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Ein Handwerk studieren oder die Revision der Berufsbildung (E-Book)
Ein Handwerk studieren oder die Revision der Berufsbildung (E-Book)
Ein Handwerk studieren oder die Revision der Berufsbildung (E-Book)
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Ein Handwerk studieren oder die Revision der Berufsbildung (E-Book)

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Dieses E-Book enthält komplexe Grafiken und Tabellen, welche nur auf E-Readern gut lesbar sind, auf denen sich Bilder vergrössern lassen.

Die Berufsbildung steht vor Herausforderungen: Globalisierung, Digitalisierung und die Forderung nach mehr Nachhaltigkeit verändern ihre Rahmenbedingungen, darüber hinaus
befindet sich die Berufsbildung in einem akademischen Drift.

Um den neuen Anforderungen gerecht zu werden, braucht es eine Revision der Berufsbildung. Nach wie vor soll sie an Bildung und Beruflichkeit festhalten; sie soll aber neu ebenso zwischen Handwerk und Studium vermitteln, die Chancen der Digitalisierung nutzen und auf Anschlussfähigkeit im Bildungswesen achten.
LanguageDeutsch
Publisherhep verlag
Release dateApr 1, 2023
ISBN9783035521672
Ein Handwerk studieren oder die Revision der Berufsbildung (E-Book)
Author

Philipp Gonon

Jahrgang 1955, Studium der Pädagogik, Ethnologie, Jus und Journalistik an den Universitäten Fribourg, Berlin und Zürich. 1982-86: Teilzeit- Unterricht Allgemeinbildung an einer Berufschule in Zürich. Doktorat zu Georg Kerschensteiners' Arbeitsschule (1992) und Habilitation zum Internationalen Argument von Bildungsreformen in England und in der Schweiz (1997) an der Universität Bern. 1998-2004: C-4-Professor für berufliche, betriebliche Weiterbildung an der Universität Trier. Seit 2004 ordentlicher Professor für Berufsbildung an der Universität Zürich. Forschungsinteressen: International vergleichende Bildungsforschung, Berufsbildung und Weiterbildung, Qualität und Evaluation in der Berufsbildung, Philosophy and History of Education.

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    Ein Handwerk studieren oder die Revision der Berufsbildung (E-Book) - Philipp Gonon

    Ein Handwerk studieren oder die Revision der Berufsbildung

    Einleitung

    Der unmittelbare Anlass für dieses Buch war meine in Covid-19-Zeiten im virtuellen Raum gehaltene Abschiedsvorlesung an der Universität Zürich, «Ein Handwerk studieren. Zur Zukunft der (Berufs-)Bildung in der Schweiz» [1] , die auch für meine persönliche Zukunft den Übergang von einer vollzeitbeschäftigten Professur für Berufsbildung zu einer teilzeitbeschäftigten Anstellung im Rahmen von Forschungsprojekten markierte.

    Daraus ist nun dieses Buch entstanden, das als Versuch (Essay) diesen und andere in jüngster Zeit gehaltene Vorträge und Publikationen bündelt und sie in die Perspektive der Zukunftsfähigkeit der beruflichen Bildung in der Schweiz einordnet.

    Zukunftsfähigkeit ist wahrscheinlich kein streng wissenschaftlicher Begriff und bekanntlich sind, wie es sarkastisch heisst, Prognosen besonders wenn sie die Zukunft betreffen schwierig. Dennoch schienen mir nicht nur die Abschiedsvorlesung, sondern auch weitere Vorträge, die ich seither und davor gehalten habe, immer auch diese Erwartungsdimension vonseiten der Veranstalter von Seminaren, Tagungen, Workshops wie ebenso der Leserschaft schriftlicher Beiträge miteinzuschliessen.

    Inwiefern hat die bisher so erfolgreiche Berufsbildung in der Schweiz weiterhin Bestand? Oder wird – ähnlich wie in anderen Ländern – die duale berufliche Bildung langsam austrocknen, weil der schulische Part immer dominanter wird und die betriebliche Ausbildungsbereitschaft sinkt? Oder aber wird sie weiterhin gefeiert und hoch geachtet, aber dennoch zur Nische herabgestuft werden? Diese Fragen werden in den folgenden Beiträgen aus unterschiedlichen Perspektiven aufgegriffen.

    Weiter ist diese Publikation stark geprägt von Vorträgen und Vorlesungen, die ich als Master-Veranstaltung im Jahre 2018 angeboten habe. Ich habe die damaligen Ausführungen in einige Kapitel eingebracht, aktualisiert und etwas umgestaltet. Ausserdem führt dieses Buch ein vor zehn Jahren veröffentlichtes Projekt, betitelt mit «Herausforderungen der Berufsbildung in der Schweiz» (Maurer & Gonon 2013), weiter fort, damals herausgegeben mit meinen Assistierenden.

    Ich habe mir hierbei auch Mühe gegeben, nicht das zu fordern, was alle fordern oder was als allgemein naheliegend betrachtet wird.

    Die Sammlung, Verschriftlichung und Reformulierung unterschiedlicher anlassbezogener Ausführungen wird in dieser Publikation unter vier Gesichtspunkten verdichtet, die auch die Kapitelstruktur wiedergeben:

    Nachhaltigkeit bzw. green skills,

    Hybridität,

    Durchlässigkeit,

    Integration bzw. Inklusion und Diversität.

    Die Zukunftsfähigkeit der Berufsbildung wird unter diesen vier Gesichtspunkten in den Blick genommen. Berufsbildung soll grüner, hybrider, noch durchlässiger und noch inklusiver werden. Es sind normative Ansprüche, die sich auch an bestimmte Gruppen adressieren lassen: Die Nachhaltigkeit (1) etwa im Besonderen an die Firmen, die heute – die Zeichen der Zeit erkennend – viel tun, um im «grünen Bereich» aufzufallen, beziehungsweise auch für künftige Lernende attraktiv bleiben wollen. Die Hybridität (2) wiederum verlangt von den Verbundpartnern eine Neu- und Umgestaltung der Bildungspläne und Curricula in dem Sinne, dass sie den Lernenden mehr Spielräume hinsichtlich der Selbstorganisation von Wissen und Fertigkeiten zugestehen.

    Weiter geht es auch um den Anspruch der Durchlässigkeit (3), der in erster Linie als Forderung an die Bildungspolitik, sprich das SBFI (Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation) und die Bildungsinstitutionen zu richten ist und ein Navigieren der jugendlichen und erwachsenen Lernenden im Bildungssystem erlaubt beziehungsweise erleichtert. Integration, das heisst die Bemühungen um Inklusion und Diversität (4) wiederum sind darauf angelegt, Barrieren abzubauen und vor allem auch aus einer menschenrechtlichen Perspektive den Zugang zur Bildung sowie auch den Verbleib und das Fortkommen im Bildungssystem zu ermöglichen. Solche Forderungen können vorwiegend von Berufsfachschulen, aber auch von der Bildungspolitik bearbeitet werden, indem Beauftragte und Kommissionen, die unterschiedlichen spezifischen Bedürfnisse aufklären und entsprechende Forschung fördern.

    Einige erwartbare Herausforderungen scheinen in der obigen Einteilung nicht prominent auf, wie etwa die Digitalisierung oder aber der Akademisierungstrend und der Fachkräftemangel. Sie sind jedoch Bestandteil der diskutierten Facetten, wie aus den Texten hervorgeht.

    Wie bereits festgehalten, prägen viel öffentlich geäussertes Lob und wenig oder allenfalls verhaltene Kritik den Diskurs der Berufsbildung. Aber wer genauer hinschaut, findet dennoch einige Problembereiche: Stagnation und Rückgang selbst in hochqualifizierten Berufsausbildungen der Industrie (z.B. Polymechaniker/in EFZ), eine weiterhin erstaunlich hohe Anzahl an Lehrvertragsauflösungen und höhere Durchfallquoten zum Abschluss der Berufsausbildungen, um nur einige davon zu benennen. Aber auch die höhere Berufsbildung ist, wie es in einer jüngeren Veröffentlichung hiess, «im Gegenwind» (Gonon 2021). Weiter als in dieser Publikation zu thematisieren wären ebenso folgende Bereiche:

    wenig Allgemeinbildung (über einen weiteren Abbau wird sogar nachgedacht);

    wenig Erwachsene, die die Berufsbildung abschliessen;

    Branchen, die keine Lernenden mehr finden;

    vergleichsweise (zu) lange Lehren (4 Jahre);

    ein zunehmender «Mismatch» zwischen «geeigneten» Lernenden und Lehrstellen, selbst in scheinbar weniger anforderungsreichen Berufen;

    zu wenig pädagogisch qualifizierte Ausbilder;

    zu viele, die den Eintritt in das Gymnasium anstreben, das heisst zu wenige, und oft auch so gemeinhin artikuliert, zu wenig gute und zu wenig intelligente Lernende, die sich für die Berufsbildung erwärmen.

    Trotz der hohen Legitimität der Schweizer Berufsbildung, trotz dem hohen Ansehen im In- und Ausland werden doch auch am Narrativ der Erfolgsgeschichte hie und da (Selbst-)Zweifel laut. Gerade wenn es um die Zukunftsfähigkeit der Berufsbildung geht, werden Einwände und Kehrseiten der besten aller (Berufsbildungs-)Welten sichtbar.

    Mit anderen Worten: Es lassen sich heute kritische Aspekte identifizieren, und so argumentierte Avenir Suisse bereits 2010, dass angesichts künftiger Herausforderungen ein gut laufendes System dennoch sich kritisch befragen lassen muss, um Innovationen voranzutreiben, um die hervorragende Stellung oder – wie Ökonominnen und Ökonomen es gerne zu sagen pflegen – die «Marktführerschaft» zu halten (vgl. Schellenbauer et al. 2010).

    Die Berufsbildung in der Schweiz gibt dem informellen Lernen im Betrieb und den informellen Absprachen viel Raum. Darüber hinaus ist die Schweiz wie kaum ein anderes Land durch das Milizwesen geprägt. Anders formuliert: laienhaftem Agieren und dem Dilettantismus wird ebenso Spielraum belassen, im Vertrauen darauf, dass das Ergebnis insgesamt gut ist. Der Berufsbildung wird dennoch insgesamt gerne ein hohes Mass an Professionalität bescheinigt, auch wenn gewisse Branchen und Betriebe eine solche zunehmende Professionalisierung als Bürokratisierung und Gängelei gerade beklagen, wenn etwa der traditionelle Beruf des Schmieds von Verbandsseite abgeschafft (und durch den Metallbauer ersetzt) wird, trotz bestehender Nachfrage (Donzé 2022, S. 12).

    Die Berufsbildung selbst, aber auch die Umwelt der Berufsbildung ändern sich kontinuierlich. Einige Entwicklungen wie die technologischen Innovationen der letzten Jahre werden gar als «externe Schocks» bezeichnet und verlangen eine adäquate Antwort des Bildungssystems und insbesondere der Berufsbildung (Iversen & Soskice 2019, S. 138). Aber auch interne Entwicklungen wie der weltweit zu konstatierende «Erfolg» der Universitäten beeinflussen die Berufsbildung, indem sich diese zunehmend nach deren Standards ausrichtet (Baker 2014). Es findet auch in der Schweiz ein academic drift statt. Das sind nicht nur naive oder uninformierte Eltern (wie oft ins Spiel gebracht wird), die die Chancen und Qualität der Schweizer Berufsbildung nicht kennen oder zu wenig würdigen, sondern ebenso die Bildungsinstitutionen selbst, die sich nicht nur aus Prestigegründen am als höher betrachteten akademischen Status orientieren wollen. Hier wird insbesondere auf die Fachhochschulen verwiesen, die sich an die Universitäten anlehnen und deren wissenschafts- und akademischen Laufbahnkriterien mehr oder weniger stillschweigend übernehmen. Der schöne helvetische Duktus zwischen traditionellen und neuen Hochschulen, nämlich «gleichwertig aber andersartig», wird infrage gestellt, wenn diese Grenzen verwischen.

    Eine weitere helvetische Eigenart besteht darin, Ungeklärtes zu belassen und nicht auszudiskutieren. Im Bildungsdiskurs werden gewisse Themen pragmatisch gehandhabt: Sind denn die Fachhochschulen akademische Institutionen oder doch etwas anderes? Offiziell lässt sich dazu wenig finden, streng genommen müssten sie es sein, darauf verweisen die Einbindung in das Bologna-System und die internationalen Bezeichnungen, die von «Universities of Applied Sciences» ausgehen. In der Schweiz selbst wird aber – auch in Bezug auf die Fachhochschulen – das Wort «akademisch» eher gemieden. Und was ist nun mit der höheren Berufsbildung? Soll es einen Professional Bachelor geben? Der Druck in diese Richtung ist da, so haben jüngst wiederum einige Parlamentarier dafür plädiert und gleichzeitig betont, dass damit dem Akademisierungsdruck entgegengewirkt würde (vgl. Gonon 2021).

    Das Durchsetzen akademischer Standards entspricht einem weltweiten Trend, der auf ein stetig weiteres Anwachsen der Hochschulen hinweist und so auch die Berufsbildung dahingehend bewegt, Anschlüsse zu ermöglichen. Der von der Theorie des Neoinstitutionalismus inspirierte Ansatz hält gleich auch noch eine andere Provokation oder Herausforderung bereit: Gleichen sich die Bildungssysteme über nationale Grenzen hinweg an? Für die Volksschulen, für die Universitäten wird dies bejaht. Aber für die Berufsbildung? Oder umgekehrt: Werden nun alle anderen Länder in der Tendenz duale Berufsbildungen, so wie sie in der Schweiz bestehen, übernehmen?

    Die schweizerische Bildungspolitik hat bezüglich scheinbar konträren Anforderungen, Bedürfnissen und Interessen bis anhin bemerkenswert pragmatisch reagiert. Auf den ersten Blick widerstreitende Anliegen werden hierbei durch Hybride gelöst: durch ein Sowohl-als-auch. Beispielhaft hierbei ist die Berufsmaturität, bei der Studierfähigkeit und Arbeitsmarktbefähigung zusammengebracht werden: die Logik der Schule und der Betriebe, die Logik des akademischen Wissens und des beruflichen Anwendungsbezuges, die Logik der Fachhochschulen und der professionellen Organisationen werden gebündelt. Hierbei werden Unschärfen in Kauf genommen und Widersprüche belassen beziehungsweise nicht aufgelöst.

    Die folgenden Ausführungen plädieren für eine Revision der Berufsbildung im ganz ursprünglichen Wortsinne. Es geht um eine Wiederbetrachtung, eben um eine Re-Vision von Vergangenheit, die mit dem Ziel erfolgt, Zukunft zu bewältigen. Eine solche Revision prüft gleichsam bestehende Visionen und will diese mithilfe der Geschichte neu bewerten. Revisionistische Geschichtsschreibung revidiert bestehende Gewissheiten, hinterfragt vorherrschende Narrative und sucht nach alternativen Deutungen. Der Revisionismus hat einen denkbar schlechten Beiklang, so zumindest in der historisch geprägten politischen Diskussion zu Beginn des 20. Jahrhunderts. «Revisionisten» schienen stets ewig Gestrige zu sein, die sich für eine verklärte Vergangenheit einsetzen und so im politischen Bereich vergangene Grösse notfalls mit Gewalt wieder herstellen wollen, wie der Angriffskrieg auf die Ukraine – zu Recht als revisionistisches Projekt charakterisiert – anschaulich macht.

    Betrachten wir aber Eduard Bernsteins «Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie» so geht es bei diesem berühmten Begründer des theoretischen Revisionismus darum, die Sozialdemokratie von ihrer ideologischen Verblendung zu befreien, um künftige Möglichkeiten auszuloten. Es gelte, den Boden der Tatsachen nicht zu ignorieren, um quasi auf empirischer Grundlage nüchtern in die Zukunft zu blicken (Bernstein [1921]1975).

    Aber auch in der Geschichtswissenschaft und in der politischen und ökonomischen Historienschreibung finden sich Autorinnen und Autoren, die Revisionen anstreben. Mariana Mazzucato schreibt die Geschichte des (ökonomischen) Wertes neu, um eine «re-envision» der ökonomischen Theoriebildung anzustreben (Mazzucato 2018).

    Revision mit Blick auf die Berufsbildung heisst, dass man auf die Ursprünge in der handwerklich-zünftischen Ordnung Bezug nimmt, dennoch aber ausgehend von dieser historischen Bezugnahme künftige Entwicklungen und Erfordernisse aufnimmt. Ein solches vorherrschendes Narrativ ist beispielsweise auch die Darstellung der Berufsbildung als Erfolgsgeschichte. Diese muss man nicht bestreiten, kann aber dennoch auf Verluste, Defizite und – vor allem mit Blick auf künftige Herausforderungen – auf Versäumnisse oder nicht wahrgenommene Probleme hinweisen. Genau dies soll im Folgenden genauer betrachtet werden.

    Es lohnt sich, sich Odo Marquards listiges Essay «Zukunft braucht Herkunft» zu vergegenwärtigen, in dem er beschreibt, dass der technologische Wandel und so auch neue Medien zwar Lebenserleichterungen mit sich bringen, gleichzeitig aber auch Belastungen wie Überinformation erzeugen. Kurz: «die neue Welt kann nicht sein ohne alte Fertigkeiten», neben schnellen Modernisierungen brauche es gleichzeitig langsame Menschen (Marquard 2020, S. 48).

    Die reproduzierbare Form der Berufsbildung mit der pädagogischen Stufung Lehrling–Geselle–Meister entfaltete sich in den mittelalterlichen Werkstätten der Handwerker. Diese wurde durch eine spezifische Organisation, die Zünfte und späteren Berufsverbände, kuratiert. Mit dem Einbezug von Schulen wurde diese Form im 19. und 20. Jahrhundert stärker formalisiert, standardisiert, öffentlich gestaltet und nationalisiert. In der Schweiz wurde in den 1990er-Jahren mit der Einführung der Berufsmaturität und mit dem Berufsbildungsgesetz 2002 die separate Sphäre der beruflichen Bildung aufgehoben und an das gesamte Bildungssystem angedockt. Dadurch entstand ein – wie es mir ein Teilnehmer an einem Seminar in Harvard auf einen Vortrag von meiner Seite rückmeldete – imposantes Uhrwerk: eine «swiss watch». Dieses Uhrwerk bedarf, wie es bei mechanischen Uhren der Fall ist, von Zeit zu Zeit einer Revision.

    1

    Grüne Berufsbildung

    Mit Blick auf die Zukunft sollte Berufsbildung deutlich grüner werden. Diese Forderung wird wohl wenig bestritten sein. Es ist allerdings schwierig zu bestimmen, was dies konkret bedeuten soll: grünere Bildungspläne, mehr ökologisch ausgerichtetes und handlungsorientiertes Lehren und Lernen oder einfach gar mehr Allgemeinbildung? Die folgenden Ausführungen heben einen Gesichtspunkt hervor: Trotz der vielen Ungewissheiten bezüglich Zielsetzungen sollte vor allem das Handeln der Lernenden im Betrieb (stärker) im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Sprich: Es sind vor allem die Betriebe (Grossbetriebe und KMU) gefordert, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu schaffen, damit Lernende Betrieb und Produktion weiter begrünen.

    1.1

    Green skills und Nachhaltigkeit

    Die grüne Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft als Forderung und Ziel – damit sollte sich auch die Berufsbildung enger befassen. Bis anhin ist dieses Thema erstaunlich wenig bearbeitet. Im internationalen Rahmen spricht man im Zusammenhang mit Berufsbildung und Nachhaltigkeitsforderungen zwar von green skills, meint damit aber oft eher spezifische Fähigkeiten auf eine einzelne (berufliche) Tätigkeit fokussiert.

    Ökologische Problemstellungen wie CO2-Ausstoss und Klimaerwärmung, fossile Rohstoffe und Energieverbrauch, aber auch Abfallreduktion verleihen dieser Perspektive erneut Auftrieb. Erst jüngst machen sich in der Schweiz einige neue Anstösse bemerkbar, so unter anderem von Verbandsseite der Arbeitergeber- und Gewerbeverband. Im Zusammenhang mit Betrieben, die in dieser Hinsicht innovativ sind, hat sich ein Zusammenschluss interessierter Kreise und Firmen, die sich für eine nachhaltige Wirtschaft einsetzen, herausgebildet. In den Bildungsgängen der beruflichen Grundbildung brauche es eine ressourcenschonende und insgesamt nachhaltige Art des Wirtschaftens: Gemäss «Cleantech»-Anforderungen seien dafür berufsspezifische wie berufsübergreifende Kompetenzen zu bestimmen, insbesondere im Bereich Ressourcen-Effizienz und erneuerbarer Energien (vgl. Heinimann, Lachenmeier & Stucki 2012). Was soll «Cleantech» eigentlich bewirken? Beispielsweise, dass ein Bäcker die Abwärme für die Befeuerung seines Ofens nutzt und die Gärtnerin ihre Kundschaft bezüglich des Einsatzes von Düngemitteln beraten kann. Auch die Montage von Solaranlagen im Zusammenhang mit beruflichen Tätigkeiten soll durch Cleantech Eingang in das Profil der Berufe finden.

    Das Potenzial für eine Weiterentwicklung beruflicher Bildung ist somit gegeben, wenn es gilt, die Themen Abfallverwertung, erneuerbare Energien, Energieeffizienz vermehrt in die Bildungspläne zu integrieren. Damit würde auch der bundesrätlichen Energiepolitik entsprochen. Gleichzeitig könne die Attraktivität der Berufsbildung gesteigert werden, da die Sorge für eine nachhaltige Welt ein Pluspunkt für die berufliche Bildung sei. Es helfe ebenso der persönlichen Sinngebung der einzelnen Lernenden, die eine solche berufliche Grundbildung machen würden (vgl. ebd.).

    Etwas kontrovers bleibt allerdings die Frage, ob man alle Bemühungen auf Ressourcen und Energie konzentrieren soll, wie das in der aktuellen Debatte anklingt, oder ob Nachhaltigkeit zwingend auch noch mehr einzuschliessen habe. Einige befürchten – etwas scheinheilig – eine Überladung der Bildungsverordnungen, die so schon sehr dicht seien. Berufe und Ausbildungspläne sollten nicht überfordert werden. Von betrieblicher Seite würden die bestehenden Bildungsanstrengungen bezüglich Cleantech denn auch mehrheitlich als ausreichend dargestellt. Andere hingegen betonen, dass im Hinblick auf Nachhaltigkeit weit mehr zu tun sei. Der gemeinsame Nenner über die Branchen und die 230 Berufe in der Schweiz hinweg ist, dass man vor allem die Verschwendung und mangelnde Effizienz in Bezug auf Beruf und Betrieb als das Hauptproblem ansieht. In den Betrieben würden zu viele Ressourcen und zu viel Energie verschwendet werden; die Ressourcen- und Materialineffizienz sei daher als ein wichtiger Gesichtspunkt zu sehen, der auch in die Berufsbildung Eingang finden sollte (vgl. ebd.). Ein zweites gewichtiges Problem bezieht sich auf die lernortübergreifende Zusammenarbeit hinsichtlich der Förderung von Cleantech-Kompetenzen. Sowohl bezüglich der Programmatik wie auch bezüglich der praktischen Koordination und Kooperation der Akteurinnen und Akteure wird Cleantech nicht einfach in die berufliche Praxis eingeführt und umgesetzt werden können.

    Man kann also sagen, dass Nachhaltigkeit auch für die Bestimmung von Berufen beziehungsweise von Beruflichkeit eine Herausforderung ist und bleibt. Nicht nur Brancheninteressen auf lokaler und nationaler Ebene, sondern gerade auch internationale Standards und internationale Diskussionen prägen verstärkt die Bildung und Bildungspolitik vor Ort und damit ebenso das Konzept des Berufs. Inwieweit Forderungen der Effizienz und verbesserten Lernortkooperation überhaupt verallgemeinert werden können, bleibt wenig geklärt, tangiert aber das Konzept des Berufes. Der Klimawandel betrifft nicht nur die Arbeit in einem Industriebetrieb. Wie lässt sich Berufliches so fassen, dass es für den gesamten Bereich der beruflichen Bildung gilt? Im neueren Reformprojekt «Berufsbildung 2030» in der Schweiz tauchen die allseits anerkannten Forderungen bezüglich Effizienz und Energiehaushalt, aber auch bezüglich Biodiversität interessanterweise kaum auf.

    Alles in allem sei auf die Gefahr der «nachhaltigen Nicht-Nachhaltigkeit» (Blühdorn et al. 2020) verwiesen. Denn Nachhaltigkeit ist «kein konkreter Gegenstand, sondern eine Perspektive auf prinzipiell alle Bereiche der existierenden Zivilisation» (Euler 2022, S. 84). Wir wissen zwar, was ökologisch vernünftig wäre, handeln aber bewusst nicht so; sei es, weil man sich eine Ausnahme genehmigen will, oder sei es, weil man einen Fehltritt mit anderen guten Taten ausgleichen möchte. So gelten Umstellungen und Einschränkungen nicht für einen selbst, aber für andere, was einer «imperialen Lebensweise» entspricht. In den Zentren des globalen Nordens haben wir eine alltägliche Lebensbewältigung entwickelt, die auf Ausbeutung von Arbeitskräften und kaum beschränkter Ressourcennutzung von «anderswo» beruht (vgl. Brand & Wissen 2017, S. 44). Was hiermit ausbleibt, ist die vielseitig erwünschte grüne Transformation, die auch nicht einfach durch mehr grüne Bildung behebbar ist. Einige sehen hierbei auch eine Problematik im Begriff der Nachhaltigkeit selbst, der dazu führe, dass diese «nur» noch als Angelegenheit des Staates und noch vielmehr der Wissenschaft betrachtet wird (Blühdorn et al. 2020).

    Eine andere Perspektive, die eine grüne Transformation schwierig macht, ist die «private Regierung», der die Beschäftigten eines Betriebes unterworfen sind, wie Elisabeth Anderson festhält (Anderson 2019 S. 116ff.). Die Autorität und hierarchische Strukturierung mag im Hinblick auf Produktionsziele effizient sein, sie widerspricht aber einem republikanischen Freiheitsverständnis, was der freien Entfaltung von neuen Ideen und Partizipation am Produktionsprozess in der Regel nicht dienlich ist. Die Freiheit der Wirtschaftssubjekte bezüglich ihrer Selbstbestimmung, wie sie historisch auch von den Vordenkern der Marktwirtschaft so vorgesehen war, ist hiermit ziemlich eingeschränkt. Es ist darüber hinaus problematisch, dass Wirtschaft insgesamt auf Wachstum programmiert ist beziehungsweise eine Reduzierung der Wachstumsabhängigkeit mit Blick auf planetare Grenzen als nicht denkbar erscheint (Seidl & Zahrnt 2021).

    Diese zweifellos zu vertiefenden Diskurse beziehungsweise Widersprüchlichkeiten zeigen sich auch in der Berufsbildung. Unklare Zielsetzungen, die Schwierigkeit von lieb gewonnenen Gewohnheiten Abschied zu nehmen, die Abschiebung von Verantwortung und das mehr oder weniger bewusste Ignorieren von Tatsachen und Entwicklungen sowie auch strukturelle Zwänge und historische Pfadabhängigkeiten legen es nahe, green skills, Bemühungen um Nachhaltigkeit oder gar eine grüne Transformation der Wirtschaft und Gesellschaft als unrealistisch zu taxieren.

    Im Folgenden wird eine Perspektive stark gemacht, die auf die Lernenden als diejenigen setzt, die sich noch länger mit den ökologischen Folgeproblemen beschäftigen müssen. Gerade dieser Zukunftshorizont legt es nahe, ihnen im Betrieb mehr Spielräume zu verschaffen.

    Eine Herausforderung liegt gerade darin, die Gestaltungsmacht der Lernenden dauerhaft und nicht nur punktuell zu stärken. Es ist schön, dass Betriebe – zum Beispiel in Zusammenarbeit mit «myclimate» – orientiert an den Zielen für nachhaltige Entwicklung und jenen der Vereinten Nationen bezüglich Nachhaltigkeit, Lernende dazu animieren, Innovationen hinsichtlich Ressourceneffizienz (und damit auch Ressourcenschonung und Abfallvermeidung) zu aktivieren (vgl. myclimate 2022). Die Gefahr besteht einfach darin, dass dies einmalige Projekte sind, die den Lernenden und den Betrieben in guter Erinnerung bleiben beziehungsweise manchmal durchaus zu Umsetzungen (wie z.B. dem betriebsweiten Verzicht auf Plastikbecher und Plastikgeschirr) verhelfen. Zu fordern wäre aber ein permanentes grünes Qualitätsmonitoring, geleitet von Lernenden.

    In diesem Sinne lässt sich der nun folgende aus einem Vortrag entstandene Text verstehen, der eine kritische Sichtung der international publizierten Literatur zum Thema grüne Berufsbildung entfaltet.

    1.2

    Berufsbildung und Qualifikationen für eine grünere Wirtschaft und Gesellschaft

    Stand der Dinge und das Potenzial von Lernenden [2]

    Als Einzelpersonen haben wir heute viele Möglichkeiten (und werden oft dazu gedrängt), «grün» zu handeln. Grüner zu handeln ist jedoch keine Garantie dafür, dass wir (oder die Menschheit) erfolgreich sein werden, da wir nicht wissen, wie viel Zeit und Möglichkeiten wir haben, das Rad zurückzudrehen beziehungsweise uns ein Bild von den Risiken zu machen, denen wir ausgesetzt sind (vgl. Ord 2020). Es scheint sehr wahrscheinlich, dass die Verbraucherinnen und Bürger ihre Präferenzen nicht sofort ändern. Ausserdem wird das Problem des Klimawandels oder der langfristigen Nachhaltigkeit nicht mit einem einzigen Akt gelöst: Die Wirtschaft basiert immer noch darauf, dass sie den sozialen Bedürfnissen und allgemein der Umwelt beziehungsweise der Natur zu wenig Aufmerksamkeit schenkt.

    Greenification und Greenwashing

    Die Verlagerung auf Anreize statt auf Verbote und marktwirtschaftliche Instrumente, die die Einzelne, die Wirtschaft und die Gesellschaft zu umweltfreundlicherem Handeln

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