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BRENNENDE LABYRINTHE: 100 Miniaturen zwischen Mythos und Zukunft
BRENNENDE LABYRINTHE: 100 Miniaturen zwischen Mythos und Zukunft
BRENNENDE LABYRINTHE: 100 Miniaturen zwischen Mythos und Zukunft
Ebook405 pages4 hours

BRENNENDE LABYRINTHE: 100 Miniaturen zwischen Mythos und Zukunft

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About this ebook

In diesem Band sind hundert Geschichten und Lieder versammelt, die Friedhelm Schneidewind seit 2012 in den Phantastischen Miniaturen der Phantastischen Bibliothek Wetzlar veröffentlicht habe. Die meisten der bisher erschienenen siebzig Bände wurden von Bibliotheksgründer und -leiter Thomas Le Blanc herausgegeben. Schneidewind ist seit Band 3 dabei, in 54 Miniaturenbänden vertreten und hat Band 20 selbst herausgegeben.
Manchen der Storys merkt man ihre Entstehungszeit an, etwa wenn es um TTIP geht, das anders als in der Geschichte nicht in Kraft trat – der Autor hat nichts geändert oder aktualisiert, alle Texte sind so, wie sie ursprünglich veröffentlicht wurden.
Das Spektrum reicht von Science-Fiction über klassische Fantasy und Vampirgeschichten bis zu Märchen, Satire und Liedern. Der Autor hatte bei der Arbeit viel Spaß; dem Leser sei bei der Lektüre ebenso viel Vergnügen gewünscht.
LanguageDeutsch
Publisherp.machinery
Release dateMar 18, 2023
ISBN9783957657794
BRENNENDE LABYRINTHE: 100 Miniaturen zwischen Mythos und Zukunft

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    Book preview

    BRENNENDE LABYRINTHE - Friedhelm Schneidewind

    100 Miniaturen zwischen Mythos und Zukunft

    AndroSF 171

    Friedhelm Schneidewind

    BRENNENDE LABYRINTHE

    100 Miniaturen zwischen Mythos und Zukunft

    AndroSF 171

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    © dieser Ausgabe: März 2023

    p.machinery Michael Haitel

    Titelbild & Illustrationen (ausgenommen die Noten, die Buchseite aus ›Brehms Tierleben‹ und die magischen Quadrate): Ulrike Grimm, art-grimm.de

    Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda

    Lektorat & Korrektorat: Michael Haitel

    Herstellung: global:epropaganda

    Verlag: p.machinery Michael Haitel

    Norderweg 31, 25887 Winnert

    www.pmachinery.de

    für den Science Fiction Club Deutschland e. V., www.sfcd.eu

    ISBN der Printausgabe: 978 3 95765 323 9

    ISBN dieses E-Books: 978 3 95765 779 4

    Vorwort

    In diesem Band sind hundert Geschichten und Lieder versammelt, die ich seit 2012 in den Phantastischen Miniaturen veröffentlicht habe. Diese erscheinen seit 2010 bei der Phantastischen Bibliothek Wetzlar; die meisten der bisher erschienenen siebzig Bände wurden herausgegeben von deren Gründer und Leiter Thomas Le Blanc. Ich bin seit Band 3 dabei, in 54 Miniaturenbänden vertreten und habe Band 20 herausgegeben.

    Manchen der Storys merkt man ihre Entstehungszeit an, etwa wenn es um TTIP geht, das anders als in meiner Geschichte nicht in Kraft trat – ich habe aber nichts geändert oder aktualisiert, alle Texte sind so, wie sie ursprünglich veröffentlicht wurden.

    Einige Geschichten finden später eine Fortsetzung, darauf weise ich dann hin. Und es gibt zwei Reihen, in denen jeweils mehrere Storys vor demselben Hintergrund spielen: zehn Geschichten um die Kriminalistin Melanie Winter, die in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts aktiv ist, und zehn Storys um die Karl-May-Akademie für Improvisation und Einfallsreichtum (KAI), angesiedelt etwa zwischen 2300 und 2600.

    Das Spektrum reicht von Science-Fiction über klassische Fantasy und Vampirgeschichten bis zu Märchen, Satire und Liedern. Dies zu schreiben hat mir viel Spaß gemacht; ich wünsche Ihnen bei der Lektüre ebenso viel Vergnügen.

    Die grüne Seite des Mondes

    Das giftgrüne Licht des Mondes überstrahlte alles. Giftgrün war in diesem Licht auch das Gesicht von Maria, seiner Ex. Toni zog sie in den Schatten eines Baumes, ehe er flüsterte: »Was ist so dringend, dass du mich sprechen musst? Du weißt, dass ich mit der Sache nichts mehr zu tun haben möchte!« Maria antwortete leise: »Ich weiß, dass du ausgestiegen bist. Aber wir brauchen dich. Wir haben es geschafft, in das Netzwerk der Energieriesen einzudringen. Und du bist der Einzige, der den inneren Code knacken kann.« Toni schauderte. Sie hatten es geschafft?

    »Es hat viel Arbeit und mehrere Leben gekostet«, fuhr sie fort. »Deshalb musst du uns jetzt helfen. Wahrscheinlich ist das die einzige Chance, jemals etwas gegen die böse Seite des Mondes auszurichten!«

    Die böse Seite des Mondes! Toni erinnerte sich noch gut an die Zeit, als der Mond nichts war als ein harmloser Himmelskörper, von romantischen Pärchen gerne genutzt als Leuchte über ihren gefühlvollen Stunden. Doch seit die Energieriesen sich dort häuslich niedergelassen und die sichtbare Seite des Mondes mit ihren Kraftwerken bebaut hatten, war von der Romantik nicht viel übrig geblieben. Das giftgrüne Licht der riesigen Kraftwerke war selbst beim besten Willen kaum als poetisch einzustufen.

    Toni erinnerte sich auch gut an die ebenso fruchtlosen wie heißen Diskussionen darüber, wer schuld gewesen sei an dem Desaster. Natürlich war es auch die Betonkanzlerin Merkel gewesen, die mit ihren missglückten Aktionen rund um die Energiewende den Einfluss der Energiekonzerne letztendlich nur gesteigert hatte. Doch auch ihr zu Recht nahezu vergessener Wirtschaftsminister und der Alibi-Umweltminister ihrer Koalition hatten viel dazu beigetragen. Vor allem aber waren es Investoren gewesen, die die Chance genutzt hatten, politischen wie wirtschaftlichen Einfluss zu gewinnen. Mit nahezu unbegrenzten Mitteln und einer skrupellosen Agenda hatten die Energieunternehmen still und heimlich, an jeder demokratischen Entscheidung vorbei, die Kraftwerke auf dem Mond gebaut. Und als sie dann ihre Kraftwerke auf der Erde abgeschaltet hatten, waren fast alle von ihnen abhängig. In den Pseudo-Demokratien Europas und Amerikas herrschten sie hinter den Kulissen, freie Kraftwerke waren verboten, ihre Betreiber wurden verfolgt. Die Herrscher in den arabischen Theokratien und in Afrika konnten sich auch nur erlauben, was ihnen die Stromwirtschaft gestattete, abgesehen von jenen wenigen Scheichs und Königen, die dort investiert und auf dem Mond gebaut hatten. Nur China war wirklich unabhängig geblieben und hatte seine Energieversorgung auf eigene Füße gestellt. Doch wie lange die Volksrepublik ein unabhängiger Staat bleiben würde, war fraglich: Die ESA, die weltweit agierende Energie-Sicherungs-Agentur, der Geheimdienst der Energieriesen, arbeitete fleißig daran, Chinas Unabhängigkeit zu zerstören. Den Konzernbossen war es egal, welches System wo herrschte und wie es um die Menschenrechte stand, solange genug konsumiert, solange ihr Strom gekauft wurde.

    Und nun wollte es die Gruppe um Maria geschafft haben? Toni hatte sich aus der ABM, der Armee zur Befreiung des Mondes, zurückgezogen, als er keine Chance mehr sah, jemals an die Daten auf dem Mond zu kommen. Er war der beste Hacker in der Untergrundbewegung gewesen, aber er hatte den Mut verloren. Nun sollte es möglich sein, das System zu stürzen?

    »Was soll ich tun?«, fragte er Maria.

    »Du bist der Einzige, der den inneren Code knacken und alles auf einen Schlag ausschalten kann. Wenn die Energie auf dem Mond versiegt, dann werden die Schutzmechanismen versagen, die sie vor dem Vakuum schützen.«

    »Und Hunderte von Menschen werden sterben!«

    »Ja, und hier auf die Erde noch Zehntausende, bis eine vernünftige dezentrale Energieversorgung funktioniert. Wir haben aber in den letzten Jahren viel erreicht, es gibt zahlreiche kleine Untergrundkraftwerke: mit Wasserkraft, Solarenergie, Wind, Erdwärme … Ihre Betreiber warten nur darauf, sie anzuwerfen. Sie alle warten auf dich! Bist du dabei?«

    Toni schaute von Maria zum Mond hinauf. Vor seinem inneren Auge schob sich vor den giftgrün strahlenden Himmelskörper ein anderes Bild: Zwei Kinder in Nachthemden und ein Maikäfer flogen einem wunderschönen runden, gelben Mond entgegen … »Peterchens Mondfahrt« wäre heute gänzlich unmöglich …

    Wahrscheinlich würde der Mond nie so schön und poetisch erscheinen, wie Gerdt von Bassewitz ihn beschrieben hatte. Aber Toni wusste nun, dass er alles tun würde, damit der Mond wieder gelb und poetisch leuchten würde.

    »Ich bin dabei!«, sagte er. »Sorgen wir für eine gute Seite des Mondes!«

    Miniaturen Band 3:

    Die böse Seite des Mondes (2012)

    Das Schmetterhand-Manöver

    »Und schon wieder ist er verschwunden!« Ratlos und auch etwas verzweifelt schaute Waffenoffizier Omara auf den Schirm. Das Schiff der Piraten war, wie jedes Mal zuvor, für einen kurzen Moment verschwunden und weit neben dem vorherigen Ort wieder aufgetaucht. Ihre Rakete war ohne Wirkung explodiert.

    Kapitänin Helen W. Zuckman konnte seine Gefühle gut verstehen. Wenn es ihnen nicht mit den letzten drei Raketen gelang, das Piratenschiff abzuschießen, würde es ihnen wie allen anderen Schiffen der Solaren Föderation ergehen: Sie würden von den Piraten geentert werden. Niemand wusste, auf welchem bisher unentdeckten Zwergplaneten sich die Bande versteckt hielt, sodass man sie nicht ausräuchern konnte. Und niemand hatte bisher ein Mittel gegen ihre speziellen Waffen entwickelt: den Trick, ihr Schiff so kurz vor dem Aufprall einer Rakete oder eines Energiestrahls zu versetzen, dass es nicht beschädigt wurde, und ihre noch nicht analysierte Methode, durch jede Raumschiffwand eindringen zu können. Und noch niemand hatte mit einem der Piraten gesprochen oder einen gesehen; sie kamen, enterten ein Raumschiff, räumten es aus und ließen niemanden am Leben. Auch den schnellen Kreuzer Rigel 8 würde es wohl erwischen, wenn ihr oder jemanden aus ihrem Team nicht schnell etwas einfiel.

    Helen nagte an ihrer Unterlippe. Da war etwas, was sie in ihrer Jugend gelesen hatte. Schlagartig fiel es ihr wieder ein; mit einem großen Schritt stand sie neben dem Waffenoffizier: »Lass mich etwas versuchen!« Kaum war er aufgestanden, saß sie auch schon in seinem Sessel und programmierte, so schnell sie konnte, den Waffencomputer.

    »Was hast du vor?«, fragte er. Ohne zu antworten, drückte sie den Knopf zum Abschuss. Wieder machte das Piratenschiff einen Satz zur Seite – und ging in einem Flammenball auf.

    Als sie später mit alkoholfreiem Sekt in der Messe auf ihren Sieg anstießen, drängten sie alle, endlich zu erklären, wie ihr der Abschuss gelungen war. Helen lehnte sich gemütlich zurück: »Ich muss etwas ausholen. Niemand von euch weiß, für was das W in meinem Namen steht. Es ist der Anfangsbuchstabe meines zweiten Vornamens: Winnetou. So nannten mich meine Eltern, weil sie große Fans eines fast vergessenen Schriftstellers aus der technischen Antike waren. Er lebte vor über dreihundert Jahren und schrieb vor allem Abenteuerromane; ich habe sie alle gelesen.

    Dieser Karl May war der Held meiner jungen Jahre, oder besser gesagt seine Helden, vor allem ein Indianerhäuptling namens Winnetou und dessen Freund, ein gewisser Old Shatterhand, in dem sich Karl May selbst ein Denkmal setzen wollte. ›Old‹ war so eine Art Ehrentitel und bedeutete ›alt‹ in einer der antiken Sprachen, es hatte aber nichts mit dem Alter zu tun, sondern mit besonderen Leistungen oder Fähigkeiten. ›Shatterhand‹ heißt ›Schmetterhand‹, weil dieser Mensch mit einem Schlag einen anderen bewusstlos schlagen konnte.

    Im Buch ›Weihnacht im Wilden Westen‹ musste Old Shatterhand in einem Zweikampf mit zwei Wurfbeilen gegen einen Indianerhäuptling antreten, und er wusste, dass dieser wahrscheinlich entgegen der Abmachung zur Seite springen würde. Er sorgte dafür, dass sein Gegner einen Baum an einer Seite hatte, also nur nach der anderen ausweichen konnte, und schleuderte seine beiden Beile so, dass der Häuptling, als er dem ersten auswich, direkt in das zweite rannte.«

    Sie zückte ihren Kommunikator: »Ich habe das Werk von Karl May immer dabei. So lobt man Old Shatterhand nach seinem Sieg: ›Wer von euch hat schon einmal gesehen, dass ein Krieger zwei Kriegsbeile wirft, um mit dem einen das Auge des Feindes zu fesseln und mit dem andern dann um so sicherer seinen Leib zu treffen?‹

    Ich habe erkannt, dass das Schiff der Piraten immer in einer ganz bestimmten Entfernung wieder aufgetaucht ist, und stets in einem von zwei bestimmten Winkeln. Also habe ich unsere letzten drei Raketen abgefeuert: eine auf das Schiff direkt, die anderen auf die beiden von mir berechneten Ausweichpunkte. Dieses Manöver sollte in Zukunft allen unseren Schiffen ermöglichen, mit den Piraten fertig zu werden. Und jetzt entschuldigt mich, ich muss einen Bericht an das Flottenkommando schicken.«

    Ihr Steuermann lächelte sie an: »Dann solltest du dem Manöver aber auch gleich einen guten Namen geben.«

    Helen lächelte zurück: »Darüber habe ich schon nachgedacht. Es nach Karl May zu benennen, was er verdient hätte, bringt nichts, den Namen kennt zumindest jetzt noch niemand. Ich werde es nach seinem Helden nennen: das Schmetterhand-Manöver.«

    KAI, Jahr 2297

    Miniaturen Band 4:

    Auf sehr fremden Pfaden (04/2013)

    Unverwundbarkeit

    Kapitän Julius Blume rückte nervös seine Mütze zurecht, dann hob er zögernd die Hand, um anzuklopfen. Er hatte keine Ahnung, wer oder was ihn hinter dieser Tür erwartete, aber dass man ihn ins regionale Hauptquartier der Admiralität bestellt hatte, machte ihm Sorgen – wegen einer Bagatelle, wie er fand.

    Die Frau in dem schmucklosen Raum erkannte er zunächst nicht; ihn irritierte die Zivilkleidung. Als sie aufstand, um ihn zu begrüßen, erschrak er – und brachte keinen Ton heraus. Er stand vor einer lebenden Legende, und da sie in Zivil war, wusste er nicht, wie er sie anreden sollte. Helen W. Zuckman, die Erfinderin des Schmetterhand-Manövers, hatte später auch die Basis der Piraten gefunden, indem sie eines ihrer Schiffe mithilfe von Infraschallkanonen erobert hatte: Sie hatte die Besatzung ganz nach dem Vorbild von Old Shatterhand mit einem Schlag betäubt. Erst kürzlich hatte sie ihren Admiralsposten im obersten Flottenstab aufgegeben, wegen einer neuen Mission, hieß es.

    »Setzen Sie sich«, sagte sie freundlich. Er kam ihrer Aufforderung nach, verwirrt und sprachlos, und nahm verlegen die Mütze ab.

    »Ich nehme an, Sie wissen, wer ich bin, Kapitän«, fuhr sie fort, »und auch, weswegen Sie hier sind.«

    »Es tut mir leid«, antwortete er. »Das zweite weiß ich nicht; wieso macht man von einem unbedeutenden Einbruch solch ein Aufhebens?«

    »Der Einbruch interessiert mich wenig, aber was Sie in dem Lager gemacht haben. Von Ihrer Darstellung hängt es ab, ob Sie unehrenhaft entlassen oder vielleicht sogar befördert werden. Also erzählen Sie!«

    Blume konzentrierte sich. »Sie wissen, dass wir als Beobachtungsteam auf Ardanist eingesetzt waren, um herauszufinden, was die Aufstände verursacht hatte und ob die Föderation dagegen etwas tun könnte – natürlich inoffiziell. Anders als geplant wurden wir von der Regierung des Zwergplaneten aber offiziell mit einbezogen und als Druckmittel verwendet. Plötzlich befanden wir uns in der unangenehmen Situation, den Aufständischen beweisen zu müssen, dass wir ihnen auf jeden Fall überlegen wären – und das ohne Blutvergießen. Da fiel mir ein Trick von Kara Ben Nemsi ein, den Karl May beschreibt.«

    Zuckman lehnte sich entspannt zurück. »Ich kann mir denken, worauf Sie anspielen, aber erläutern Sie es bitte!«

    »Als Sie das Schmetterhand-Manöver erfanden, begann ich gerade mit der Akademie. Ich habe während des ersten Ausbildungsjahres alles von Karl May gelesen; mir gefielen die Orient-Abenteuer erheblich besser als die im Wilden Westen, und auf Ardanist erinnerte ich mich an eine Geschichte aus ›Durch das Land der Skipetaren‹. Kara Ben Nemsi, also Karl Mays Alter Ego, überzeugt die Bevölkerung und vor allem seine Gegner davon, dass er und seine Gefährten kugelfest seien, indem er ihnen Kugeln unterschiebt, die aus einer Legierung von Wismut und Quecksilber bestehen und vor dem Lauf auseinanderfliegen. Wir sind in ein Munitionslager der Aufständischen eingebrochen und haben teilweise deren Munition gegen eine ähnliche, verbesserte Legierung ausgetauscht. Und am nächsten Tag haben wir ihnen vorgeführt, dass die Soldaten der Solaren Föderation kugelfest sind. Die Waffenstillstandsverhandlungen waren danach schnell abgeschlossen, wir hatten aber gehofft, dass der Diebstahl unbemerkt bliebe.«

    Zuckman erhob sich.

    »Da haben Sie sich leider getäuscht; vielleicht sollten wir die Ausbildung um den Punkt Einbruch erweitern oder zumindest Fachleute auf diesem Gebiet auf jedes Raumschiff schicken. Sie werden auf jeden Fall demnächst ein größeres Schiff befehligen; Leute mit Ihrer Fantasie und Ihrem Trickreichtum können wir gebrauchen. Meinen Glückwunsch zur Beförderung.«

    Sie reichte ihm die Hand. »Und wenn Sie zwischendurch mal Zeit haben oder irgendwann keine Lust mehr auf den aktiven Dienst, dann würde ich mich freuen, Sie als Dozenten in dem Institut begrüßen zu dürfen, das ich derzeit begründe: in der Karl-May-Akademie für Improvisation und Einfallsreichtum.«

    KAI, Jahr 2312

    Miniaturen Band 4: Auf sehr fremden Pfaden (04/2013)

    Die Schule der Improvisation

    Marah Hanneh Freything war nervös. Als Enkelin der Gründerin der Karl-May-Akademie für Improvisation und Einfallsreichtum sollte sie wissen, was sie erwartete; aber als junge Volontärin des größten Nachrichtenkonzerns der Solaren Föderation war sie sich nur zu gut bewusst, dass sie diesen Auftrag nur genau wegen dieser Abstammung bekommen hatte – und weil im Verlag bekannt war, dass niemand dort sich auch nur annähernd so gut mit den Geschichten des berühmten Schriftstellers der technischen Antike auskannte. Sie kannte sie alle, und sie hatte sie nicht nur deshalb wieder und wieder verschlungen, weil ihre Eltern sie nach zwei der bekannteren Frauen aus Mays Werk benannt hatten, sondern weil ihre Großmutter sie mit der Begeisterung für Mays Werk angesteckt hatte. Schon ehe sie lesen konnte, hatte sie oft auf dem Schoß der berühmten Raumfahrerin gesessen, die ihr die schönsten und spannendsten Stellen kindgerecht nahe brachte. Im Gegensatz zu den meisten Menschen, die Mays Geschichten und Figuren nur durch die in den letzten Jahrzehnten immer zahlreicher gewordenen Holofilme und -serien kannten, waren sie Marah in der originalen Darstellung vertraut. Und aus all diesen Gründen hatte man sie beauftragt, den Bericht zum fünfzigjährigen Jubiläum der Akademie zu verfassen.

    Sie lächelte und versuchte, ihre Nervosität zu verbergen, als aus dem Paternoster neben der Empfangstheke ein älterer Mann heraus und auf sie zutrat. Man sah ihm in Haltung und Schrittweise immer noch den Militär an, der er vor Übernahme der Leitung der Akademie gewesen war; sie erkannte ihn sofort aufgrund der Fotos.

    »Meine Liebe, ich freue mich, Sie hier begrüßen zu dürfen, und hoffe, dass Sie zwar neutral und objektiv, aber aufgrund ihrer verwandtschaftlichen Verbundenheit doch wohlwollend über unsere Institution berichten werden.« Sein warmes Lächeln ließ Marahs Nervosität auf einen Schlag verschwinden; sie ergriff die dargebotene Hand: »Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Aber es überrascht mich, dass Sie als Rektor mich persönlich begrüßen, Admiral Blume.«

    »Ex-Admiral, bitte, und sagen Sie Herr Blume, oder auch einfach Julius. Ihre Großmutter hat so viel von Ihnen erzählt, dass ich den Eindruck habe, ich würde die Enkelin meiner alten Freundin und Mentorin schon lange persönlich kennen. Und deshalb kann ich Sie doch niemandem sonst überlassen. Aber nun folgen Sie mir, Marah, wir gehen erst in mein Büro, und dann gibt es eine ausführliche Führung.«

    Nachdem Marah in Blumes Büro nicht nur ausführlich über die Geschichte der Akademie informiert worden war, sondern zu ihrer großen Freude auch ein langes Exklusivinterview mit dem Rektor führen durfte, zeigte er ihr die verschiedenen Abteilungen. Als er ihre Begeisterung bemerkte, bot er ihr an, ein paar Tage zu bleiben und an den Schulungen teilzunehmen, gerne dabei auch Aufnahmen zu machen.

    Und so lernte Marah an den nächsten Tagen die Gebiete kennen, auf denen besonders begabte und vielversprechende Mitglieder der Raumflotte und der Geheimdienste weitergebildet wurden: alte Kampftechniken wie das Werfen von Wurfbeil und Lasso, das Klettern an Seilen und allen Arten von Wänden, Schwimmen und Tauchen, Möglichkeiten, mit einfachsten Mitteln Geheimschriften zu verfassen und Schlösser zu knacken, den Umgang mit vielen älteren Gerätschaften und Techniken … Vor allem aber wurden die Improvisations- und Schlagfertigkeit geschult, die Fähigkeit, auf Unerwartetes und Unbekanntes mit neuen Methoden zu reagieren, ausgetretene Pfade zu verlassen, das scheinbar Unmögliche zu denken und versuchen – und nicht weniger wichtig war es zu trainieren, stets auch die Absichten des Gegenübers zu bedenken, ihm die Möglichkeit des Rückzugs und der Gesichtswahrung einzuräumen und möglichst wenig Schaden anzurichten.

    Als Marah auf dem Rückflug zum Verlag ihr Material sortierte, war ihr klar, dass dieser Bericht sie in die oberste Riege der Reporter und Journalistinnen katapultieren würde; noch mehr aber freute sie, dass sie nun viel besser verstand, was ihre Großmutter beabsichtigt hatte mit der Gründung dieser Schule der Improvisation: nicht nur das Werk von Karl May zu verbreiten und bekannt zu machen, sondern vor allem seine Ideen. Angepasst an seine Zeit hatte er für Toleranz und, trotz aller Beschreibungen von Gewalt, für Friedfertigkeit geworben. Und während sich ihr Raumschiff auf den Hafen des Verlages niedersenkte, nahm sich Marah vor, während ihrer journalistischen Karriere stets für dieselben Werte zu werben.

    KAI, Jahr 2362

    Miniaturen Band 4:

    Auf sehr fremden Pfaden (04/2013)

    Mini-Demokratie

    Die Entscheidung fiel sehr knapp aus. Das wunderte sie nicht; die Lage wurde ständig bedrohlicher. Seit es immer mehr neue Medikamente gab, die sie unter Druck setzten und viele von ihnen umbrachten, musste erheblich genauer abgewogen werden, wie lange man den Wirt am Leben lassen wollte, wann man sich absetzen sollte und ob es dazu überhaupt noch eine Möglichkeit gab.

    Sie waren nur noch knapp hundertfünfzig Mutterzellen, die anderen hatten die Chemotherapien und Knochenmarkstransplantationen nicht überlebt, denen sich ihr Wirt unterzogen hatte.

    Wie so oft in ihrem langen Leben dachte sie darüber nach, ob es eine gute Entscheidung gewesen war, statt auf Mimikry auf Symbiose zu setzen. Oft beneidete sie die Großen um ihre Freiheiten …

    An die Ursprünge konnte sie sich nicht erinnern; sie kannte sie nur aus Erzählungen: wie sich ihre Vorfahren vor vielen Millionen Jahren als Variante früher Vampirfledermäuse bei den Vorfahren der Menschen eingeschlichen hatten, die damals noch eher Spitzmäusen glichen als den Menschenartigen, zu denen sie sich entwickeln sollten. Viele von ihnen schafften es, die Evolution zum Menschen hin mitzumachen, im Rahmen einer Parallelevolution die Mimikry immer weiter zu treiben, bis in die heutige Zeit. Wie viele von ihren Verwandten noch heute unter den Menschen lebten, unerkannt, als Vampire verschiedener Art und mit unterschiedlichen Fähigkeiten, wusste sie nicht. Aber die Hinweise, die sie erhielt, wenn einer ihrer Wirte durch Bücher oder Filme auf den Vampirmythos stieß, ließ sie vermuten, dass es einige geschafft hatten. Unerkannt lebten sie unter den Menschen, punktierten mit ihren Zähnen deren Adern und saugten das Blut, durch die Zähne oder durch Stacheln oder Röhren unter der Zunge oder durch die Zunge selbst … die Evolution war vielfältig und kreativ. Und sie hatten den Menschen wohl ziemlich viel Blödsinn eingeredet, um sie sich leichter zur Beute zu machen: dass sie sich von religiösen Symbolen abhalten ließen oder von Knoblauch, kein Spiegelbild hätten, Wasser und Tageslicht fürchten müssten … Da kaum einer wirklich an ihre Existenz glaubte, wurden sie auch nicht ernsthaft bekämpft.

    Das sah bei ihnen, den Mini-Vampiren, leider ganz anders aus. Lange war es gut gegangen, Jahrtausende hatte niemand etwas von ihrer Existenz geahnt, niemand sie bekämpfen können. Die Entscheidung ihrer frühen Vorfahren, statt auf Mimikry auf Parasitentum zu setzen, in die Vorfahren der Menschen zu schlüpfen, immer kleiner und kleiner zu werden, war richtig gewesen und hatte ihr Überleben gesichert. Und als sie schließlich so klein geworden waren, dass sie als intelligente einzelne Zellen existieren konnten, kam die potenzielle Unsterblichkeit hinzu – während ihre großen Verwandten maximal ein paar Jahrhunderte überlebten, konnten sie als teilungsfähige Individuen ihre Existenz nahezu unbegrenzt erhalten. Natürlich mussten sie lernen, von einem auf den anderen Wirt zu wechseln, verschiedene Übertragungsarten entwickeln – mithilfe von Keimzellen, in Vaginalflüssigkeit oder Sperma, manche pflanzten sich über den Auswurf bei Infekten fort.

    Vor allem aber lernten sie, wann es besser war, statt als Parasiten als Symbionten zu leben. Doch während die großen Vampire stets einzeln die Entscheidung trafen, ob sie ein Opfer töten oder am Leben lassen wollten, mussten sie, die Mini-Vampire, sich einigen. Denn es genügte ja, dass einige wenige aggressiv wurden, um »ihren« Menschen zu töten. Und wenn sie dann nicht rechtzeitig für einen Übertragungsweg gesorgt hatten, war es aus mit denen, die darin hausten.

    Im Laufe der Zeit hatten sich verschiedene Kulturen entwickelt; Leukämie-Vampire gingen anders mit ihren Wirten um als Myelom- oder Lymphom-Stammzellen, und selbst innerhalb einer Krebsart gab es verschieden aggressive Stämme, was sich bei betroffenen Menschen dann in akuter oder chronischer Form zeigte und deren Sterblichkeit stark beeinflusste.

    Leider aber hatten die Menschen in den letzten Jahrzehnten dazugelernt: bessere Chemo- und Strahlentherapien entwickelt, neue Formen der Stammzelltransplantationen, Zytostatika, monoklonale Antikörper und enzymhemmende Medikamente, immunmodulierende oder -supprimierende und das Zellwachstum beeinflussende Substanzen – zu viel, als dass sie sich darauf immer rechtzeitig einstellen konnten.

    Deshalb wurde nun über die zukünftige Strategie diskutiert wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Bisher konnte sie sich mit ihrer Auffassung durchsetzen, dass es am klügsten wäre, sich bei harten Angriffen im Knochenmark zu verstecken, um später wieder hervorzubrechen und irgendwann für eine Übertragung auf einen jüngeren Menschen

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