Lehre.Lernen.Digital: Jahrgang 4, 2023 Ausgabe 1
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Die Digitalisierung hat längst Einzug in die Seminarräume sowie Lehr- und Hörsäle der Bildungseinrichtungen gehalten. Zugegeben fehlt es vielerorts nicht nur an den technischen Voraussetzungen, sondern nach wie vor sind Fragen zu Lehrdeputaten, mediendidaktischen Beratungsangeboten und strategischen Verankerungen nicht oder nur unzureichend beantwortet.
Die größten Hemmnisse für die Etablierung lehr- und lernbegünstigender digitaler Settings tragen jedoch noch die Lehrenden selbst in sich. Sie müssen sich in ihrem Berufsleben täglich den Herausforderungen der Digitalisierung stellen, ganz unabhängig davon, in welchem Bildungszweig sie tätig sind und welche Unterstützung sie dabei erfahren.
Insbesondere die Heraus- und Weiterbildung für das gesamte Leben so wichtiger digitaler Kompetenzen und insbesondere für die Lehre relevanter Medienkompetenzen braucht das integrative Zusammenspiel von Wissenschaft und Praxis und einen Raum bzw. ein Medium, in dem ein Austausch und Diskurs möglich sind.
»Lehre. Lernen. Digital!« ist eine unabhängige und interdisziplinäre Zeitschrift insbesondere für digitale Mediendidaktik.
Sie erscheint halbjährlich in gedruckter, aber auch digitaler Form. In ihr kommen Autorinnen und Autoren aus der Wissenschaft und Praxis fachlich übergreifend zu Wort.
Die Fachbeiträge in der Zeitschrift sollen Neugierde wecken, zum Nachdenken, Nachahmen und zu fachlichen Diskursen anregen.
Das Herausgeberteam lädt Sie ein, sich aktiv an den Diskussionen zu beteiligen und die Leserschaft, getreu dem Motto: gemeinsam einen Schritt weiter, an Ihren Erkenntnissen und Erfahrungen teilhaben zu lassen.
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Lehre.Lernen.Digital - Prof. Dr. Waltraud Nolden
Erklärvideos aus geschichtsdidaktischer Perspektive
Impulse für das historische Lernen
Christopher Friedburg¹, Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung NRW
Die gesellschaftlichen Bedingungen für die Vermittlung von Geschichte verändern sich angesichts der Digitalisierung spürbar. Das gilt für Formen und Prozesse historischen Denkens, des historischen Lehrens und Lernens sowie für historische Inhalte innerhalb und außerhalb von Bildungsinstitutionen wie Schulen, Hochschulen, Museen oder Gedenkstätten. Diese Veränderungen haben unmittelbare Auswirkungen für alle Adressatinnen und Adressaten bzw. Zielgruppen der Geschichtskultur. In den letzten Jahren haben sich beispielsweise Erklär- und Lernvideos zu einem etablierten und erfolgreichen Genre für Geschichtsinhalte auf Videoplattformen wie YouTube entwickelt. Diese Videos werden von hunderttausenden, zumeist jungen Zuschauenden rezipiert und unter anderem als Repetitorien oder Recherchequellen für den Geschichtsunterricht genutzt. Gleichzeitig hat auch der didaktische Einsatz solcher Formate spätestens seit der Corona-Pandemie in der Unterrichtspragmatik an Akzeptanz gewonnen. Daher lohnt sich ein Blick auf Erklär- und Lernvideos aus geschichtsdidaktischer Perspektive, um sich dem Themenfeld zu nähern.
1Einführung
Zu Beginn steht der Versuch einer allgemeinen mediendidaktischen Einführung und Definition des Phänomens Erklärvideo. Sandra Schön und Martin Ebner definieren Erklär- und Lernvideos mit Blick auf den Fernunterricht als „asynchrone audiovisuelle Formate […], die das Ziel verfolgen, einen Lehr- und Lerninhalt zu transportieren, indem diese in didaktisch geeigneter Weise aufbereitet sind oder in einem didaktisch aufbereiteten Kontext eingebettet werden bzw. zur Anwendung kommen können."²
Diese Perspektive richtet sich eher an der Pragmatik des Unterrichtsgeschehens aus. Der Mediendidaktiker Karsten D. Wolf nähert sich dem Gegenstand dagegen stärker aus dem Blickwinkel der Praxis populärer Videoplattformen und den dort kursierenden Erklärformaten.³ Wolf definiert Erklärvideos als „eigenproduzierte Filme, in denen erläutert wird, wie man etwas macht oder wie etwas funktioniert bzw. in [denen] abstrakte Konzepte und Zusammenhänge erklärt werden" und die sich vor allem durch vier Merkmale auszeichnen, die eng mit der Funktionalität und dem Zweck von Social-Web-Angeboten wie YouTube verknüpft sind: thematische sowie gestalterische Vielfalt, einen informellen Kommunikationsstil und eine Diversität in der Autorenschaft.⁴
Wolf vertritt zudem die Position, dass Erklär- und Lernvideos keine Lehrfilme sind. Dies deckt sich auch mit kommunikationswissenschaftlichen Überlegungen, denn Videos haben ihre eigene Gestaltungslogik und funktionieren gerade in den noch näher zu beschreibenden Strukturen des Social Webs anders als bekannte massenmediale Formate.⁵ Daher ist es ratsam, das Video als neues Leitmedium einer digitalisierten Lebenswelt ernst zu nehmen und seine medialen Besonderheiten bei der Beschreibung von Erklärformaten zu berücksichtigen.
2Geschichtsdidaktische Perspektive
Die oben genannten Beschreibungen und Definitionen haben auch für geschichtsdidaktische Überlegungen grundsätzlich Geltung. Die Disziplin blickt nicht nur auf die pragmatische Gestaltung von Erklär- und Lernvideos im Geschichtsunterricht, sondern interessiert sich auch für den gesellschaftlichen Umgang mit Geschichte (Geschichtskultur). Das schließt entsprechende Videoproduktionen ein, die auf digitalen Plattformen wie YouTube zu finden sind. Dieses Interesse für die geschichtskulturelle Dimension von Erklär- und Lernvideos liegt in der für das Fach spezifischen Zentralkategorie Geschichtsbewusstsein begründet.
Der Geschichtsdidaktiker Bernd Schönemann beschreibt Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur als „zwei Seiten einer Medaille, denn „die Kategorien Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur lassen sich widerspruchsfrei unter dem ‚Dach‘ der Zentralkategorie ‚Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft‘ ansiedeln, wenn man akzeptiert, dass Gesellschaften ihre Vergangenheit auf zweierlei Weise (bimodal) konstruieren, nämlich individuell und kollektiv.
⁶ Der kompetente Umgang mit der dynamischen Erinnerungsarbeit der Gesellschaft, eine Analyse von Struktur und Funktion sowie die Reflexion der ständigen Veränderung von Geschichtskultur gehören damit zu wichtigen Lernzielen des Geschichtsunterrichts und der Vermittlung von Geschichte allgemein.
So verwundert es nicht, dass sich geschichtsdidaktische Aufsätze und Publikationen aktuell vor allem mit dem populären medialen Phänomen Erklärvideos auf YouTube auseinandersetzen. So konzentrieren sich beispielsweise Christian Bunnenberg und Nils Steffen als Herausgeber in ihrem Sammelband „Geschichte auf YouTube auf das Genre der Erklärformate, da sie diese als besonders relevante Formen der Geschichtsvermittlung identifizieren, „die von den zumeist jugendlichen Nutzerinnen und Nutzern als Bildungsangebote ergänzend zum schulischen Unterricht nachgefragt werden
⁷. Bekannte und große YouTube-Kanäle wie Mr.Wissen2Go⁸, simpleclub⁹ oder Explainity¹⁰ richten sich dezidiert an Lernende und profitieren davon, dass YouTube von vielen Heranwachsenden ganz selbstverständlich im Alltag als Suchmaschine genutzt wird. Zudem versucht sich YouTube mithilfe solcher Angebote verstärkt als Bildungsplattform im Markt zu positionieren.
3Gestaltung und Herausforderungen
Bei einer Beschreibung von Erklärvideos als geschichtskulturelles Phänomen ist der informative Charakter dieser Formate nicht von der Hand zu weisen. Die Beiträge der erfolgreichen Kanäle auf YouTube sind aber auch zugänglich, kurzweilig und ansprechend gestaltet. Dies hängt mit dem spezifischen Look & Feel der Videoplattform zusammen und führt zu einem Spagat der Darstellungskonvention. Erklär- und Lernvideos wollen – wie die meisten YouTube-Videos – zwar in erster Linie unterhalten, aber eben auch Wissen zielgruppengerecht vermitteln. Die großen Kanäle erstellen ihre Inhalte zudem unter hochprofessionellen Produktionsbedingungen und mit attraktivem Schnitt und visuellen Begleitmaterial.
Auf YouTube herrschen gänzlich andere Rahmenbedingungen als im Unterrichtsgeschehen – wenn es um das Erklären von historischen Inhalten in audiovisuellen Beiträgen im Social Web geht, müssen sich Videos innerhalb einer breiten Angebotsauswahl behaupten. Diese Diversität bietet einerseits eine thematische Vielfalt, die rund um die Uhr in niedrigschwelligen Partizipationsangeboten zur Verfügung stehen und die Massenmedien in dieser Form nicht realisieren können. Andererseits führen die offenen partizipativen Strukturen und mangelndes Gatekeeping durch geschichtskulturelle Professionen wie Redakteure, Lehrkräfte oder Archivare zu einem scheinbar egalitären Nebeneinander von inhaltlich triftigen Narrationen und mitunter mutwillig verfälschten Geschichtsdarstellungen.
Die Informationswissenschaftler Anja Ebersbach, Markus Glaser und Richard Heigl schlagen zur Beschreibung dieser medialen Strukturen und Logiken das Konzept des „Social Web" vor.¹¹ Eine Orientierung an der „Praxis des Social Web" zeigt auf, dass es die Nutzerinnen und Nutzer der Plattformen sind, die für den Inhalt und durch ihr Verhalten auch für die