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DARKLAND - Die verschwundenen Kinder: Mystery Horror
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eBook228 Seiten3 Stunden

DARKLAND - Die verschwundenen Kinder: Mystery Horror

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Über dieses E-Book

NEUAUFLAGE 2022
 
Wandas Familienleben verläuft in geordneten Bahnen, bis sie das Geburtshaus ihrer Mutter erbt. Sie überredet ihren Mann Anthony, das laute Stadtleben aufzugeben, um mit den Kindern Chris und Brandon nach Devils Gate zu ziehen. Doch der 17-jährige Chris kann sich mit der neuen Umgebung nicht anfreunden und entgleitet den Eltern. Eines Tages verschwindet er spurlos.
Anthony kann mit der Ungewissheit um seinen Sohn nicht umgehen und nimmt sich das Leben.
Damit beginnt für Wanda und Brandon ein Spießrutenlauf, denn die Bewohner des Ortes schneiden sie und machen ihnen das Leben schwer.
Als der 6-jährige Brandon ebenfalls verschwindet, bricht Wandas Welt komplett zusammen. Sie klammert sich an jeden Strohhalm, um ihren kleinen Jungen zu finden.
Ein mysteriöses Buch verspricht Hilfe, aber dafür muss Wanda eine Reise antreten, die sie von dieser Welt entbindet.
Wird Wanda ihren kleinen Sohn finden? Wird Chris wieder auftauchen?
Welches Geheimnis birgt das Buch?
SpracheDeutsch
HerausgeberBookRix
Erscheinungsdatum29. Dez. 2022
ISBN9783736816312
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    Buchvorschau

    DARKLAND - Die verschwundenen Kinder - Dana Müller

    Darkland

    Die verschwundenen Kinder

    von

    Dana Müller

    Zitat

    Eine Mutter tut mehr für ihren Sohn, als sie für ihr eigenes Leben tun würde.

    Gotthold Ephraim Lessing 1729-1781

    Kapitel 1 Devils Gate

    Ein Platzregen hatte die Luft gereinigt und die Gräber von Staub befreit. Durch die Wucht eines Platzregens war das kleine Spinnennetz an Anthonys Grabstein weggewaschen worden, das Wanda bereits bei ihrem letzten Besuch aufgefallen war. Die Spinne hatte sich ihr Zuhause zwischen dem Sockel und der weißen Marmorplatte gebaut. Sie wollte das Tier nicht entfernen, denn dieses kleine Leben sollte Anthony Gesellschaft leisten, in der finsteren Welt, in der sie ihn vermutete. Nun war auch die Spinne fort.

    In den letzten Monaten hatte Wanda den Besuch dieses Ortes zu ihrer wöchentlichen Routine erklärt. Wie jedes Mal zuvor, war sie auch heute in Begleitung ihres Sohnes Brandon gekommen. Unter keinen Umständen sollte die Erinnerung an seinen Vater verblassen.

    Sie küsste den duftenden Kopf einer roten Rose und tauschte sie gegen eine verwelkte aus, die vor dem kalten Stein lag. Jeden Monat hatte Anthony ihr eine dieser duftenden Blumen zum Geschenk gemacht. Nun erhielt sie dieses Ritual auch nach seinem Ableben aufrecht.

    Zu Lebzeiten hatte ihr Ehemann englischen Rasen geliebt. Nun lag dichtes, saftiges Grün wie eine warme Decke über dem Grabhügel. Wanda hielt es penibel sauber. Jedes Blatt, das der Wind hinauftrug, wurde von ihr eingesammelt und in die nahestehende Laubtonne gebracht. Sie sorgte sich um den toten Anthony ebenso, wie sie sich um den lebenden gekümmert hatte, vielleicht sogar ein bisschen mehr. Insgeheim fühlte sie sich schuldig an seinem Zusammenbruch, aber das behielt sie für sich, um Brandon nicht zu belasten. Manchmal träumte sie von ihm. Dann sprach er meistens mit ihr, und einmal hatte er sie in ihrem Schlaf darum gebeten, die Margeriten von seinem Bruder zu entfernen. Wanda hatte sich den Mantel übergeworfen und war in jener sternenklaren Nacht auf den Friedhof gefahren, um ihrem Mann seinen Wunsch zu erfüllen. Da nachts das Tor verschlossen war, hatte sie klettern müssen.

    Brandon zog ein gefaltetes Blatt Papier aus der Jackentasche und öffnete es. Dann drückte er es an seine Brust und strich es sorgfältig glatt. Die Morgenfrische hatte ein zartes Rot auf seine Wangen gezaubert. Sie beobachtet ihren kleinen Sohn dabei, wie er sein Kunstwerk neben die vorangegangenen an den Grabstein seines Vaters lehnte und darauf achtete, sie nicht der Nässe des feuchten Rasens zu überlassen. Jedes dieser Bilder zeigte dieselben beiden Jungen in der Mitte ihrer Eltern. Wanda wischte mit dem Ärmel ihrer Jacke den Marmor trocken. Dann holte sie einen Spiegelkleber aus der Jackentasche und befestigte das gemalte Bild an dem Stein. Während die Witterung die Farben der anderen Bilder fortgespült hatte, leuchteten die Wachsmaler auf der heutigen Zeichnung in frohen Farbtönen.

    Tränen sammelten sich in ihren Augenwinkeln, als sie den Schriftzug entdeckte, den Brandon in kindlich unbeholfener Strichführung unter der kleinen Familie platziert hatte. Daddy. Es war nur ein Wort, aber dieses bohrte sich wie ein Dolch in ihr Herz und ließ sie an einer höheren Macht zweifeln. Gott hatte ihr den Erstgeborenen genommen und wie durch ein Wunder hat sie diesen schmerzlichen Verlust überlebt. Doch das Leid wollte einfach kein Ende nehmen, denn kurz darauf war ihr geliebter Ehemann aus dem Leben geschieden. Nun stand sie ganz alleine mit dem kleinen Brandon da, der sie immer mehr an seinen Bruder erinnerte. Ihn musste sie ohne väterlichen Einfluss großziehen. In manchen Nächten dachte sie daran, aufzugeben. Doch dann drängte sich Brandons liebevolles Stimmchen in ihr Bewusstsein. Es hielt sie fest in dieser Welt, hinderte sie daran, seinem Vater zu folgen und erinnerte sie von Zeit zu Zeit an die Möglichkeit, dass Chris irgendwo am Leben sein könnte. Doch dieser Gedanke zerriss sie förmlich. Sie konnte einfach nicht abschließen, konnte sich auf nichts Neues einlassen, solange sie keine Gewissheit um den Verbleib ihres Sohnes erlangte.

    Das ratschende Geräusch des Reisverschlusses von Brandons Jacke unterbrach ihre Wehmut. Der kleine Junge holte seinen ständigen Begleiter und Beschützer hervor und sah ihn mit prüfendem Blick an. Dann drückte er den Teddy fest an sich und setzte ihn zu dem Bild.

    »Den brauchst du mehr als ich«, wisperte er und schritt zu seiner Mutter zurück. Da standen sie nun gemeinsam und betrachteten das Bild, als Brandon seine kleine Hand in die seiner Mutter legte. Sie umschloss das Händchen sanft und blickte zu ihrem Jungen hinunter.

    »Bist du dir sicher, dass dir Louky nicht fehlen wird?«, fragte sie und schluckte die Tränen hinunter, die nun mit aller Macht in ihre Augen drängten.

    »Ich habe geträumt, dass Daddy ganz alleine ist«, antwortete Brandon und musste schlucken. »Ich hab ja dich. Du passt auf mich auf und Louky passt jetzt auf Daddy auf«, erklärte er mit einem Lächeln, das Wanda in den vergangenen Monaten immer wieder aus den dunkelsten Winkeln ihrer Trauer den Weg ins Leben gewiesen hatte.

    Angesichts der Stärke, die Brandon in seiner Zartheit bewies, fehlten ihr die Worte. Ohne ihn wäre sie längst verloren, und mit größter Wahrscheinlichkeit auch seinem Vater gefolgt. Brandon war ihr Halt in dieser Welt. Mit jedem Tag stützten seine Worte sie mehr und legten einen heilenden Schleier über ihre geschundene Seele.

    »Komm, wir müssen noch was zu essen einkaufen«, sagte sie, nicht weil es Zeit wäre, eher aus der Gewissheit heraus, dass sie ihre Tränen nicht mehr lange zurückhalten könnte.

    »Was kochst du heute?«, fragte er auf dem Weg zum Ausgang.

    »Mal sehen. Was möchtest du denn essen?«, entgegnete sie und war froh, dass Brandon mit dem Verlust seines Bruders und dem Tod des Vaters seine Kindlichkeit nicht eingebüßt hatte.

    »Kann ich noch überlegen?«, fragte er und hüpfte auf einem Bein neben ihr her.

    Brandon liebte die Einkäufe, nicht zuletzt, weil er sich immer etwas Kleines aussuchen durfte. Wanda hingegen hasste sie. Für sie war der Besuch im hiesigen Supermarkt ein notwendiges Übel. Denn der nächste Markt war einfach zu weit entfernt, als dass sie den hätte ansteuern können. Wanda hatte es versäumt, einen Führerschein zu machen, und war auf kurze Strecken angewiesen, die sie zu Fuß zurücklegen konnte. Busse fuhren hier nicht, zumindest nicht in der Nähe. Die nächste Bushaltestelle lag einen zweistündigen Fußmarsch entfernt. Also musste sie mit der Sozialstruktur der Kleinstadt vorliebnehmen. In ihren Augen war der hiesige kein Supermarkt, sondern eher ein kleiner Tante-Emma-Laden, dessen Regale immer nur sporadisch gefüllt wurden. Die Leckereien waren zwar ausgeschildert, aber standen nie in den Regalen. Wanda hegte die Vermutung, dass es besondere Dinge unter dem Ladentisch gab, die nur an ausgewählte Stammkundschaft gingen. In der Stadt hätte sich ein Geschäft mit derartigen Praktiken nicht lange über Wasser gehalten. Aber hier war alles anders.

    Sie hatte gehofft, sich der neuen Umgebung anzupassen, aber die Leute von Devils Gate machten es ihr nicht gerade leicht. Wann immer sie die Gelegenheit bekamen, grenzten sie Wanda und ihren Sohn aus. Das Schlimmste an der ganzen Sache war, dass sie nicht fortkonnte. An diesem unfreundlichen Ort lag Anthony unter der Erde, und Chris könnte jeden Augenblick zurückkommen, daran glaubte sie fest. Sie wollte keinesfalls Anthonys Totenruhe mit einer Umsiedelung stören. Den Gedanken an Chris bremste sie aus, ehe die Gefühle sie überwältigten. Wäre Brandon nicht, der vor ein paar Tagen seinen sechsten Geburtstag gefeiert hatte und ihr Leben ausfüllte, wäre sie überhaupt nicht aus dem Haus gegangen. Aber Brandon war da und forderte seine Bedürfnisse ein.

    Oft dachte sie über Devils Gate nach. Diesen Ort suchte man vergeblich auf einer Karte. Hier bekam das Sprichwort: »Wo der Pfeffer wächst«, eine ganz eigene, reelle Bedeutung, denn hier stand das Pfeffermuseum. Wenige Wochen im Jahr lockte es einige verirrte Seelen in die Stadt, die ebenso schnell wieder verschwanden, wie sie gekommen waren. Der nächste Arzt war zwei Meilen entfernt und machte nur selten Hausbesuche.

    Doch das waren Dinge, mit denen Wanda hätte umgehen können.

    Es waren die Bewohner, die ihr und Brandon das Leben erschwerten. Sie war es leid, immer wieder im Zentrum ihrer Lästereien zu stehen. Anfangs taten sie es noch hinter vorgehaltener Hand, aber schnell hatten sie ihre Scheu abgelegt und machten sich keine Mühe mehr, ihre Gehässigkeiten zu verbergen. Ihr war nicht ganz klar, ob sich diese bibeltreuen Menschen zur Läuterung von Wandas Seele berufen fühlten, oder aber einfach nur Spaß daran hatten, sie niederzumachen.

    Anthony hatte ihre kleine Welt mit seinem Freitod beschmutzt. Niemand von ihnen hatte auch nur einmal danach gefragt, was ihm helfen könnte, seine Stärke wiederzuerlangen. Sie wussten alle, dass er durch das plötzliche Verschwinden seines älteren Sohnes zusammengebrochen war. In ihren Augen war er schwach und hatte nicht nur seinem Leid ein Ende gesetzt, sondern die Familie im Stich gelassen. Damit konnten die Leute hier nicht umgehen. Dabei stand es ihnen nicht zu, über ihn zu urteilen. Wanda wehrte sich gegen den Gedanken, dass sie recht haben könnten. Sie wollte Anthony so in Erinnerung behalten, wie er zu Lebzeiten war. Wie sonst sollte sie ihrem Sohn später einmal von seinem Vater erzählen, wenn er fragte.

    Statt Wanda eine Hand zu reichen und sie durch diese schwere Zeit der Trauer zu begleiten, wünschten sie die kleine Familie zum Teufel. Manchmal fragte sich Wanda, ob das Wörtchen Mitgefühl überhaupt in ihren Wörterbüchern zu finden war.

    Während sie die Straße hinauf schlenderten, musste Wanda schmunzeln. Das musste sie immer, wenn sie dem Schriftzug über der Ladentür folgte.

    »Dann gehen wir mal in den Supermarkt«, sagte sie und betonte das letzte Wort.

    Die Kassiererin arbeitete hier seit Jahren und schien sich deshalb für etwas Besseres zu halten. Sie warf Wanda einen Blick zu, dessen Arroganz ihresgleichen sucht.

    »Guten Tag«, grüßte Wanda freundlich, aber die Kassiererin spitzte nur die Lippen und setzte das Feilen ihrer Nägel fort.

    »Dann eben nicht«, raunte sie und nahm Brandons Hand.

    »Darf ich mich umsehen?«, fragte er.

    Wanda schenkte ihm ein Lächeln. »Aber nichts anfassen«, erwiderte sie und ließ seine Hand los.

    Sofort hüpfte er von einem Bein aufs andere zu dem Regal mit den Süßigkeiten.

    Jemand betrat den Laden und wurde von der Kassiererin freundlich begrüßt. Wanda schüttelte den Kopf und suchte nach den passenden Nudeln für ein Gratin. Käse und Schinken fand sie in der Kühltheke und nahm gleich die doppelte Menge von dem mit, was sie heute brauchte, um ihren Vorrat wieder aufzustocken.

    Sie warf einen Blick zu Brandon, der am Ende des Regals lehnte und offensichtlich dem Gespräch zuhörte, das die Kassiererin mit einer älteren Dame führte. Schnellen Schrittes näherte sie sich ihrem Sohn.

    »Möchtest du einen Nachtisch?«, fragte sie in der Hoffnmung, ihn so vom Lauschen abzuhalten.

    Wanda trafen die Worte dieser Frauen meist hart. Deshalb versuchte sie, Brandon derartige Erfahrungen zu ersparen. Steter Tropfen höhlt den Stein, so sagt man. Wanda befürchtete, dass Brandon den Anfeindungen nicht lange standhalten könnte. Obwohl sie wusste, dass sie ihn nicht immer davor bewahren konnte, versuchte sie ihn zumindest in den Momenten vor den Gehässigkeiten zu schützen, wenn sie dabei war.

    Er schüttelte den Kopf und flüsterte: »Sie reden über Dad.«

    »Komm«, forderte sie ihn auf, griff seine Hand und zog ihn weg.

    »Mom, ich will das hören«, beschwerte er sich, aber Wanda ließ sich nicht darauf ein und ging weiter.

    »Pudding, den brauchen wir noch«, bemerkte sie und eilte mit Brandon den Gang hinauf.

    Was auch immer die Weiber lästerten, Brandon sollte es nicht hören. An der Kühltheke griff sie nach Grießpudding, den mochte Brandon am liebsten. Dazu nahm sie noch einen kalten Kakao mit, den konnte er auf dem Weg trinken. Sie atmete tief durch, begradigte ihre Haltung und ging zur Kasse. Das Getuschel verstummte.

    »Ich muss auch wieder weiter«, sagte die ältere Dame und verabschiedete sich von der Verkäuferin. Wanda warf sie nur einen raschen, nichtssagenden Blick zu und eilte zur Tür.

    Wanda knallte den Metallkorb auf den Tresen und wartete darauf, bedient zu werden. Ein kleines Schildchen klemmte an der wollenen Weste der Kassiererin, deren Maschen so groß und ungleichmäßig gestrickt waren, dass ganze Finger hindurchpassten. Die einst zottelige Wolle hatte sich an den Seiten unterhalb der Arme in Filz verwandelt und gab dem Teil einen ungepflegten Charme. Der Schriftzug auf dem Schildchen war fast verblichen. Wanda konnte den Lauf des Kugelschreibers noch erkennen. Nicky. So genau hatte sie sich die Dame noch nie angesehen.

    Bisher gab es auch keinen Grund dafür, aber in diesem Moment war Wanda geladen. Wenn sie ihr die Meinung sagen würde, dann wollte sie wenigstens wissen, wem sie ihre Worte an den Kopf schmetterte. Leider war Brandon dabei und sie musste ihre Wut hinunterschlucken. Aber irgendwann käme sie alleine und dann sollte sich diese Nicky lieber warm anziehen.

    Als Jugendliche hatte sich Wanda die Schulbank mit einem Mädchen geteilt, das denselben Namen trug. Damals hatte Wanda sich darüber aufgeregt, wie man seine ganze Zeit mit Schminken und Frisieren verbringen konnte. Aus der Schulzeitnicky war nichts weiter geworden. Irgendwann war sie mit einem schmierigen Typen durchgebrannt. Später hatte Wanda gehört, dass sie ein Kind nach dem anderen bekam und sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt.

    Die Kassennicky erinnerte Wanda sehr stark an das Mädchen. Die blonden Strähnen waren in dicke Lockenwickler gerollt und es roch nach frischem Nagellack, den Nicky pustend zu trocknen versuchte. Mit einem Zeigefinger-Daumen-System begann sie schließlich, die Ware über die Scanner Fläche zu ziehen, und beförderte sie lieblos in die Papiertüte, während sie Kaugummi kauend immer wieder zu Wanda schaute. Brandon reichte nur knapp über den Verkaufstresen. Er verfolgte aufmerksam jede Bewegung.

    »Vierzehn zwanzig«, sagte Nicky mit ihrer piepsigen Stimme und schob Wanda den Zahlteller entgegen.

    Sie suchte das Geld passend aus ihrem Portemonnaie und legte es in die Ausbuchtung der gläsernen Schale. Während Nicky die Münzen mehrfach zählte und diese schließlich in den Fächern der Kasse verteilte, schnappte sich Wanda die Papiertüte und ging wortlos zur Tür.

    »Wenn ich Sie wäre, würde ich Devils Gate schnellstens verlassen«, rief Nicky ihr hinterher.

    Wanda blieb einen kurzen Moment stehen und atmete tief durch, dann sah sie zu ihrem Sohn hinunter. Gerne hätte sie Nicky in der Luft zerrissen, aber vor den Augen und Ohren ihres Kindes wollte sie sich nicht auf deren Niveau begeben. Deshalb tat sie so, als hätte sie nichts gehört und verließ den Laden, während sie ihre Worte hinunterschluckte.

    Brandon steckte ein letztes Mal den Kopf durch den Türspalt und streckte der Kassiererin seine Zunge genüsslich entgegen. Dann ließ er die Tür zufallen und schloss sich zufrieden seiner Mutter an. Wanda konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Es war nicht so, dass sie es guthieß, anderen Leuten respektlos gegenüberzutreten, aber dieser kleine Moment verschaffte Wanda eine gewisse Genugtuung. Zwar hatten die Tratschtanten von Devils Gate nun einen neuen Grund, die beiden zum Thema der Woche zu machen, aber Brandons entspanntes Gesicht war unbezahlbar.

    Kapitel 2 Mason

    Seit dem Tod seines Bruders besuchte Mason seine Schwägerin und den kleinen Brandon in regelmäßigen Abständen. Offiziell tat er es aus familiären Verpflichtungen, doch der eigentliche Grund war, dass er sich in der Nähe der beiden einfach wohlfühlte. Er genoss das Zusammensein mit ihnen und freute sich wie ein kleiner Junge, wenn Wanda Aufgaben für ihn hatte. Wenn er das Dach flickte oder die Wurzeln der alten Eiche ausgrub, fühlte er sich als wirklicher Teil der Familie, als jemand, auf den man nicht so einfach verzichten konnte. Seit Anthony nicht mehr da war, bestand seine Familie nur noch aus den beiden und dem verschwundenen Chris. Jeden Tag spürte er Sehnsucht nach Wandas älterem Sohn und hoffte darauf, dass dieser eines Tages die Tür öffnen würde. Er wollte einfach nicht wahrhaben, dass sein Neffe vielleicht nie wieder auftauchen würde. Eines Tages würde er sich der Realität stellen müssen, nur nicht jetzt. Solange ein bisschen Hoffnung in seinem Herzen lag, wollte er mit der Realität nicht tauschen.

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