Harda von oben herab gekommen war. Unten aber im Grunde umrauschten die Wasser der Helle die Felsecke und belebten mit ihrem gleichmäßigen Gurgeln und Plätschern die Stille des abgeschiedenen Platzes. Dicke Moospolster bedeckten die Felstrümmer und den Boden. Vor der dunklen Grotte zog sich junges, eigenmächtig aufgeschossenes Buchengebüsch um den Felsen und bildete mit seinem hellen Grün eine froh anmutende Pforte, als gäbe es dort einen Ausweg zum Lichte.

    Die große Buche stand soweit von der Felswand ab, daß ihre machtvolle Krone nicht an der Ausbreitung behindert war, und ihr Wipfel ragte weit über die Felsen empor. Ihr Stamm und ein großer Teil ihrer Äste war von dichtem Efeu umschlungen, der an ihr hinauf zum Lichte strebte.

    Unter der Buche, von Hardas Standpunkt aus noch nicht sichtbar, befand sich eine Bank mit einem einfachen Holztische davor. Sie war nach der Seite gerichtet, durch die man an einzelnen Stellen zwischen den Baumwipfeln hindurch den Blick ins freie Land mehr erraten als gewinnen konnte. Die Abgeschlossenheit blieb erhalten, aber man wußte, daß dort die lebendige Welt mit Himmelsblau und Sonnenschein lag.

    Auf dieser Bank gedachte Harda sich niederzulassen. Hier war ihre Zuflucht in allen stürmischen Stunden, die ihr Herz freudig oder traurig bewegten. Hierhin floh sie, wenn ihr drüben in der Villa die Gesellschaft zu groß oder zu laut war, hierhin, wenn sie sich nicht mehr Rat wußte, wie sie sich durch andringende Fragen hindurchfinden sollte. Hier war ihre Waldkapelle, hieran knüpfte sich alles Tiefste und Innigste ihres jungen Lebens, Frieden und Sehnsucht. Und hier – –

    Nun ja, es wird auch wieder sein!

    Und sie bog das junge Buchengebüsch beiseite, das sie noch von dem Ruheplatz trennte.

    Am Riesengrab

    Inhaltsverzeichnis

    Beim erstem Blicke, den Harda durch die Zweige warf, zuckte sie zusammen. Es saß jemand auf der Bank. Ein Name wollte ihren Lippen entfliehen – wer auch sonst konnte hier – aber nein, es war nicht möglich, ihn hätte sie sogleich erkannt – es mußte ein Fremder sein. Wer hatte hier etwas zu suchen? Wollte man sie auch hier stören? Wie ärgerlich!

    Es war ein einziger Augenblick, worin ihr diese Gefühle aufstiegen. Ohne Zögern trat sie auf den Platz und sah nun, wer der Eindringling war. Ein leichtes Lächeln spielte um ihren Mund. Der würde ihr jedenfalls keine Schwierigkeiten machen.

    Auf dem Tische befanden sich ein Strohhut, einige mit ihren Wurzeln ausgelöste Pflanzen, Messerchen, Schere und zwei Glasfläschchen. Der Inhaber dieser Utensilien aber war so eifrig beschäftigt, daß er Hardas Kommen nicht einmal bemerkt hatte. Er betrachtete mit tief herabgebeugtem Kopfe durch die Lupe aufmerksam ein mit der Pinzette gehaltenes Blättchen. Erst als Harda dem Tische sich näherte, und er ihre Schritte vernahm, blickte er auf, und es dauerte noch kurze Zeit, ehe er seine Brille zurechtgeschoben und die Augen der Entfernung akkomodiert hatte. Dann sprang er auf und verbeugte sich höflich.

    »Fräulein Kern!« sagte er überrascht. »O, da muß ich gewiß sehr um Entschuldigung bitten. Ich fürchte, ich bin hier ohne Erlaubnis auf Ihrem Grund und Boden eingedrungen. Aber, gnädiges Fräulein, ich kann versichern, ich bin mir dessen in keiner Weise bewußt gewesen.«

    »Fürchten Sie gar nichts, Herr Doktor,« antwortete Harda freundlich. »Der Grundbesitz der Hellbornwerke reicht hier nur bis ans rechte Ufer der Helle. Aber aus meinem Anzuge könnten Sie freilich schließen, daß ich noch innerhalb der Parkgrenzen umherliefe.«

    »O bitte –«

    »Es ist aber ganz gleich, ich geniere mich nicht und setze mich ein wenig her. Aber Sie dürfen sich auch nicht stören lassen, nehmen Sie wieder Platz und – Ach!« unterbrach sie sich fast heftig, »da haben Sie ja meinen Sternentau!«

    »Was habe ich? Wie nennen Sie die Pflanze? Sie kennen sie? Sternentau?« fragte der Doktor lebhaft.

    »Nein, nein,« beruhigte Harda. »Ich nenne die blauen Blumensterne nur so für mich wegen der runden Erhebung im Innern, die wie ein Tautropfen glänzt. Es ist bloß ein Privatname zu meiner stillen Freude. Die Pflanze findet sich nämlich sonst nirgends als hier in der Nähe des Riesengrabs, und sie scheint überhaupt noch nicht entdeckt. Ach, ich drücke mich wohl sehr dumm aus. Sie steht in keiner Flora. Nun haben Sie die Blumen entdeckt und ich habe sie nicht mehr für mich. Aber das mußte ja doch einmal kommen.«

    »Ich bitte Sie, Fräulein Kern,« sagte der Doktor mit ganz erschrockenem Gesicht, »wenn es sich wirklich so verhalten sollte, daß die Pflanze noch nicht bestimmt ist – mir ist sie allerdings völlig fremd, auch fremdartig – wenn sie bisher nur Ihnen bekannt war, so werde ich selbstverständlich Ihr Entdeckerrecht achten. Die Untersuchung wäre ja freilich sehr interessant, ja eine wissenschaftliche Pflicht – aber ohne Ihren ausdrücklichen Wunsch, das verspreche ich Ihnen, werde ich nichts bekannt geben.«

    Harda sah ihn dankbar an, daß ihm ganz merkwürdig zumute wurde, und sprach lächelnd:

    »Es ist doch wahr, was unsre Leute von Ihnen sagen: Der Doktor Eynitz ist ein guter Mann.«

    »Hm – bitte –« sagte Eynitz verlegen, und ein leichtes Erröten lief über sein freundliches Gesicht – »Das braucht nicht immer ein Lob zu sein, es kann auch eine Schwäche bedeuten.«

    »Wenn Sie es lieber wollen, tun Sie mir einen Gefallen aus Schwäche. Eine Schwäche ist's ja auch, wenn ich das Pflänzchen noch eine Weile für mich behalten möchte. Aber die Pflanzen sind mir nun mal überhaupt ans Herz gewachsen. Die sind doch nicht einfach eine Sache, sie leben und fühlen ja, und jede einzelne ist was für sich. Ich bilde mir immer ein, wenn ich so ein Pflänzchen recht lieb habe, müßte mich's auch wieder gern haben.«

    Sie nickte dem Blümchen, mit dem ihre Hand spielte, unwillkürlich vertraulich zu. Eynitz nickte ebenfalls.

    »Ja, Herr Doktor,« fuhr Harda fort, »Ihr freundliches Anerbieten kann ich natürlich nicht ganz annehmen, aber wir könnten uns einigen. Sie studieren den Sternentau und bestimmen ihn und werden Ihr Resultat veröffentlichen, aber den Fundort, nicht wahr, den Fundort geben Sie nicht an, damit wir hier nicht von Botanikern überlaufen werden. Oder geht das nicht?«

    »Nun« – Eynitz drehte bedenklich an seinem braunen Schnurrbärtchen und ließ die Augen zwischen Harda und dem Walde hin und hergehen, als lauerten dort schon Pflanzenjäger – »verschweigen kann man ja den Fundort freilich nicht – aber es ließe sich wohl ein Ausweg finden. Hat denn diese Felsgruppe einen offiziellen Namen?«

    »Wir nennen sie das Riesengrab, weil die Leute behaupten, hier läge ein Riese begraben, aber ich glaube nicht, daß der Name auf einer Karte steht. Wo haben Sie denn den Sternentau überhaupt gefunden?«

    »Hier unter dem Efeu und – ja, und dann auch ganz versteckt abseits zwischen den Felstrümmern am Wege hier herauf – d. h. Weg ist ja nicht da – ebenfalls unter Efeublättern.«

    »Sonst nirgends? Nun ja, er wächst auch sonst nirgends. Aber dann genügt doch, wenn Sie sagen: »Westlich von Wiesberg, Ufer der Helleschlucht, unter Efeu. Dann können die Leute suchen. Und daß sie nicht hier heraufkommen, dafür will ich schon sorgen. Das Plateau hier oben, das muß eingezäunt werden – unauffällig. Die Gegend ist überhaupt nicht mehr ganz sicher vor Touristen. Ist's Ihnen so recht?«

    »Mir ist alles recht, wie Sie's wünschen. Aber ich denke, dieses Terrain gehört nicht zu Ihrem Besitztum.«

    »Allerdings nicht, aber ich kenne den Besitzer gut, und ich weiß, das tut er mir sicher zu Gefallen.«

    »So sind wir hier auf Privatbesitz? Wem gehört denn dieser Wald?«

    »Ach, es ist nur ein mäßiges Stückchen Fels, Wald, Wiese und ein umgebautes ehemaliges Bauernhäuschen. Solves heißt der Besitzer. Sie werden den Namen kennen.«

    »Geo Solves etwa?«

    »Freilich.«

    »Ach gewiß! Jetzt erinnere ich mich ja, daß er sich vor einigen Jahren hier angekauft hat. Und das ist ein guter Freund von Ihnen?«

    »Jetzt unser Nachbar. Aber ich kenne ihn freilich von Jugend auf. Er ist mein Pate.«

    »Geo Solves Ihr Pate? Das ist interessant. Da sind Sie ja zu beneiden.«

    »Ich beneide mich ja auch – Aber bitte, für was erklären Sie nun das Blümchen? Ist es nicht reizend mit den fünf glockenförmig nach außen gebogenen Blättchen, über die es von der Mitte her, von dem glänzenden Köpfchen, wie ein leichter, silberglitzernder Schleier von seidenen Fäden fällt! Und dieses feine Spitzengewebe der Ranken und Blätter! Eigentlich sieht's wie ein kletterndes Farnkraut aus, wenn's so was gibt. Aber diese offene Blüte? Man möchte an eine Akelei denken.«

    »Ein Blümchen ist's nicht, gnädiges Fräulein. Ich habe schon mit der Lupe gesehen, daß kein Samen vorhanden ist, und die Fäden, die Sie wohl für Staubblätter halten, sind irgend ein anderes Organ. Und hier ganz im Innern, was Sie sehr bezeichnend mit einem Tautropfen verglichen, das ist kein Stempel. Das möchte ich für ein Sporangium halten, für eine Kapsel, darin die Sporen reifen. Ob man aber die Pflanze zu den Farnen rechnen darf, oder ob sie eine ganz neue Gattung von Kryptogamen vorstellt, das läßt sich nur mit Hilfe des Mikroskopes entscheiden, wenn man die weitere Entwicklung im Generationswechsel beobachtet.«

    Harda sann einen Augenblick nach, dann begann sie wieder: »Mag's auch keine Blütenpflanze sein, so kann ich doch ruhig weiter Sternentau sagen. Das ist ein neutraler Name. Ich will Ihnen noch etwas Seltsames mitteilen, Herr Doktor. Die Pflanze ist nämlich erst seit vorigem Jahre hier aufgetreten. Das wird Ihnen erklären, warum sie noch nicht wissenschaftlich untersucht ist. Ich habe nun versucht, sie durch Ableger zu verpflanzen, sie ist aber nur an zwei Stellen fortgekommen, nämlich wo sie auch unter Efeu steht. Und dann habe ich aufs genaueste aufgepaßt, ob das Pflänzchen denn keine Früchte trägt, aber ich habe nie etwas finden können. Das würde ja mit dem stimmen, was Sie sagen. Von dem Generationswechsel habe ich gelesen, aber sehr klar ist es mir gegenwärtig nicht.«

    »Wenn Sie gestatten – ein etwas groteskes Beispiel wird den Ausdruck sogleich klar machen. Nehmen Sie an: Eine Henne legt ein Ei, daraus kröche aber nicht wieder ein Hühnchen heraus, sondern es wüchse zunächst ein Strauch hervor. Der Strauch bilde zweierlei Blüten, weibliche und männliche; und eines schönen Tages lösen sie sich ab und fliegen als kleine Hühnchen und Hähnchen davon. Wenn sie erwachsen sind, finden sie sich zusammen, und die Hühnchen legen wieder Eier, aus denen dann Sträucher hervorwachsen. So lösen sich immer Strauch und Vogel in der Nachkommenschaft ab. Das wäre ein richtiger Generationswechsel.«

    Harda lachte.

    »Ja wohl,« rief sie lebhaft, »jetzt erinnere ich mich wieder. Der Vorgang ist gar nicht so abenteuerlich, wie er sich in dieser Form von Hühnern und Sträuchern anhört. Denn die Quallen, die so schön schillernd im Meere schwimmen, machen es tatsächlich ähnlich.«

    »Ganz richtig,« sagte Eynitz. »Eine Qualle bringt ein Ei hervor, daraus entwickelt sich aber nicht eine frei schwimmende Qualle, sondern zunächst ein Wesen, das mehr Pflanze als Tier scheint, ein Polyp, der am Boden festsitzt. Aus ihm wachsen erst durch Knospung die Quallen heraus, die sich dann loslösen und fortschwimmen. Nun, unter den Pflanzen zeigen die Kryptogamen meist etwas Ähnliches. Nehmen wir an, unser Sternentau hielte es auch so, dann würden aus den Sporen dieser blauen Becher nicht wieder die Sternentaupflänzchen entsprießen, sondern irgend ein ganz andres Gewächs, vielleicht mikroskopisch klein, oder wenigstens unscheinbar, wie z. B. die grünen Täfelchen beim Farnkraut, die man den Vorkeim nennt. Erst an diesen Vorkeimen würden sich später Bildungen von zwei getrennten Geschlechtern zeigen, die Hühnchen und Hähnchen unseres Beispiels. Es könnte auch sein, daß die ganze Entwicklung sich schon innerhalb der Kapseln vollzöge und die Jungen Hühnchen und Hähnchen gleich fertig herausflögen. Und erst, wenn nachher die Hühner Eier legen, will sagen, wenn die betreffende zweite Generation ihrerseits Sporen hervorbringt, so wächst aus diesen durch Sprossung die grüne Sternentaupflanze heraus. Aber – ich langweile Sie – entschuldigen Sie, ich komme so leicht ins Dozieren.«

    »Nein, nein, Herr Doktor. Ich danke Ihnen. Wenn sich's so verhält, so ist's ja ganz klar, warum ich keine Früchte finden konnte. Wer sagt uns denn, wie dieses Zwischengeschlecht beim Sternentau beschaffen ist? Es ist vielleicht ein ganz anderes Wesen, ein höheres – gar keine Pflanze mehr! Vielleicht ist's ein Elfchen, ein richtiges Geistchen, natürlich auch mit einem richtigen Körperchen. Sie lachen – ganz recht – was ich rede, ist wohl sehr dumm. Aber schön wär's doch, wir selbst hätten auch solchen Generationswechsel, natürlich nach Willkür, wie es Menschen geziemt, und man könnte manchmal aus seiner Haut heraus als ein freieres Wesen schweben – –«

    Sie sah mit einem leichten Anhauch von Wehmut in die Ferne.

    Eynitz lachte nicht. Er sah ganz ernsthaft aus, als er sagte:

    »Wenn man nur sicher wäre, daß die eine Generation sich auch noch der andern erinnerte. Aber, gnädiges Fräulein, wer so glücklich ist wie Sie –«

    Harda sah ihn fragend an.

    »Ich meine, nach dem, was ich heute an Ihnen kennen lernte, da haben Sie ja das freie Wesen immer in sich. Sie brauchen nicht aus sich herauszugehen, Sie ziehen sich nur in Ihre Persönlichkeit zurück. Wenn Sie vom Haus oder der Fabrik oder dem Tennis in diesen Wald treten und mit den Pflanzenseelen leben, da wandeln Sie schon in dem höheren, in Ihrem eignen Reiche –«

    »Ach bitte, nein,« rief Harda aufspringend, »philosophieren Sie nicht über mich,

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