Der verschwundene Mond
By Zoë Jenny
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Der verschwundene Mond - Zoë Jenny
Als Leiter des Astronomischen Instituts von Wien dreht sich Martys Leben um die Beschäftigung mit den Weiten des Universums. Die wirkliche Welt, die meist unangenehme Dinge bereithält, schiebt er darüber gerne beiseite. Dass seine Frau Marlene bereits insgeheim von einem Leben auf Bali träumt und seine Tochter an ihrem Frausein zweifelt, bleibt ihm verborgen. Auf dem Rückflug von einem Kongress trifft er auf den Psychoanalytiker Steindorfer, der ihn fragt, warum der Mensch eigentlich mehr über ferne Planeten wisse als über das eigene Bewusstsein, und ihm daraufhin sein Manuskript zu dem Thema überlässt. Nachdem Marlene nach Bali und Stella zur französischen Atlantikküste abgereist sind, findet Marty im Zimmer seiner Tochter eine Männerperücke. Auf der Suche nach einer Antwort, wie viel er wirklich über seine Frau und seine Tochter weiß, erinnert er sich an Steindorfer, offenbar im Besitz der intimsten Gedanken der Menschen, und beginnt, dessen Manuskript zu lesen, das ihn völlig verstört. Nach vergeblichen Versuchen, Steindorfer zu kontaktieren, bleibt er mit seinen Fragen allein, ahnt aber, dass er über seine Sterne sein Leben vergessen hat. In einem letzten Aufbäumen beschließt er, nach Bali zu fliegen.
In Zoë Jennys neuem Roman herrscht eine beunruhigende Atmosphäre. Die fernen Sternenwelten stehen so ganz im Gegensatz zu den sich immer schneller entwickelnden fatalen Ereignissen auf der Erde. Jenny erzählt von gut ausgebildeten, aber arbeitslosen Akademikern, von ewigen Altnazis, von künstlicher Intelligenz, von Diversität und Geschlechtsumwandlung, von persönlicher Freiheit und fehlenden Alternativen, von Klimakrise und Lichtverschmutzung und bewegt sich damit an den Rändern der erkennbaren Wirklichkeit inmitten des Sternenchaos.
Zoë Jenny: Der verschwundene MondVerlagslogoFür Naomi
Das Fenster war aus den Angeln gehoben. Eigentlich wollte Marty es nur aus der Kippfunktion lösen, um es ganz zu öffnen. Aber es klemmte. Er rüttelte daran, wobei sich die alten, bereits lockeren Scharniere mitsamt dem Fensterflügel aus dem Rahmen lösten.
Marty verlor das Gleichgewicht; nahm einen Satz rückwärts, um wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen, fluchend, weil er sich dabei am Kaffeetisch anstieß. Taumelnd klammerte er sich an dem Fensterflügel fest. Nicht loslassen, dachte er, nur nicht loslassen. Um ein Haar wäre er damit krachend zu Boden gestürzt.
»Leiter des Astronomischen Instituts Opfer der Schwerkraft.«
Vorsichtig lehnte er den Fensterflügel an die Wand. Er würde den Hausmeister benachrichtigen müssen.
Dort wo sonst das Fenster war, klaffte jetzt ein Loch. Das späte Nachmittagslicht fiel in einem Photonenstrom auf seinen Schreibtisch und verdunkelte den Computerbildschirm. Statt auf das Dokument blickte er ins Schwarze.
»Murphy’s Law«, murmelte er und sah auf die Uhr. Am liebsten wäre er nach Hause gegangen. Doch seine Anwesenheit wurde beim jährlichen Sommerfest des Instituts erwartet. Marlene und Stella müssten schon unterwegs sein.
Auf seinem Schreibtisch lag das Anmeldeformular für den Kongress. Den ganzen Tag hatte er es herausgeschoben, Theresa damit zu konfrontieren. Kurz entschlossen nahm er das Formular und ging durch den dunklen Korridor zum Vestibül.
Vor drei Jahren, als er zum ersten Mal die repräsentative Eingangshalle des Instituts betrat und diese Treppe hinaufging, war er von der Gravität der Marmorsäulen, die von der Galerie bis zur Decke reichten, beeindruckt gewesen. Es war, als ginge er in diesem prächtigen Gebäude automatisch aufrechter, mit erhobenem Kopf und gestreckter Wirbelsäule. Inzwischen nahm Marty zwei Stufen auf einmal und bemerkte an dem Gebäude höchstens noch die Dimensionen, die weiten Wege, die zu vielen Stufen und die Hitze, die sich im Sommer durch das Oberlicht und die großen Fenster in den Räumen staute.
Theresas Büro befand sich neben der Bibliothek in einem Zimmer der ehemaligen Direktorenwohnung. Sie war eben erst in das Büro eingezogen. Beim Eingang standen noch nicht ausgeräumte Kisten mit Büchern und Dokumentenordnern. Sie saß mit dem Rücken zum Fenster an ihrem Computer. An der Wand neben ihrem Schreibtisch hingen Zettel, Einladungen und eine impressionistische Ansichtskarte von Monet. Er kannte das Bild von einer Ausstellung, zu der Marlene ihn mitgenommen hatte. Eine rote Sonne im Nebel, deren Licht auf der Wasseroberfläche reflektiert. Wenn er die Augen zusammenkniff, schien sich das Wasser zu bewegen.
Theresa bemerkte ihn nicht. Versunken blickte sie auf ihren Bildschirm: die Ansicht des Sternenembryos HBC 722 im Nordamerikanebel. Auf HBC 722 war er besonders stolz – war es doch sein Team, das den seltenen Ausbruch dieses Sterns erstmals beobachten konnte. Sogenannte FU-Orionis-Ausbrüche, gigantische Masseströme, die sich bei der Geburt eines Sterns entwickeln, und Materiestürze, die lawinenartig auf den jungen Himmelskörper einbrechen. Die spektakulären Bilder von HBC 722, eintausendfünfhundert Lichtjahre von der Erde entfernt, hatten es sogar in die Tageszeitungen geschafft.
Marty räusperte sich und trat ins Zimmer.
Theresa schob ihren Sessel zurück und drehte sich ihm zu.
»Sie arbeiten so viel, dass Sie gar keine Zeit haben, Ihr Büro einzuräumen?«, sagte Marty mit Blick auf die Kisten.
Theresa lachte verlegen und wollte schon aufstehen, aber Marty machte ihr mit einer Handbewegung ein Zeichen, sitzen zu bleiben.
»Ich habe über die Beiträge des Instituts bei unserem Wiener Kongress nachgedacht. Es würde mich sehr freuen, wenn Sie bei diesem Anlass einen Vortrag über unser Projekt halten.« Er deutete auf den Bildschirm.
»Aber natürlich«, sagte Theresa ohne zu zögern. Marty kam einen Schritt näher, senkte den Kopf und blickte auf das Formular in seiner Hand.
»Da gibt es nur ein Problem. Chile hat mich kontaktiert, sie haben unvorhergesehene Wartungsarbeiten, Ihre Beobachtungszeit in La Silla musste verschoben werden und fällt jetzt genau auf das Datum unseres Kongresses.«
Theresa sank unvermittelt in den Sessel zurück. Den Antrag auf Beobachtungszeit von der ESO hatte sie kurz vor ihrer Festanstellung bestätigt bekommen. Über ein Jahr musste sie auf die Zusage warten. Marty hatte ihr damals versprochen, ihr eigenes Forschungsprojekt über die Untersuchung eines Planetenembryos zu Ende führen zu können. Doch nach einer kurzen Pause richtete Theresa sich wieder auf.
»Ich kann eine der Studentinnen nach Chile schicken. Amy, sie kann die Beobachtungen für mich machen und mir die Daten bringen.«
Erleichtert ging er zurück in sein Büro. Auf Theresa war Verlass. Es war kein Fehler gewesen, ihr den Posten anzubieten. Sie hatte stets das große Ganze im Blick, eine unverzichtbare Fähigkeit in ihrer Position. Natürlich wusste sie um ihr Glück. Denn längst waren die Zeiten vorbei, wo jeder Physiker nach seiner Promotion eine Festanstellung bekam. Ein regelrechter Kampf um die Jobs war entbrannt.
Er kam am Sekretariat vorbei und an der Hauptkuppel, in dem sich der Refraktor befand, ein vor der Jahrhundertwende errichtetes Linsenfernrohr, das heute eine der Hauptattraktionen für die Besucher war. Immerhin gehörte es seinerzeit zu den größten der Welt. Ja, in diesem Institut zu arbeiten war eine Ehre, aber Theresa würde, wie alle anderen hier auch, den Rest ihres beruflichen Daseins in ihrem Büro verbringen und wenn überhaupt, nur noch durch das Teleskop des Instituts den Himmel betrachten.
Marty blickte auf die Uhr. Marlene und Stella müssten schon von zu Hause weggefahren sein. Als er in sein Büro zurückging, kamen ihm zwei Männer vom Catering mit Getränkekisten entgegen. Ein Student, der für den Aufbau der Cocktailbar zuständig war, erklärte ihnen den Weg über die Treppe auf die Westterrasse, wo sie den Grill und das Buffet aufstellen konnten. Einmal im Jahr kamen die Mitarbeiter mit ihren Ehepartnern und Kindern zum Sommerfest; ein Anlass, den Marty eigentlich gerne ausgelassen hätte. Aber für die Mitarbeiter war das Sommerfest eine Möglichkeit, einmal in ungezwungener Atmosphäre zusammenzukommen – seine Anwesenheit wurde erwartet.
In seinem Schrank hingen immer ein paar frische Hemden bereit, falls er im Anschluss an die Arbeit zu einer Veranstaltung oder einem Abendessen gehen musste. Er nahm das erste Hemd, das ihm in die Hand kam, ein blaues mit kurzen Ärmeln. Sein Büro war geräumig, mit einer Sitzgruppe, wo er Gäste empfangen konnte. Auf dem Schreibtisch ein Foto von Stella und Marlene in die Kamera lachend, im Hintergrund der Krater des Vesuvs.
Während er das Hemd zuknöpfte, stand er vor der Vitrine mit der Sammlung diverser Meteoriten und Fossilien. Seine letzte Anschaffung war ein Ammonit aus der Sahara, aufgeschnitten und poliert auf einem Sockel. Marty betrachtete das offengelegte Kammersystem. Vor hundert Millionen Jahren lebte in der äußeren Kammer dieses Fossils ein Kopffüßer mit einem schlagenden Kiemenherzen, der im Meer herumschwamm, und nun lagen die Überreste hier präpariert in seiner Vitrine, neben Meteoriten und Mondgestein. Die Nautilusspirale war eines seiner schönsten Exemplare, aber mehr noch faszinierten ihn die Meteoriten mit ihren kreisrunden Strukturen von kondensiertem Urstaub, deren Form durch den Sturz durch die Atmosphäre und je nach Aufschlagswinkel in die Erde bestimmt war. An einigen konnte man die Flugorientierung erkennen, dort, wo der Wind