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Grenzgänger: Paradiesvögel: ein Ralf-Ehrlich-Roman
Grenzgänger: Paradiesvögel: ein Ralf-Ehrlich-Roman
Grenzgänger: Paradiesvögel: ein Ralf-Ehrlich-Roman
Ebook471 pages6 hours

Grenzgänger: Paradiesvögel: ein Ralf-Ehrlich-Roman

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About this ebook

Ralf Ehrlich sucht keine Abenteuer! Trotzdem finden ihn Geschehnisse, die wie eine Achterbahnfahrt scheinen, deren Ankerpunkte Verrat, Misstrauen, Verlangen, Narzissmus und Gier sind. Und, deren Fahrt ihm erneut alles abverlangt. Im November 1987 ist es kalt; so kalt, dass seine Einheit im Einsatz im Braunkohletagebau ist. Der ungewöhnlich kalte Spätherbst lähmt grosse Teile des Landes und treibt Menschen in die Wärme ihrer Wohnungen, menschlicher Gesellschaft oder in jeder Hinsicht wärmender Eskapaden. Es ist so kalt, dass seine Gegner meinen, dass eine Leiche mehr oder weniger nicht auffällt. Die Frage, wem er und seine Freunde vertrauen können, wird quälend schnell zur Entscheidung auf Leben und Tod. Und während ihm die Täter immer einen Schritt voraus zu sein scheinen, wird das Spinnennetz aus Intrigen und Verbindlichkeiten mit atemberaubender Geschwindigkeit dichter, je näher er der Lösung des Falles kommt.

zweiter Ralf-Ehrlich-Roman
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateJun 30, 2022
ISBN9783347666061
Grenzgänger: Paradiesvögel: ein Ralf-Ehrlich-Roman
Author

Walter R. Gerlach

Walter R. Gerlach ist ein Pseudonym. Er war Großvater und Vorbild, Anker und Mentor des Autors. Die Wahl des Namens ist seine Form der Würdigung seines Lebenswerks als Künstler, sowohl als Lebens- als auch bildender. Der Autor selbst hat - wie der Protagonist der Ralf-Ehrlich-Reihe - Ende der 80er Jahre in Kamenz studiert, erlebte die 90ern als Trainer, Sicherheitsmann und Berater, widmete seine Zeit Politikwissenschaften, Recht und Geschichte, Psychologie und Sport und lebt heute im Leipziger Umland bei Eilenburg. Die Bücher der vorliegenden Reihe sind seine ersten eigenen Veröffentlichungen.

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    Book preview

    Grenzgänger - Walter R. Gerlach

    Erster Teil

    Wer den Pfennig nicht ehrt,

    ist den Frieden nicht wert.

    Reisegefährten

    Ralf sass wieder im Zug nach Dresden. Er war über das Wochenende nach Hause gefahren und hatte seine Grossmutter besucht. Ihren Geburtstag im September hatte er versäumt, als er in Polen war. Da er ihr von den Ereignissen dort nichts erzählen konnte, hatte er einen Brief geschrieben, etwas von Prüfungen und einem Kurzurlaub erlogen und sich für heute angekündigt. Er hatte ihre Lieblingsessenz für das, was sie Grog nannte besorgt – eine Flasche 1450, wie der Goldbrand wegen seines Preises gerne genannt wurde. Das Zeug hatte neben dem Nordhäuser Doppelkorn den VEB Nordbrand Nordhausen an die Spitze der europäischen Schnapsbrenner katapultiert. Und da hockten die Nordhausener jetzt dank der Saufgewohnheiten in Ost und West wie festgeklebt. Ausserdem hatte Ralf eine Schachtel Schnapspralinen gekauft. Das war eine unschlagbare Kombination. Grossmutter hatte ihn dafür mit einem extra für ihn gekochten Essen aufgelauert. Sie wohnte seit Grossvaters Tod bei ihrer Schwester. Auf dem Bauernhof waren eine Kemenate und eine Abstellkammer frei und dort hatte sie eine eigene Küche, ein kleines Schlafzimmer und eine ebenso winzige Stube. Aber das reichte ihr völlig. Schliesslich zählte nur, mit wem man sich die Welt teilte, nicht wie gross sie war. Sie hatte ihn vor der Tür erwartet, war auf der oberen der beiden Steinstufen zum Eingang stehengeblieben, um Ralf, der sie um zwei Köpfe überragte, richtig in die Arme schliessen zu können. Sie trug wie immer eine Strickjacke, eine Kittelschürze, aus der die Steghose lugte und die vertrauten Pantoffeln. Schon, als er sie umarmte, roch es aus dem Hausflur köstlich. Sie stiegen die kurze, aber steile Treppe zu ihrer Wohnung empor. Ralf leerte als erstes die Kohleneimer auf das Herdblech und holte Nachschub aus dem Kohlenkeller. Er stellte die Eimer ab, wusch sich die Hände und fand das Essen bereits angerichtet auf dem Stubentisch. Grossmutter hatte Rouladen, Rotkohl und Kartoffeln zu einem Mahl zusammengestellt. Es duftete so intensiv, dass Ralf das Wasser im Mund zusammenlief. Seine Grossmutter kochte immer ein oder zwei Eier mehr, als sie für die Füllung brauchte, halbierte sie und liess sie in der Sauce ziehen.

    Für Ralf goss sie Apfelsaft ein und sich selbst einen Grog auf. Dafür war es bei ihr nie zu früh. Ralf ass hungrig und mit Appetit, erzählte vom Studium, was er meinte teilen zu dürfen und merkte erst, als es bereits geschehen war, dass er Sybilla erwähnt hatte. Seine Grossmutter war bei der Vereidigung vor reichlich einem Jahr gewesen und wusste, dass es Frauen an der Offiziershochschule gab. Dass Ralf von einer bestimmten erzählte, weckte jedoch unmittelbar ihr Interesse.

    Nein, Omsen, das hast du falsch verstanden. Wir sind nur befreundet.

    Nur befreundet, soso?! Aber ihr seid gemeinsam verreist oder? Sie lächelte ihn erwartungsfroh an. Hatte er das etwa auch erzählt? Ralf dachte darüber nach, was das gute Essen ihm noch entlockt haben mochte. Ja, Omsen, waren wir. Aber ich kenne sie gerade mal einen Monat und sie ist verlobt, denke ich. Also ja, ich mag sie. Aber sie ist nur eine gute Freundin. In seiner Stimme lag mehr Bedauern als ihm lieb war. Grossmütter haben für so etwas eine sehr feine Nase. Sie musterte ihn über den Rand der Brille hinweg. Aber das war doch ein Urlaub, Junge? Man fährt doch nicht einfach so mit 'irgendeiner' Frau in Urlaub oder?

    Ralf wurde bewusst, dass er Grossmutter tatsächlich geschrieben hatte, er würde einige Tage Urlaub nehmen. Aus welchem Grund er diesen 'Urlaub' angetreten hatte, konnte er natürlich nicht erklären. Aber Omas belügt man nicht. Also gestand er ein "ähm, na ja ja, so etwas in der Art."

    Grossmutter taxierte ihn durchdringend. Aber du magst doch Frauen oder?

    Ralf verschluckte sich, hustete fast den Rotkohl aus und trank schnell Apfelsaft nach, um mit erstickender Stimme zu röcheln: Ja, Omsen, mag ich! Nur ist diese eine schon vergeben. Keine Sorge, du kriegst deine Urenkel noch früh genug. Er hustete wieder.

    Also ich habe da so meine Zweifel, Junge. Ich werde nicht jünger, weisst du. Sie verschwand in der Küche. Ralf atmete auf. Dieses Gespräch hatte eine ungewollte Richtung eingeschlagen. Er fühlte sich ausserdem so satt, dass er im Sitzen hätte einschlafen können. Er musste einfach besser aufpassen, was er erzählte. Immer, wenn das Gespräch auf mögliche Anwärterinnen zur Urenkelbeschaffung kam, wurde es unangenehm. Ralf wollte seine Grossmutter sicher nicht enttäuschen und Alpträume von Vorwürfen am Sterbebett bekommen. Es war einfach noch keine ernstzunehmende weibliche Bedrohung über den Weg gestöckelt, dachte er. Dann revidierte er seinen Gedanken und stellte erschrocken fest, dass das ja so nicht mehr stimmte, dass es sich vor einem Monat mit dieser Sybilla von einem Tag zum nächsten geändert hatte, ohne, dass er es gewollt hatte, aber auch ohne, dass er etwas dagegen tun konnte. Er kannte sie im Grunde gar nicht.

    Trotzdem war sie ihm sofort vertraut vorgekommen wie … ja, wie eigentlich? Ralf überlegte. Er hatte aus heiterem Himmel jemanden, der ihm wichtig war. Sie wohnte weit weg, war vergeben und damit für ihn unerreichbar. Sein Dilemma war plötzlich nicht mehr, dass er keine guten Karten hatte. Nein, es war vielmehr, dass die Herzdamen in seinem Spiel entweder nicht aus Fleisch und Blut waren wie die bildschöne Frau in seinem Traum oder bereits unter der Haube. Er rieb sich das Gesicht mit beiden Händen.

    Ich hab dir Kaffee aufgegossen, Junge, drang es aus der winzigen Küche. Grossmutter schob den Vorhang, den sie anstelle der Tür hatte, beiseite, stieg die eine Stufe aus der Küche herab und trug ein winziges Tablett mit einer umso grösseren einzelnen Kaffeetasse und einem Ein-Tassen-Kaffeefilter in die Stube, stellte es vor Ralf auf dem Tisch ab, während Ralf Platz schuf und fragte beiläufig: Wann stellst du sie mir vor? Ralf sah sie fragend an. Grossmutter stieg in die Küche zurück, vermutlich um ein weiteres Glas Grog zu holen und setze nach: Die Sybilla – wann stellst du sie mir vor? Kennst du ihren Verlobten? Ist der auch Soldat? Es klapperte gedämpft, als sie Zucker aus einer Dose in das Glas schaufelte. Dann kam sie mit dem Glas und einem Löffel, den sie in der goldgelben dampfenden Flüssigkeit klingelnd kreisen liess, zurück.

    Warum soll ich sie dir vorstellen? Sie ist doch schon vergeben. Sie wird die Sache mit den Urenkeln nicht regeln können. Grossmutter beäugte ihn über den Dampf, bis ihre Brille beschlug. Bring sie trotzdem mit, bitte! Vielleicht wird es ja doch etwas. Das hörte sich gar nicht wie eine Bitte an, fand Ralf. Hast du ein Bild von ihr, Junge?

    Nein, Omsen, hab ich nicht. Sie ist ja nicht MEINE Verlobte, sondern die eines Anderen. Grossmutter wirkte traurig. Ihre Augen wurden feucht. Ralf hatte das schon häufig bemerkt, wenn es um ihr lebendes Vermächtnis ging. Grossmutter traute ihm scheinbar nicht zu, das noch zu ihren Lebzeiten in den Griff zu bekommen. Also stiess er einen leisen Seufzer aus und lenkte ein: Ich werde sie dir vorstellen! Allerdings wusste er weder, was das bringen noch, wie er es anstellen sollte. Dafür aber lächelte sie wieder. Ich pack dir dann den Rest für die Fahrt ein. Sie verstaute alles in zwei Campingdosen und einem Beutel. Der Abschied fiel ihm zunehmend schwerer je älter sie wurde. Er hielt sie lange im Arm: Gut Omsen, wenn kein Krieg ausbricht, komme ich nächsten Sonnabend wieder her, ja? Ich war in der letzten Zeit viel zu selten da. Seine Grossmutter nickte brav, aber zweifelnd.

    Von hier lief er die Viertelstunde bis zum Bahnhof. Er wandte sich um und ging los. Er war gerade am Tor, als sie hinter ihm herrief: Junge, warte! Ich hab doch noch was für dich. Ralf blieb stehen und sah sie im Haus verschwinden. Wenig später tauchte sie mit einem bunten Knäuel wieder auf und tippelte ihm entgegen. Den hab ich doch für dich gemacht. Sie hielt ihm einen Schal entgegen. Das war etwas, das seine Grossmutter richtig gut konnte. Wenn sie irgendwo Wolle fand, zauberte sie daraus alle möglichen Dinge, solche Sachen, die man selbst wohl nie gekauft hätte, sich aber freute, wenn man sie von jemandem bekam. Ralf bedankte sich, nahm den Schal und trabte jetzt etwas zügiger los. Der Zug würde nicht auf ihn warten. Er musste von hier nach Karl-Marx-Stadt, dort weiter nach Dresden, dann nach Arnsdorf und von dort nach Kamenz. Ein verpasster Zug bedeutete, wieder per Anhalter fahren zu müssen.

    Jetzt sass er gegen die Waggonwand gelehnt in einem leeren Abteil mit dem Schal als Kopfkissen und einem schief sitzenden Kopfhörer seines Sony-Walkmans, der ebenfalls ein Geschenk seiner Grossmutter war und die Hälfte ihrer Rente gekostet haben musste und döste im Takt der Schienenstösse. Er hörte Beethovens 7. Sinfonie, ein Werk voller Energie und Selbstbewusstsein, Vaterlandsliebe und Zuversicht. Man musste sie nur einmal hören, um zu verstehen, warum sie eines seiner erfolgreichsten Werke war. Ralf verschaffte sie ein ums andere Mal eine Gänsehaut. Und es war ihm egal, wenn ihn andere deshalb seltsam fanden.

    Er nahm eine junge Frau wahr, die zustieg, als der Zug in Flöha hielt und einen Platz suchte. Das kam ihm seltsam vor, weil ausser seinem Abteil alle anderen frei waren. Die Frau, etwas älter als er selbst, stand vor seinem Abteil und redete mit ihm. Er schaltete den Walkman aus und zog den Kopfhörerbügel beiseite. Ja bitte?

    Ist hier noch frei? Eine an sich lächerliche Frage, fand Ralf. Ja! Bitte! Die Frau stellte ihre Reisetasche auf den Sitz, eine Handtasche daneben, legte ihren Mantel ab und hing ihn an den Kleiderhaken, nahm ihre Mütze ab und setzte sich Ralf gegenüber. Sie war hübsch, schlank, trug einen dreiviertellangen dunkelbeigen Rock, einen etwas helleren Rollkragenpulli im gleichen Farbton, ein Tuch um den Hals und schwarze elegante Stiefel. Ihre Mütze leuchtete wie ein roter Tupfer auf dem ansonsten recht bieder wirkenden Sujet. Ihr Haar war rotblond, ihre Augen funkelten in einem absolut nicht kalten Eisblau. Ihre Stimme war warm, leicht rau. Ralf beobachtete ihr Spiegelbild in der Fensterscheibe – eine aussergewöhnlich schöne Frau. Sie wandte sich an sein Spiegelbild: Was hören Sie da, wenn ich fragen darf?

    Was? Wer? Ich? Ralf griff zum Walkman. Ähm, Beethovens 7te… antwortete er in Erwartung der unweigerlichen Enttäuschung im Gesicht seines Gegenübers. Sie lächelte: Wirklich? Ralf liess ein gedehntes jaaah … wirklich hören. Ihr Lächeln wurde zu einem Strahlen. Ich weiss, man soll nicht nach Äusserlichkeiten urteilen. Aber Sie erschienen mir wie ein Soldat oder Polizist. Und die hören meist keine klassische Musik entschuldigte sie sich. Ich bin Cellistin und Studentin an der Musikhochschule Dresden. Ich heisse Anja, Anja Schülke. Sie reichte ihm die Hand.

    Ehrlich, Ralf Ehrlich! Freut mich dich kennenzulernen, Anja!

    Wohin bist du unterwegs? Sie fragte nicht 'wohin fährst du' oder 'wo soll's denn hingehen', sondern 'wohin bist du unterwegs'. Ralf wusste nicht, wie er diese Frage ähnlich stilvoll beantworten sollte. Also sagte er nur: Du hast Recht gehabt mit dem Soldaten. Ich bin auf der Rückfahrt nach Kamenz.

    An die Hochschule?

    Ja! … Ja, ich bin Offiziersschüler.

    Ein Freund ist auch dort. Aber du wirst ihn sicher nicht kennen. Da sind ja nicht nur zehn Studenten. Dafür kenne ich Kamenz recht gut. Ralf ertappte sich dabei, wie er sofort Gefallen an dem Gespräch und dieser Fremden fand, als abrupt die Verbindungstür zum nächsten Waggon geöffnet wurde. Drei Kerle erschienen im Gang und grölten so laut, dass die Konversation mit Anja kurzzeitig erstarb. Er lächelte Anja entschuldigend an und verstummte. Die drei Gestalten schlurften vorbei und in den nächsten Wagen. Anja schaute ihnen hinterher: Da können sie gerne bleiben. Ralf fing ihren Blick ein. Warum so feindselig, junge Frau? Sie hob halb abwehrend, halb entschuldigend die Schultern: …lange Geschichte.

    Oh, ich mag lange Geschichten und hab gerade nichts anderes vor. Ralf schmeckte das Geplänkel fast so gut wie Grossmutters Rouladen. Er lächelte und sie erwiderte das Lächeln, liess ihren Blick auf seinen Walkman sinken und öffnete die Lippen. Aber bevor sie antworten konnte, erschien die Stampede aus bierschwangerer Gröllust erneut im Wagen, nur diesmal von der anderen Seite. Sie machte genau an ihrem Abteil halt und wie auf Kommando links um. Die drei starrten sie an. Einige Sekunden lang geschah gar nichts und Ralf erwog nachzufragen, was ihr Begehr sei. Der mittlere und schwerste Kerl, offensichtlich der Anführer, glotzte Anja und Ralf abwechselnd an. Dann fasste er mit beiden Armen die Stahlrohre zwischen Sitzbank und Gepäckablage und brüllte wie ein Gorilla Dyyynaaamooo!. Offenbar war damit alles gesagt, was gesagt werden musste. Anja fuhr vor Schreck zusammen. Dem Kerl, der geschrien hatte gefiel das anscheinend. Ralf hatte ein mieses Gefühl, gab sich aber gelassen. Vielleicht würden sie einfach gehen, wenn er ruhig bliebe. Das taten sie aber nicht. Anja und Ralf waren die einzigen beiden Opfer in diesem Zug. Und denen galt es nun offenbar alle Aufmerksamkeit zu schenken. Ralf sah zu Anja. Ihre Augen waren schreckgeweitet, ihre Atmung beschleunigt. Sie wirkte wie ein verängstigtes Reh. Das war ihr ganz offensichtlich zu viel für den Moment. Für Ralf fehlte jetzt nur noch, dass sich der Silberrücken mit dem angelaufenen Gesicht mit beiden Fäusten vor die Brust trommelte. Die Kerle wieherten vor Vergnügen. Die würden nicht einfach gehen. Der Primat, der gerade den Brüllaffen gegeben hatte, hielt sich weiter an den Stahlrohren fest, schwang rhythmisch vor und zurück und glotzte Anja unverhohlen auf die sich deutlich unter dem Pulli hebende und senkende Brust und ihren Rock. Aus einem soziologischen Aspekt musste das interessanter Stoff für eine Verhaltensstudie sein. Anjas Panik war fast stofflich greifbar. Ralf konnte sich zwar keinen Reim auf eine derart heftige Reaktion machen, wusste aber auch, dass das nicht besser werden würde. Er atmete tief durch und wandte sich an Bonobo uno, wie er den Vorturner kurzerhand nannte: Hallo Jungs, macht's euch was aus, meine Schwester und mich in Ruhe zu lassen? Es geht ihr nicht gut, wie ihr sehen könnt. Das würde uns sehr helfen. Danke! Dann wandte er sich Anja zu und legte ihr wie selbstverständlich seine Hände auf die ihren und sah ihr in die Augen. Anjuschka, nje bojsja. Vsjo budjet chorosho! Sie hob den Blick, plötzlich völlig ruhig und erwiderte seinen Händedruck snaju!

    In schlimmstem Sächsisch, aber deutlich artikuliert schrie Bonobo uno ohne Vorwarnung in ihre Richtung: Verschiss'nes Russenbalg, ich sorge gleich dafür, dass du ruhig bist! Dann wandte er sich Ralf zu: Aber vorher krieg ich deinen scheiss Schal, Drecks-Chemnitzer! Anja schien eine konkrete Ahnung davon zu haben, was gleich geschehen würde. Sie hielt Ralfs Hände und Blickkontakt, blendete alles um sich herum aus. Ralf sah demonstrativ erst zu Bonobo uno auf, dann zu seinem Strickschal. Grossmutter hatte ihn blauweiss mit Ornamenten gestrickt. Ralf verstand gerade so viel von Fussball, dass das wohl ein Schal in den Farben einer anderen Mannschaft als 'Dyyynaaamooo' sein musste. Die Farbwahl war von Omsen sicherlich absolut willkürlich. Sie verbrauchte die Wolle, die sich fand. Aber was kümmerte das die sichtlich alkoholisierten 'Sportfreunde'? Denen reichte das wohl völlig als Streitgrund aus. Ralf löste seine Hände von Anjas, stopfte den Schal in den Spalt zwischen Sitz und Wagenwand, drehte sich um und sah dem Vorturner ins Gesicht. Der Schal ist ein Geschenk meiner Grossmutter. Von Fussball verstehe ich nichts. Tut mir leid! Ausserdem kann er euch ja nun nicht mehr stören, oder? Man sieht ihn gar nicht mehr. Wie wär's also, wenn ihr jetzt geht? Bitte!

    Davon hielten die drei anscheinend absolut nichts. Bonobo uno stach trotz erheblicher Leibesfülle mit einer unerwartet flinken Bewegung mit beiden Armen in Richtung des Schals nach vorn und stützte sich dabei mit der schweissigen rechten Hand, sicherlich nicht ganz unbeabsichtigt, auf Anjas linkem Schenkel ab. Die schrie auf. Dann griff er mit der linken Hand in Richtung Schal und riss dabei Ralfs Walkman zu Boden, stolperte leicht nach vorn zur Scheibe und stützte sich mit Mühe gegen das Schaukeln des Zuges, der in den nächsten Bahnhof einfuhr, am Fenster ab. Dann stiess er sich ächzend hoch und trat unverrichteter Dinge zurück. Sein linker Fuss zertrat dabei wie beiläufig den Walkman. Anja rannen Tränen über das Gesicht. Sie zog ihre Beine so weit, wie es möglich war, zur Wagenwand. Bonobo uno quittierte das mit einem schmierigen Grinsen. Warte Zarte, wir haben gleich Spass zusammen, nur einen Moment noch. Dann darfst du mit richtigen Männern Zug fahren. Die Meute feixte glucksend. Ralf stand auf und stellte sich zwischen Anja und den Angreifer, griff mit der Linken zum Gepäckträger über Anja und mit der Rechten an Bonobos Jackenaufschlag und hielt ihn fest. Bonobo glotzte ihn ungläubig an. Ralf versuchte die Beherrschung nicht zu verlieren. Er hatte schon einmal nichts tun können, als drei Kerle mit einer jungen Frau 'Spass' hatten. Diesmal würde es nicht dazu kommen. Eher würde er den 'Spass' aus dem Fettsack herausprügeln. Laut sagte er: Na gut, der Walkman war auch ein Geschenk. Meine Grossmutter hat dafür wahrscheinlich die Hälfte ihrer Rente geopfert. Wenn ich ihr wäre, würde ich jetzt gehen! Dann liess er den Kerl los, der zurücktaumelte und von seinem Hintermann aufgefangen wurde. Bonobo uno ging aus dem Licht und liess seine Handlanger vor. Ralf war klar, was jetzt kommen würde – drei gegen einen. Seine Vorteile waren, dass sie ihn nicht einschätzen und in dem schwankenden Wagen und dem engen Abteil nicht sinnvoll gleichzeitig angreifen konnten. Aber angreifen würden sie. Der etwas schlankere Typ links vor Ralf spuckte auf den Boden, grinste in Anjas Richtung und dann schoss seine rechte Faust nach vorn. Ralf hatte sie erwartet, lehnte sich zur Seite und trat ihm ansatzlos ins Gemächt, riss ihn mit dem linken Arm nach vorn, hieb mit dem rechten Ellenbogen zwischen Schulterblatt und Schlüsselbein der rechten Schulter und stiess ihn in Richtung Bonobo. Ohne aus der Bewegung zu kommen, griff er mit beiden Händen in die Gepäckablagen, um sicheren Halt zu bekommen, schwang sich nach vorn oben und trat dem rechts vor ihm schwankenden anderen Kumpan beide Fersen vor die Brust. Der riss zwar die Arme hoch, fiel jedoch trotzdem nach hinten in das Nachbarabteil. Ralf löste den Griff von den Gepäckablagen, hielt sich vorwärtsgehend mit der rechten Hand an der Armlehne der Sitzbank fest und liess sich kurz mit dem vorderen Knie auf den Innenoberschenkel des gestürzten Mannes fallen. Als der sich schreiend aufbäumte, rammte er ihm die rechte Faust auf die Nase. Blut schoss auf den schwarz-gelben Schal, das Vereinshemd und die Hose. Der Kerl kippte nach hinten um und jammerte. Jetzt trat Bonobo uno zwischen den beiden hervor und setzte einen Schwinger zu Ralfs Kopf. Der wich zwar aus, schaffte es aber nicht ganz der Faust zu entgehen, geriet dabei nach hinten aus dem Gleichgewicht, als der Zug bremste und in Freiberg hielt. Der Ruck des stoppenden Zuges, liess jedoch auch Bonobo nach vorn kippen. Ralf drehte sich zur Seite und schickte eine linke Gerade in die Rippen von Bonobos rechter Seite und eine Handkante mit der rechten Rückhand zum Hals, die den Doppelzentner schwanken liess. Dann riss er den rechten Arm des fetten Kerls nach oben und trat mit dem Knie von unten gegen den Ellenbogen. Das war's: Drei zu null, drei saubere Tore, keins kassiert. Er selbst war unverletzt geblieben, hielt sich keuchend an der Gepäckablage fest und starrte auf das Trio herab. Plötzlich gab es Geschrei. Zwei Transportpolizisten stoben in den Wagen und brüllten herum – irgendetwas von 'halt' bis 'mitkommen'. In Dresden würde man sie zur Klärung des Sachverhalts übergeben. Sicherheitshalber setzten die beiden beflissenen Polizisten alle vier fest.

    Ralf fluchte. Er würde seinen Anschlusszug verpassen. So viel stand fest. Wegen der Kerle machte er sich keine Sorgen. Anja hatte angeboten, mit ihm zu warten und eine Aussage zu machen. Jetzt wusste er, warum sie sich nach Gefährten umsah, wenn sie reiste. Ralf fragte sich, ob alles, was eben geschehen war, auch passiert wäre, wenn sie nicht so aussergewöhnlich hübsch aus allen anderen hervorstechen würde. Die beiden Wachtmeister hatten jedenfalls sichtlich Mühe, ihre Blicke unter Kontrolle zu halten.

    In Dresden angekommen, veranstaltete man kein grosses Federlesen. Die Polizisten führten sie auf dem kurzen Weg in die Dienststelle der TraPo und knöpften sich jeden einzeln vor. Das Verhör, das sich 'Befragung' tarnte, erschien Ralf leicht tendenziös. Fragen wie 'Was störte Sie an der Fussballbegeisterung der drei Sportfreunde?' und 'Was veranlasste Sie, die Jungs mit einem mitgebrachten FCK-Schal zu provozieren?', erinnerten ihn daran, wo er hier war. Das war Dresden – Heimspiel für deren Mannschaftsfreunde. Brot und Spiele halfen nicht nur in den römischen Arenen, den Plebs bei Laune zu halten. Er war müde und wollte einfach nur noch weiter. Seine Bereitschaft zu kooperieren, war nach zwei Stunden erschöpft wie er selbst. Er durfte nach zwei Stunden und 15 Minuten wieder in die Nachtluft. Trotzdem war er ohne Chance auf einen Zug nach Arnsdorf vor dem nächsten Morgen. Zum Glück war morgen erst Sonntag. Als er mit seinem Rucksack ins Freie trat, wartete Anja auf ihn. Er war erstaunt und merkte nicht, dass er sie anstarrte. Sie wischte seine Erschöpfung und Resignation mit ihren strahlenden Augen beiseite. Sie hatte wirklich gewartet, auf IHN gewartet. So schlimm erschien ihm der verpasste Zug mit einem Mal nicht mehr. Vielleicht ergab sich ja eine Gelegenheit, mit ihr noch etwas zu Zeit zu verbringen, denn die hatte er ja nun im Überfluss. Anja streckte die Arme aus und hielt ihm etwas entgegen. Beim Verlassen des Abteils hatte sie die Reste des Walkmans, die Kassette und die schmutzig orangefarbenen Kopfhörerpolster nebst Bügel aufgelesen und in den Schal eingewickelt. Ralf war gerührt. Er atmete tief ein und aus, versuchte die Tränen zurückzuhalten. Sie gab ihm das Bündel, nahm seinen Kopf in ihre Hände und küsste ihn. Echte Männer dürfen auch weinen. Sie streckte sich und legte die Arme auf seine Schultern: Danke, dass du mich vorhin nicht allein gelassen hast! Sie nahm ihn an der Hand komm mit, Soldat! und zog ihn bis zum Wohnheim hinter sich her. Mein Zimmer ist nicht gross, aber gross genug für zwei. Meine Mitbewohnerin kommt erst Montag früh. Ich organisiere etwas zu essen und duschen kannst du dich auch.

    Sie hatte nicht gelogen. Das Zimmer war gerade gross genug für zwei. Ralf war müde und roch männlich herb. Auf ihrem Weg über die Flure hatte sich niemand daran gestossen, dass Männerbesuch auf die Zimmer kam. Scheinbar war das hier normal. Ralf packte den Proviant seiner Grossmutter aus und zauberte damit ein erneutes und diesmal eindeutig gieriges Lächeln in Anjas Gesicht. Erst essen oder erst duschen? Sie sah fragend zu ihm auf. Ralf besah seine Hände und roch an seinem Hemd. Ich muss erst duschen, wenn ich darf. Du darfst! Warte! Sie verschwand fast vollständig im Schrank und warf ihm ein Handtuch zu. Dann griff sie ein zweites Handtuch, das über der Heizung hing und deutete auf die Tür. Seife ist schon im Waschraum. Komm mit! Sie ging vor und spähte schnell nach links und rechts auf den Gang, winkte Ralf zu, lief zu einem der Waschräume und öffnete die Tür. Der hat Duschen. Ralf folgte ihr. Da kannst du die Sachen ablegen. Sie deutete auf einige Stühle. Ralf zögerte: Sind wir im Frauen-Waschraum? Ja, aber heute und morgen sind hier ausser uns vielleicht noch zwei oder drei Bewohner. Keine Sorge, da kommt niemand und guckt dir irgendwas ab. Sie zwinkerte ihm zu. Ich bin mal auf Toilette. Die Seife ist die in dem dunkelblauen Seifenbeutel mit der roten Schnur. Damit verschwand sie. Ralf zog sich langsam die Sachen aus und legte ein ordentliches Päckchen für eine schnelle Flucht zusammen. Dann tapste er barfuss in die Duschkabinen. Sauber war es hier jedenfalls. Am Spiegel gegenüber einer der Duschkabinen baumelte ein blauer Seifenbeutel mit roter Schnur. Ralf griff ihn und drehte das Wasser auf, öffnete das Ventil für heisses Wasser und genoss das reinigende Gefühl. Die Seife roch etwas fraulich, aber frisch und angenehm. Vielleicht war der Tag doch nicht so schlecht. Er seifte sich ein, schrubbte die Finger und wusch sich den klebrigen Geruch der Zugfahrt ab, dachte an diese seltsame, aber angenehme Begegnung und bemerkte ein Lächeln in sich aufsteigen. Er hörte auf das Rauschen des Wassers und erstarrte plötzlich. Er hörte patschende Schritte näherkommen. Verdammt! Er war ein fremder Mann, nackt im Frauen-Waschraum. Er schielte zum Spiegel gegenüber seiner Duschkabine. Er würde warten, bis nebenan die Dusche anging und sich dann aus dem Staub machen. Aber die Schritte kamen schnell näher. Und sie hielten genau auf seine Kabine zu. Auf dem vom Dampf angelaufenen Spiegel erkannte er nur einen Schemen, einen schlanken Schemen mit roten Haaren. Und schon stand sie in der Dusche nebenan, drehte das Wasser auf und streckte die Hand zu ihm aus, um sich die Seife geben zu lassen. Ralf hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Einfach gehen konnte er nicht, warten aber auch nicht. Sie half ihm aus: Ralf, kannst du mir den Rücken schrubben? Er schluckte. Na klar konnte er, nur hatte er mit der Frage nicht gerechnet. Er stieg verlegen zu ihr in die Kabine und nahm die Seife. Ralf versuchte sich zu konzentrieren und fragte sich gleichzeitig, wie er aus der Nummer wieder herauskommen sollte. Aber wollte er das wirklich? Ihre Schultern waren weich, ihr Rücken der einer klassischen griechischen Statue. Er fühlte, wie sie seine Berührungen genoss, wie eine sinnliche Reinigung, die Schmutz und Stress des Tages aus allen Poren spülte. Er bemerkte, dass ihn das alles nicht so kalt liess, wie er es sich wünschte, folgte ihren Konturen mit dem Seifenbeutel, begann, sie mit kleinen Bewegungen seiner Finger zu liebkosen, verlor sich in der Faszination, die er für die Harmonie ihrer Kurven empfand. Sie war ein Kunstwerk, das er mit sanften Pinselstrichen aus dem Dampf hob. Er konnte den Blick nicht von ihr lassen, nicht aufhören diesen Linien zu folgen. Er bemerkte, dass sich seit geraumer Zeit etwas in ihm regte, seine Lust auf diese Frau sich physisch manifestierte. Seine Erektion griff, ohne dass er etwas hätte dagegen tun können oder vielleicht auch wollen, tastend nach der weichen, verlockend nass glänzenden Haut ihres Pos. Er sog die Luft scharf ein und sah verschämt weg, weg von ihrem schlanken Rücken, weg von ihrem Po, weg von ihrer schmalen Taille und ihren Schenkeln, sah zur Seite in den Spiegel. Nur machte es das nicht besser. Sie streckte sich ihm entgegen, griff mit beiden Händen hinter sich zu ihm und hielt ihn fest, angelte mit ihren Händen nach der Seife und raunte: Danke! Du bist dran! Sie registrierte seine schlecht zu verbergende Erregung, drehte ihn schmunzelnd zur Wand der Dusche um und begann seinen Rücken einzuseifen, seine Arme, seinen Po, schmiegte sich an ihn und liess ihre Hände mit der Seife um seinen Körper gleiten. Sie wusch ihn gründlich, liess keine einzige Stelle aus, hängte die Seife an die Mischbatterie und genoss ihr Werk Zentimeter für Zentimeter, bis das Wasser abkühlte, weil der Speicher fast leer war und sie beide sich, verschwitzt aber glücklich, erneut waschen mussten. Niemand war gekommen während der ganzen Zeit, niemand ausser ihnen.

    Sie trockneten sich ab, wickelten die Handtücher um die Hüften und tapsten in das Zimmer zurück. Das Essen war zum zweiten Mal kalt. Aber das störte sie nicht. Sie assen kalte, aber köstliche Rouladen, tranken und legten sich zueinander aufs Bett. Anja räkelte sich, satt und einigermassen zufrieden. Ralf fragte sie nach einer kleinen Narbe unterhalb ihrer Brust. Sie nahm seine Hand und legte sie auf das Narbengewebe. Das war ein Messer. Ich war gerade 17, allein im Zug nach Dresden. In Klingenberg sind zwei Männer eingestiegen. Der eine wollte meine Bluse aufschneiden. Der andere hat festgehalten. Der Zug ruckte und der Kerl hat mich fast erstochen. Das war's schon. Seither fahre ich nicht gerne im Zug allein. Ralf verstand plötzlich ihre Reaktion auf die drei Gestalten. Er hob die Hand von der Narbe und fuhr mit dem Zeigefinger ihre Konturen ab, umrundete ihre Brüste und führte den Finger jeweils in immer kleiner werdenden konzentrischen Kreisen zu ihren Gipfeln: Woher hast du gewusst, dass ich nicht dasselbe vorhabe?

    Ich sehe das einfach. Du hast wie jemand ausgesehen, dem ich vertrauen kann. Sie streichelte seine Brust und seinen Bauch. Du hast irgendwie ehrlich unschuldig gewirkt.

    Bitte?

    Ja, auf eine sehr angenehme Art…, deine Augen. Du weisst schon. Sie kicherte. Warum hast du vorhin Russisch gesprochen? Ralf schnaubte. Na ja, ich dachte, kultivierte Menschen können Russisch. Ich wollte mit DIR reden, nicht mit ihnen. Jetzt lachte sie auf: … oh Mann, kultiviert also? Du hältst mich also für kultiviert, so so… Sie hob den Kopf und lauschte: Ralf?

    Ja!

    Hörst du das? Sie deutete auf die Wand zum Nachbarzimmer. Nebenan stöhnte eine Frau sehr laut und ein Bett mit Stahlfedernauflage quietschte ein wirres Stakkato.

    Ja, ich hör's. Ich finde, das ist extrem rücksichtslos oder? Er machte ein künstlich empörtes Gesicht und bemerkte ihre Hand, die sich unter seinem Handtuch zu schaffen machte. Sie sah ihn mit einer Mischung aus Lust und Gier an, rutschte über ihn, hauchte das können wir besser… und biss ihm sanft in die Unterlippe, küsste seinen Hals und glitt zu seiner Brust hinab. Ralf stoppte sie: Ja, das können wir! Aber weisst du, ich kann bei dem Lärm nicht…, er fuchtelte mit den Händen neben ihrem Körper und gab sich den Anschein nach dem passenden Wort zu suchen, entspannen. Er gab seinem Gesicht ein möglichst unschuldiges Lächeln.

    Was…? Weiter kam sie nicht, weil er ihr den Finger auf den Mund legte, sie sanft neben sich bettete und von der Matratze rutschend zwischen ihren Schenkeln verschwand, seinen Kopf in ihren Schoss tauchte und ihre Hüfte mit den Händen fixierte. Sie umschlang ihn und vergrub ihre Hände in seinem Haar. Er hörte kein Klappern und kein Stöhnen mehr, zumindest nicht von nebenan. Als es später im Nachbarzimmer längst still geworden war, schwang sie sich auf ihn und liess ihn seine Müdigkeit und den vergangenen Tag vergessen. Ein nasses Bettlaken später waren sie auf das zweite Bett im Raum umgezogen. Sie lag neben ihm und hielt seine Hand auf ihrem Herzen. Er spürte das leise Tremolo, das ihren Atem immer noch begleitete und die Gänsehaut, die seine Finger begleitete, als er sie jetzt von ihrem Hals bis über die Lenden wie eine warme Brise durch ein fruchtbares Tal gleiten liess. So schliefen sie ein.

    Als sie fast am Ende dieser Nacht durch ein lautes Geräusch auf der Strasse unter dem Fenster aus dem Schlaf gerissen wurden, erwachte er in ihren Armen und mit seiner Hand auf ihrem flachen Bauch. Sie legte ihre Hand auf seine und drehte sich leicht zur Seite: Ich habe Appetit!

    Worauf fragte Ralf.

    Verrate ich dir beim Duschen. Sie kniff ihn in die Seite: Komm!

    Sie liefen daraufhin ein zweites Mal in dieser Nacht zum Duschraum. Diesmal nackt mit den Badetüchern in der Hand. Hier war ohnehin so gut wie niemand. Und alle Anwesenden schliefen. Beim Einseifen stellte Ralf dann die Frage, die ihn die ganze Zeit umtrieb. Bist du eigentlich noch allein? Und wenn ja, wie ist das möglich? Frisst du deine Beute nach dem Sex? Muss ich mir Sorgen machen? Sie lachte so unbeschwert auf, dass Ralf einstimmte und für einen kurzen Moment völlig vergass, wo er hier war.

    Nein, Soldat! Ich fresse dich nicht! Obwohl… Sie schmiegte sich an ihn: Obwohl ich gerade wieder Appetit auf dich bekomme. Sie begann ihre Art ritueller Reinigung an ihm von Neuem, spann ihn wie eine äusserst attraktive Spinne in ein aus heissem Wasser und Seife, aus ihren Händen und ihrem Mund, aus Verlangen und Lust kunstvoll wachsendes Netz, aus dem es kein Entrinnen gab. Sie hielt ihn fest und küsste ihn auf die Brust, massierte ihn sanft und gekonnt und sah ihn dabei mit einem schelmischen Grinsen an. Ich hab's nur normalerweise nicht so mit Männern. Ralf zuckte kurz zusammen, aber eher vor Lust als vor Schmerz. Das merkt man dir nicht an keuchte er. Ihr Lächeln mäanderte. Es wurde jetzt verlangend, beinahe verzehrend. Sie griff seine Hand und platzierte sie zwischen ihren Schenkeln. Bei dir mache ich eine Ausnahme. Sie küssten sich wild, hemmungslos und unbefangen, erkundeten und lebten ihre Lust in dem von Dampf und Hitze erfüllten Raum aus und duschten dann erneut. Ralf befürchtete schon, dass seine Haut irgendwann schrumpelig werden könnte. Und er fühlte sich frisch und gleichzeitig erschöpft wie lange nicht mehr. Sie begleitete ihn zum Bahnhof und steckte ihm zwei Telefonnummern zu – eine von Zuhause und die des Wohnheims. Falls du mal in der Nähe bist, nehme ich dir nicht übel, wenn du vorbeischaust. Dann verabschiedeten sie sich am Zug. Sie legte ihm die Finger auf die Lippen. Küss mich nicht. Ein Abschiedskuss ist ein Versprechen. Du musst mir nichts versprechen.

    Ralf stieg in den Zug und winkte ihr aus dem offenen Fenster zu. Sie ging neben dem anfahrenden Zug her und wenn du mal einen Offiziersschüler triffst, der Alex heisst, sag ihm schöne Grüsse!

    Was? Wer? Alex?, Ralf stutzte, meinst du etwa den Kuttner? Ralf rief laut gegen das anschwellende Fahrgeräusch an. Es war an Anja überrascht zu blinzeln: Ja!

    Ralf schüttelte lächelnd den Kopf: Ganz bestimmt nicht! Dann rief er ihr nach: Na gut, für dich mache ich eine Ausnahme!

    Er verlor sie aus den Augen und dachte während der gesamten Fahrt über sie und diese Nacht und Alex nach. Dann stellte er fest, dass er eine ganze Nacht nicht an Sybilla gedacht hatte und bekam postwendend ein schlechtes Gewissen und fragte sich, wieso das so war. Schliesslich hatte er ja nichts falsch gemacht. Sybilla war es doch, die verlobt war, nichts von ihm wollte und jedes Wochenende Sex hatte, wenn sie nicht in der Garnison war. Er wusste gar nicht, worüber er sich Gedanken machte. Anja war einfach über ihn gekommen. Und er hatte es genossen. Und sie sicher auch.

    Jetzt war er bereit für die Strafe, die so sicher kommen würde wie der nächste Morgenappell.

    Einer ritt in die Gezeiten.

    Einer sprang daraus hervor.

    Einer wird für immer bleiben.

    Einer bleibt für immer Tor.

    Auf Anfang

    Insgesamt zwei Wochen waren vergangen, seit Ralf nun wieder in Kamenz und wieder im alten Trott war, wenn er das so nennen durfte. Äusserlich war er ganz der Alte. Im Inneren peitschten ihn ganz andere Stürme. Vor vierzehn Tagen hatte er bei Sybilla angerufen. Sie war nicht zu Hause gewesen. Nach dem fünften oder sechsten Klingeln hatte stattdessen ein Mann abgenommen: Ja bitte?! Seine Stimme war weder alt noch jung gewesen. Ralf hatte trocken geschluckt und gestottert. Entschuldigen Sie bitte! Ich wollte Sybilla sprechen. Die Stimme hatte gefragt, wer er sei. Ralf hatte mit roten Ohren vor dem Telefon gestanden und heiser Ralf Ehrlich! Ich bin Ralf Ehrlich… gesagt. Daraufhin hatte die Stimme die Sprechmuschel zugehalten und etwas in den Raum gerufen, das Ralf nicht verstanden hatte, um keine Sekunde später die Muschel wieder freizumachen und Sybilla ist nicht da und kommt auch vor morgen nicht zurück. Kann ich etwas ausrichten? zu sagen. Ralf hatte verneint und aufgelegt. Wahrscheinlich dachten Sybillas Eltern jetzt, denn wer sollte das schliesslich sonst gewesen sein, dass er ein verkorkster Idiot sei und keinen geraden Satz hervorbekäme. Er hatte den Kopf geschüttelt und sich in die Arbeit gestürzt, teils um zu vergessen, teils um die vergangenen Wochen aufzuholen.

    Und dann gab es da diese Frau, die Anja hiess und die nicht Sybilla war. Mit ihr hatte er letztes Wochenende die anstrengendste, denkwürdigste aber auch die erregendste Nacht seines Lebens gehabt. Wenn er daran dachte, bekam er noch jetzt eine Gänsehaut. Und er hatte schlaflose Nächte ihretwegen. Entweder wachte er

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