"Morgen hole ich dich wieder": Erinnerungen an meine jungen Jahre
By Fritz Boss and Lilian Fankhauser
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Fritz Boss
Fritz Boss, geboren 1938, wurde mit 9 Jahren verdingt. "Am Tag vor dem Bettag 1947, im Alter von neun Jahren, hat mich mein Vater auf einen fremden Hof gebracht. Das letzte Stück sind wir mit dem Fahrrad gefahren, ich sass vorne auf der Stange, zwischen den Beinen meines Vaters und schaute auf den Boden. Ich sehe noch heute das Bild der optischen Täuschung: Wir schienen gegen hinten statt gegen vorne zu fahren. Ein Bild, das sich in meinem Herz für immer als Richtungswechsel, als das Fahren weg von meiner eigenen Zukunft festgesetzt hat. Nachdem er mich abgesetzt hatte, sagte mein Vater zu mir: Morgen hole ich dich wieder ab. Aber er ist nie mehr zurückgekommen. Fritz Boss erzählt von den Jahren als Verdingbub und wie er später, als Erwachsener, damit umgegangen ist.
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Book preview
"Morgen hole ich dich wieder" - Fritz Boss
Ich widme meine Erinnerungen meinen Kindern Peter, André, Irene und Urs.
Inhaltsverzeichnis
Einleitung von Lilian Fankhauser
Der angeknabberte Apfelkuchen
Rastlose Jahre
Ferien bei den Grosseltern
«Morgen hole ich dich wieder»
Die erste Zeit als Verdingbub
Das liebe Hanni
Ein Niemand zu sein
Lehrer Pulfer Köbu
Pferdekarrer Fritz
Die, die weggeschaut haben
Konfirmationsausflug mit Folgen
Der Besuch der Mutter
Als Knecht auf dem Hof
Lehrjahre
Wie es weiterging, das Leben
Epilog von Lilian Fankhauser
In Jahrzahlen
Einleitung von Lilian Fankhauser
«Da wurde mir klar, dass ich ein Niemand bin.» Diesen Ausdruck, «ein Niemand zu sein» wiederholt Fritz mehrmals in seiner Erzählung und er trifft mich tief. Ein Kind, dem die Menschen rundum das Gefühl geben, ein Niemand zu sein. Und das doch jeden Tag aufsteht, arbeitet, zur Schule geht und alles tut, um nicht negativ aufzufallen. Jeden Tag, immer wieder, trotz allem. In der ganzen Zeit als Verdingbub gab es genau zwei Menschen, die sich hie und da für ihn eingesetzt haben: ein Lehrer und die Schwägerin des Bauern. Und die anderen? Die haben ihn behandelt, als wäre er ein Niemand. Weil man das damals einfach so machte.
Mir kommen immer wieder die Tränen, wenn Fritz erzählt, der Schmerz von damals ist so präsent in seiner Erzählung, er ist mit Händen greif- und fühlbar. Meine Tränen sind Tränen der Anteilnahme, der Ohnmacht, aber auch Tränen der Wut. Wut auf den Bauern, der nie ein liebes Wort für Fritz übrig hatte, nie. Wut auf eine Gesellschaft, die es bis vor wenigen Jahrzehnten richtig fand, einer Familie fünf von acht Kindern wegzunehmen, sie zu verdingen, jedes alleine auf einem Hof im Bernbiet. Aus jedem von ihnen einen Niemand zu machen, einfach so. Weil ihre Eltern arm waren und der Vater getrunken hat. Die Boss-Kinder waren nicht die einzigen. Es wird geschätzt, dass in der Schweiz insgesamt 85'000 Kinder aus fünf Generationen verdingt worden sind, erst 1981 wurde dies gesetzlich verboten. Alle diese Kinder wurden ihren Familien weggenommen und zur Arbeit auf einen Bauernhof gegeben oder kamen in ein Heim.
Die Geschichte von Fritz ist eine von vielen, aber es ist die Geschichte von «unserem» Fritz, dem langjährigen Partner meiner Mutter und damit der Grossvater meiner Kinder. Deshalb nahm mich seine Geschichte wunder und er hat sie mir erzählt, in mehreren Etappen, mal hatte er Tränen in den Augen, mal ich, mal hat er gelacht und ich dann mit ihm. Ich habe die Geschichte möglichst so aufgeschrieben, wie er sie mir erzählt hat, in seinen Worten, in einer fast mündlichen Sprache. Fritz hat alles gelesen und korrigiert und für gut befunden und das soll so sein. Es ist seine Geschichte. Wir haben uns entschieden, die Geschichte zu anonymisieren, damit nicht nachvollziehbar ist, auf welchem Hof Fritz als Verdingbub gelebt hat.
Fritz war neun Jahre alt, als er verdingt wurde, ein kleiner fröhlicher Zweitklässler. Heute ist er über achtzig Jahre alt und er ist weder verbittert, noch schicksalsergeben, noch wütend. Er ist einer der liebsten und freundlichsten Menschen, die ich kenne. Ich weiss nicht, wie es möglich ist, dass er trotz allem freundlich, humorvoll und offensichtlich psychisch gesund ist. Ich weiss nicht, wie es möglich ist, aber ich bin sehr froh darum.
Der angeknabberte Apfelkuchen
Ich bin am 11. Juli 1938 zur Welt gekommen. Wir haben damals in Dampfwil gewohnt, das ist ein Dorf am Nordfuss des Frienisbergers. Die Geburt war offenbar schwierig, jedenfalls musste meine Mutter ins Frauenspital nach Bern gebracht werden, weil ich einfach partout nicht auf die Welt kommen wollte. Und als ich dann endlich da war, wussten die Ärzte und Hebammen nicht, ob ich überhaupt überleben würde. Das war ein dramatischer Start ins Leben. In Dampfwil haben wir ziemlich lange gewohnt, bis ich ungefähr vier Jahre alt war, das war für unsere Verhältnisse eine lange Zeit. Später habe ich mit meiner Familie sehr oft gezügelt – in einem Jahr, da war ich in der zweiten Klasse, waren es fünf Umzüge im gleichen Jahr, aber dazu komme ich