Halo: Die Geschichte hinter Depeche Modes Albumklassiker Violator
By Kevin May and David McElroy
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About this ebook
Im März 1990 veröffentlichten Depeche Mode das Album, das seitdem als ihr Meisterstück gilt: Violator war das siebte Album der Electro-Rocker, die in den Achtzigern erst Kultstatus genossen hatten und dann zu Weltruhm aufstiegen, ausverkaufte Stadien inklusive. Mit »Enjoy The Silence« und »Personal Jesus« enthielt der Longplayer auch die bis heute größten Hits der Band. Violator blieb insgesamt 48 Wochen in den deutschen Albumcharts vertreten.
Wie dieses bahnbrechende Album zustande kam, dokumentieren die beiden Super-Fans Kevin May und David McElroy ganz genau. Sie sprachen dazu mit einer Vielzahl von Mitstreitern – mit der Produzentenlegende Gareth Jones, dem Remixer François Kevorkian, dem Fotografen und Band-Intimus Anton Corbijn sowie mit zahllosen Toningenieuren, Studiomusikern, Videoregisseuren oder Coverdesignern. Sie alle leisteten ihren Beitrag zu dem Gesamtwerk und konnten währenddessen einzigartige Einblicke in die Arbeitsweise von Martin Gore, Dave Gahan, Andy Fletcher und Alan Wilder gewinnen. Von der damals herrschenden Weltlage und der gesellschaftlichen Situation, in der Violator für viele zum Soundtrack ihres Lebens wurde, berichten zudem zahlreiche Fans aus den verschiedensten Ländern.
Diese packend erzählte Oral History gewährt ein faszinierendes Schlaglicht auf die wohl spannendste Entwicklungsphase dieser einzigartigen Band: Sie nimmt die LeserInnen mit in die Studios, wenn an Samples und Sounds gefeilt wurde, zu Signierstunden in den USA, bei denen beinahe Unruhen ausbrachen, und sie erforscht vor allem die einzigartige Chemie zwischen den vier Bandmitgliedern. Besondere Aufmerksamkeit widmet Halo der oft unterschätzten Rolle des vor kurzem verstorbenen Andy Fletcher, aber es schildert auch den enormen emotionalen Druck, unter dem Sänger Dave Gahan damals stand.
Ein Buch von Fans für Fans – passend zum neuen Album und der kommenden Tournee!
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Book preview
Halo - Kevin May
Kevin May und David McElroy
halo
die Geschichte hinter
Depeche Modes Albumklasiker
VIOLATOR
Aus dem Englischen von Kirsten Borchardt
www.hannibal-verlag.de
Widmung
Für Andy „Fletch" Fletcher
Impressum
Deutsche Erstausgabe
© 2023 by Hannibal
Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen
www.hannibal-verlag.de
ISBN ISBN 978-3-85445-758-9
Auch als Paperback erhältlich mit der 978-3-85445-757-2
Titel der Originalausgabe: Halo – The Story Behind Depeche Mode’s Classic Album ‚Violator‘
© Kevin May & David McElroy, 2022
Cover Design by Kevin May & David McElroy
Cover Foto © Joseph Barratt
ISBN 978-1-80381-225-0
Erschienen bei Grosvenor House Publishing Ltd, www.grosvenorhousepublishing.co.uk
Grafischer Satz in deutscher Sprache: Thomas Auer
Übersetzung: Kirsten Borchardt
Deutsches Lektorat/Korrektorat: Dr. Matthias Auer
Besonderen Dank an: Ronny Ecke, CPR, Partyman
Hinweis für den Leser:
Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.
Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.
Inhalt
Prolog
1. Kapitel
102
2. Kapitel
Wie man sich selbst
ein Schnippchen schlägt
3. Kapitel
Sound im Aufbau
4. Kapitel
Von Cowboys, Königen
und Rosen
Bilderstrecke
5. Kapitel
Sounds und Songs
6. Kapitel
Unbezahlbare Werbung
7. Kapitel
Violator erobert die Welt
8. Kapitel
Waiting For The Night
(To Fall In)
Anhang
Zeitplan einer Ära
Danksagung
Über die Autoren
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Prolog
„Ich sah Daniel an … und wir sagten wie aus einem Mund: ‚Das ist ein wirklich, wirklich, wirklich gutes Album.‘ Uns überkam das Gefühl, dass wir gerade etwas ganz Besonderes geschaffen hatten."
– Flood (Depeche Mode DVD Documentary, 2006)
Dave Gahan sitzt auf der Kante eines Stuhls, ein weißes Handtuch um die Schultern, und hat den Kopf in die Hände gestützt.
Jemand von der Crew hat den Arm um ihn gelegt, hört ihm aufmerksam und mitfühlend zu und versucht, ihn ein wenig zu trösten. Was genau zwischen den beiden gesagt wird, ist kaum zu verstehen, und das ist wahrscheinlich auch Absicht, aber Gahan ist ganz offensichtlich völlig erschöpft und aufgelöst.
Diese kurze Szene stammt aus dem Film 101, einem Rockumentary, das D. A. Pennebaker von der Music For The Masses Tour von Depeche Mode drehte, die im Juni 1988 zu Ende ging. Pennebakers Crew verfolgte dabei die Erlebnisse einer Gruppe von Fans, die mit dem Bus quer durch die USA reisten, und kombinierte sie mit einem Blick hinter die Tour-Kulissen, indem sie die Band und die Armee von Mitarbeitern dabei filmte, wie sie Depeche Mode als Live Act auf die Bühne brachten.
Es ist ein großartiger Film; Pennebaker und sein Partner Chris Hegedus sagten später, der Dreh habe ihnen mehr Spaß gemacht als jedes andere Projekt. Bedenkt man, dass Pennebaker eine Reihe hochgelobter Filme über Bob Dylan drehte und Jimi Hendrix beim Monterey Pop Festival vor der Linse hatte, will das schon etwas heißen.
101 führte den treuen Fans und allen anderen Interessierten auf faszinierende Weise vor Augen, was es für die Band bedeutete, ihr 1987 erschienenes Erfolgsalbum Music For The Masses weltweit ausführlich zu präsentieren. Es war eine enorm anstrengende und kräftezehrende Tour, aber sie etablierte Depeche Mode in den USA als brillante Liveband mit einem ganzen Arsenal großartiger Songs. Der Film fing nicht nur die Gefühle der Fans ein, sondern auch die der Band und Crew, und er zeigte das emotionale Hoch nach einem Gig ebenso wie den hilflosen Zorn über Pannen in der Logistik. Vor allem aber porträtierte er Depeche Mode auf extrem menschliche Weise und verzichtete zudem auf die verklärenden Elemente, die man normalerweise mit Dokumentationen über Bands auf Tournee verbindet. Vor 101 war es schwer, wirklich nachzuvollziehen, wie es sein musste, Teil der Depeche-Mode-Maschinerie zu sein, ob nun als Teil der Band oder als Crew-Mitglied.
Aber wieder zurück zu Dave und der besagten Szene, die kurz vor Ende des Films zu sehen ist:
Als er in diesem aufgelösten Zustand dasaß, hatten Depeche Mode gerade Konzert Nummer 101 absolviert, und das wiederum brachte Alan Wilder dazu, die Zahl als Titel für den Film und das dazugehörige Livealbum vorzuschlagen. Es handelte sich um die gewagte, überwältigende Show im Pasadena Rose Bowl von Los Angeles, den Schlusspunkt der Tournee. Die überbordenden Emotionen und die körperliche Erschöpfung waren nicht zu übersehen.
Depeche Mode waren zu dieser Zeit keine Neulinge mehr im Rockgeschäft, aber eine Tour dieser Größenordnung, die über drei Kontinente führte und außerdem viele hundert Interviews, Termine bei Radio- und Fernsehshows und Aftershow-Partys umfasste, hätte selbst die härtesten und erfahrensten Tour-Veteranen ausgepowert. Auf einem Foto Anton Corbijns, das auf dem Cover von 101 zu sehen ist, stehen Dave und die anderen Bandmitglieder – Andy Fletcher, Alan Wilder und Martin Gore – neben Pennebaker und sehen allesamt völlig erledigt aus, aber gleichzeitig auch stolz und zufrieden. Es ist ein Augenblick des Triumphs für die vier jungen Briten und den gefeierten Regisseur.
101 war das angemessene Finale einer wichtigen Phase der Depeche-Mode-Karriere, und die Szenen vom Abschluss-Gig in L.A. fassten sie perfekt zusammen. 2006 sagte Gahan in der Depeche Mode DVD Documentary über das Konzert: „Es war wirklich überwältigend. Und es hat seitdem keine zweite Show dieses Kalibers mehr gegeben … jedenfalls nicht für uns. Bis zu diesem Punkt war das unsere Welt. In gewisser Weise ist es genau das, was Depeche und alles, was um die Band passiert, zu so etwas Besonderem macht: Wir haben unser eigenes Utopia erschaffen und darin gelebt."
Er ließ in dem Interview auch durchblicken, was der Grund für seine emotionale Reaktion war, die am Ende von 101 zu sehen ist. Es sei ihm sichtlich unter die Haut gegangen, als das Publikum Karaoke-gleich „Everything Counts gesungen habe. „Bei diesem Konzert hatte ich ein ganz komisches Gefühl
, setzte er hinzu. „Am Ende war mir wirklich, als sei jetzt alles vorbei. Nachdem wir zehn Jahre lang um die Welt gezogen waren, gab es plötzlich keine Ziele mehr. Was blieb uns jetzt noch zu tun?"
Vielleicht bediente sich Gahan absichtlich bei einer Zeile aus dem Depeche-Song „And Then … von 1983, als er über diesen Moment sagte: „Es war, als hätten wir unser Ziel erreicht.
In dem von Gore geschriebenen Song vom Album Construction Time Again heißt es:
When I reached my destination
I hadn’t gone far.
Dabei hatten Depeche Mode einen ziemlich weiten Weg zurückgelegt, seit sie im Februar 1981 mit „Dreaming Of Me" ihre erste Single ablieferten. Aber vielleicht war es Daves gutes Recht, als er sich – wenn auch sicherlich hochemotional aufgrund des Adrenalinschubs nach einem überwältigenden Gig – mit nur 26 Jahren fragte, was ihnen jetzt noch zu tun übrig bleibe.
Depeche Mode verkauften Millionen von Platten und spielten regelmäßig vor vielen tausend Fans. Dennoch wäre das Konzert im Rose Bowl sicherlich der passende Schlusspunkt einer erfolgreichen Karriere gewesen, falls nun ihre Kreativität versiegt wäre oder Dave, Martin, Alan oder Fletch trotz des eindrücklichen „I Just Can’t Get Enough" doch plötzlich genug gehabt hätten.
Das Ziel war erreicht. Aufhören, wenn’s am schönsten ist.
Vielleicht konnte Dave es sich einfach nicht vorstellen: Wie sollten er und Depeche Mode ein solches Erlebnis wie die Show im Rose Bowl je übertreffen, und wie sollten sie je bessere Songs schreiben als „Never Let Me Down Again oder „Strangelove
von Music For The Masses? Dave hat aus seiner manchmal zu selbstkritischen Haltung heraus mindestens einmal augenzwinkernd erklärt, er habe nun mal kein Talent für etwas anderes. Erschöpfung und Angst vor der Zukunft sind allerdings Gefühle, wie sie viele Menschen durchmachen, wenn sie einen Wendepunkt in ihrem Leben erreichen.
„Danach wurde es anders – und das musste es auch. Wir mussten irgendwie ein neues Level erreichen."
***
Das erste August-Wochenende 1990, Dodger Stadium, Los Angeles. Depeche Mode haben das 50.000 Besucher fassende Baseballstadion zweimal hintereinander ausverkauft, die Tickets waren nach nur einem Tag im Vorverkauf bereits vergriffen. Am Mittwoch davor absolvierte die Band einen weiteren Gig im inzwischen abgerissenen Universal Amphitheatre. Dort hatten 6000 Fans in der für ihre Akustik berühmten Location „Strangelove und „Never Let Me Down Again
zu hören bekommen, die auf der Setlist der World Violation Tour einen festen Platz hatten. Gerade der letztgenannte Song zählte für die Fans inzwischen zu einem der Höhepunkte bei den Gigs. Zum einen, weil es einfach ein großartiger Titel war, aber auch deshalb, weil oft das ganze Publikum dazu die Arme hob und hin und her schwenkte. Es sehe aus „wie ein Weizenfeld", dessen Halme sich im Wind wiegten, sagte Gore, als dieses Phänomen auf der Music For The Masses Tour zum ersten Mal auftrat.
Als Anfang und Ende ihres Sets hatten Depeche Mode bei allen drei Konzerten jedoch Titel vom gerade erst veröffentlichten Album ausgewählt – eine ungewöhnliche Entscheidung. Der Opener, „World In My Eyes, war auch der erste Song der neuen Platte. Und den Schluss bildete ein Titel, der es in seiner Eingängigkeit mit „Everything Counts
aufnehmen konnte: die erste Single von Violator, „Personal Jesus".
Als letzten Song im Zugabenblock spielten Depeche Mode an jedem Abend den Rock’n’Roll-Klassiker „Route 66, der vor allem in den Fassungen von Nat King Cole und Chuck Berry berühmt geworden ist und den sie bereits 1987 als B-Seite für die Single „Behind The Wheel
aufgenommen hatten. Eine Synthie-Band aus Großbritannien stand da und haute den Fans einen lauten, gitarrendominierten Titel über einen Roadtrip durch die USA um die Ohren.
Es war nicht mehr nötig, auf frühere Stimmungsgaranten wie „Just Can’t Get Enough und „People Are People
zurückzugreifen. Depeche Mode hatten das neue Level erreicht, über das sich Dave nur drei Jahre zuvor solche Sorgen gemacht hatte. Die Qualität der Songs auf der neuen Platte und die Reaktion von Fans und Kritikern wurden diesem Anspruch mehr als gerecht.
Live, in der südkalifornischen Hitze des Sommers 1990, waren Depeche Mode eine Urgewalt.
Und doch schien das niemanden besonders zu überraschen, außer vielleicht einige Teile der britischen Musikpresse, die sich zuvor gern abfällig über die Band geäußert hatte. Nach diesen Shows mussten aber auch die heimischen Kritiker widerwillig zugeben, dass ihre einstigen Prügelknaben aus den frühen Achtzigern sich ganz ohne Frage verändert hatten. Sie waren genau das geworden, als was sie Bruce Kirkland, der Firmenchef von EMI Records, bezeichnet hatte – „eine ordentliche, anerkannte Stadionband in Amerika – Schluss, aus, Ende".
Dabei hatte sich schon ein halbes Jahr zuvor abgezeichnet, dass große Dinge ihren Schatten vorauswarfen – größer als selbst die beeindruckenden Szenen, die 101 eingefangen hatte.
Schauplatz war wieder Los Angeles. Die Metropole spielt in der Geschichte Depeche Modes eine entscheidende Rolle, fast so sehr wie ihre Heimatstadt Basildon; unter anderem war es hier, dass Dave so schlagzeilenträchtig dem Tod von der Schippe sprang, als er Mitte der Neunziger gegen seine Drogensucht kämpfte.
Die Band hatte sich für eine Signierstunde im Medienkaufhaus Wherehouse angekündigt, um die Werbetrommel für die neue Platte zu rühren – eine Aktion von der Art, die Alan später als „Pflichtübung bezeichnete. Vor Ort stellte die Band schockiert fest, dass das Areal rund um die Filiale von schätzungsweise 20.000 Fans überrannt worden war – eine Entwicklung, die sie ebenso wenig erwartet hatte wie die begleitenden Medienvertreter, Sicherheitskräfte, Geschäftsangestellten oder auch die Polizei von Los Angeles. Es kam zu tumultartigen Szenen, als die Fans versuchten, in das Geschäft hineinzukommen, und das brachte Depeche Mode dann sogar landesweit in die Abendnachrichten. Zwar spielte Alan das Ereignis in einer Presseerklärung anschließend herunter, aber in den Medien war verständlicherweise von „Ausschreitungen
die Rede. Und das ließ bereits ein wenig erahnen, was Depeche Mode 1990 noch bevorstand.
Sie hatten sich ein neues Ziel gesteckt, auf das es mit zwei Singles – dem bereits genannten „Personal Jesus und dem Nachfolger „Enjoy The Silence
– einige Wochen zuvor bereits einen Vorgeschmack gegeben hatte. Und dieses Ziel erwies sich als eine Sammlung von Tracks, die in ihrer Kreativität und Tiefe alles toppten, was Depeche Mode zuvor abgeliefert hatten. Darüber hinaus ging die neue Linie mit einem klar definierten Image und Selbstbewusstsein einher.
Heute, mehr als drei Jahrzehnte später, wird unter Fans immer noch darüber debattiert, welche Phase von Depeche Modes langer Karriere sie am meisten fasziniere. Dabei lässt sich kaum bestreiten, dass die Band rund um 1990 den entscheidendsten und sicherlich auch den bedeutsamsten Punkt ihrer Geschichte erreicht hatte. Fletch sprach im Bezug auf diese Zeit vom „Höhepunkt mit Blick auf Sounds und Songs".
Das Ziel hieß: Violator.
1. Kapitel
102
„Ich finde es großartig, wenn Künstler etwas Neues ausprobieren. Das ist wohl etwas, wofür ich sie immer bewundert habe."
– Gareth Jones
101 erschien im März 1989 in zwei Versionen: zum einen als der von D. A. Pennebaker gedrehte Film, zum anderen als Audio-Live-Mitschnitt auf Doppel-CD/Vinyl-LP/Cassette mit dem vollständigen Konzert aus dem Pasadena Rose Bowl. Im Vormonat waren die Fans bereits mit einer neuen Single verwöhnt worden, einer Live-Version von „Everything Counts. In dieser Karrierephase veröffentlichten Depeche Mode ihre Singles in der Regel in einer verwirrenden Vielfalt von Formaten mit verschiedenen Remixen und B-Seiten. Dementsprechend kam die neue Fassung von „Everything Counts
zusammen mit Live-Versionen anderer Titel von 101 auf den Markt, beispielsweise „Nothing und „Sacred
, die ursprünglich von Music For The Masses stammten. Dazu kam ein Remix von „Everything Counts", erstellt vom 21-jährigen Tim Simenon (Bomb The Bass) aus London, der 1997 das Depeche-Mode-Album Ultra produzieren sollte. Aber trotz der vielen verschiedenen Formate erreichte die Single weltweit keine höhere Chartposition als Platz 12 in Deutschland.
Das Album 101 schaffte es hingegen in Deutschland auf Platz 3, in Frankreich auf Platz 4 und in Großbritannien auf Platz 5, während es in den USA bei einem enttäuschenden Platz 45 blieb. Vielleicht hatte Dave Gahan mit seinen Zweifeln, ob Depeche Mode sich weiterentwickeln und vor allem auch in den Augen der Fans weiter eine bedeutende Größe bleiben würden, richtig gelegen – so wollte es jedenfalls in den USA erscheinen, wo der Band nur neun Monate zuvor die Welt zu Füßen gelegen hatte (oder zumindest die etwa 66.000 Fans im Pasadena Rose Bowl).
Aber das war vermutlich nicht der Grund, weshalb 101 in den USA hinter den Erwartungen zurückblieb. Zwar war seit dem Ende der Music For The Masses Tour in Los Angeles nur ein Dreivierteljahr vergangen, aber in der Pop- und Rockwelt deuteten sich in jener Zeit einschneidende Veränderungen an, wobei sich das an den anderen Alben, die sich im März 1989 neben 101 in den Charts tummelten, nur bedingt ablesen ließ. Allerdings waren Depeche Mode auch nicht die einzigen Popgrößen, die Ende der Achtziger von diesen Entwicklungen betroffen waren.
Madonnas Album Like A Prayer erschien im selben Monat und schoss gleich in mehreren Ländern auf den ersten Platz. Nun wurde Depeche Mode kaum die gleiche Aufmerksamkeit zuteil, die Madonna (durchaus mit Absicht) auf sich lenkte. Die Sängerin, die nach ihrer Scheidung von Sean Penn Anfang des Jahres gerade wieder Single war, hatte die Achtzigerjahre als Dauergast auf den Titelseiten der Zeitungen und Klatschblätter verbracht. Und dennoch gab es Parallelen zwischen den Erfahrungen, die Madonna und Depeche Mode 1989 machten.
Madonnas Video für die Single „Like A Prayer hatte wegen der darin verwendeten kirchlichen Symbole und einer Traumsequenz, in der Madonna einige recht unkatholische Dinge mit einem Heiligen trieb, ziemlich große Schlagzeilen gemacht. (Nebenbei bemerkt: Im von Anton Corbijn 1993 gedrehten Video für Depeche Modes „Walking In My Shoes
wurden auch einige nette Spielereien zwischen einer Nonne und einem Priester angedeutet.) Der Vatikan war wenig amüsiert, ebenso wenig wie Pepsi, das seinen hochdotierten Werbevertrag mit Madonna daraufhin auflöste.
Ob Depeche Mode etwas davon mitbekamen oder sich überhaupt dafür interessierten, dass Madonna der katholischen Kirche und anderen christlichen Konfessionen auf die Zehen trat, ist schwer zu sagen. Dem Marketing für ihre neue Single schadete die Kontroverse jedenfalls nicht. Davon abgesehen hatten sich die Briten mit ihren Songs „Blasphemous Rumours und „Master And Servant
schon selbst bei der Kirche unbeliebt gemacht – die Kombination aus Religion, zweideutigen Anspielungen und augenzwinkernden Videos sorgte in prüden Kreisen immer noch verlässlich für einen Aufschrei.
***
Glücklicherweise konnten neben Madonna, Debbie Gibson, Jason Donovan oder Simply Red, die Anfang 1989 die Charts beherrschten, auch einige Vertreter der alternativen Musikszene große Erfolge feiern. Die britischen Synthie-Spezialisten New Order veröffentlichten im Februar das großartige Album Technique, eine Platte, die endlich zweifelsfrei klarstellte, dass New Order und Bernard Sumner – ein Name, der später in der Violator-Geschichte noch einmal auftauchen sollte – die gleichen kreativen Höhen erklimmen konnten wie ihre Vorgängerband Joy Division mit Sänger Ian Curtis.
Im Mai schoben ihre Düsterrock-Kollegen von The Cure ihr bisher bestes Album nach, Disintegration, das von den Fans bis heute als ihr größter Meilenstein gefeiert wird. Und wer immer noch den Smiths hinterhertrauerte, die sich 1987 aufgelöst hatten, der wartete gespannt auf die nächste Platte einer Band, deren Mitglieder zumindest in musikalischer Hinsicht als die natürlichen Erben von Morrissey und Johnny Marr galten – The House Of Love.
Dazu kamen die schrägen Sugarcubes aus Island und die auf träumerische Gitarreneffekte setzenden Cocteau Twins, deren Alben, mit vielen Vorschusslorbeeren bedacht, ebenfalls sehnlichst erwartet wurden. Und wenn die Musikpresse normalerweise auch zu Übertreibungen neigte: Als sie jetzt vollmundig behauptete, dass angesichts der vielen qualitativ herausragenden Vertreter der Indie-Szene eine Art goldenes Zeitalter begonnen habe, ließ sich das nicht von der Hand weisen.
In den USA, in denen während der Achtziger eine deprimierende Zahl dauergewellter Softrocker durchgestartet waren, machten jetzt an der Ostküste Bands wie die Throwing Muses und die Pixies auf sich aufmerksam, die im April mit Doolittle den Nachfolger ihres Debütalbums Surfer Rosa veröffentlichten. Jane’s Addiction ließen sich zwar hin und wieder zu den typischen Rock’n’Roll-Exzessen hinreißen, hatten aber ebenfalls ein neues Album angekündigt, und die Rollins Band schickte sich an, krachig und laut die Lücke zu füllen, die Hüsker Dü bei ihrer Auflösung ein paar Jahre zuvor hinterlassen hatten.
Auf dem europäischen Kontinent stellte sich die Alternative-Szene zwar insgesamt deutlich uneinheitlicher dar, schickte aber eine ganze Reihe dynamischer und wichtiger Vertreter ins Rennen, beispielsweise die Einstürzenden Neubauten, die wie Depeche Mode bei Mute unter Vertrag standen, oder das Electro-Projekt Front 242 aus Belgien. Beide Bands konnten auch im Ausland bescheidene Erfolge verzeichnen, teilweise vielleicht auch deshalb, weil sie von der Musikpresse häufig im selben Atemzug wie Depeche Mode genannt wurden, wenn von deren härteren Songs die Rede war. Man sprach von „Industrial oder „EBM
– Bezeichnungen, die hin und wieder auch auf Depeche Mode angewandt worden waren.
Gleichzeitig wurden viele europäische Bands aus dieser Ecke, die versuchten, sich ein größeres Publikum zu erspielen, oft etwas unfair mit den großen Pionieren der elektronischen Musik auf dem Kontinent verglichen – den damals schon seit zwanzig Jahren aktiven Kraftwerk.
***
Ein musikalischer Trend, der sich mit großer Kreativität und Einzigartigkeit auf noch viel breiterer Front durchsetzte und 1989 seinen Siegeszug antrat, war allerdings Dance. Puristen weisen natürlich nicht zu Unrecht darauf hin, dass die Dance-Szene der damaligen Zeit musikalisch gesehen nur die logische Weiterentwicklung einiger klassischer Disco-Tracks aus den späten Siebzigern dargestellt habe. Donna Summers Hi-NRG-Hit „I Feel Love" von 1977 konnte durchaus als Vorläufer des House betrachtet werden, wenn man den pumpenden Viervierteltakt, die üppige Gesangsproduktion und den Einsatz von Synthesizer-Sounds bei der Percussion bedachte.
Anfang der Achtziger hatten Club-DJs in Chicago, beispielsweise Frankie Knuckles und Ron Hardy, damit begonnen, Disco- und HipHop-Tracks auf zwei Plattenspielern miteinander zu verquicken und sie zusätzlich mit eigenen Beats zu unterfüttern, die sie mit Drum Machines erzeugten. Hin und wieder wurden diese Mixe – professionell aufbereitet, sauber abgemischt und produziert – auf Vinyl gepresst und an andere Clubs weitergereicht, vor allem in New York und Detroit. Einige davon fanden ihren Weg bis in die europäischen Dance-Hochburgen Berlin oder London. Und so begann der Siegeszug der sogenannten House Music.
Mitte der Achtziger konnte Marshall Jefferson in den USA und anderen Ländern einen Hit mit „Move Your Body verbuchen. Dieser Meilenstein inspirierte seinen DJ-Kollegen Kevin Saunderson in Detroit einige Jahre später zu mainstreamkompatiblen House-Tracks mit Hitpotenzial, die er unter dem Namen Inner City herausbrachte. Während seine Singles „Big Fun
und „Good Life" im amerikanischen Mutterland keinen großen Eindruck hinterließen, wurden sie in Großbritannien enorm populär.
Saunderson berichtet heute, dass in den Clubs von Michigan auch die Maxi-Version der 1983 erschienenen Depeche-Mode-Single „Get The Balance Right" ziemlich häufig aufgelegt worden sei. Er selbst ließ bestimmte Teile dieses Songs oft als Loop laufen oder mixte ihn mit anderen Tracks, und auch House-Pionier Derrick May setzte den Titel oft ein.
Saunderson bezeichnete „Get The Balance Right" im Magazin Exclaim 2003 sogar ehrfürchtig als „erste Techno-Platte der Welt. May bestätigt, dass der Track in den amerikanischen Clubs ein Riesenhit war, weist allerdings darauf hin, dass von den Fans dieser Platte kaum jemand gewusst habe, welcher Künstler oder welche Band sich eigentlich dahinter verbarg. In der amerikanischen Clubszene war „Depeche Mode
nicht mehr als ein Schriftzug auf einer Maxi-Weißpressung, die über Sire Records zu den DJs gelangte.
Eine seltsame Laune der Geschichte: Ausgerechnet ein Song, den die Band im Nachhinein nicht einmal besonders zu mögen schien (auch, wenn er Alan Wilders Einstand als Bandmitglied markierte, nachdem er die Band ein Jahr lang ausschließlich live verstärkt hatte), wird heute als früher Einfluss auf die House Music genannt. Aber dennoch manifestierte sich darin Depeche Modes entscheidende Rolle in der Frühphase der Dance Music, eine Bedeutung, die – wie wir noch sehen werden – nach der Violator-Phase geradezu schneeballartig wuchs.
Die Band selbst schien von dieser Verbindung eher irritiert, obwohl sie sich dennoch zu einem Treffen mit May bereiterklärte, vermutlich auf Betreiben ihrer PR-Berater, die zu dieser Zeit noch mehr zu sagen hatten als in den späteren Jahren. Das britische Magazin The Face arrangierte die Begegnung, als sich Depeche Mode im Dezember 1988 in New York aufhielten, um sich Material des kommenden 101-Films anzusehen. In Begleitung des Journalisten John McCready nahm May die vier Briten erst mit in Detroits berühmten Underground-Club The Music Institute und lud sie außerdem in sein Apartment in der Stadt ein, wo er ihnen offenbar ein paar Tracks vorspielte, an denen er gerade arbeitete.
McCready machte daraus für The Face eine schräge Geschichte, in der die britischen Elektroniker den „besten Club des Planeten" besuchten, und konzentrierte sich auf die Verbindung zwischen zwei gegensätzlichen Polen des musikalischen und kulturellen Spektrums. Der Artikel stellte dabei deutlich heraus, dass die Jungs aus Großbritannien, die bekanntermaßen hin und wieder ganz schön tief ins Glas schauten, wenn sie abends ausgingen, den Club ohne Alkohollizenz ein kleines bisschen komisch gefunden hätten, ebenso wie die Aufmerksamkeit, die ihnen einige der Stammgäste entgegenbrachten.
Vor allem Alan Wilder konnte offenbar mit der ganzen Veranstaltung wenig anfangen, und er hielt auch nichts von May. Wie Steve Malins in seinem Buch Depeche Mode – Die Biografie berichtet, sagte Wilder über ihn: „Derrick May war ein ätzender Typ – ich fand ihn grässlich. Er war das arroganteste Arschloch, dem ich je begegnet bin. Er hatte sich in einem Hinterzimmer ein Studio eingerichtet und spielte uns da einen Track vor, der absolut scheußlich war."
Es war ein typischer Artikel für The Face – die wortreiche Schilderung des Zusammentreffens zweier unterschiedlicher Kulturen und der Versuch, hinter die sorgsam errichtete Fassade zu blicken, die sich die Künstler für die Öffentlichkeit zugelegt hatten.