Werkzeuge der Historiker:innen: Antike
By Patrick Reinard, Achim Lichtenberger, Werner Eck and
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Werkzeuge der Historiker:innen - Patrick Reinard
Werkzeuge der Historiker:innen
Umschlagabbildung: Tessera nummularia, Modena; mit freundlicher Genehmigung des Ministero della Cultura – Soprintendenza archeologia, belle arti e paesaggio per la città metropolitana di Bologna e le province di Modena, Reggio Emilia e Ferrara. Vervielfältigung zu Gewinnzwecken (auch indirekten) verboten.
Patrick Reinard (Hrsg.)
Werkzeuge der Historiker:innen
Antike
Verlag W. Kohlhammer
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1. Auflage 2023
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-040102-0
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-040103-7
epub: ISBN 978-3-17-040104-4
Der sichere Umgang mit Quellen ist fundamentale Voraussetzung für alle, die sich mit der Geschichte der Antike beschäftigen möchten. Und doch gibt es keine aktuelle systematische Einführung in die sogenannten „Grundwissenschaften. Patrick Reinard legt nun mit seinem Autorenteam den ersten Band der neuen Reihe „Werkzeuge der Historiker:innen
vor. Anhand konkreter Beispiele erfährt man, wie archäologische, epigraphische, numismatische, papyrologische und philologische Quellen gefunden, gesammelt und herausgegeben werden. Auch über weiterführende Quellennutzung, wie etwa die Prosopographie oder historische Geographie, informiert der Band. Die jeweiligen Disziplinen werden von ausgewiesenen Experten vorgestellt. Gut lesbar präsentieren sie Forschungsstand, Methoden und weiterführende Literatur sowie digitale Hilfsmittel. Ein absolutes Muss für alle Studierenden und historisch Interessierten.
JProf. Dr. Patrick Reinard forscht und lehrt an der Universität Trier.
Inhalt
Vorwort
1 Einführung in die Historischen Grundwissenschaften der Antike
Patrick Reinard
1.1 Historische Grundwissenschaften: Gemeinsames und Trennendes
1.2 Was ist eine Quelle?
1.3 Was ist Quellenkritik?
1.4 Zeit der Alten Geschichte
1.5 Raum der Alten Geschichte
1.6 Literatur
1.6.1 Einführungen und Überblickswerke
1.6.2 Digitale Hilfsmittel
I. Grundwissenschaften
2 Literarische Quellen
Lennart Gilhaus
2.1 Einleitung
2.2 Forschungsgeschichte und -perspektiven
2.3 Vom Codex zur historisch-kritischen Edition
1. Heuristik
2. Recensio
3. Examinatio und Emendatio
2.4 Die historisch-kritische Edition
2.5 Überlieferungsgeschichte
2.6 Fragmente und Scholien
2.7 Gattungen
2.7.1 Die antike Geschichtsschreibung
2.7.2 Weitere Prosagattungen
2.7.3 Poesie
2.8 Zur Auseinandersetzung mit antiken literarischen Texten
2.9 Literatur
2.9.1 Einführungen und Überblickswerke
2.9.2 Spezialliteratur
2.9.3 Digitale Hilfsmittel
3 Epigraphik
Krešimir Matijević
3.1 Einleitung
3.2 Forschungsgeschichte
3.3 Forschungsstand und Ausblick
3.4 Mögliche Kategorisierung
3.5 Methoden
3.6 Literatur
3.6.1 Einführungen und Überblickswerke
3.6.2 Spezialliteratur
3.6.3 Digitale Hilfsmittel
4 Papyrologie
Patrick Sänger
4.1 Einleitung
4.2 Forschungsgeschichte
4.3 Einteilung papyrologischer Schriftträger
4.4 Die Ausrichtung des Faches
4.5 Forschungsstand und Ausblick
4.6 Methoden
4.7 Literatur
4.7.1 Einführungen und Überblickswerke
4.7.2 Spezialliteratur
4.7.3 Digitale Hilfsmittel
5 Numismatik
Peter Franz Mittag
5.1 Forschungsgeschichte
5.2 Methoden
5.3 Münzen als historische Quellen
5.4 Literatur
5.4.1 Einführungen und Überblickswerke
5.4.2 Spezialliteratur
5.4.3 Digitale Hilfsmittel
6 Klassische Archäologie
Achim Lichtenberger
6.1 Forschungsgeschichte
6.2 Forschungsstand und Ausblick
6.3 Untersuchungsgegenstände
6.3.1 Architektur
6.3.2 Skulptur
6.3.3 Keramik
6.4 Methoden
6.4.1 Ausgrabung und Survey
6.4.2 Typologie, Formgeschichte und Stilanalyse
6.4.3 Ikonographie
6.5 Literatur
6.5.1 Einführungen und Überblickswerke
6.5.2 Spezialliteratur
6.5.3 Digitale Hilfsmittel
II. Benachbarte Disziplinen
7 Chronologie
Michael Zerjadtke
7.1 Einführung
7.2 Grundbegriffe
7.3 Ägypten und Babylon
7.4 Griechenland
7.4.1 Jahreszählung
7.4.2 Monate und Tage
7.4.3 Hellenismus
7.5 Rom
7.5.1 Jahreszählung
7.5.2 Monate, Wochen und Tage
7.6 Literatur
7.6.1 Einführungen und Überblickswerke
7.6.2 Spezialliteratur zu Einzelthemen
8 Prosopographie
Werner Eck
8.1 Einleitung
8.2 Forschungsgeschichte
8.3 Forschungsstand
8.4 Methoden: Onomastik und Ämterlaufbahnen
8.5 Literatur
8.5.1 Einführungen und Überblickswerke
8.5.2 Spezialliteratur
Griechische Welt
Römische Welt
8.5.3 Die wichtigsten Prosopographien
8.5.4 Digitale Hilfsmittel
9 Antike Rechtsgeschichte
Kaja Harter-Uibopuu
9.1 Einführung
9.2 Forschungsgeschichte
9.3 Forschungsstand und Ausblick
9.4 Möglichkeiten und Methoden der antiken Rechtsgeschichte
9.4.1 Literarische Quellen
9.4.2 Rechtswissenschaftliche Literatur in Rom und das
9.4.3 Epigraphische Quellen
9.4.4 Papyrologische Quellen
9.5 Literatur
9.5.1 Einführungen und Überblickswerke
9.5.2 Spezialliteratur
Griechische Welt
Römische Welt
9.5.3 Digitale Hilfsmittel
Griechische Welt
Römische Welt
10 Historische Geographie
Michael Rathmann
10.1 Einleitung
10.2 Methoden
10.3 Quellengrundlage
Schriftquellen
Archäologische Zeugnisse
Naturwissenschaften
10.4 Praktische Anwendung
10.6 Literatur
10.6.1 Einführungen und Überblickswerke
10.6.2 Spezialliteratur
10.6.3 Digitale Hilfsmittel
10.6.4 Institutionen
III. Anhang
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Abbildungsverzeichnis
Index
Sachregister
Personenregister
Vorwort
Als im Jahr 1958 Ahasver von Brandt (1909–1977) seine Einführung in die historischen Hilfswissenschaften, Werkzeug des Historikers, als 33. Band der Urban Taschenbücher vorlegte, rechnete wohl niemand damit, dass dieses Buch zu einem der meistverkauften Lehrbücher der Geschichtswissenschaft werden würde. Noch immer findet das Werk in seiner mittlerweile 18. Auflage nicht nur in der universitären Lehre reiche Anwendung, sondern gibt die Standards in der Quellenkunde vor.
Obwohl es für jeden Wissenschaftsverlag eine große Freude und Genugtuung ist, einen so erfolgreichen Titel im Programm zu wissen, haben wir uns entschieden, das Werk durch eine Neufassung zu ersetzen. Notwendig wurde dies vor allem aus zwei Gründen: Zum einen haben sich von Brandts Ausführungen sehr stark auf die Hilfs-/Grundwissenschaften der mittelalterlichen Geschichte konzentriert. Zum anderen haben sich die Hilfs-/Grundwissenschaften in den letzten Jahren nicht nur emanzipiert, sondern merklich weiterentwickelt – nicht zuletzt deshalb, weil sich die klassische Geschichtswissenschaft ausgehend von ihren politik- und rechtsgeschichtlichen Traditionen in einem früher ungeahnten Maße geöffnet hat. Mit der Einbeziehung zahlreicher neuer Forschungsfelder ging auch die Zuwendung zu neuen Quellengruppen einher. Diese Entwicklung ist noch lange nicht abgeschlossen.
Eine breite Auseinandersetzung mit neuen Quellen setzt deren ubiquitäre Zugänglichkeit voraus, die erst mit der allgemeinen Verbreitung von Digitalisaten durch das Internet sowie neue elektronische Erschließungsverfahren möglich geworden ist. So sind nicht nur neue Hilfsmittel und Methoden für alle historischen Teilfächer selbstverständlich geworden, sondern es werden auch gänzlich neue Quellengattungen – nicht nur, aber vor allem in der Zeitgeschichte – erschlossen und erforscht. Die damit einhergehenden Herausforderungen bergen gleichzeitig auch ganz neue Erkenntnispotentiale. Die nächsten Generationen von Wissenschaftler:innen benötigen daher dringend Orientierungspunkte in diesem Dickicht digitalisierter Quellenmassen. Sie benötigen Werkzeuge, um für künftige Fragestellungen mit den Quellen und ihren Digitalisaten auf allen Ebenen umgehen zu können. Zugleich ist auch die konkrete Arbeit an und mit den historischen Quellen stärker an Methoden orientiert und damit herausfordernder geworden. Durch die konsequente Einbeziehung früher als randständig betrachteter Quellengruppen können heute gänzlich neue Fragestellungen bearbeitet werden. Gleichzeitig steigt aber auch der Aufwand, um diese Quellen in ihrer ganzen Breite nutzen zu können.
Vor diesem Hintergrund war es dem Verlag sowie den Herausgeber:innen ein Anliegen, für die historischen Hilfs-/Grundwissenschaften eine moderne, zeitgemäße und alle Epochen berücksichtigende Einführung zu bieten: die Werkzeuge der Historiker:innen in vier Einzelbänden (Antike, Mittelalter, Neuzeit, Zeitgeschichte) mit jeweils rund zehn bis zwanzig Beiträgen. Gegenüber den neun behandelten Disziplinen bei Ahasver von Brandt können so die inhaltlichen und methodischen Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte deutlich umfassender behandelt werden. Die Bände streben trotz gebotener Kürze an, möglichst viele Teildisziplinen entsprechend der verschiedenen Quellengattungen sowie der besonderen hilfs-/grundwissenschaftlichen Arbeitstechniken einführend zu präsentieren. Um Redundanzen zu vermeiden, wurden die Inhalte der einzelnen Bände aufeinander abgestimmt. Dennoch bleibt jeder Band für sich alleinstehend verständlich und nutzbar und berücksichtigt umsichtig die Spezifika der einzelnen Epochen.
Je nach behandelter Epoche zwingt die Erweiterung und Heterogenität der Quellenbasis zu unterschiedlichen Herangehensweisen. So ist die Alte Geschichte trotz einer ursprünglichen Dominanz der literarischen Überlieferung seit jeher gezwungen, die ohnehin geringe Quellenbasis voll auszunutzen, während die Mediävistik stärker alltagsbezogene Quellengruppen wie Inschriften, Graffiti oder serielle Quellen lange Zeit zugunsten herrschaftsnaher Quellen wie Urkunden und Historiographie systematisch vernachlässigte. Mit dem erheblichen Anwachsen der Überlieferung in der Neuzeit und Zeitgeschichte strukturiert in diesen Epochen die gezielte Auswahl der in vertretbarer Zeit bearbeitbaren Quellen den Forschungsprozess. Hinzu kommen gänzlich neue Quellen wie Ton- und audiovisuelle Aufzeichnungen oder gespeicherte digitale Kommunikation.
Genau hier setzen die Bände der Werkzeuge der Historiker:innen an und zeigen, welche Entwicklungen die Disziplin in den jeweiligen Fachbereichen genommen hat und welche Veränderungen sich gerade auch durch die Digitalisierung ergeben haben. Zielgruppe bleiben Studierende, die eine sichere Basis brauchen, von der aus erste Schritte zum eigenen Forschen möglich werden. Im Vorwort zur 7. Auflage seines Werkes schrieb von Brandt: »Das vorliegende Buch ist aus der Praxis des akademischen Unterrichts entstanden«. Dies gilt auch für die neuen Werkzeuge, die auf Lehrerfahrung nicht nur aus dem ganzen deutschsprachigen Raum, sondern auch weit darüber hinaus gestützt sind.
Wir haben uns entschlossen, den traditionsreichen Titel in eine gendergerechte Sprache zu überführen. Ob die einzelnen Kapitel diese verwenden, blieb jedoch im Ermessen der Autor:innen.
Wir sind zuversichtlich, dass diese zeitgemäßen Werkzeuge der Historiker:innen es schaffen werden, die Tradition des Klassikers aus der Feder Ahasver von Brandts fortzuführen.
Der Verlag und die Herausgeber:innen
1 Einführung in die Historischen Grundwissenschaften der Antike
Patrick Reinard
Das Buch ist als Einführung in die Grundwissenschaften der Antike konzipiert und richtet sich insbesondere an Studierende. Es gliedert sich in zwei große Bereiche:
1. Die Grundwissenschaften im engeren Sinne, die sich über die intensive Beschäftigung mit einer Quellengattung definieren und die jeweiligen Quellen zur weiteren wissenschaftlichen Nutzung aufarbeiten und publizieren: die literarischen Quellen, die Epigraphik, die Papyrologie, die Numismatik und die Archäologie.
2. Die benachbarten Disziplinen, die die so erschlossenen Quellen unter Fokussierung auf eine besondere Thematik einer Auswertung unterziehen und historische Informationen so für Nichtspezialisten zugänglicher machen: die Chronologie, die Prosopographie, die Antike Rechtsgeschichte, die Historische Geographie.
Im Sinne der Lesbarkeit wurden möglichst wenige Fußnoten verwendet und die Beiträge sind im Ansatz ähnlich gegliedert. Neben kurzen Bemerkungen zu Forschungsgeschichte und Forschungsstand liegt der Fokus der Darstellung jeweils auf der spezifischen Methodik und den Disziplininhalten. Am Ende eines jeden Beitrags finden sich Quellen-, Literatur- und Internetverweise. Abgeschlossen wird der Band durch ein Register, dessen Einträge sich auf grundwissenschaftlich relevante Termini sowie Personennamen beschränken.
Historisches Arbeiten basiert stets auf einer Kombination spezieller Kompetenzen aus verschiedenen Grundwissenschaften. Insofern ergeben sich zwischen den hier versammelten Beiträgen inhaltliche und methodische Überschneidungen. Auf solche Anknüpfungspunkte wird durch einen Querverweis zu anderen Kapiteln hingewiesen. Doch zunächst einmal gilt es, den Begriff ›Grundwissenschaften‹ zu erklären, sowie eine kurze Orientierung über die Bereiche zu geben, in denen sich die einzelnen Disziplinen berühren, überschneiden und ergänzen. Darauffolgend werden kurz die Termini ›Quelle‹ und ›Quellenkritik‹ eingeführt und Zeit und Raum der griechisch-römischen Antike beschrieben.
1.1 Historische Grundwissenschaften: Gemeinsames und Trennendes
Die Termini ›Hilfs-‹ und ›Grundwissenschaft‹ werden in diesem Buch synonym aufgefasst, wobei die zweitgenannte Bezeichnung favorisiert wird, da sie keine hierarchische Einordnung suggeriert; in früherer Zeit wurden in der Geschichtswissenschaft einige benachbarte Disziplinen sogar als ancilla (lat. ›Dienerin‹) bezeichnet. Es ist daher wichtig zu betonen, dass alle Grundwissenschaften gleichrangig nebeneinanderstehen und sich gegenseitig stützen. Inhalte, Methoden und Ergebnisse einer Grundwissenschaft können wechselseitig auch von den anderen genutzt werden. Ja, vielfach ist es sogar zwingend nötig, Erkenntnisse aus anderen Grundwissenschaften wahrzunehmen. Deshalb ist der mitunter als wertend empfundene Begriff ›Hilfswissenschaften‹ irreführend.
Innerhalb der Alten Geschichte wurden die ›Historischen Grundwissenschaften‹ nicht als eigenes Fach aufgefasst, wie dies etwa in der Mittelalterlichen Geschichte üblich ist. Verschiedene Disziplinen entwickelten sich vielmehr zu eigenen Fächern, deren Methoden und Inhalte in unterschiedlichen Ausmaßen in das ›Fach‹ Alte Geschichte integriert sind. Die Archäologie, die Papyrologie oder die Klassische Philologie sind an den Universitäten gänzlich selbstständige Fächer, die zwar auf das Engste mit der Alten Geschichte verbunden sind, aber dennoch jeweils eigene, weit in die Vergangenheit zurückreichende Traditionen aufweisen. Dagegen gelten Epigraphik und Numismatik in der Regel als fachinterne Teildisziplinen der Althistorie, die auf der Schnittstelle zwischen den archäologischen und altgeschichtlichen Fächern angesiedelt sind.
Gemeinsam ist diesen Grundwissenschaften, dass sie sich jeweils mit einer spezifischen Quellengruppe befassen: Die Archäologie (s. Kap. 6) behandelt generell materielle Hinterlassenschaften, die Papyrologie (s. Kap. 4) befasst sich mit handschriftlichen Zeugnissen – insbesondere, aber nicht ausschließlich mit solchen auf Papyri und Scherben (griech. ὄστρακα, ›Ostraka‹) –, die Klassische Philologie (s. Kap. 2) konzentriert sich auf die antiken Sprachen sowie auf durch Manuskripte überlieferte lateinische und griechische Literaturwerke, die Numismatik (s. Kap. 5) fokussiert sich auf Münzen sowie vergleichbare Objekte und die Epigraphik (s. Kap. 3) ist für sämtliche Texte zuständig, die auf Stein, Bronze, Blei, Holz, Keramik etc. überliefert sind. Bei diesen Grundwissenschaften handelt es sich also um quellenaufbereitende Disziplinen. Insofern könnte man sie auch als Grundlagenforschungen bezeichnen. Dabei beschränken sie sich natürlich nicht ausschließlich auf ein ›Verfügbarmachen‹ von Quellen, sondern thematisieren vielfältige disziplinspezifische und historische Fragen.
Selbstverständlich bestehen zwischen den Grundwissenschaften diverse Überschneidungen und Zusammenhänge: Antike literarische Werke liegen auch auf Papyri vor, in Stein gesetzte Inschriften überliefern manchmal antike Dichtung (z. B. metrische Grabepigramme) und manches Graffito entpuppt sich als Zitat eines bekannten antiken Autors. Klassische Philologie, Papyrologie und Epigraphik bieten also aufgrund ihrer Ausrichtung auf das geschriebene Wort vielfältige Überschneidungen und Anknüpfungspunkte. Dies gilt im besonderen Maße für einzelne Quellengruppen, die zwischen Papyrologie und Epigraphik stehen: Handschriftliche Texte haben sich nicht ausschließlich auf Papyri und Ostraka erhalten, sondern auch auf antiken Wänden, auf Schreib- und Wachstafeln, auf hölzernen Mumienetiketten oder auf Textilien etc. Während die Schreibtafeln zumeist zu gleichen Teilen von Papyrologie und Epigraphik behandelt werden, lassen sich für andere Textgruppen bestimmte Schwerpunkte erkennen. Graffiti auf Wänden werden z. B. tendenziell meist der Epigraphik zugeordnet, während die Mumientäfelchen – letztlich auch aufgrund ihrer geographischen Herkunft (Ägypten) – hauptsächlich der Papyrologie zugeschlagen werden. Bei handschriftlichen Zeugnissen kann auch die Anbringungsart für eine Zuordnung zu einer ›Grundwissenschaft‹ entscheidend sein. Mit Tinte beschriebene Scherben werden häufiger der Papyrologie zugerechnet, während geritzte Texte eher Gegenstand der Epigraphik sind; dies liegt auch daran, dass mit Tinte beschriebene Keramikstücke jenseits der üblichen Fundregionen papyrologischer Texte (Ägypten und im geringeren Umfang beispielsweise noch Syrien, Levante, Nordafrika oder Kreta) seltener erhalten sind. Hinsichtlich der Unterscheidung, die sich aufgrund der Funktion eines Textes auf einem Keramikstück erkennen lässt, ist Folgendes zu bemerken: Manche Texte wurden auf Keramikgefäßen angebracht, als diese noch intakt und funktionsfähig waren. Diese Zeugnisse hatten also eine Bedeutung im Zusammenhang mit dem Gebrauch des Gefäßes in der Antike; man spricht z. B. von Dipinti oder Tituli Picti. Andere Texte – und dies sind im Wesentlichen die als Ostraka angesprochenen Stücke – wurden erst auf einer Tonscherbe angebracht, als das Gefäß, der Teller, die Amphore etc. nicht mehr in Funktion war (s. Abb. 4.1). Aus defekten Keramikgefäßen wurden in sekundärer Nutzung – gewissermaßen durch ›Recycling‹ – Schriftträger. Im ersten Fall werden die Texte meistens der Epigraphik (s. Kap. 3), im zweiten Fall eher der Papyrologie (s. Kap. 4) zugerechnet.
Die mannigfaltigen Überschneidungen zwischen Klassischer Philologie, Papyrologie und Epigraphik ergeben sich auch aufgrund von Gemeinsamkeiten in der methodischen Aufarbeitung und Auswertung der Texte. Eigentlich sind sämtliche erhaltenen Textzeugnisse für sprachgeschichtliche Forschungen von Relevanz, wobei sich aber die Sprachwissenschaft nicht als einzelne ›Grundwissenschaft‹ der Alten Geschichte entwickelt hat. Sie ist im Wesentlichen eine Domäne der Klassischen Philologie und – mit einem Fokus auf der Alltagssprache – der Papyrologie. Ein weiterer Unterschied liegt auch in der literaturwissenschaftlichen Bewertung, die in der Papyrologie und Epigraphik eine untergeordnete Rolle spielt, während sie in der Klassischen Philologie (s. Kap. 2) von zentraler Bedeutung ist. Hier ergibt sich auch ein wichtiger Anknüpfungspunkt zwischen dem philologischen und dem althistorischen Fach: Für die Althistorie ist im Zuge der Quellenauswertung die konkrete literatur- und gattungsgeschichtliche Einordnung eines Textes sowie eine möglichst tiefgehende soziokulturelle Verortung eines Autors sehr wichtig, weshalb Inhalte und Methoden der Klassischen Philologie adaptiert werden müssen.
Für die Philologie ist wiederum charakteristisch, dass sie sich im Zuge der Textüberlieferung und -wiederherstellung grundlegend mit nachantiken Manuskripten beschäftigt und dadurch in vielerlei Hinsicht auch mediävistische Methoden und Kompetenzen umfasst.
Zwischen Archäologie und Numismatik gibt es ebenfalls grundlegende Überschneidungen: Beide ›Grundwissenschaften‹ befassen sich mit ikonographischen Quellen bzw. mit einer Quelle, in der ikonographische Darstellung und Textinformation verbunden sind. Gewiss gibt es auch Graffitizeichnungen oder Papyrusmalereien, die Material für eine Beschäftigung mit ›Bildquellen‹ sein können, doch ist die wissenschaftliche Auswertung ikonographischer Zeugnisse im Besonderen eine Aufgabe der Archäologie (s. Kap. 6). Die Münzen sind dabei eine spezielle Fundgruppe, die in vielerlei Hinsicht eigene Herausforderungen, Methoden und Inhalte aufweist und dabei können u. a. auch geld- und wirtschaftshistorische Fragen verfolgt werden (s. Kap. 5).
Neben der ikonographischen Überlieferung befasst sich die Archäologie auch mit architektonischen, typologischen, siedlungsarchäologischen oder grabungstechnischen Themen. Man kann zu Recht sagen, dass sie unter den auf ausgewählte Quellengruppen orientierten Grundwissenschaften die breiteste Disziplin ist; letztlich ist alles, was Papyrologie, Epigraphik und Numismatik auswerten, zunächst einmal ein archäologischer Fund. Sofern ein archäologischer Fundkontext vorliegt, können die archäologischen Fundzusammenhänge fundamentale Informationen (Herkunft, Datierung, soziokulturelle und wirtschaftliche Bedeutung etc.) über ein papyrologisches, epigraphisches oder numismatisches Quellenzeugnis liefern. Dies ist natürlich vice versa ebenfalls möglich: So können etwa Münzen und Papyri für die Datierung eines Grabungsbefundes von Bedeutung sein, oder der Name einer archäologisch untersuchten Siedlung ist vielleicht nur dank einer Inschrift oder eines Ostrakons bekannt.
Zwischen den auf einzelne Quellengruppen konzentrierten ›Grundwissenschaften‹ gibt es nicht nur diverse Berührungspunkte, sondern diese Disziplinen überschneiden und ergänzen sich in vielen Bereichen. Dies gilt im besonderen Maße für die Chronologie (s. Kap. 7), die Prosopographie (s. Kap. 8), die Rechtsgeschichte (s. Kap. 9) und die Historische Geographie (s. Kap. 10). Diese vier Disziplinen sind in erster Linie durch eine besondere Methodik sowie die Fokussierung auf spezielle Themen und Methoden gekennzeichnet. Allerdings sind sie keineswegs auf eine spezielle Quellengruppe begrenzt.
Der Erfolg und Umfang der prosopographischen Forschung, d. h. der Untersuchung bestimmter Personengruppen mit dem Ziel der Verdeutlichung von ›Personengeschichten‹ und sozio-politischen Verbindungen, ist abhängig vom verfügbaren Quellenmaterial; insbesondere ist eine gewisse Quantität an Zeugnissen notwendig, um verlässliche Informationen durch die Prosopographie zu erreichen. Dabei sind die Inschriften die wichtigste Quellengruppe, aber natürlich müssen auch literarische oder papyrologische Quellen ausgewertet werden. Die Übergänge zwischen den Quellendisziplinen können daher in prosopographischen Arbeiten häufig fließend sein. Ein besonderer Bereich ist dabei auch die Onomastik (griech. ὄνομα, ›Name‹), die namenskundliche Forschung (s. Kap. 8). Personennamen können Informationen über die kulturelle, geographische oder ethnische Herkunft einer Person liefern; mitunter können auch Erkenntnisse zu Datierungsfragen von Personennamen abgeleitet werden.
Als spezielle historische Methode ist auch die Historische Geographie zu verstehen, die die antike Raumwahrnehmung und -vorstellung sowie die Veränderung von Naturräumen, aber auch den Umgang mit naturräumlichen und nautischen Gegebenheiten oder die Toponymik untersucht. Hierbei werden – wie in der Prosopographie – sämtliche Quellengruppen, die entsprechende Informationen liefern können, in den Blick genommen. Ferner spielt die Wahrnehmung der rezenten topographischen Situationen sowie die Auswertung nachantiker Karten, Reiseberichte, Landschaftsdarstellungen etc. eine Rolle. Letztlich wird sämtliche historische Überlieferung über einen bestimmten Ort oder eine bestimmte Region für die Bewertung antiker historisch-geographischer Fragestellungen rezipiert; insbesondere mit der Archäologie bestehen breite Überschneidungen.
Eine besondere Methodik und Fragestellung zeichnet auch die Chronologie (s. Kap. 7) aus. Diese Disziplin untersucht die antiken Techniken der Zeitbestimmung, der Zeitrechnung oder der Zeitangabe. Damit ist diese Grundwissenschaft unmittelbar mit der in der Geschichtswissenschaft omnipräsenten Datierungsfrage verbunden. Für alle Grundwissenschaften und generell für jedwedes historisches Forschen ist eine zeitliche Einordnung von Ereignissen, Personen, materiellen Gegenständen, schriftlichen Texten etc. von zentraler Wichtigkeit. Da für die Datierung archäologischer Funde in den jeweiligen spezialisierten Disziplinen besondere Methoden etabliert sind, besteht ein intensiver Austausch mit der Chronologie.
Schließlich ist noch die Rechtsgeschichte (s. Kap. 9) zu nennen, die eine besondere Form des historischen Forschens darstellt. Sie fokussiert sich auf die Etablierung, Praxis, Entwicklung, Verbreitung und Rezeption des antiken Rechtswesens. Diese Thematik, die anhand besonderer methodischer Zugriffe zu erforschen ist, hat dazu geführt, dass die Rechtsgeschichte teilweise als eigenes Fach gesehen wird, das nicht selten auch tatsächlich von Juristen betrieben wird. Die Rechtsgeschichte basiert in weiten Teilen auf ganz unterschiedlichen Quellengattungen. Für die römische Zeit sind insbesondere die großen spätantiken Gesetzessammlungen zu nennen; für das antike Griechenland liefern Inschriften oder literarisch überlieferte Reden die wichtigsten Erkenntnisse. Doch auch andere Überlieferungsgruppen stellen Quellenmaterial zur Erforschung des antiken Rechts zur Verfügung. Für die Rechtsgeschichte ist nicht nur die Auswertung erhaltener Gesetzestexte wichtig, sondern generell jede direkte oder indirekte Aussage zu Gesetzen, normativen Regeln und Rechtsprechung. Dazu werden sämtliche verfügbaren Quelleninformationen gesichtet, weshalb Methoden der entsprechenden Grundwissenschaften zu adaptieren sind.
Einzelne Arbeitsmethoden werden von verschiedenen Grundwissenschaften angewendet. Bei der Analyse von Handschriften oder Schriftbildern kommen Methoden der Philologie und der Papyrologie (s. Abb. 4.1 bis 4.3) zur Anwendung; man spricht von Paläographie (griech. παλαιός, ›alt‹; γράφειν, ›schreiben‹), wobei dieser Terminus generell die Beschäftigung mit alten Schriften und mit der Entwicklung von Schriftzeichen meint und dabei keinesfalls strikt als auf Handschriftliches begrenzt zu verstehen ist. So wird z. B. auch in der Epigraphik von Paläographie gesprochen. Hier geht es dann um die Ausführung gemeißelter oder gestanzter Buchstaben. Bei Amphorenaufschriften oder Wandgraffiti kann zudem ebenfalls von Paläographie die Rede sein, wenn der Fokus auf der handschriftlichen Ausführung einer Aufschrift liegt; hier ist die Arbeitsweise dann wieder sehr eng mit der Papyrologie verwandt.
Eine ebenfalls in verschiedenen Grundwissenschaften wichtige Methode ist die Autopsie (griech. αὐτός, ›selbst‹; ὄψις, ›das Sehen‹), das Prüfen von Quellen am Originalbestand. Autopsie kann z. B. im Museum bei der Analyse von Kunstwerken, Papyri oder Inschriften, aber ebenso auch in einer Landschaft bzw. vor Ort an einem Denkmal, Gebäude, einer Wegführung etc. erfolgen.
1.2 Was ist eine Quelle?
Die Erforschung der antiken Geschichte steht vor dem Problem einer relativen Quellenarmut. Nur ein geringer Bruchteil der einstigen literarisch-schriftlichen sowie der materiellen Kulturleistungen sind erhalten geblieben. Diese ›Armut‹ bedingt einerseits die zentrale Bedeutung der Grundwissenschaften für das historische Forschen, denn das stete Aufbereiten und Zugänglichmachen neuer Zeugnisse ist immer ein großer Gewinn, der unser Bild von der Antike manchmal massiv und nachhaltig verändert. Andererseits führt die ›Armut‹ dazu, dass sich die Grundwissenschaften in vielen Bereichen überschneiden und gegenseitig aufeinander angewiesen sind, denn stets muss