Der Amerikaner im Bundesrat: Stationen im Leben des Emil Frey
By Markus Wüest
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Book preview
Der Amerikaner im Bundesrat - Markus Wüest
Inhalt
Cover
Impressum (epub)
Titel
Prolog
Bern, 12. März 1897
Krieg und Frieden
Gettysburg, Pennsylvania
1. Juli 1863
Waldoboro, Maine
18. November 2021
Basel
15. Mai 1874
Bern
3. Dezember 1904
Richmond, Virginia
1. Juli 1864
Waldoboro, Maine
24. November 2021
Drei Briefe
Arlesheim
15. Oktober 1860
Riedenburg (Vorarlberg)
11. November 1879
Sils-Maria
18. Januar 1899
Stationen
Münchenstein, «Rössli»
19. Juni 1870
Bern, Bundeshaus
5. Juni 1876
Washington, DC
23. August 1882
An Bord der «Garland»
28. August 1884
Washington, DC
14. Mai 1887
Andermatt
8. Oktober 1896
Waldoboro, Maine
28. März 2022
Epilog
Arlesheim, 5. September 1921
Im Spiegel
Basel
18. April 2022
Über den Autor
Über das Buch
Markus Wüest
Der Amerikaner im Bundesrat
Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit
einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
Autor und Verlag danken für den Förderbeitrag:
empty© 2022 Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Thomas Gierl
Umschlaggestaltung: Hug & Eberlein, Leipzig
eBook-Produktion: 3w+p, Rimpar
ISBN ePub 978-3-7296-2392-7
www.zytglogge.ch
Markus Wüest
Der Amerikaner
im Bundesrat
Stationen im Leben des Emil Frey
Roman
emptyDies ist ein Roman. Die Fiktion lehnt sich sehr eng an die verbürgten Tatsachen an.
Das auf den 3. Dezember 1904 datierte Kapitel «Bern» ist eine leicht gekürzte Wiedergabe des Vorworts von «Die Kriegstaten der Schweizer» von Emil Frey.
Das auf den 5. Juni 1876 datierte Kapitel «Bern, Bundeshaus» ist die leicht bearbeitete Wiedergabe der Rede von Emil Frey vor dem Nationalrat, wie sie am 6. Juni 1876 in der NZZ veröffentlicht wurde.
Die praktische Bedeutung unserer Neutralität für uns und für die Staaten Europas, im Frieden und im Krieg, beruht in letzter Instanz auf unseren Kanonen und Bajonetten und auf dem unerschütterlichen Entschlusse unseres Volkes, für seine Freiheit und Unabhängigkeit zu fechten bis zum letzten Mann. Alles andere ist Beiwerk und vielfach auch Geflunker, und Schmach und Schande obendrein. Ein Volk wie das unsrige, das so Grosses und Ruhmvolles vollbracht hat, als es den Kampf um die Unabhängigkeit kämpfte, und das so würdig ist wie irgendein anderes, seine Unabhängigkeit zu bewahren, sollte sich um sein Erbe nicht betrügen lassen durch Theorien, die ein stolzes Volk nicht ertragen kann.
Emil Frey, «Die Neutralität der Schweiz», Winterthur, 1900
Prolog
Bern, 12. März 1897
Lass los, Emil, es hat keinen Wert. Und Schwabe hat recht. «Jetzt ist der Augenblick gekommen, wo Du mit Ehren Deine Stellung als Vorsteher des Militärdepartements quittieren kannst.» So hat er es doch geschrieben, oder? Und wie lauteten noch die Worte Forrers? «Es hat mich eine schwere halbe Stunde gekostet, bis ich mich zu einem bestimmten Rat entschliessen konnte. Dieser geht dahin, dass Du annehmen solltest. Du kriegst doch keine Ruhe, wenn Du bleibst.»
Der stattliche Mann mit dem gepflegten und präzise geschnittenen Bart geht zu seinem Schreibtisch, sucht die Enveloppe mit dem Brief von Benno Schwabe darin, seinem alten Freund aus Basel. Seinem treuen Berater, dem Verleger, dem klugen Kopf, der loyal ihm stets zur Seite gestanden hat; seit vielen Jahren. Er fängt nicht vorne an zu lesen, überfliegt den Inhalt, sucht nur die eine Stelle, die ihm so wichtig erscheint.
«Der Augenblick, den Du so sehr ersehnt hast.» So hat es Schwabe formuliert.
Hast du es denn ersehnt, Emil? Hast du das? Wirklich?
Und er liest noch einen weiteren Satz: «Deine Jahre, der Hass, der Dich in Deiner Stellung unaufhörlich verfolgte, die Zukunft Deiner Familie mahnen Dich, eine Stelle aufzugeben, die Dich so oft unglücklich machte.»
Hass. Ein starkes Wort. Hatten sie ihn wirklich gehasst? Obwohl er doch stets nur das Beste für sein Land hatte erreichen wollen? Schwabe ist kein Schwadroneur. Alles andere als das. Schwabe ist ein Mann des Wortes, der präzise formuliert, sorgfältig abwägt, bevor er den Mund aufmacht. Hass. Er hat von Hass geschrieben.
Er mustert sich im Spiegel. Fast ein Dutzend Jahre lang war er stets mit einem Fuss im Bundesrat gestanden. War sich ein paar Mal ziemlich sicher gewesen, dass nun endlich der Moment gekommen sei, den grossen Schritt zu machen. Schon beim ersten Anlauf, 1879, hatte er fest damit gerechnet und dann doch gegen Hertenstein den Kürzeren gezogen. Es war der grosse Schritt, der seinem Vater, Emil Remigius Frey, zwar verwehrt worden war, aber der ihm, dem jungen Frey, nicht auf ewig würde verwehrt bleiben können. Nicht auf ewig, bei all seinen Verdiensten um die Partei. Um die Sache. Bei all seinem unermüdlichen Einsatz. Bei seinem Wissen und seinem Sachverstand und seiner Kompetenz.
Nach Amerika hatten sie ihn dann geschickt. 1882. Weg vom Fenster. Die Siechä! Alles abgekartet, alles von den Katholen und, was ihn am meisten getroffen hatte, den Feinden in seinen eigenen Reihen sauber eingefädelt. Davon war er felsenfest überzeugt.
Und? War er nicht gegangen? Hatte er sich nicht gefügt? Doch, hatte er. Sechs Jahre lang. Aber als er wieder zurückgekehrt war, für immer, nicht bloss für die langen Sommerferien daheim im Baselbiet, da hatte er halt einen neuen Anlauf genommen. 1890 hatte er es geschafft. So schnell gibt ein Frey schliesslich nicht auf.
Er zupft seinen Kragen zurecht, wischt sich einen imaginären Staubfussel vom Jackett. Wirft einen Blick auf die Bilder seiner Verwandten und Vorfahren an der Wand. Loslassen, Emil! Dem Frieden zuliebe. Den Kindern zuliebe. Dir zuliebe. Dann hört das Gespött auf, die dummen Witze. Die ständigen Sticheleien.
Gäbe er jetzt dem ersten Impuls nach, würde er sich in seinen Sessel setzen, vielleicht eine Zigarre anzünden, vielleicht einfach ruhen. Stattdessen wendet er sich zum Fenster hin. Sein Blick geht hinaus auf die Strasse. Den Niesenweg. In zehn Minuten will er losgehen; noch ist nicht der Moment gekommen, Impulsen nachzugeben. Disziplin bis zum Äussersten. Er hat seine Pflicht zu erfüllen. Wie immer schon.
Die Presse wird informiert werden. Als Zemp, der Luzerner, ihm das Angebot gemacht hatte, vor ein paar Tagen, war ihm klar, dass es nicht eigentlich ein Angebot war. Es war der Weg, den die anderen für ihn vorbestimmt hatten. Er hatte es kommen sehen. Schon im Dezember.
Da hatte er ein paar schwere Nächte gehabt. Lange war er wach gelegen, hatte keine Ruhe gefunden, war in seinem Schlafzimmer auf und ab gegangen. Nach der Schmach, die er durch die Stimmbürger Anfang November erlitten hatte, war er drauf und dran gewesen, den Bettel hinzuwerfen. Kein Vertrauen mehr hatte er gehabt, hatte sich missverstanden gefühlt, abgelehnt.
War damit zu rechnen gewesen, dass sie ihn im Amt bestätigen würden in den Räten, trotz allem? Die schwersten Zweifel hatten ihn geplagt. Mit Hans hatte er darüber geredet. Mit den anderen Kindern nicht. Auch nicht mit Emil jr. Schwabe hatte er getroffen. War gar nach Basel gefahren, um sich Rat und Beistand zu holen, und hatte wohl daran getan, weil sein Freund ihn tatsächlich beruhigt hatte.
Die Bestätigung im Amt, schlussament reibungslos und recht klar, hatte ihm das Herz leichter gemacht. Und doch. Und doch hatte er gewusst, dass der Punkt gekommen war, an dem er sich Neuem würde zuwenden müssen, weil er so eine Schmach, so eine bodenlose Enttäuschung nicht noch einmal erleben wollte. Zu viele Schläge hatte er schon einstecken müssen.
Das Volk. Die Stimmbürger. Hoch und heilig war ihm ihr Urteil immer gewesen. Immer. In all den Jahren. Denn was macht eine funktionierende Demokratie sonst aus, wenn nicht der Entscheid durch die Mehrheit?
Aber man hatte nicht auf ihn gehört. Hatte entgegen seinem Willen entschieden.
Wieder versucht er, diese Gedanken zu verscheuchen, doch wie ein lästiger Hund, der ständig bettelt, wollen sie einfach nicht weichen. Herrgott. Lass es gut sein, Emil! Es hat keinen Wert mehr, und du weisst es. Tief saugt er die Luft ein, füllt die Lungen bis hinab zum Bauch. Bläst sich auf, hält den Atem einen Moment an, richtet sich zu voller Grösse auf, mustert sich im Spiegel. Stösst dann die Luft wieder aus. Kontrolliert, langsam.
Time to go. Sagt er sich. Zeit zu gehen.
Direktor des Büros der Internationalen Telegraphen-Union. Aha. Soso. Oha. Als Josef Zemp ihn im letzten August am Ende eines langen Tages während der Session zur Seite genommen hatte, um eine erste Andeutung zu machen, dass das ein Posten wäre für ihn, da war er verdattert gewesen. Empört wäre wohl das bessere Wort.
Die wollen dich loswerden, Emil. Merkst du das nicht? Dieser Sauhund hat doch tatsächlich den Magen, dich aufs Abstellgleis zu fahren und es dir auch noch ins Gesicht zu sagen. Obwohl: So schlimm war Zemp gar nicht. Für einen Konservativen. Einen Katholiken. Einen Innerschweizer. Es gab andere. Schlimmere. Gerade auch bei den Eigenen, den Radikalen.
So unerwartet das gekommen war, so gut hatte er sich im Griff gehabt. Nun ja, wäre Zemp nicht neben ihm gestanden im Zwielicht des zu Ende gehenden Tages, sondern ihm gegenüber gewesen, vielleicht wäre diesem aufgefallen, wie ihm für einen kurzen Augenblick die Mundwinkel gezittert hatten. Bei seinem dichten Bart war das gut zu sehen, besser, als wenn er ohne gewesen wäre, denn die Haare wackelten mit, der Schnauz wurde dann jeweils von einem kleinen Beben geschüttelt. Er wusste das. Er hatte es selbst schon an sich beobachtet – und bei anderen Bartträgern gesehen. Aber schnell hatte er sich gefasst. Nur etwas gebrummt. Unverständlich für den anderen und in seiner Brummigkeit nicht ganz klar auszumachen, ob wohlwollend oder erzürnt.
Direktor des Büros der Internationalen Telegraphen-Union. Soso. Gewählt vom Bundesrat am 12. März. Diese Meldung würde in zwei Stunden an die Presse gehen.
So soll es sein. 24000 Franken im Jahr. Fast doppelt so viel wie als Bundesrat. Und weniger im Rampenlicht. Seltener Zielscheibe der Presse. Des Spotts. Dafür in internationalen Kreisen agieren, gelegentlich auf der grossen Bühne – das war nicht ganz ohne.
Und das Geld konnte er brauchen. Alte Schulden zahlen. Das Haus in Arlesheim weniger belasten. Hans, Emil jr. und Carl etwas zustecken. Und mit seinem flüssigen Englisch, dem perfekten Französisch, seinen guten Kontakten im In- und im Ausland, mit seinen festen und belastbaren Beziehungen vor allem in den USA bestanden keine Zweifel: Er war der richtige Mann für diesen Job.
Sollen doch die alten Kollegen im Bundesrat ohne ihn sehen, wie sie zu Schlag kommen würden. Sollen sie!
Er streicht sich mit der offenen Hand über den Bart. Hustet einmal. Und dann, als nähme er zum ersten Mal überhaupt an diesem Morgen das Haus um ihn herum wahr, hört er es. Das Klavier. Die Musik. Helene.
Wie oft hatte er ihr schon ins Gewissen geredet. Sie ermahnt. Aber seit Annas Tod zügelt er sich etwas, nimmt er sich selbst, so gut es eben geht, an die Kandare, mässigt seine Moralpredigten und seine Ratschläge. Er darf nicht zu harsch und zu hart mit dem Mädchen sein. Immerhin übernimmt sie im Haus die Aufgaben und Pflichten, die eigentlich der Frau an seiner Seite oblägen.
Mozart. Wie immer. Das muss er ihr lassen. Kaum falsche Töne, soweit er das beurteilen kann. Wenn nur Hans etwas mehr von der Lebensfreude dieses Mädchens in sich tragen würde. Nicht zum ersten Mal, dass er diesen Gedanken hat. Während er sie, Helene, gelegentlich massregeln muss, verwendet er stets und immer wieder Kraft darauf, seinen Ältesten anzutreiben, ihn zu ermuntern. Es will ihm scheinen, als könnte er ihm gar nicht genug Mut machen. Es fühlt sich manchmal an, als bliese und bliese er in ein Feuer, das einfach nicht recht brennen will.
Er öffnet die Tür seines Arbeitszimmers. Und lässt sie danach ein bisschen lauter und ein bisschen kräftiger ins Schloss fallen als angebracht. Soll Helene nur hören, dass er parat ist.
Er stapft schweren Schrittes die Treppe hinunter, als wäre er zehn oder zwanzig Jahre älter. Tatsächlich spürt er die Last der kommenden Stunden, die Bürde des Aussergewöhnlichen. Kein Tag wie jeder andere. Wahrlich.
«Papa?»
Das Klavier ist verstummt. Die Tür zum Salon steht einen Spalt breit offen, seine Tochter äugt hinaus. Als sie ihn sieht, stösst sie die Tür weiter auf, ganz auf. Mustert ihn. Sie trägt das grüne Kleid mit dem Blumenmuster, das ihm so gefällt an ihr.
«Du siehst gut aus.»
«Ich bin wie immer. Ich bin, wie ich bin.»
«Hast Du etwas Ruhe finden können?»
«Ruhe?» Er hüstelt. Bleibt stehen. Fasst nun seinerseits Helene ins Auge. «Ja, ich habe etwas Ruhe finden können.»
«Hast Du die Briefe von Herrn Schwabe und von Herrn Forrer gesehen?»
«Wie könnte ich nicht ...»
«Was sagen sie?»
«Dass es besser ist so.»
Er weiss, dass sie mehr hören möchte, Details, ganze Sätze, Erklärungen. Dass sie drauf und dran ist, ihn mit mehr Fragen zu löchern. Sich aber besinnt. Es steht ihr nicht zu, dem Vater allzu tief in die Seele zu blicken. Das dürfen vielleicht ihre Brüder, Hans, Emil jr. und Carl. Aber nicht sie, das Mädchen, die Tochter, die junge Frau.
Für einen Moment ist da diese Unbeholfenheit zwischen ihm und Helene, die er schon öfter wahrgenommen hat. Dieses Bedürfnis, Nähe zuzulassen, sie vielleicht in den Arm zu nehmen. Es würde ihm guttun. Jetzt besonders.
Aber hatten sie vorher schon immer eine gewisse Distanz gehalten, so ist das mit Annas viel zu frühem Tod nicht etwa besser geworden, sondern nur noch schwieriger. Anna fehlt ihnen beiden. Sie fehlt vor allem als Bindeglied zwischen ihnen.
Er zieht sich den Mantel über, denn es ist kalt draussen. Ein winterlicher, nasser März. Helene hilft ihm, legt ihm dabei ganz kurz die Hand auf den Unterarm.
«Machʼs gut, Papa. Bis später.»
«Bis später.»
Er tritt auf die Strasse. Kalt ist es wohl, und es hat da und dort noch ein paar letzte Reste Schnee. Aber die Wolken haben aufgerissen. Blauer Himmel zeigt sich. Er blickt gegen Süden. Zu den Alpen hin. Ist sich sicher, Eiger, Mönch und Jungfrau ausmachen zu können.
Es ist keine vier Wochen her, da war er zuletzt in Göschenen und anschliessend oben in Andermatt. Er, Vorsteher des Militärdepartements, war auf Besuch bei seiner Truppe gewesen. Dem kleinen Kreis handverlesener, von ihm ausgesuchter Männer, die den Gotthard verteidigen, wenn es darauf ankommt. Lauter tüchtige, stolze Offiziere. Ihnen hatte er noch einmal ins Gewissen geredet. Aber auch Mut gemacht. Ihnen hatte er die Aufgabe übertragen, die Alpen zu einem sicheren Rückzugsort der Armee zu machen, peu à peu.