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Das Haus der Architektin
Das Haus der Architektin
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Das Haus der Architektin

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About this ebook

Auf einer Insel im Neuenburgersee liegt das seit Jahrzehnten verlassene und völlig abgeschirmte Anwesen «Les Espoirs», um das sich zahllose Legenden ranken. Hier lebte die weitgehend in Vergessenheit geratene Architektin Marie-Yolande Rabaut, die sich jegliche Berichterstattung über ihr Haus verbat.Als ein Architekturjournalist den Auftrag erhält, diese modernistische Extravaganz als erster Reporter überhaupt zu besichtigen und exklusiv darüber zu berichten, kann er sein Glück kaum fassen. In Begleitung seiner zwei Hunde lässt er sich von einem Fischerboot auf der Insel absetzen, um die Liegenschaft in Ruhe zu erkunden. Doch seine anfängliche Begeisterung für die architektonischen Kuriositäten schlägt schon bald in Ratlosigkeit um. Wofür sind all diese Räume und labyrinthischen Korridore? Und warum verhalten sich seine Hunde so auffällig? Je länger er auf der Insel weilt, desto unwohler wird ihm. Als er sich verletzt und feststellen muss, dass alle Verbindungen zum Festland gekappt sind, bleibt ihm nichts anderes übrig, als die Nacht allein mit seinen Hunden im Haus zu verbringen. Allein?
LanguageDeutsch
Release dateFeb 23, 2023
ISBN9783729623958
Das Haus der Architektin

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    Book preview

    Das Haus der Architektin - Mirko Beetschen

    Inhalt

    Cover

    Impressum

    Titel

    Aus dem Architekturalmanach der Schweiz, 1994

    Vorbemerkung

    1

    2

    Leserbrief in der Neuenburger Tageszeitung «Neuchâtel Soir», 1987

    3

    4

    Artikel in der Schweizer Tageszeitung «Die Sicht», 1972

    5

    6

    7

    8

    9

    Artikel in der Schweizer Zeitschrift «Glücksblatt», 1973

    10

    11

    12

    13

    14

    15

    16

    Aus der Pressemeldung der Agentur BOND, Zürich, März 2018

    17

    Nachtrag

    Kurzmeldung in der Schweizer Tageszeitung «Die Capitale», 15. März 2018

    Über den Autor

    Über das Buch

    Mirko Beetschen

    Das Haus der Architektin

    Autor und Verlag danken für die Unterstützung: 

    empty

    Der Zytglogge Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit

    einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt. 

    © 2023 Mirko Beetschen

    Zytglogge Verlag, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel 

    Alle Rechte vorbehalten 

    Lektorat: Thomas Gierl 

    Coverbild: © Edin Tiganj, editdesign.de: Brutalistarch

    Umschlaggestaltung: Hug & Eberlein, Leipzig 

    eBook-Produktion: 3w+p, Rimpar

    ISBN ePub 978-3-7296-2395-8

    www.zytglogge.ch

    Mirko Beetschen

    Das Haus

    der Architektin

    Roman

    empty

    «[...] and whatever walked there, walked alone.»

    Shirley Jackson, «The Haunting of Hill House»

    Aus dem Architekturalmanach der Schweiz, 1994:

    Eine eigentliche Kuriosität der Schweizer Moderne stellt das Wohnhaus der Architektin → Marie-Yolande Rabaut von 1952 dar. Nicht nur seine Situation auf einer heute im Na‍turschutzgebiet Fanel liegenden Insel im Neuenburgersee ist außergewöhnlich, das Gebäude, das Rabaut bis zu ihrem Tod 1972 selbst bewohnte, ist so wenig dokumentiert wie kein anderer Schweizer Bau seiner Prägnanz. Die wenigen existierenden Aufnahmen zeigen ein stilistisch nicht eindeu‍tig einzuordnendes Gebäude, das seine Wurzeln in der → klassischen Moderne findet, dessen Formensprache aber überhöht und auf experimentelle Weise neu kombiniert. Mehrere Erweiterungen aus der Zeit der → Spätmoderne. Seit 1972 leerstehend. Die Insel bleibt trotz Bestrebungen des Kantons, das Land zurückzukaufen, weiterhin in Privatbesitz und ist der Öffentlichkeit nicht zugänglich.

    Vorbemerkung

    Wie beschreibt man etwas, das eigentlich nicht sein kann? Wo setzt man ein? Und wie verschafft man sich als Autor Glaubhaftigkeit?

    Die Idee, das Ganze in einen schriftlichen Report zu fassen, hatte meine Psychologin, und obschon ich mich zuerst dagegen sträubte, wurde mir bald klar, dass dies der richtige Weg ist. Es tat gut, die Ereignisse, die nun schon fast ein Jahr zurückliegen, mit Distanz zu betrachten, zu reflektieren und zu protokollieren.

    Ich hatte es auf andere Weise versucht. Doch darüber zu sprechen, war schwierig – nicht nur für mich, sondern auch für meine jeweiligen Zuhörer. Die Erinnerung in übermäßigem Alkoholkonsum, amourösen Abenteuern oder exzessivem Sport zu ersticken, hat nicht geklappt, und von der langen Reise durch Südamerika musste ich eines Tages ja auch wieder zurückkehren.

    Dieser Bericht ist jedoch nicht nur therapeutisch und soll mir helfen, die Geschehnisse einzuordnen, ich sehe in ihm unterdessen auch einen höheren Zweck: Er wird zu meiner Warnschrift, zu der Reportage, die ich nie schreiben durfte.

    Wenn Sie ihn lesen, bitte ich Sie, dies mit einem offenen Geist zu tun und all die Dinge, die Sie zweifellos über mich und meine Erlebnisse gehört haben, für einen Augenblick zur Seite zu schieben. Dann entscheiden Sie, ob Sie mir glauben wollen oder nicht. Doch wenn Sie auch nur einen Funken Zweifel an den offiziellen Deutungen der Ereignisse hegen, verbreiten Sie meine Geschichte und warnen Sie so viele Menschen wie möglich. Ich bitte Sie.

    1

    Der Auftrag, der mein Leben verändern sollte, kam an einem ganz gewöhnlichen Montagmorgen im März.

    Ich bin noch immer nicht sicher, ob dies der richtige Anfang für meinen Bericht ist. Vielleicht sollte ich weiter ausholen, von meiner frühen Faszination für Architektur erzählen, die am Ende für die fatalen Ereignisse verantwortlich war, von meinem Ehrgeiz – küchenpsychologisch durch meinen Status als jüngstes von drei Geschwistern erklärt –, meiner Eitelkeit, genährt durch die vielfachen Auszeichnungen, die meine Reportagen erhalten haben, oder meine Überheblichkeit. All das waren Ingredienzien in dem toxischen Gemisch, das an jenem Morgen entstand, als unser Chef uns an der Redaktionssitzung eröffnete, dass wir die Exklusivrechte einer Story über Les Espoirs erhalten hatten.

    Rückblickend ist es einfach, die Alternativen zu sehen, die mir damals offen gestanden hätten. Die einzigen Termine, die uns der Besitzer für den Besuch vor Ort anbot, hatte ich eigentlich bereits verplant. Wie leicht wäre es da gefallen, meinem Kollegen von der Kultur, der diesen Sommer pensioniert würde, den Vortritt zu lassen. Auch die junge Kollegin wäre prädestiniert gewesen, sich des Themas anzunehmen; eine Kennerin der Sache, das wusste ich, für deren Arbeit und frisch eingeschlagene Karriere dies eine spannende Geschichte gewesen wäre. Eine Diskussion zumindest wäre anständig gewesen.

    Doch lassen wir das müßige Spekulieren, denn ich, ich musste den Namen der Architektin, diesen großen, dunklen, geheimnisvollen Namen, wie ein neunmalkluger Schüler in die Runde geben, Marie-Yolande Rabaut – ein Name, der einen eindrücklichen Echoraum in Kultur- und Architekturkreisen besaß, der allgemeinen Bevölkerung jedoch kaum bekannt war –, und damit unmissverständlich meinen Anspruch auf die Story geltend machen.

    Ich könnte meine Geschichte natürlich auch im Jetzt beginnen, meinen fragilen seelischen Zustand beschreiben, mein Zurückschrecken vor Schatten und Bewegungen im Augenwinkel, plötzlichen Geräuschen, fernen Schritten und – mein Gott, wie lächerlich sich das anhört – dem Plätschern oder Tröpfeln von Wasser ... Oder wie mich eiskalte Angst ergreift, wenn ich meine, Feuchtigkeit oder Moder zu riechen.

    Oder sollte ich Ihnen von Marie-Yolande Rabaut berichten? Von ihrem Leben, Wirken und Sterben, das mich einst so faszinierte und heute, da es unwiederbringlich mit meinem eigenen verwoben ist, nur noch abstößt?

    Man könnte die Ursachen und Folgen endlos nach vorne und hinten ausdehnen, doch am Ende war es meine Entscheidung, den Auftrag an mich zu reißen, der die folgenden Ereignisse ins Rollen brachte.

    «Richtig», sagte mein Chef und forderte mich mit einem Blick auf, weiter auszuführen.

    «Les Espoirs war ihr Wohnhaus im Neuenburger See», erklärte ich den anwesenden Redakteurinnen und Redakteuren der anderen Ressorts, «über das sie nie jemanden offiziell berichten ließ.»

    «Man darf annehmen, dass es sich bei der Dame um eine Architektin handelt ...?» Dies kam von meiner Kollegin aus der Wirtschaft, die mir gerne zu spüren gab, wie überflüssig sie meine Berichterstattung zu Städtebau, Siedlungsplanung, Architektur und Design fand, und deren Fachbereich ich mit derselben Verachtung strafte.

    «Eine der wichtigsten Architektinnen, die die Schweiz hatte», erwiderte ich, die Augenbrauen hochgezogen. «Leider stark unterschätzt und in Laienkreisen heute weitgehend unbekannt.»

    Die Ressortleiterin Wirtschaft verschränkte die Arme und schwieg demonstrativ.

    «Eine hochspannende, tatsächlich aber viel zu wenig beachtete Figur», besänftigte die junge Kollegin, die zwischen den Bereichen Literatur, Film und Architektur pendelte und uns alten Hasen immer wieder charmant zeigte, wie gestrig unser Ressortdenken war. «Sie hat nur eine Handvoll Projekte realisieren können und fühlte sich zu ihrer Zeit als Frau nicht ernst genommen.»

    Sie sah mich fragend an, und ich nickte.

    «Sie stammte aus La-Chaux-de-Fonds und studierte in den Zwanzigerjahren an der ETH in Zürich. Ihr einziges bekanntes Werk ist eine Schulanlage, die sie in Neuenburg bauen konnte, 1936 oder so.»

    «Und das Wohnhaus für ihre Eltern», warf ich ein. «Das schlug damals zwar keine Wellen, wurde aber vor einigen Jahren wiederentdeckt», ich deutete Anführungszeichen in die Luft, «als es abgerissen werden sollte.»

    «Man konnte es aber retten, nicht?», versicherte sich der Kulturkollege.

    «Ja, eine Stiftung hat es dank eines Landabtauschs übernehmen können», erläuterte ich. «Leider fehlen bis heute die Gelder für die Renovierung. Was eine Schande ist, wenn man bedenkt ...»

    Ein Räuspern aus der Wirtschaftsecke.

    Ich hob beschwichtigend die Hand. «Jedenfalls hat sich Rabaut in den Fünfzigerjahren aus der Öffentlichkeit zurückgezogen, sich eine der Moorinseln im Neuenburgersee gekauft und begonnen, darauf ihr Eigenheim zu bauen – Les Espoirs, wie sie selbst es nannte.»

    «Ein Skandal!» Der Technikredakteur war ein ruhiger Altachtundsechziger mit wildem Schnauzbart, den ich für sein fundiertes wissenschaftliches Wissen und die informativ-pointierte Art, es zu vermitteln, seit je bewunderte. «Dass es damals möglich war, in einem derart gut erhaltenen Ökosystem Baugrund auszuscheiden.»

    «Es gab jedenfalls unglaublich zu reden», pflichtete ich ihm bei. «Rabaut hat später darüber gespottet, dass sie als bauende Künstlerin – so bezeichnete sie sich selbst – nie so viel Aufmerksamkeit erregte wie mit dem Kauf dieser kleinen, ungenutzten Insel, die sie einzig ein paar Wasservögeln streitig machte.»

    «Seltenen Wasservögeln», präzisierte der Technikredakteur mit erhobenem Zeigefinger.

    «Wie auch immer», beendete der Chefredakteur den spontanen Informationsaustausch, «wir haben jedenfalls die einmalige Gelegenheit, eine exklusive Reportage über dieses Objekt zu veröffentlichen.» Er blätterte in dem üblichen Stapel aus Konkurrenzblättern, allgemeiner Redaktionspost und ausgedruckter E-Mail-Korrespondenz und zog eins der weißen Papiermäppchen heraus, in denen er die Unterlagen für gesetzte Themen jeweils bündelte. «Hier, die Erben schreiben uns direkt an. Sollten wir ausschlagen, geht das Angebot an die FAZ weiter.» Er streckte das Schreiben auffordernd hoch. «Sie bieten uns allerdings nur knapp zwei Wochen Zeit an, denn danach wird die Öffentlichkeit darüber informiert, was aus dem Gebäude werden soll. Es wird um umgehende Antwort gebeten.» Er sah zu mir. «Darf ich dir das Thema übertragen?»

    «Mit dem größten Vergnügen», erwiderte ich, nahm ihm die Papiere ab und den Auftrag offiziell an.

    Wahrscheinlich ist es an der Zeit, ein paar Worte über mich selbst zu verlieren – ich meine, ein paar persönlichere Worte. Bis hierher habe ich mich nicht eben als sympathischen Zeitgenossen dargestellt. Das liegt einerseits daran, dass ich mich rückblickend – zumindest in der eingangs beschriebenen Situation – auch nicht als solchen betrachte, andererseits schreibe ich aus einer, wie soll ich sagen, eher düsteren Stimmung heraus und sehe mein früheres Ich durch die Brille meiner zwischenzeitlich gemachten Erfahrungen.

    Es ist schwer genug, mich in meine damalige Situation zurückzuversetzen, der Leichtigkeit nachzuspüren, mit der ich meine Tage verlebte. Ich bin sicher, dass Sie mir den zuweilen sarkastischen Tonfall nachsehen werden, wenn Sie meinen Bericht erst einmal zu Ende gelesen haben.

    In unserer Kultur definiert man sich ja hauptsächlich über den Beruf, also lassen Sie mich davon erzählen. Ich hatte bis in meine Zwanziger keine Ahnung, was ich im Leben arbeiten sollte, wozu ich berufen wäre – denn nichts rief nach mir. Die Vorstellung, mich festlegen zu müssen, war für mich als Kind eine ebenso vage wie unheimliche Idee, die ich weit in die Zukunft schob, doch mit der ich mich trotzdem immer wieder konfrontiert sah; etwa wenn Tanten meinten, aus dem Jungen werde bestimmt einmal ein Musiker, Lehrer, Polizist – je nachdem, womit ich sie gerade beeindruckt hatte – oder Freunde meiner Eltern mich fragten, was ich denn einmal werden wolle. Die Bilder, die vor meinem inneren Auge auftauchten, erschreckten mich, ich sah mich als kleinen Jungen in Groß, gefangen in einer fremden Form, einer fremden Welt, festgezurrt in einem Leben, das mir nicht entsprach.

    Dieses Werden wurde mir immer suspekter, je weiter ich in meine Jugendjahre rutschte, zumal meine Mitschüler und Freunde mit Begeisterung und Überzeugung deklarierten, was sie eines Tages werden würden.

    Und als ich auch nach erfolgter Maturitätsprüfung noch immer nicht wusste, welchen Ausbildungspfad ich einschlagen sollte – die Matur war mir seit Kindheitstagen wie ein ferner Leuchtturm erschienen, der mich ins Erwachsenensein hineinlotste, eine Reifeprüfung, die mich vom Kind zum Mann machen, mit der Weisheit und Rationalität des gereiften Menschen rüsten und mir meinen weiteren Weg wie einen gelb gepflasterten Pfad in mein Leben legen würde – stand ich völlig ratlos da, den erloschenen Leuchtturm im Rücken, die Zukunft: ein Wald voller Schatten. Ich war perplex ob der Erkenntnis, dass man sich auch nach zwei Jahrzehnten auf der Welt keineswegs erwachsen fühlte, und stürzte in eine erste tiefe Krise.

    Und so reiste ich. Nicht um die Welt, wie ich es vielleicht hätte tun können oder sollen, sondern stets mit einem sicheren Anker in der Heimat, zurückkehrend und wieder wegreisend, ein Jahr lang. Verdiente mir die Reisen in der Schweiz, als Verkäufer in einem alternativen Musikgeschäft – es war die Hochzeit der Compact Disc, Vinyl, so vermutete man, hatte ausgedient, und die digitale Welle war noch nicht angerollt, und ich verstand sehr viel von Rock und Pop –, als Aushilfe im Restaurant eines Campingplatzes, als Aufseher in einem Kunstmuseum und Mädchen für alles an einem großen Musik-Open-Air. Neben der finanziellen Aufpolsterung hatten diese Jobs den Vorteil, mir Einblick in Gebiete und Tätigkeiten zu geben, die ich im Ausschlussverfahren von meiner Liste möglicher künftiger Professionalisierung streichen konnte, und sie zeichneten mir vor allem ein klareres Bild meiner eigenen Person.

    So stellte ich mich als für jegliche Gastgebertätigkeit gänzlich ungeeignet heraus, zwischenmenschlichen Kontakt dürfte ich in meinem Beruf zwar haben, aber er sollte auf ein Minimum beschränkt sein, Passives und Repetitives langweilte mich nicht nur, es frustrierte mich und löste gar Stimmungen von ungeahnter Düsternis aus. Körperliche Arbeiten schließlich – das hätte ich mit meiner Abscheu vor den Haushaltsämtchen meiner Kindheit eigentlich schon wissen müssen – machten mir schlichtweg keinen Spaß.

    Ich trug während dieses Jahres stets ein Notizbüchlein bei mir, in dem ich verschiedenste Listen anlegte, kreative Diagramme malte, Kombinationsmöglichkeiten prüfte, Vor- und Nachteile aufschrieb und Bedingungen ebenso wie Konsequenzen einer Studien- oder Berufswahl notierte. So überwältigend die Menge an Optionen zu Beginn war, so erleichternd war es, mittels Erfahrung, Trial-and-Error, Selbsterkenntnis und Logik eine um die andere wegzustreichen, bis ich am Ende des Jahres nur noch eine Handvoll Stichworte auf die letzte Seite hinüberrettete und sich mir aus deren Kombination mein eigenes Werden schließlich erschloss.

    Der Beruf des Journalisten war es, der meine Neugierde und mein selbständiges Denken, mein soziologisches, jedoch weniger soziales Interesse, meinen Wissenshunger und mein Talent, Leute für etwas zu begeistern, Dinge zu durchleuchten und zu hinterfragen, am besten befriedigte.

    Ich entschied mich also für ein Studium des Journalismus, ein Fach, das ich in an der Universität in Freiburg belegte, während ich die Nebenfächer Kunstgeschichte und Theaterwissenschaften in Bern studierte und alle drei nach für damalige Verhältnisse kurzen sechs Jahren abschloss.

    Schon als Student hatte ich begonnen, für die «Neue Berner Zeitung», dem Schweizer Qualitätsblatt seit 1780, als Freelancer zu arbeiten, schrieb Theaterrezensionen, aber auch erste kritische Architekturtexte, die bei Redaktion wie Leserschaft so großen Anklang fanden, dass sie mir nach dem Lizenziat eine feste Anstellung sicherten. Seither bin ich Berichterstatter, Meinungsmacher, Reporter und Redakteur in Sachen Architektur und sämtlichen verwandten Disziplinen, die sich mit der Gestaltung des menschlichen Lebensumfelds befassen.

    Selbstverständlich gab es eine Zeit, da ich erwog, mich beruflich zu verändern, als Chefredakteur bei einem Fachmagazin anzuheuern oder sogar etwas Eigenes aufzuziehen, doch Komfort und Prestige meiner Position hielten mich am Ende davon ab. Ich muss zugeben, dass ich es mir in meinem Leben ziemlich bequem eingerichtet habe und darüber wohl etwas träge geworden bin. Bis auf ein halbjähriges Sabbatical, das mich einen Sommer nach Stockholm und auf eine herbstliche Reise durch Japan führte, bin ich meiner Zeitung und meiner Stadt all die Jahre treu geblieben.

    2

    Es ist, als hätte ich mit dem Verfassen dieses Textes die Möglichkeit erhalten, zu einem Oeil extérieur zu werden und das Ganze noch einmal aus nüchterner Distanz zu betrachten. Und ich muss zugeben, dass ich froh darüber bin, einen Ort fern von der Gegenwart gefunden zu haben, an den ich mich zurückziehen kann. Schreibend vergesse ich, was jetzt ist, und auch wenn diese Fluchten in die Vergangenheit jeweils nur temporär sind, tut es gut, mich aus den Gedankenstrudeln herauszunehmen, in die ich immer wieder gerate.

    Natürlich weiß ich, dass ich mich schon bald mit unangenehmeren Erinnerungen auseinandersetzen muss und die therapeutische Arbeit dann erst richtig beginnt. Mein Hauptantrieb jedoch bleibt, das Durchgemachte aufzuschreiben und damit zu verhindern, dass andere Menschen erleben, was mir widerfahren ist.

    Also versetze ich mich einmal mehr in die lebensbejahende Stimmung jener Tage zurück.

    An diesem Morgen war ich, moderat ausgedrückt, euphorisiert. Ich, Michael T. Ungermann, sollte der erste Journalist sein, der die legendären Espoirs nicht nur betreten, sondern offiziell darüber schreiben durfte! Ich weiß noch, wie ich mich in diesem Augenblick geschmeichelt fühlte, eitler Gockel, der ich war. Als ob ich persönlich angefragt worden wäre – oder unser Chef mich mit dem Thema wenigstens direkt betraut und es nicht zur Diskussion in die Runde geworfen hätte.

    Ich eilte durch die Passerelle, die den dunkelgrünen Stahl- und Glasneubau von Herzog & de Meuron im zweiten Obergeschoss mit dem Altbau verband, einer adler- und sphinxgeschmückten Extravaganz aus den 1930er-Jahren, die besser ins nationalsozialistische Berlin oder mussolinische Mailand gepasst hätte als in die Schweizer Bundesstadt, warf beim Vorbeigehen einen Blick auf die Liftanzeige – keine der drei holzverkleideten Kabinen war abfahrtsbereit – und hastete die Treppe in die vierte Etage hoch.

    Die Kolleginnen und Kollegen der anderen Redaktionen mochten noch so von den Annehmlichkeiten der neuen Büros mit Kreativ-‍, Rückzugs- und

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