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Die Erfindung der Welt: Das außergewöhnliche Leben des Max von Strindberg
Die Erfindung der Welt: Das außergewöhnliche Leben des Max von Strindberg
Die Erfindung der Welt: Das außergewöhnliche Leben des Max von Strindberg
Ebook396 pages5 hours

Die Erfindung der Welt: Das außergewöhnliche Leben des Max von Strindberg

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About this ebook

Max kommt durch einen Kaiserschnitt zur Welt. Er wird als siamesischer Zwilling geboren.

Die ersten Jahre seines Lebens verbringen sie ausschließlich liegend. Eine komplizierte Operation trennt die Zwillinge schließlich voneinander. Max lebt weiter, sein Bruder stirbt.

Max' Vater ist Lkw-Fahrer, selten zu Hause und kommt tragischerweise in einem Krieg ums Leben. Seit seiner Geburt lebt Max in einer – wie er meint – ungerechten Welt. Um davon Abstand zu gewinnen, verbringt er einige Zeit bei der älteren und verwitweten Schwester seines verstorbenen Vaters.

Dort lernt Max eine ihm völlig unbekannte Welt kennen, denn er stößt zum ersten Mal mit der Weiblichkeit zusammen. Er lernt die attraktive Nachbarin seiner Tante kennen, bevor er sich in die Tochter des Hausdieners verliebt und diese auch heiratet.

Geli, seine Frau, wird schwanger. Sie erwartet Zwillinge. Da noch einige Monate bis zur Geburt vergehen werden, beschließt das Paar eine Hochzeitsreise zu unternehmen. Und wieder lernt Max eine andere Welt kennen.
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateMar 20, 2023
ISBN9783347903142
Die Erfindung der Welt: Das außergewöhnliche Leben des Max von Strindberg
Author

Lutz Spilker

Lutz Spilker wurde am 17.2. des Jahres 1955 in Duisburg geboren. Bevor er zum Schreiben von Büchern und Dokumentationen fand, verließen bisher unzählige Kurzgeschichten, Kolumnen und Versdichtungen seine Feder. In seinen Veröffentlichungen befasst er sich vorrangig mit dem menschlichen Bewusstsein und der damit verbundenen Wahrnehmung. Seine Grenzen sind nicht die, welche mit der Endlichkeit des Denkens, des Handelns und des Lebens begrenzt werden, sondern jene, die der empirischen Denkform noch nicht unterliegen. Es sind die Möglichkeiten des Machbaren, die Dinge, welche sich allein in der Vorstellung eines jeden Menschen darstellen und aufgrund der Flüchtigkeit des Geistes unbewiesen bleiben. Die Erkenntnis besitzt ihre Gültigkeit lediglich bis zur Erlangung einer neuen und die passiert zu jeder weiteren Sekunde. Die Welt von Lutz Spilker beginnt dort, wo zu Beginn allen Seins nichts Fassbares war, als leerer Raum. Kein Vorne, kein Hinten, kein Oben und kein Unten. Kein Glaube, kein Wissen, keine Moral, keine Gesetze und keine Grenzen. Nichts. In Lutz Spilkers Romanen passieren heimtückische Morde ebenso wie die Zauber eines Märchens. Seine Bücher sind oftmals Thriller, Krimi, Abenteuer, Science Fiction, Fantasy und selbst Love-Story in einem. »Ich liebe die Sprache: Sie vermag zu streicheln, zu liebkosen und zu Tränen zu rühren. Doch sie kann ebenso stachelig sein, wie der Dorn einer Rose und mit nur einem Hieb zerschmettern.«

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    Book preview

    Die Erfindung der Welt - Lutz Spilker

    Vorwort

    In der zweiten Hälfte des Jahres 1882 notierte der deutsche Philosoph, Essayist, Lyriker und Schriftsteller Friedrich Wilhelm Nietzsche: »Moral ist die Wichtigtuerei des Menschen vor der Natur.«

    Demnach ist es offenbar ein Leichtes, seine eigene Meinung über einen anderen Menschen zu stülpen, ohne sich näher mit seiner Person zu befassen.

    Was bewegt ihn? Wie wurde er zu dem, was er nun ist und wie denkt er über dies und jenes? Er (der andere Mensch) wird ungefragt der eigenen Wertung unterworfen, obwohl diese falsch sein könnte.

    ***

    Ein Mensch. Noch befindet er sich in einer ihm bekannten Umgebung, die ihm, je weiter er heranwächst und je mehr er sich der Geburt nähert, immer vertrauter wird.

    Der Vorgang hat sich kaum geändert. Im Ablauf der Gegebenheiten blieb alles so, wie es sich bereits seit Millionen von Jahren ereignete.

    Ein Mensch wird geboren und gerät dadurch in eine Welt, in der er sich für den Rest seines Lebens auskennen muss. Sie wird dem Neuankömmling ständig nähergebracht und darf sich ihm – trotz all ihrer Eigenheiten – nicht als fremd darstellen.

    Im Laufe der Evolution hat der Mensch die gesamte Welt ständig geändert und seinen Bedürfnissen angepasst, doch davon weiß der gerade erst Angekommene nichts. Für ihn stellt sich grundsätzlich alles als neu dar. Neu bedeutet für ihn in jeder Form fremd.

    Seine Sinne sind noch nicht gänzlich ausgeprägt, wodurch all das, was um ihn herum passiert, auch nicht bleibend sein Bewusstsein trifft, denn das ist lediglich fragmentarisch vorhanden. An nichts von all dem Passierten wird er sich später wissentlich erinnern können, zumal sein Gedächtnis ebenfalls noch nicht in vollem Umfang funktioniert.

    Sein Bestreben ist es nämlich nicht, diese Welt umfassend kennenzulernen, sondern bloß zu leben. Das auf ihn wartende Leben findet allerdings ausnahmslos in ebendieser Welt statt, die ihn von nun an permanent umgibt und in der er sich immer wieder völlig hilflos vorfinden wird.

    Allgemein wird es als ungeheure Schwierigkeit betrachtet, klarzustellen, dass sich die Wirklichkeit permanent und in jeder vorstellbaren Weise als belebbare Welt darstellt, die einen jeden Menschen umgibt. Der Mensch neigt dazu, Dinge, die er nicht gesondert wahrnehmen kann, komplett zu negieren, und selbst die Wirklichkeit wird diesem Denkmuster unterworfen. Erst bei Ungewöhnlichkeiten oder starken Veränderungen, wie z. B. dem Auftreten eines Nebels, wird der direkt und klar erkennbaren Umgebung Aufmerksamkeit gespendet.

    So wie ein Mensch, der, wenn er sich unter Wasser befindet, von diesem flüssigen Element umgeben ist, verhält es sich mit der Welt auch. Die Wirklichkeit umgibt den Menschen in jedem Moment. Die zu jeder Zeit, jeden Quadratmillimeter seiner Haut berührende Umgebung, ist eines jeden Menschen Welt. Sie ist so eigen wie seine genetische Struktur, besser gesagt, sein Fingerabdruck und stellt gleichsam seine größte Falle dar, zumal sie permanent vorhanden ist und somit zur Gewohnheit wird, wie der eigene Herzschlag oder das Atmen; es tritt nicht mehr ins Bewusstsein.

    Viele Gedanken, Vorstellungen, Werte und Begriffe werden von den Eltern auf das Kind übertragen, vom Empfänger fast kritiklos übernommen und generationsweise weitergegeben. Existiert die Welt eines jeden Menschen also schon zuvor in den Köpfen der Absender? Teilweise ist das tatsächlich der Fall, wobei das weitergegebene Wissen nicht oder nicht immer auf Aktualität bzw. Richtigkeit geprüft wird.

    Genaugenommen existieren drei Welten

    • Die Welt, in die jeder Mensch geboren wird, ist die, die offenbar schon vor seiner Geburt vorhanden war. Sie wird von allen Menschen wahrgenommen. Sie ist nahezu zeitlos und stellt die Herkunft aller Gesetzmäßigkeiten dar. In dieser Welt kann sich jeder Mensch orten und reflektiert seine Position in die in ihm selbst existierende Welt.

    • Es existiert auch eine dynamische Welt. Sie ändert sich unentwegt und lässt die Veränderungen, die auch als Zeit verstanden wird, erkennen. Die permanent stattfindenden Wandlungen werden jedoch nicht bewusst wahrgenommen … sie wachsen mit der Wandlung der betrachtenden Person mit. Auch Werte wie die der Moral ändern sich im Laufe der Zeit, weil auch die Umstände andere geworden sind bzw. werden.

    Viele Gegebenheiten, wie das Atmen oder das Lesen dieses Textes, reguliert das Unterbewusstsein. Ändert ein Mensch seine Ansichten nicht, erneuert er sie also nicht mehr oder passt er sie den Umständen nicht mehr entsprechend an, bleibt sein Denken, Tun und Handeln demzufolge stehen, so bildet sich oftmals ein Ewiggestriger, der die Welt nicht mehr versteht.

    • Komplettiert wird das Trio mit der Welt, in der sich jeder Einzelne befindet und die nur er allein wahrnimmt. In dieser Welt fällt der Mensch seine Entscheidungen, trifft auf die Qualitäten sämtlicher Adjektive und derer Antonyme sowie ihrer Wertung.

    Diese Welt verfügt lediglich über eine individuelle Gültigkeit und wird von niemandem sonst in dieser Weise realisiert. In dieser Welt regiert jeder Mensch völlig souverän. Allerdings wird auch keine – in dieser Welt entstandene – Ansicht von einer anderen Person umgehend begriffen, oder ohne eine Erklärung nachvollzogen, weil jeder von dieser, seiner eigenen Welt von Geburt an umgeben wird. In dieser individuellen Welt einer jeden Person herrschen stets dieselben Regeln, wie bei jedem anderen auch. Wertschätzungen, Bewertungen und Maßstäbe werden unablässig über alles und jeden gestülpt, ohne sich der Akzeptanz bewusst zu werden, die selbst gefordert wird.

    Demnach leben alle Menschen zusammen auf demselben Planeten, doch in völlig unterschiedlichen Welten, die wiederum unaufhörlich und permanent miteinander zu kollidieren scheinen. Um einer anderen Wahrnehmung mit mehr Verständnis begegnen zu können, betrachten wir zunächst einige unterschiedliche Szenen aus dem gewohnten Blickwinkel.

    Der Pfahl

    Auf einer freien Fläche steht ein Pfahl und bildet das Zentrum eines gedachten Kreises. Dieser Pfahl verfügt über einen Durchmesser von etwa zwei Handbreit, wobei die Dicke nicht von Belang ist, mit der Höhe verhält es sich ebenso. Die Beschreibung der Dimension des Pfahls unterstützt lediglich das Vorstellungsvermögen.

    Um den Pfahl herum, der – wie erwähnt – das Zentrum des Kreises bildet, stehen Personen mit Blick auf jenen Pfahl. Jede Person schaut nun auf diesen Pfahl und sieht lediglich die Fläche, die aus ihrer Perspektive optisch erfasst werden kann.

    Da jede Person ein Gegenüber besitzt, muss sie sich vergegenwärtigen, dass die von ihr betrachtete Fläche eine andere ist als die, die vom jeweiligen Antipoden gesehen wird.

    Dennoch behaupten beide Personen, den Pfahl gesehen zu haben, und zwar mit Recht. Allerdings – und das bleibt unerwähnt – betrachten die beiden gegenüberstehenden Personen den Pfahl aus einer jeweils individuellen Perspektive.

    Beobachtet man das gesamte Geschehen jetzt aus der Vogelperspektive und peilt bloß die vier Personen an, welche die Himmelsrichtungen besetzen, so ergibt es exakt den Blick auf das Zentrum, welches in diesem Fall von einem Pfahl verkörpert wird.

    Nun bewegt sich der Personenkreis, und rückt stets um eine Person weiter. Das Geschehen passiert so, dass jede Person, die eine neue Perspektive erlangt hat, den Pfahl anschaut, sich den Eindruck verinnerlich und – entsprechend der Bewegung – auf eine weitere Position rückt usw.

    Diese Bewegung, die der eines Sekundenzeigers gleichkommt, stoppt erst, wenn der gesamte Personenkreis eine volle Umdrehung vollführt hat. Erst dann hat jede Person jeder mögliche Perspektive eingenommen und sich somit einen Gesamteindruck verschafft. Auch tritt erst ab diesem Zeitpunkt die Gewissheit ein, wie der Pfahl von einer zuvor nicht vorhandenen Aussicht zu betrachten ist. Die des jeweiligen Gegenübers gewonnene Erkenntnis kann nur teilweise mit der, des Antipoden übereinstimmen, niemals jedoch in Gänze.

    Der Pfahl spiegelt die Wirklichkeit der Welt wider und die betrachtet jeder aus einer anderen Perspektive. Und obgleich es sich immer um ein und dasselbe Objekt handelt, wird es niemals zur selben Zeit bzw. aus demselben Blickwinkel betrachtet, wie es eine andere Person jedoch vermag. Jeder erkennt in seinem Tun und aus seinem Betrachtungswinkel das Vorhandensein einer Sache, eines Vorgangs oder einer Begebenheit. Auch erkennt jede Person anhand dieser Erkenntnisse einen nur für sie geltenden Sinn.

    Eine andere Person sieht dieselbe Sache, allerdings aus einer anderen Perspektive und kommt dementsprechend und insgesamt zu einer völlig anderen Auffassung.

    Treten jetzt noch die eben erst gehabten Erlebnisse oder andere kognitive Einflüsse mit Gemütsbeeinträchtigungen in Erscheinung, so wird die Beurteilung einer Sache niemals mit der Bewertung einer anderen Person übereinstimmen können. Der Sinn des Lebens besitzt demnach individuellen Charakter und gilt stets für nur eine Person.

    Das Leben insgesamt kann somit nicht gemeint sein, wenn nach dem Sinn des Lebens gefragt wird, zumal die Perspektive eines in der Luft fliegenden Vogels ganz bestimmt eine andere ist als die eines Land- oder Wasserbewohners. Hinzu zählen ebenso Pflanzen aller Art, denn auch Gewächse stellen Leben dar.

    Ein Unfall

    Zwei Fahrzeuge sind daran beteiligt. Das Geschehen wird von mehreren Personen beobachtet, die Darstellung der Sachlage scheint demnach einfach zu sein.

    Ist sie das wirklich oder trügt der Schein?

    Eine durch Augenzeugen beobachtete Situation wird, je mehr Personen sie wahrgenommen haben, in der Klärung keineswegs einfacher, zumal das Ereignis aus völlig unterschiedlichen Perspektiven betrachtet wurde und jede Person lediglich ihre eigene Welt sieht. Sie sieht exakt dieselben Gegenstände, wie jeder andere auch, doch sie gibt ihnen eine andere Bedeutung.

    Die Individualität eines jeden Menschen beginnt bereits vor der Geburt und verkörpert das Wesen eines jeden Menschen. Nicht nur seine Fingerabdrücke machen ihn einzigartig, sondern auch sein Empfinden.

    Die am Unfall beteiligten Fahrzeuge erscheinen in einer Farbe, welche beim Betrachter Emotionen auslösen, obwohl sie mit dem Hergang des Geschehens nichts zu tun haben. Der Betrachter wertet diese Wahrnehmung dennoch, wenngleich unbewusst. In diesem Moment trifft er eine Entscheidung, die sich nach der Farbempfindung richtet und ein ›schuldig‹ oder ›nicht schuldig‹ fördert. Der Beobachter wird zum Richter und dieser Prozess findet in jedem der Augenzeugen statt.

    Zur farblichen Erscheinung eines der beiden Fahrzeuge gesellen sich noch weitere Kriterien, welche die pure Wahrnehmung des Hergangs entscheidend beeinflussen können, ohne ins Bewusstsein des Augenzeugen zu geraten.

    Eine dann dokumentierte Aussage wird somit kaum noch deckungsgleich mit der einer anderen Person geliefert, obwohl alle Augenzeugen zur selben Zeit denselben Hergang verfolgten.

    Jeder sah die Situation jedoch aus einem anderen Blickwinkel und stülpte – völlig unbewusst – seine absolut einzigartige Wertung und Betrachtungsweise der Dinge darüber.

    Demzufolge scheint es extrem schwierig zu sein, einen – mehr oder weniger – simplen Hergang sachlich nachzuvollziehen, oder trügt schon wieder der Schein?

    Nein.

    In diesem Fall scheint es nicht so zu sein.

    Somit betrachtet der Autor dieses Buches die Welt, ebenso wie jeder andere, lediglich aus seinen Augen und notiert auf den folgenden Seiten seine Sicht. Diese beruht auf seinen rein subjektiven Empfindungen, Erfahrungen und Beobachtungen. Dass diese niemals deckungsgleich mit denen eines Lesers sein kann, steht außer Frage.

    Ein Film

    Jemandem geht ein Gedanke durch den Kopf, der sich als Thema für einen Film eignet. Der Drehbuchautor schreibt eine Story und die passenden Dialoge auf. Das geschieht aus seiner Sichtweise. Der Kameramann fixiert die Szenen nach seinen Vorstellungen und der Regisseur formt den ganzen Film nach seinen Maximen.

    Wenn das Produkt fertig ist, wird es dem vorgestellt, für den es im Eigentlichen auch gemacht wurde: Für den Zuschauer. Der – und das lässt sich in jeder Weise nachempfinden – bewertet den Film völlig unterschiedlich, obwohl er – seitens des Betrachters – aus ein und derselben Perspektive gesehen wird. Aber nicht jeder Betrachter ist gleich dem anderen. Der eine sieht den Film spät abends und ein anderer gegen Nachmittag. Der eine sieht den Film an einem Mittwoch und der andere erübrigt die erforderliche Zeit erst am Wochenende. Dem einen geht es gut und dem anderen möglicherweise nicht, sodass keine übereinstimmenden Voraussetzungen vorhanden sind.

    Und das zeigen auch die Kritiken. Ein gelungenes Werk oder ein Reinfall? Weder noch: Der Mensch ist zu keiner objektiven Betrachtung fähig. Unentwegt mischen sich Komponenten in die Beurteilung, welche das Ergebnis beeinflussen oder gar verfälschen können. Es geschieht unbewusst; ohne Absicht und ohne Vorsatz. Der Betroffene ist allerdings zu jeder Zeit der Ansicht, dass seine Beurteilung frei jeglichen Einflusses gewesen sei, was freilich nicht der Fall war.

    Jeder Zuschauer blickt beim Betrachten des Films in eine Welt, die ganz und gar nicht seine ist. Es ist die Welt des Films und die ist der dortigen Handlung geschuldet. Auch entspricht sie den Gedanken des Drehbuchautors, des Bühnenbildners und letztlich auch denen des Regisseurs.

    Es ist eine Welt, die es gar nicht gibt, so wie jede Welt, die lediglich im Kopf der Person entsteht, die sie permanent wahrnimmt und sie sich verwirklicht. Wenn der Film zu Ende ist, verschwindet auch diese Scheinwelt.

    Ein Ding ist eine Sache, ein Gegenstand, eine Erscheinung, ein Gedanke, ein Etwas oder der Teil von einem Etwas. Es kann dinglich sein oder bloß imaginär. Es kann wahr sein oder unwahr, richtig oder falsch, oder auch wirklich bzw. unwirklich sein. Manchmal scheint es gar nicht erklärbar zu sein.

    Jeder Mensch beherbergt die Welt in der er lebt, genauso in seinem Bewusstsein, als handele es sich um eine Kopie. Da sich die Welt jedoch unentwegt verändert, findet ein ebensolch unentwegter Austausch dieser Welt in jedem Menschen statt. Dieser Vorgang wird dem Menschen allerdings nicht bewusst; es ist wie atmen und passiert bereits vor der Geburt.

    Der ständige Austausch der inneren mit der äußeren Welt ist für jeden Menschen erforderlich, um sich orten, genauer gesagt, orientieren und selbst erkennen zu können.

    Findet ein asynchrones Austauschen der beiden Welten statt, so nimmt dieser Mensch die Welt völlig anders war, als sie sich tatsächlich darstellt. Manchmal bleibt die innere Welt nämlich zu lange im Bewusstsein einer Person. Während sich die äußere Welt, also die tatsächliche Wirklichkeit, ständig aktualisiert, reagiert der Mensch, dessen Wahrnehmung asynchron wurde, auf gar nicht mehr existierende Eindrücke, sondern lediglich auf seine Aufnahme.

    Es kommt einem Uhrwerk gleich, dessen Zeiterfassung voroder nachgeht, jedoch nicht mehr synchron zum Geschehen passiert. Die Uhr bedarf einer Regulation. Der Mensch muss diese Störung selbst beseitigen. Oft kommt es zu unbemerkten Zunahmen einer Asynchronität, und die sind dann nicht mehr reparabel.

    Es entspricht dem Tode eines Menschen, der, wenn er stirbt, seine Welt mitnimmt. All seine Gedanken, seine Ideen und Vorstellungen kehren nie mehr zurück. Sie bleiben ebenso einzigartig, wie alle Welten in allen Köpfen aller Menschen.

    Diesen Welten zu entfliehen, die Gedanken der Menschen zu synchronisieren und sie völlig wertfrei ein und dieselben Ideen verfolgen zu lassen, brachte bisher noch keinen Erfolg. Die Kunst, als eigenständige Form der Darstellung bestimmter Empfindungen, vermag für einige Augenblicke von der Wirklichkeit abzulenken, doch den Geist dauerhaft einzufangen, vermochte auch sie zu keiner Zeit.

    Allerdings wird die Wirklichkeit als das Anwesende, also das Erkennbare und Wahrnehmbare definiert.

    Die Kunst, als die Abstraktion kognitiver Strömungen, verdrängt die Wirklichkeit als Konkrete lediglich temporär.

    Versuche, sich mittels Drogen permanent der Realität zu entziehen, scheiterten immer wieder an Organversagen bzw. allgemeinen Insuffizienzen oder in der Verweigerung des Lebens in der Wirklichkeit. Ebenso vermag es die Fantasie nicht, eine Welt zu erschaffen, die von dauerhafter Gültigkeit ist.

    Ständig werden Menschen anderer Ansicht sein, als das Gegenüber. Die Welt des einen wird niemals auch die Welt eines anderen sein, und das gilt selbst bei eineiigen Zwillingen. Ihre Bewegungen, ihre Eindrücke und die daraus entstehenden Gedanken sind für den Charakter jedes Lebewesens prägend und beginnen bereits viele Wochen vor der Geburt.

    Auch das Aufstellen eines Regelwerks ist nicht von Nutzen, da sich niemand verpflichtet fühlt, sich konsequent daran zu halten. Sobald sich Menschen wehrhaft wähnen, werden derlei Regeln missachtet, und dieses Verhalten zeigt sich bereits in der Kindheit und Jugendzeit eines jeden Menschen.

    Leben nach Zahlen

    Innerhalb ihres Lebens werden Menschen unentwegt mit Zahlen konfrontiert. Manche stellen sich als Summe dar und manche als Jahreszahl. Einige davon werden gar nicht mehr wahrgenommen und andere, die eine Jahreszahl transportieren, werden nicht mehr als historische Markierung bemerkt, sondern nur noch als Nummer, ohne eine geschichtliche Aussage. Um sich dieses Unterfangen besser verdeutlichen zu können, bedienen wir uns eines Beispiels.

    Das durchschnittliche Lebensalter (Stand 2021) bei Frauen beträgt 83,4 Jahre und das bei Männern 78,6 Jahre. Das ergibt ein Durchschnittsalter von 81 Jahren … nun runden wir (der Einfachheit halber) großzügig auf 100 auf.

    Eine Generation wird in unserem Beispiel auf etwa 33,3 Jahre gesetzt, sodass drei Generationen einer Dauer von etwa 100 Jahren entsprechen.

    Diese Zahlen sind allgemein überschaubar und lassen sich mit dem eigenen Leben vergleichen. Wird vom Bau der Pyramiden und von altägyptischen Königen aus einer Zeit gesprochen, die sich vor 4000 Jahren ereignete, so fühlt sich niemand überfordert, sich in diese Epoche hineinzuversetzen.

    Ist allerdings vom Aussterben der letzten Dinosaurier die Rede und man wird mit einer Jahreszahl von etwa 65 Millionen Jahren konfrontiert, so schaltet der Kopf den mathematischen Teil des Gehirns ab und nimmt lediglich die Zahl 65 Millionen wahr. Eigentlich nimmt er nur die Zahl 65 wahr, weil er nichts erkennt, was proportional zu seinem Dasein steht. Umgerechnet entsprechen 65 Millionen Jahre etwa 2164 Generationen.

    Diese Jahresmenge befindet sich extrem außerhalb jeder Rationalität, die sich mit dem Alter bzw. dem eigenen Leben befasst und wird daher ignoriert. Menschen denken selten über die Grenzen ihres Lebens hinaus, weil sie an Rationalität konditioniert wurden.

    Ebenso verhält es sich mit den Entfernungen im Universum, die in Lichtjahren gemessen werden (1 Lichtjahr = 9,461e12 km = 9.461.000.000.000 Kilometer).

    Verständnis

    Nachdem der Mensch vor vielen Tausenden von Jahren die Erde erkundete und sich überall niederließ, entstanden unzählige Sitten, Gebräuche, Religionen und andere Arten und Weisen der Handhabung und des Ausdrucks. All diese Spezifikationen werden als Kultur verstanden. Hinzu addierten sich ebenfalls noch differente Hautfarben und Unterschiede der Physiognomie.

    Die gewaltigsten Andersartigkeiten lassen sich an der Artikulation erkennen. Auf der Erde existieren etwa 7000 Sprachen (Stand: 2022). Hinzu kommen noch unzählige Akzente, regional auftretende Färbungen, Aussprachen und Redestile, die allesamt mit dem Begriff Dialekt gebündelt werden.

    Zu den unterschiedlichen Meinungen, Perspektiven, Sprachen und sonstigen individuellen Nuancen reiht sich noch ein weiterer, schier unübersehbarer und somit wichtiger Teil: die Ideologie. Was macht den Menschen aus? Was prägt ihn? Wovon ist er überzeugt? Worauf hofft er?

    Was unterscheidet den Menschen der östlichen Halbkugel von dem, der auf der westlichen Hemisphäre lebt? Welche Auffassung, welche geistige Mentalität, welche Grundhaltung besitzen sie, welche Werte vertreten und verteidigen sie und nach welchen Kriterien erziehen diese Menschen ihre Kinder?

    Die Wirklichkeit

    Sobald ein Mensch geboren wird, ummantelt ihn die Wirklichkeit und lässt ihn bis zu seinem Ableben nicht mehr los. Er wird von ihr nicht festgehalten, doch er wird ihr nur durch das Ende seines Lebens entkommen. Jeden Tag, an dem ein Mensch seine Augen öffnet, um die Welt außerhalb seines Körpers wahrzunehmen, grenzt die Wirklichkeit an ihn heran. Jede Stelle eines Körpers grenzt unmittelbar an die Realität und die stellt sich für viele Menschen offenbar als Belastung dar.

    Als Ulrich Schelling, der Protagonist des Buches ›Der Mann ohne Eigenschaften‹ (geschrieben von Robert Musil und 1930 publiziert), gefragt wurde, was er, wenn er der König der Welt wäre, vorrangig tun wolle und daraufhin antwortete, dass er die Wirklichkeit abschaffen würde, lehnte ich mich, nachdem ich diesen Satz gelesen hatte, erstaunt zurück und dachte über den dann entstehenden Zustand nach.

    Wo wäre dann die Welt? Sie befände sich genau da, wo sie jetzt auch ist, doch sie könnte nicht mehr wahrgenommen werden. Wo wäre aber dann der Mensch, der sie letztlich wahrnimmt und sich daran orientiert? Würde es als Erleichterung betrachtet werden, wenn die Anlehnung fehlt? Ist sie es etwa, die als Belastung registriert wird? Wird sie womöglich als Bevormundung empfunden? Steckt vielleicht in jedem Menschen ein solcher König, der die Wirklichkeit abzuschaffen willens ist?

    Und dann?

    Sicher stünde umgehend eine neue Wirklichkeit zur Verfügung, die dann als gültig angesehen wird. Vielleicht war all das sogar schon der Fall?

    Licht und Schatten

    Schon immer zogen Lebewesen aller Art gegen andere Lebewesen zu Felde und schon immer zog einer der beiden dabei den Kürzeren. Gewächse streben nach Licht und wachsen in diese Richtung. Wächst etwas absichtlich in den Lichtbereich eines anderen Lebewesens und hindert das andere Gewächs somit vom Licht zu partizipieren, ist das betroffene Wachstum zum Tode verurteilt. Dieses Verhalten kann in der Pflanzenwelt oft beobachtet werden.

    In der Tierwelt werden solche Eroberungen und Beanspruchungen mit Kämpfen ausgeführt; der Mensch gab diesem Unterfangen die Bezeichnung ›Krieg‹.

    Wäre es generell möglich, dem Krieg einen bleibenden Schaden zuzufügen? Ist er belehrbar, dieser Krieg?

    Besitzt er nicht schon ein miserables Image? Ist das nicht bereits ein dauerhafter Schaden? Krieg wird seltsamerweise immer wieder als Allheilmittel bzw. als diplomatische Alternative benutzt und steht am Ende sogar als alleiniger Sieger auf dem Platz.

    Eigenartig.

    Obwohl er derart verspottet wird, viel Leid bringt und unzählige Leben verzehrt, wird er hofiert. Verschwiegen wird ebenso, dass er nicht nur Elend, Schmerz und kaum noch zu ertragene Qualen höchst ungerecht zu verteilen fähig ist, sondern denen unermesslichen Wohlstand, Reichtum wie auch Komfort beschert, die sich seiner Vorteile zu bedienen wissen.

    Von Feldzügen partizipierten also nicht nur die imperialistischen oder kapitalistisch orientierten Herrschaftssysteme, sondern auch die dazugehörigen Volkswirtschaften.

    Das Prinzip von Licht und Schatten verändert sich nicht, es wechselt lediglich die Komponenten. Bringt der Krieg einerseits Elend und Unterjochung, so entsteht reziprok Wohlstand und Fortschritt. Kriege vernichten Material und dieses Material wird immer wieder ersetzt. Somit gerät der Krieg zum krisenfesten Arbeitgeber.

    Der Krieg als Alibi

    Schon immer dienten Kriege, ein Angriff oder eine Schlacht dazu, Unstimmigkeiten in kämpferischer Form zu bereinigen. Nicht selten wurde sich auch in Angelegenheiten fremder Völker gemischt oder sich eines Umstandes ungerechtfertigt bemächtigt. Nicht nur Ländereien wurden während eines Krieges erobert, sondern auch Menschen. Man entledigte sich der Kranken und Alten auf schändlichste Art oder ignorierte sie notfalls. Kinder wurden – je nach Alter – getötet oder versklavt und Frauen waren schon immer wieder das Objekt sexueller Begierde. Nicht selten wurden – allerdings unter anderslautenden Motiven – ganze Kriege angezettelt, um sie zu erobern.

    Vieles fällt im allgemeinen Gemetzel nicht mehr auf. Und so blieben unzählige Morde unaufgeklärt, weil sich der Krieg schon immer als vortreffliche Kulisse zur Entsorgung von Leichen anbot. Niemand würde sich über Tote auf einem Schlachtfeld wundern. Der perfekte Mord trägt demnach den Namen Krieg.

    Die Zukunft

    Mit den Worten ›Ein Gespenst geht um in Europa‹ beginnt das bereits 1848 erschienene Werk ›Das kommunistische Manifest‹ der Autoren Karl Marx und Friedrich Engels.

    Dieses Gespenst hat mit dem, welches auf der gesamten Welt als ›Zukunft‹ bekannt ist, freilich nichts zu tun … die Gemeinsamkeit bildet allein das Wort ›Gespenst‹. Ein Synonym für etwas, das es gar nicht gibt, doch von jeder Person als existent gewähnt wird.

    Besonders im Altertum rankten sich die dreistesten Geschichten um dieses Gespenst. Für die Herrscher war es daher schon immer wichtig, die Zukunft zu kennen, warum sie sie von (Hell)Sehern – selbst aus dem Flug eines Vogels – deuten ließen. Das Resultat findet sich heutzutage auch in den Shows von Illusionisten wieder. Dabei handelt es sich um eine besondere Form der Unterhaltung, die beim Zuschauer die Art von Faszination auslöst, die auch schon damals gewünscht war und die Überzeugung aktiviert.

    Die Zukunft wird als das Kommende, das Nächste oder das Folgende verstanden und kann somit wissenschaftlich berechnet werden, wobei es sich hierbei um einen zu errechnenden Trend handelt, der sich möglicherweise zeigt. Gemeint ist dann die nahe, keineswegs jedoch ferne Zukunft. Hierbei spielen die Mathematik und das Prinzip des Zufalls wesentliche Rollen.

    Ein Beispiel: Eine Zahl wird bei der Ziehung einer Lotterie am meisten gezogen, wohingegen eine andere Zahl die am wenigsten gezogene ist. Nun stellt sich die Frage nach der Zukunft, denn: Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich dieses Zahlenmuster fürderhin bestätigt? Wird es sich so verhalten, wie es vorausberechnet worden war, oder ergibt sich ein anderes, möglicherweise sogar unerwartetes Resultat?

    Kurzum: Die Zukunft existiert nicht formal, sondern lediglich theoretisch. Sobald diese Zukunft eintrifft, nennt man sie Gegenwart und diese besteht wahrscheinlich aus dem gleichen kleinen Augenblick wie der, der bereits dem Urknall zuteilwurde. Die passierten Momente werden zur Vergangenheit und damit komplettiert sich das Gefüge, welches lediglich in der Grammatik eine Rolle spielt.

    Wäre die Zukunft eine konstante Verlässlichkeit, besäße die Evolution ein Ziel und das ist nicht der Fall. Ihr wurde die Zeit als Begleiter zugewiesen, der keine andere Aufgabe zugedacht wird, als die Veränderung sichtbar zu machen, die durch die Evolution ausgelöst wird.

    Kapitel 1

    Früher, wenn es Nacht war, lag Max sehr oft wach in seinem Bett und dachte über die Situation nach, in der er sich befand. Dann kam er sich wie ein an seinen Bruder geketteter Sklave vor. Es glich einem Gefängnis, dennoch er sich weder eines Vergehens schuldig gemacht hatte, noch eine Haftstrafe verbüßte.

    Seinetwegen lag er jedoch wach da und fand keinen Schlaf. Es war nicht das erste und das letzte Mal würde es wahrscheinlich auch nicht sein.

    Max wurde reizbar, angriffslustig und egoistisch. Er suchte keinen Streit, bloß seinen Vorteil, um endlich schlafen zu können. Manchmal fehlte ihm der erholsame Schlaf und das bereits seit einigen Jahren. Er konnte sich aber weder hin noch herdrehen, ohne seinem Zwillingsbruder zwangsläufig Schmerzen beizubringen. Es wäre zwar unabsichtlich passiert, aber es wäre passiert.

    Umgekehrt gestaltete es sich ebenso und somit verließ sich jeder der beiden auf das Wohlwollen des anderen. Es war unumgänglich … es entsprach der Gegebenheit und stellte sich mit der Zeit als normal dar.

    Die Stelle, mit der er an seinem Bruder festgewachsen war, hätte nicht misslicher sein können. Wahrscheinlich kann sich kein anderer Mensch vorstellen wie es ist, ununterbrochen an einen anderen Menschen gebunden zu sein, sodass es fast unmöglich erscheint, selbst eine einigermaßen entspannende Körperhaltung einzunehmen.

    In ihrem Bett und in der Wohnung lagen überall Kissen in den unterschiedlichsten Größen und Formen herum. Damit konnte man den Zwillingen eine erträgliche Position herrichten und ihre Körper gleichzeitig stabilisieren.

    Außer einem Gymnastik- und einem Privatlehrer, der sich um die vorschulischen Belange kümmerte, kamen keine Personen zu Besuch.

    Einerseits war ihr Anblick erschütternd und andererseits erschreckend. Würden sie doch bloß in ein und dieselbe Richtung schauen können! Welche Lage mussten die beiden Körper zueinander gehabt haben, um während der Schwangerschaft an diesen Stellen zusammenwachsen zu können, fragte sich Max immer wieder.

    Seine Welt war nicht die eines anderen, das hatte er bereits begriffen. Er musste die Welt, in der er lebte, ganz neu für sich erfinden und verstehen lernen.

    Jede Sekunde sehnte er den Moment der operativen Trennung herbei, denn dieser Gedanke blühte wie eine Knospe in ihm, seit seine Mutter zum ersten Mal davon sprach. Doch noch, so lautete jedenfalls die Aussage der zuständigen Ärzte, wären sie zu schwach. Sie müssten mindestens vier oder fünf Jahre alt sein, um den operationsbedingten Belastungen standhalten zu können.

    Gab es schon immer siamesische Zwillinge? Sie müssen früher anders geheißen haben, schließlich entstand Siam nicht in der Antike. Und davor? Wofür wurden solche Geburten zu früheren Epochen gehalten? Als eine Art Rache der Götter? An wem? An wem würde sich ein Gott rächen wollen? An der Mutter, dem Vater oder an den zusammengewachsenen Kindern? Wird Rache nicht eher den menschlichen Empfindungen zugeschrieben und nicht denen der Götter? Andererseits heißt es jedoch, dass Gott den Menschen nach seinem Ebenbild schuf … vielleicht galt es aber auch als Strafe oder als Warnung? Bloß wofür bzw. wovor? Herrscht im Himmel etwa Langeweile, sodass diese Fragwürdigkeit das Ergebnis einer bizarren Freizeitbeschäftigung wäre? Wurden früher doppelfehlgebildete Kinder gleich nach deren Geburt beseitigt? Wie muss man sich eine solche Geburt vorstellen, zumal es den Kaiserschnitt nicht schon zu Zeiten der Antike gab?

    Max war später in zu vielen Momenten außer sich und voller Fragen. Er machte sich über seine Situation sehr viele Gedanken. Die ihm aufgebürdete Alternativlosigkeit, im Sinne eines kaum zu ertragenden Lebens, forderte ihm alles ab.

    Wäre es in seinem Bruder auch so vorgegangen? Würde er sich ebensolche Fragen gestellt haben? Max sprach nie darüber.

    Damals im Kleinkindalter, war sein Zwillingsbruder tatsächlich der Schwächere … es wurde immer deutlicher. Hatte er etwa schon aufgegeben? Hätte er ehrlich darauf geantwortet, würde man ihn damals danach gefragt haben? Wahrscheinlich nicht.

    Sobald Menschen anfangen, ihr Bewusstsein zu erkennen, legen sie für den Rest ihres ganzen Lebens eine Maske an, die sie nur zu sehr wenigen Momenten wieder abzulegen bereit sind. Dahinter verbergen sie ihr wahres Gesicht. Das Tragen dieser Maske findet eigenartigerweise nur in Gesellschaft statt und passiert automatisch … das heißt unterbewusst. Das Verbergen der eigenen Person gilt somit dem Schutz. Niemandem wird Einblick in die Tiefen einer Person gestattet und dazu zählt auch die Wahrheit. Schon deshalb würde Max' Bruder wohl kaum wahrheitsgetreu antworten. Allein sein Verhalten ließ Rückschlüsse darauf zu.

    Und Wahrheit, sinnierte Max vor sich hin, was soll das überhaupt sein? Eine nicht genormte Größe, die lediglich dann ihre Existenzberechtigung erfährt, wenn es der Augenblick gestattet … schon einen Wimpernschlag später wird aus der Wahrheit eine Unwahrheit oder

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