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Galatan
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Ebook716 pages10 hours

Galatan

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About this ebook

Als Sophie kurz vor ihrem 17. Geburtstag ein geheimnisvolles Buch auf dem Dachboden findet, ahnt sie nicht, dass dieses Buch weit mehr ist als der Schlüssel zu ihrer Vergangenheit. Sie wird auf eine magische Reise in das verschwundene Land Galatan geschickt und macht sich auf, das Rätsel um ihre Herkunft zu lösen. Bald steckt sie mitten im größten Abenteuer ihres Lebens, gerät zwischen die Fronten eines Krieges und begreift, dass manche Wünsche besser nie in Erfüllung gehen sollten ...
LanguageDeutsch
Publishertredition
Release dateApr 30, 2023
ISBN9783347930469
Galatan
Author

Verena Hartner

Verena Hartner schreibt in ihrer Freizeit Jugendromane im Bereich Fantasy/Romance. Sie liebt Natur und Tiere und lebt in ihrer Wahlheimat Unterfranken in der Nähe von Würzburg. Ihre Geschichten sind spannend, kurzweilig, voller Romantik und Fantasie.

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    Book preview

    Galatan - Verena Hartner

    1

    „Das ist keine Hose, sondern ein Folterinstrument! Daddy zog ärgerlich seine Anzughose aus und warf sie frustriert gegen die Wand. „Letzte Woche hat sie noch gepasst!

    Ich reichte ihm eine andere, dieses Mal mit grauen Nadelstreifen, aber auch die war zu eng für seine Regentonnen-Taille.

    „Die Nächste!", kommandierte Daddy.

    „Nein, nicht die! Die sieht unmöglich zu dem Hemd aus!", widersprach meine Schwester Evi und schüttelte energisch ihre pechschwarzen Haare.

    „Egal! Hauptsache wir finden überhaupt noch eine, in die ich hineinpasse! Heute war ein großer Tag. Daddy beabsichtigte, seiner Freundin Margit einen Heiratsantrag zu machen. Dad hatte Margit auf einer Bühne im hiesigen Stadttheater entdeckt, wo sie als Schauspielerin arbeitete. Drei Monate und 131 Nachhilfestunden in „Wie frage ich eine Dame, ob sie mit mir ausgehen will? hatte es gedauert, bis Daddy den Mut aufbrachte, sie anzusprechen. Ich habe diese drei Monate in eindrucksvoller Erinnerung behalten, denn Daddy hatte Evi und mich jeden zweiten Tag ins Stadttheater geschleppt. Gotthold Ephraim Lessings „Nathan der Weise" konnte ich seither auswendig. Seit einem Jahr waren sie jetzt zusammen. Während Margit nun für einen Monat ihre Tante in Los Angeles besucht hatte, war Daddy regelrecht in einen krankhaften Depressionszustand verfallen, der schließlich in dem gewichtigen Entschluss geendet hatte, Margit die alles entscheidende Frage zu stellen. Eigentlich hätte Evi und mir der Gedanke missfallen müssen, eine Stiefmutter zu bekommen, denn wir drei waren ein so eingeschworenes Team, dass jeder andere in unserer Familie nur stören konnte. Aber Margit war cool – nicht nur, weil sie ein eigenes Pferd besaß und uns das Reiten beigebracht hatte. Sie war einige Jahre jünger als Dad und war uns von Anfang an mehr wie eine große Schwester und nicht wie eine Stiefmutter vorgekommen.

    Seit zwei Wochen nun fieberte Dad auf diesen Abend hin. Eigentlich war alles vorbereitet: ein Tisch für zwei im „Rubin", dem besten Restaurant der Stadt, ein Strauß roter Rosen (regional, aus ökologischem Anbau und so teuer, dass man dafür auch einen ganzen Strauch hätte kaufen können) und ein Liebesgedicht, das Daddy unter Aufbietung seiner gesamten poetischen Fähigkeiten verfasst hatte. Nur die Sache mit dem Anzug schien in die Hose zu gehen – im wahrsten Sinne des Wortes. In einem letzten Versuch zog er den Bauch ein und schaffte es wie durch ein Wunder, den Knopf zu schließen.

    „Ich habe Angst, dass der Knopf sich in ein Wurfgeschoss verwandelt, wenn ich einmal tief Luft hole!", gestand er.

    „Bloß nicht atmen!, riet Evi ganz pragmatisch. „Hier, probier mal die Krawatte!

    Krawattenbinden war nicht Daddys Stärke.

    „Versuch’s doch mal mit dem Doppelten Windsor!", riet ich.

    „Was soll ich denn mit dem Doppelten, wenn ich den Einfachen schon nicht hinbekomme!?", grummelte Daddy. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Unruhig wanderte sein Blick zur Uhr auf seinem Nachttisch.

    „Ob ich nicht doch die Fliege nehme?"

    „Quatsch! Lass mich mal versuchen!", widersprach ich. Ich hatte in der Zwischenzeit YouTube und Jetzt geht’s dir an den Kragen – der Krawattenkanal konsultiert. Aber so einfach wie in dem Video war es dann doch irgendwie nicht.

    „Sag mal, Sophie, kommt dir Dad auch so grün im Gesicht vor?", fragte mich Evi und legte nachdenklich den Kopf schief.

    „Ja, jetzt wo du es sagst …"

    „Mädels, ich krieg keine Luft mehr!", jammerte Daddy. Er tat einen tiefen Atemzug und mit einem Plopp-Geräusch flog der Hosenknopf an die Wand und rollte dann unter die Kommode. Schwer keuchend stützte sich Daddy am Bettpfosten ab.

    „Okay, Plan B: Wir tackern die Hose einfach zu!", schlug ich vor.

    „Und hinterher habe ich die Tackernadel wie ein Piercing im Bauchnabel stecken! Kommt nicht in Frage! Sophie, geh mal auf den Dachboden. Da müsste noch irgendwo Onkel Alfreds alter Hochzeitsanzug in dem Bauernschrank hängen. Wenn ich in den nicht hineinpasse, dann weiß ich auch nicht weiter!"

    Ich überließ Evi die Krawatte mitsamt meinem Smartphone und dem YouTube-Video und machte mich auf den Weg auf den Dachboden. Wir lebten in einem alten Fachwerkhaus, das früher einmal das Hauptgebäude eines Bauernhofes gewesen war. Der Hof hatte Großonkel Alfred und seiner Frau Ruth gehört, nach deren Tod wir hier eingezogen waren. Das Haus war riesig. Manche Zimmer waren immer noch genauso wie damals, als mein Großonkel Alfred noch lebte. Zum Beispiel Großtante Ruths Nähzimmer, das mittlerweile eher zu einer Nisthilfe für obdachlose Motten geworden war. Aber keiner brachte es so recht übers Herz, die alte Nähstube aufzulösen. Mit dem Dachboden war es ähnlich. Eigentlich war fast alles hier oben noch von Großonkel Alfred und Großtante Ruth: ein kaputter Schaukelstuhl, eine Zitter mit gerissenen Seiten, rostige Teekessel und eine Kiste mit Stricksocken, die aussahen, als seien sie über Generationen weitervererbt worden und nur als Vorkehrung für die nächste Eiszeit hier eingelagert worden. Wer wusste schon, was in den Ecken und Nischen hinter den staubigen Spinnweben noch für Sachen zu finden waren? Viel konnte man ohnehin nicht erkennen. Nur eine Glühbirne, die einsam von der Decke baumelte, verbreitete ein spärliches Licht. Ich kämpfte mich durch Gerümpel zu dem alten Bauernschrank mit den handgemalten, weißen Hirschen und den Holzwurmlöchern durch und kramte nach Alfreds Hochzeitsanzug. Schließlich fand ich ihn zwischen Latzhosen, Wollpullovern und einer prähistorischen Lammfelljacke, die ebenfalls bessere Zeiten gesehen hatte. Ich schloss die Schranktür, um die Holzwürmer nicht weiter in ihrer Nachtruhe zu stören, als mein Blick auf eine kleine Truhe fiel.

    Bildete ich es mir nur ein oder war da ein heller Schimmer, der durch die Ritzen der Truhe leuchtete? Ich legte Großonkel Alfreds Hochzeitsanzug beiseite und betrachtete irritiert das Licht, das ständig heller und wieder dunkler zu werden schien. Neugierig öffnete ich den Riegel des edlen Messingschlosses und hob den Deckel an. Kaum hatte ich ihn geöffnet, verschwand das Licht und ich war mir ein paar Sekunden lang nicht mehr sicher, ob ich mir nicht vielleicht alles eingebildet hatte. In der Kiste lagen ein Kleid und ein Buch.

    Das Kleid war aus schlichtem, hellem Leinen mit einem hübschen Kragen aus Spitze und so winzig, dass man hätte meinen können, es habe einer Puppe gehört. Mehr noch aber faszinierte mich das Buch. Es war in blau gefärbtes Leder gebunden und musste sehr alt sein. Der Einband war mit kunstvoll geschwungenen Ornamenten verziert, die nur die Stelle frei ließen, an der der Titel stand:

    Das Papier war dick und rau und sah aus, als wäre es von Hand geschöpft worden. Doch die Seiten waren leer. Keine einzige war bedruckt oder beschrieben. Verwundert blätterte ich es durch, als plötzlich ein Briefumschlag herausfiel. Ich hob ihn auf, öffnete ihn und fing an zu lesen.

    Das waren Adoptionspapiere! Meine Adoptionspapiere! Das konnte doch nicht sein! Aber hier stand es schwarz auf weiß! Familiengericht … Übertragung des Sorgerechts … Eltern unbekannt … Ich merkte, wie ich zu zittern anfing. Daddy hatte doch stets behauptet, ich sähe Mom so ähnlich und habe die Leidenschaft für Bücher von ihm. Das war alles gelogen. Er war gar nicht mein Daddy. Und Evi war nicht meine Schwester. „Warum hat er mir das nie gesagt?, fragte ich und fing an, mit mir selbst zu reden. „Das hätte er mir doch sagen müssen! Ich las den Brief nochmal durch, immer und immer wieder. Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Irgendwann fiel mir ein, warum ich eigentlich hier oben war. Aufgewühlt hob ich Großonkel Alfreds Anzugs auf, nahm ihn und das Galatan-Buch und kletterte die Dachbodenleiter wieder hinunter. Ich brachte das Buch mit dem Briefumschlag heimlich in mein Zimmer. Dann atmete ich tief durch und machte mich auf den Weg zu den anderen. Ich würde mir nichts anmerken lassen. Nicht heute. Heute war wichtig, dass die Sache mit dem Heiratsantrag klappte.

    Unten im Schlafzimmer strangulierte Evi Daddy immer noch mit dem Doppelten Windsor. Nur dass er nicht mehr mein Daddy war und Evi nicht meine Schwester.

    „Sophie, wo bleibst du denn?", empfing mich Daddy und riss mir den Anzug aus der Hand. Die Zeit drängte. Zum Glück passte wenigstens die Hose. Daddy hetzte aus dem Zimmer und begab sich auf die Suche nach seinen Schuhen, während Evi ihn mit der Fusselrolle verfolgte und notdürftig den dunklen Stoff entstaubte. Daddy drückte uns beiden noch schnell einen Kuss auf die Wange. Dann knallte er die Tür zu und war draußen.

    „Mann, das wäre geschafft!, schnaufte Evi und ließ sich auf das Wohnzimmersofa fallen. „Hey, hast du Bock auf Cheeseburger? Ich mach uns welche! „Nein danke, hab keinen Appetit."

    „Sag mal, was ist denn mit dir los?" Evi sah mich forschend an.

    Ich wusste einfach nicht, wie ich es ihr sagen sollte, obwohl ich ihr sonst eigentlich alles erzählen konnte. Evi war nur ein Jahr jünger als ich und viel mehr als nur eine Schwester. Sie war für mich wie meine beste Freundin.

    „Mit dir stimmt doch was nicht!", stellte Evi fest.

    „Nein, nein. Ich bin einfach müde. Ich hab letzte Nacht fast gar nicht geschlafen. Der Vollmond macht mir so zu schaffen." Das war nicht einmal gelogen. Ich war tatsächlich sehr mondfühlig.

    „Schön, dann bleibt eben für mich mehr!" Evi erhob sich freudig und machte sich auf den Weg in die Küche. Wenn es ums Essen ging, wurde sie zu einer kleinen Egoistin. Aber zum Glück nur dann.

    Ich ging auf mein Zimmer, kauerte mich in meinen Kleiderschrank und fühlte mich sehr allein. Eine Weile lang starrte ich einfach vor mich hin und spielte mit dem kleinen Anhänger und der Halskette, die Daddy mir letztes Jahr zu meinem 16. Geburtstag geschenkt hatte. Auf dem Anhänger war eine kleine Eule abgebildet und er schien auch schon ziemlich alt zu sein. Ich war immer der Meinung gewesen, die Kette hätte meiner Mutter gehört, denn Daddy hatte so ein merkwürdig feierliches Gesicht gemacht, als er sie mir gegeben hatte. Aber Dad wurde immer so traurig, wenn er von Mom sprach. Also hatte ich damals nicht weiter gefragt.

    Irgendwann wurde es mir in dem Kleiderschrank allerdings zu eng und unbequem. Zwischen Klamottenstapeln zu sitzen löste außerdem auch keine Probleme. Also packte ich das Galatan-Buch und einen Stift, öffnete vorsichtig meine Zimmertür, damit Evi mich nicht hörte, und verkroch mich in unser kleines Baumhaus im Obstgarten. Warum ich ausgerechnet das Galatan-Buch mitnahm, weiß ich selbst nicht. Es schien wohl irgendeine Verbindung zu mir und meinem früheren Leben zu haben, denn sonst hätte es wohl kaum bei meinen privaten Sachen gelegen.

    Das Baumhaus war mein liebster Rückzugsort. Evi und ich hatten es selbst gebaut, worauf wir ziemlich stolz waren. Tagsüber hatte man von dort einen herrlichen Blick auf die Wiesen und den Wald hinter unserem Haus. Jetzt in der Dunkelheit war der Wald aber kaum mehr als ein riesiger, schwarzer Schatten. Von unserem Haus drang durch ein offenes Fenster Musik zu mir herüber. Evi spielte Klavier. Für Elise, ihr Lieblingslied. Ich lauschte andächtig, fast so, als hätte ich da bereits geahnt, dass ich diese Melodie für sehr lange Zeit nicht mehr hören würde. Evi spielte es nur ein einziges Mal. Dann wurde es wieder still. Der Wind bewegte leise die Blätter in der Baumkrone um mich herum. Von fern rief eine Eule. Es war ein wenig unheimlich hier draußen. Trotzdem ging ich nicht zurück.

    Ich setzte mich im Schneidersitz auf den Bretterboden, schlug das Buch auf und begann zu schreiben. Im fahlen Mondlicht erkannte ich kaum meine eigene Schrift auf dem Papier, aber das war egal. Es gab kaum etwas, das mich mehr beruhigte, als zu schreiben, wenn ich unglücklich war.

    Liebes Tagebuch,

    ich habe heute etwas Furchtbares erfahren: Ich wurde adoptiert. Das an sich wäre nicht so schlimm. Schlimm ist, dass sie es mir nicht gesagt haben. Wenn Daddy mir schon so etwas verschweigt, was kann ich ihm dann überhaupt noch glauben? Irgendwie wäre ich gerade am liebsten fort. Fort von hier und dieser Welt …

    Man sollte sehr vorsichtig sein mit dem, was man sich wünscht. Denn ich war plötzlich fort. Ein Lichtschimmer, der immer heller wurde. Das Baumhaus, das vor meinen Augen verschwand, und dann dieses grelle, blendende Weiß, das alles um mich herum verschlang.

    Und dann war ich fort.

    2

    Plötzlich stand ein junger Mann vor mir, der mich perplex anstarrte. Ich war wohl wie aus dem Nichts vor seinen Augen aufgetaucht. Es war nicht mehr Nacht, sondern taghell und um uns herum waren überall Menschen. Menschen, die ziemlich merkwürdig gekleidet waren. Die Frauen mit langen Röcken und Schürzen und kleinen, bestickten Hauben auf dem Kopf. Die Männer mit Hemden aus einfachem Leinen und dunkelbraunen Hosen. Als wäre ich in einem mittelalterlichen Dorf gelandet.

    Ein Holzkarren mit einem Eselgespann fuhr klappernd an mir vorbei. Gänse schnatterten. Der junge Mann schaute mich immer noch verwirrt an und nun fingen auch ein paar andere Leute an zu gaffen. Ich drehte mich um und machte, dass ich wegkam. Dabei wäre ich fast über einen schmutzigen, struppigen Hund gestolpert, der mich kurz ankläffte und dann mit eingezogenem Schwanz das Weite suchte. Überall waren Marktstände: ein Korbmacher, ein Wagen mit Früchten, die ich noch nie im Leben gesehen hatte, ein Tuchhändler und andere. Auf einem Schemel saß eine alte Frau und rupfte ein totes Huhn, dessen langer Hals leblos von ihrem Schoß baumelte. Schnell sah ich weg. Ich stieß mit einem kräftigen, älteren Mann zusammen, dem schon ein paar Zähne fehlten und der roch, als habe er sich mehr als ein paar Tage nicht gewaschen. „He, Mädel, pass auf, wo du hinläufst!"

    Ich stammelte eine Entschuldigung und wandte angeekelt den Kopf ab, um dem fauligen Geruch aus seinem Mund zu entgehen. Dabei fiel mir auf, dass ich selbst die gleiche Kleidung trug wie die Menschen um mich herum. Ein langes graues Kleid mit dünnen, dunklen Streifen, der Saum abgenutzt und schmutzig. Verwirrt sah ich an mir hinunter. Was war hier los? Wo war ich hier? Und warum? Und wo war das Buch? Ich hatte es doch eben noch in der Hand gehabt. Vielleicht träumte ich nur?

    Ich suchte Schutz neben einem Marktstand und wusste nicht so recht, wo ich als Erstes hinschauen sollte. Noch immer hatte ich tanzende Flecken vor meinen Augen, weil mich das Licht aus dem Buch so sehr geblendet hatte. Was war hier eigentlich los? Das war kein Traum. Ich konnte riechen und fühlen und Dinge berühren. Es war alles echt. War ich vielleicht verwandelt worden? Vielleicht war ich gar nicht mehr ich? Erschrocken griff ich über die Schulter und zog meinen Pferdeschwanz nach vorn. Das waren meine Haare, lang, glatt und kastanienbraun. Kein Zweifel. Und da war auch mein kleiner Leberfleck direkt unterhalb von meinem Zeigefinger. Ich war immer noch ich. Erleichtert atmete ich auf.

    War ich auf Zeitreise geschickt worden und ein paar Jahrhunderte zurück katapultiert worden? Wenn ja – welches Jahr hatten wir dann wohl? Ich traute mich nicht, jemanden zu fragen und natürlich gab es hier auch keinen Zeitungstand, an dem ich unauffällig das Datum hätte herausfinden können. Um ehrlich zu sein – die Menschen sahen hier auch nicht unbedingt so aus, als würden sie lesen und schreiben können. Aber selbst, wenn ich jemanden gefragt hätte, würde mir das etwas nützen? Wann war denn unsere christliche Zeitrechnung eingeführt worden? Wir hatten das irgendwann in Geschichte gelernt. Aber ich konnte mich nicht mehr erinnern.

    Wie war ich überhaupt hierhergekommen? Ich hatte in das Buch geschrieben, ich wolle fort und im nächsten Augenblick war ich hier aufgetaucht. War das ein magisches Buch? Aber Magie gab es doch eigentlich gar nicht. Oder doch?

    Wie sonst hätte man erklären können, dass meine Jeans und mein gelber Pulli sich plötzlich in dieses Kleid verwandelt hatten? Es sah wirklich altertümlich aus mit seinem geschnürten Oberteil und den Rüschen am Saum. Immerhin war mein kleiner Eulen-Anhänger noch da. Wenigstens etwas.

    „Na, Mädel, was ist? Willst du was kaufen?"

    Erschrocken fuhr ich zusammen. Ich hatte die alte Dame hinter dem Marktstand gar nicht bemerkt. Sie schaute mich abwartend an und zeigte mit der Hand auf die Kräuter und Wurzeln, die vor ihr lagen. „Na, was ist?", wiederholte sie, dieses Mal fast streng. Sie hatte eine dunkle, unheimliche Stimme und ein hässliches Muttermal auf der Wange. Ich schüttelte schüchtern den Kopf. Ihr Blick verriet, dass ich verschwinden sollte, wenn ich mich nicht für ihre Ware interessierte. Also wandte ich mich ab und lief ziellos weiter, unsicher, wohin ich gehen sollte.

    Das Dorf war ärmlich. Die Hütten waren aus Lehm oder Holz. Fenster aus Glas gab es nur wenige. Das Dorf schien komplett von einem Wald umgeben zu sein. Sein herbstliches Laub leuchtete in der Ferne in allen möglichen Gelb- und Rottönen. Genau wie jetzt bei uns zu Hause. Hinter dem Wald erhob sich eine gewaltige Bergkette. Auf einzelnen Gipfeln glaubte ich sogar Schnee zu entdecken, war mir aber im blendenden Sonnenlicht nicht sicher. Langsam wanderte ich über den kleinen Markt. Es waren vielleicht ein Dutzend Stände. Ein paar andere Händler verkauften ihre Waren direkt von den hölzernen Pferdekarren aus, auf denen sie sie ins Dorf gebracht hatten. Manch einer, der wohl gleich weiterziehen wollte, hatte nicht einmal sein Pferd ausgespannt. Wenigstens stank es nicht so sehr, dachte ich. Ich hatte gelesen, im Mittelalter hätten sie ihren Unrat überall auf die Straße gekippt. Das war hier wenigstens nicht der Fall.

    Ein paar Meter von mir entfernt entdeckte ich eine Frau mit einem Weidenkorb in der Hand, die auf jemanden zu warten schien. Sie hatte ein freundliches, rundliches Gesicht und wirkte weitaus weniger einschüchternd als die alte Verkäuferin von gerade eben. Ich schlenderte wie beiläufig zu ihr hinüber. „Entschuldigen Sie bitte? Können Sie mir sagen, wie dieses Dorf hier heißt?, fragte ich sie und war mir bewusst, wie dumm sich die Frage in ihren Ohren anhören musste. Sie musterte mich auch dementsprechend verwundert, blieb aber freundlich. „Thurmos, mein Kind! Bist du denn nicht von hier?

    Ich schüttelte den Kopf.

    „Und woher kommst du? Doch nicht etwa aus Evia?" Etwas am Klang ihrer Stimme verriet mir, dass ich die Frage besser verneinte.

    „Ich bin von weit her, sehr weit her. Auf der Durchreise", fügte ich hinzu.

    Die Frau wirkte zufrieden. „Ja, aber sag mal, du kannst doch nicht allein hier sein! Bist du mit deinen Eltern da? Oder mit deinem Mann?"

    Ich schüttelte den Kopf, perplex über die Frage. Ich war noch nicht einmal siebzehn Jahre alt und das sah man mir auch an. „Ich bin allein hier …", verneinte ich.

    „Aber du kannst doch nicht ganz allein reisen!, wiederholte die Frau entrüstet. „Oder gehörst du etwa zum fahrenden Volk? Ihre Stimme nahm einen misstrauischen Tonfall an. Bemüht unauffällig legte sie ihre linke Hand in den Korb, als fürchtete sie, ich könnte ihr etwas herausstehlen. Ich bemerkte es trotzdem. „Ich muss gehen! Leb wohl, alles Gute!", verabschiedete die Frau sich urplötzlich und hatte es mit einem Mal eilig. Zielsicher marschierte sie über den Marktplatz davon, als hätte sie am anderen Ende jemanden entdeckt. Als sie dort angekommen war, drehte sie sich ein paar Momente lang unentschlossen hin und her und wusste offenbar nicht, wohin sie gehen sollte. Kurz darauf verlor ich sie im Getümmel aus den Augen.

    Ich zuckte resigniert mit den Schultern. Was hatte ich falsch gemacht? So zwielichtig sah ich doch eigentlich gar nicht aus. Oder doch?

    Ich wandte mich ab und irrte weiter herum. Hinten auf dem Dorfplatz entdeckte ich eine Ansammlung von Menschen. Sie standen dicht gedrängt im Kreis, ich konnte nicht erkennen weshalb. Plötzlich machte die Menge Platz. Ein Mann trat langsam vor, wobei er mit jedem Schritt bereits die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken schien. Er war noch recht jung, Anfang zwanzig vielleicht. Sein Oberkörper war vollständig entblößt, seine Haut glänzte. Mit seiner weiten Hose, dem aufwendig mit Ornamenten verzierten Gürtel und den Schuhen mit den nach oben eingedrehten Schuhspitzen wirkte er beinahe wie dem Orient entsprungen. Er musste wohl auch aus einem südlichen Land stammen, denn seine Haut war viel dunkler als die der Schaulustigen um ihn herum. Alles starrte gebannt auf ihn, sogar ich, obwohl ich in diesem Moment wirklich andere Sorgen hatte. Ein kleiner Junge, der offenbar sein Freund oder Assistent war, warf ihm zwei Fackeln zu. Der junge Mann fing sie geschickt auf, jonglierte mit ihnen mit einer Leichtigkeit, als könnten sie von selbst fliegen. Er fing sie, warf sie hoch in die Luft, sie drehten sich, wirbelten herum, er fing sie wieder, verbarg sie hinter seinem Rücken, holte sie hervor und plötzlich brannten beide lichterloh. Ein erschrocken-fasziniertes Raunen ging durch die Menge. Ich schüttelte ebenfalls verdutzt den Kopf, als hätte ich etwas übersehen. Wie hatte er das nur gemacht?

    Er jonglierte mit den brennenden Fackeln so mühelos wie er es vorhin getan hatte, als sie noch nicht gebrannt hatten. Wieder fing er sie, hielt inne, streckte beide Arme von sich. Dann führte er langsam eine der beiden Fackeln zu seinem Gesicht, öffnete die Lippen und ließ die lodernde Flamme in seinem Mund verschwinden. Wieder ein aufgeregtes Raunen in der Menge, Tuscheln und Staunen.

    Jemand zupfte an meinem Kleid. Ein kleiner Junge hielt mir seine winzige Hand hin. Er war schmutzig im Gesicht, an den Armen, die Kleidung schäbig und kaum mehr als ein paar zusammengeflickte Lumpen. „Bitte ein Groschen für Essen!", nuschelte er und senkte dabei den Kopf so tief, als schämte er sich für seine Existenz.

    Ich beugte mich zu ihm hinunter, selbst beschämt, weil ich nichts hatte, was ich ihm geben konnte. „Ich habe leider selbst kein Geld, Kleiner", entschuldigte ich mich.

    „Bitte!", wiederholte der Junge mit einer Mischung aus Hartnäckigkeit, Hilflosigkeit und Unsicherheit in der Stimme.

    „Ich lüge dich nicht an! Ich habe wirklich nichts!", betonte ich, als der Kleine mich ungläubig anschaute. In diesem Moment wurde mir klar, dass ich tatsächlich keinen Cent – oder Groschen – bei mir hatte, um mir wenigstens etwas zu Essen kaufen zu können. Dabei hatte ich allmählich richtigen Hunger. Ich hatte seit dem Mittag nichts mehr zu mir genommen. Jetzt reute es mich zutiefst, keinen von Evis Cheeseburgern gegessen zu haben. Evi … Ob sie wohl schon gemerkt hatte, dass ich fort war? Sicher nicht. Ich hatte ihr ja gesagt, ich wolle mich hinlegen.

    Plötzlich kam Unruhe am anderen Ende des Dorfplatzes auf, die binnen Sekunden auch die kleine Menschenmenge um den Feuerschlucker erfasst hatte. Der kleine Junge starrte kurz in die Richtung, aus der der Tumult kam, und flitzte dann davon. Im nächsten Moment vernahm ich das Donnern von Pferdehufen in der Ferne, das anschwoll und dann ganz deutlich zu hören war. Männer kamen ins Dorf geritten, vielleicht sechs oder sieben. Es schienen Soldaten oder Ritter zu sein. Sie trugen Kettenhemden und dunkelblaue Hosen, ein paar von ihnen auch eine Brustpanzerung. Die Dorfbewohner eilten in ihre Hütten. Türen knallten, Stimmen riefen aufgeregt durcheinander, während die Ritter die Straße heraufgaloppierten, ohne auf die Menschen Rücksicht zu nehmen, die erschreckt zur Seite hasteten.

    Unschlüssig drehte ich mich hin und her. Ich wusste nicht, ob ich fliehen sollte, und wohin. Einer der Ritter parierte sein schwarzbraunes Pferd vor mir durch, das sich aufbäumte und auf die Hinterbeine stieg. Der Ritter war noch jung, nur wenig älter als ich, mit blondem, leicht gelocktem Haar. Er starrte mich an und ließ den Blick nicht von mir, obwohl der Rappe unter ihm sich unruhig im Kreis drehte. Es machte mir Angst, dass er mich so fixierte, also wandte ich mich von ihm ab und rannte an den Marktständen vorbei die Straße hinunter. Doch auch dort waren Ritter.

    Irgendjemand packte mich plötzlich am Arm und zog mich zur Seite hinter einen hölzernen Pferdekarren.

    Es war ein Mann, vielleicht fünfzig Jahre alt. Er hatte schon weißes Haar, aber kaum Falten und war in jungen Jahren sicher einmal sehr gutaussehend gewesen. „Mädel, denen möchtest du nicht in die Quere kommen!", flüsterte er mir zu und deutete mit einem Wink auf die Ritter.

    Auf dem Marktplatz hatte sich ein ziemlicher Tumult gebildet. Menschen schrien, trockener Staub wirbelte unter tänzelnden Pferdehufen auf. In dem Durcheinander sah ich den jungen, dunkelhaarigen Mann, vor dessen Augen ich aufgetaucht war, wieder. Er versuchte zu fliehen, als zwei der Ritter hinter ihm auftauchten, ihn am Arm packten und gefangen nahmen. Er wehrte sich, schaffte es, sich loszureißen. Doch ein dritter Reiter tauchte auf, sprang vom Pferd und fasste ihn an den Armen. Die beiden anderen waren sofort zur Stelle und der junge Mann hatte keine Chance mehr. Er hatte verloren. In seinen Augen loderten Hass und Verachtung. Wütend trat er mit dem Fuß nach einem der Ritter. Der rächte sich und schlug ihm grob ins Gesicht. Es tat mir weh, das zu sehen. Ich wusste nicht, was er verbrochen hatte und warum sie ihn gefangen nahmen. Doch wie ein Verbrecher sah er nicht aus.

    „Mist! Sie haben Jason erwischt!", raunte der Mann neben mir. Erst da wurde mir klar, dass die beiden offenbar zusammengehörten.

    An seinen gespannten Wangenknochen sah man, dass er fieberhaft überlegte, wie er dem jungen Mann, der offenbar Jason hieß, helfen konnte. Aber was hätte man gegen eine ganze Gruppe bewaffneter Ritter schon ausrichten können? So grob wie sie mit ihm umgingen, war es nicht schwer, sich auszumalen, was sein Schicksal sein würde, wenn es nicht gelang, ihn zu befreien.

    Plötzlich hatte ich eine Idee. Geduckt verließ ich mein Versteck hinter dem Pferdekarren. Jasons Freund, sein Vater oder Onkel oder wer immer er auch war, machte Anstalten, mich zurückzuhalten. Doch ich deutete ihm, leise zu sein. Unauffällig schlich ich mich nach vorn zu dem riesigen Kaltblüter, der vor den Wagen gespannt war und sich von der Unruhe um ihn herum nicht hatte beirren lassen. Ich fuhr mit der Hand durch das dunkle Fell bis zum Bauch und zwickte den Braunen heftig mit den Fingern. Das Pferd quietschte und schlug mit dem Huf nach meiner Hand, die ich gerade noch wegziehen konnte. Dann bäumte es sich auf und galoppierte geradewegs auf den jungen Mann und die Ritter zu. Die sprangen erschrocken zur Seite und ließen von ihrem Gefangenen ab. Ob der Junge entkommen war, konnte ich in dem Tumult zuerst nicht erkennen. Ich dachte schon, das Pferd hätte ihn niedergetrampelt. Doch kurz darauf sah ich, wie er zum Ausgang des Dorfes rannte, einen anderen Mann beiseitestieß und vom Boden aus in den Sattel seines Pferdes sprang. Trotz der drohenden Gefahr wendete er sein Pferd, suchte mit den Augen die Menge ab und wartete wohl auf seinen Freund. Der Weißhaarige neben mir packte mich und zog mich mit sich fort zu seinem Pferd. Während ich mich noch fragte, ob das eine Flucht oder eine Entführung werden sollte, sprang der Mann in den Sattel seines nervös wiehernden Pferdes. Ich drehte mich nochmal um. Die Soldaten waren zu ihren Pferden zurückgelaufen und setzen dazu an, uns zu verfolgen. Nun waren sie also auch hinter mir her.

    „Mädel, komm! Willst du warten, bis sie dich gefasst haben?!", rief der Weißhaarige. Er reichte mir seine Hand und zog mich hinter sich in den Sattel. Dann lenkten die beiden ihre Pferde hinaus durch das Palisadentor in den Wald.

    3

    Wir galoppierten einen Waldweg entlang, stoppten unvermittelt und bogen in das Dickicht zwischen den Bäumen ein. Dann durch einen Bach, die Böschung hinauf und jagten weiter zwischen den Bäumen davon. Und was für Bäume! Sie waren weit größer als alle, die ich im Leben je gesehen hatte. Lianen hingen von ihren gewaltigen Ästen herab, Wurzeln überwucherten den Boden und machten das Vorwärtskommen gefährlich. Ich konnte kaum verstehen, wie diese kleinen, stämmigen Pferde es schafften, sich einen Weg durch den Dschungel zu bahnen – noch dazu in diesem Tempo. Einmal meinte ich in einiger Entfernung das Rufen von Männerstimmen zu hören. Die Angst lief mir eiskalt den Rücken hinunter, obwohl ich mir nicht einmal sicher war. Vorsichtig drehte ich mich nach hinten um, um Ausschau nach unseren Verfolgern zu halten. Ich konnte nichts erkennen. Vielleicht hatten wir sie doch abgehängt. Zumindest erst einmal.

    Der Junge, der Jason hieß, lenkte sein Pferd in ein Bachbett und ließ es gegen die Strömung durch das Wasser waten. Sein Freund folgte ihm. Vermutlich taten sie es, um ihre Spuren zu verwischen.

    Die Pferde schnauften. Aber auch für mich war es anstrengend, sich hinter dem Sattel auf dem breiten Ponyrücken zu halten. Irgendwie hatte ich sowieso das Gefühl, immer mehr ins Rutschen zu geraten. Ich täuschte mich nicht. Plötzlich hatte ich den Pferdeschweif vor meiner Nase statt hinter mir. Das Nächste, was ich wahrnahm, war das eiskalte Wasser und mein schmerzender Po, weil ich unsanft auf ein paar Steinen gelandet war. Meine Fluchtgefährten hatten meinen Verlust offenbar gleich bemerkt. Jason wendete sein Pferd und blickte amüsiert auf mich herab. „Seit wann habt Ihr denn kein Bad mehr genommen, dass Ihr das gerade jetzt auf unserer Flucht nachholen müsst?"

    Natürlich hatte ich darauf wieder keine passende Antwort parat (erfahrungsgemäß würde sie mir zehn Minuten später einfallen, wenn ich sie nicht mehr brauchen konnte). Also knurrte ich ein mürrisches „Ach, sei still!" und rappelte mich aus dem Bachbett hoch.

    Überhaupt – hätte er sich nicht in Schwierigkeiten gebracht, wäre ich nicht dazu gezwungen gewesen, ihm zu helfen, und müsste jetzt nicht um mein Leben fürchten. Also sollte er bloß den Mund halten! Dabei ärgerte ich mich mehr über mich selbst als über ihn. Vermutlich ähnelte ich nach meinem Absturz einem algenverschmierten, kleinen See-Ungeheuer, während er aussah wie der Mädchenschwarm in einem Hollywood-Fantasy-Streifen.

    „Jason, hör auf Reden zu halten! Wir müssen über den Fluss – und zwar schnellstens!", sagte der Weißhaarige streng. Trotzdem nahm er sich selbst die Zeit, ein kleines Stück Holz von einem Baum zu brechen und es sich wie eine Zigarette in den Mund zu stecken.

    „Kommt, holde Maid, ich helf Euch!" Jason streckte mir seine Hand entgegen und versuchte, mich aufs Pferd zu ziehen. Natürlich tänzelte es herum wie ein Sack Flöhe und ich machte mich schon wieder lächerlich. Im Film sahen solche Szenen seltsamerweise so heldenhaft einfach aus und klappten merkwürdigerweise immer auf Anhieb. Mein Aufstieg hätte dagegen höchstens für die Outtakes getaugt.

    „Habt Ihr es bequem, holde Maid?" fragte Jason, als ich endlich vor ihm im Sattel zu sitzen kam. Mich beschlich der Verdacht, dass er mich mehr aus Neckerei als aus Höflichkeit so nannte. Doch der Weißhaarige drängte zum Weiterreiten und so hatte ich keine Gelegenheit, ihm zu sagen, wie albern ich diese Anrede fand.

    Unser Ritt ging weiter. Und nun wurde es noch anstrengender, denn unser Weg führte bergauf.

    Die Gegend wurde karger. Die Bäume erreichten immer noch schwindelerregende Höhen, doch der Wald lichtete sich und ab und zu konnte man auch einmal den Himmel sehen. Es schien wohl langsam dunkel zu werden. Wie seltsam! Bei uns zu Hause war es eben bereits Nacht gewesen.

    Die Pferde trabten an einem Flussufer entlang. Die Kieselsteine knirschten unter ihren Hufen, doch das Geräusch wurde fast völlig vom Tosen des Wassers verschluckt. Jason zügelte sein Pferd und ließ seinen Blick über den Fluss gleiten.

    „Ihr habt doch nicht allen Ernstes vor, da durchzureiten?", fragte ich alarmiert.

    Der Weißhaarige lächelte – als wäre das eine Antwort auf meine Frage. „John, reitest du voraus?", fragte Jason.

    Der Mann, der John zu heißen schien, nickte und wandte sich an mich: „Das ist der Levess, auch Fluss der Vergangenheit genannt. Auf der anderen Seite sind wir in Sicherheit." Er sagte dies in einem so ruhigen und berechnenden Tonfall, der eigentlich gar nicht dazu passte, dass wir im Augenblick offenbar noch nicht in Sicherheit waren.

    „Ihr könnt doch da nicht durchreiten! Das ist lebensgefährlich!", widersprach ich.

    „Bitte sehr, Ihr könnt gern absteigen!", schlug Jason vor und schaute mich wieder keck von der Seite an. Für jemanden, der gerade eben vor der Gefangennahme gerettet worden war, war er reichlich gut drauf.

    In diesem Moment fiel mir wieder ein, dass ich vollkommen fremd hier war. Wenn ich jetzt abstieg, würden die beiden ohne mich weiterreiten und mich höchstwahrscheinlich allein hier zurücklassen. Ich wusste weder, wer sie waren, noch wohin sie ritten. Doch im Moment waren sie die einzigen Menschen, die ich hier kannte und denen ich hoffentlich vertrauen konnte. Also blieb mir wohl kaum eine andere Wahl, als weiter mit ihnen zu reiten.

    „Bist du dir sicher, dass du die richtige Stelle gefunden hast, John?", fragte Jason seinen Freund.

    „Noch nicht. Aber gleich!" John stieg ab und suchte die steile Uferklippe ab. Er sah aus wie ein Suizidgefährdeter, der die beste Stelle suchte, um von einer Klippe zu springen.

    „Was macht er denn da?", fragte ich Jason und runzelte die Stirn.

    „Das seht Ihr gleich!", antwortete er.

    Auf einmal schien John die Stelle gefunden zu haben, die er suchte.

    Er machte einen Schritt ins Nichts – doch genau in dem Moment, in dem er in die Tiefe hätte stürzen müssen, erschien aus dem Nebel eine Brücke. Ich schüttelte den Kopf, als traute ich meiner eigenen Wahrnehmung nicht. Da war doch gerade eben noch nichts gewesen … John machte einen Schritt zurück und die Brücke wurde wieder unsichtbar! Wo war ich hier nur gelandet? Magie gab es doch nur in Büchern oder im Film …

    „Die Evianer kennen diese Brücke nicht. Und die nächste Möglichkeit, über den Fluss zu kommen, ist ein Umweg von zwei Stunden, erklärte John. „Darum sind wir jenseits des Flusses erst einmal vor ihnen in Sicherheit! John machte wieder einen Schritt auf die Brücke, die erneut sichtbar wurde, und führte sein Pferd hinter sich her. Es war eine Hängebrücke aus Holz, bei der nur ein Netz aus geflochtenen Schnüren rechts und links dafür schützte, dass man hinunterstürzte. Langsam tasteten sie sich vorwärts, während die Trittbretter mit einer Wellenbewegung hin und her schwankten. Ich schaute skeptisch zu.

    „Keine Angst, kleines Fräulein! Ich passe auf, dass Ihr nicht ins Wasser fallt!", versicherte Jason. Er ließ sich aus dem Sattel gleiten und half mir vom Pferd. In der Mitte der Brücke blieb Johns Pony plötzlich stehen und weigerte sich weiterzulaufen. Er tätschelte dem Braunen beruhigend den Hals und murmelte fremdländisch klingende Worte, die ich noch nie gehört hatte.

    „Was ist das für eine merkwürdige Sprache, die John da spricht?"

    „Galvan. Die alte Sprache der Menschen von Avia. Sagt nur, Ihr habt sie noch nie gehört!"

    Ich schüttelte den Kopf. Das alles ergab überhaupt keinen Sinn. Auf dem Markt hatte ich noch geglaubt, ich sei versehentlich auf Zeitreise geschickt worden. Aber das hier war nicht das Mittelalter. Dies war eine völlig fremde Welt. Eine magische Welt. Oder doch nur ein böser Traum?

    Als John auf der anderen Seite war, folgte ich und schließlich Jason mit seinem Pferd. Während ich mich über die schwankenden Trittbretter tastete, fiel mir auf, dass die Seile, die die Brücke zusammenhielten, glänzten wie Silber. Und kaum waren wir auf der anderen Seite angekommen, löste die Brücke sich wieder in Luft auf, als wäre sie nie dagewesen.

    „Könnt ihr mir endlich erklären, wer ihr eigentlich seid?, fragte ich und blieb stehen, entschlossen, nicht eher weiter zu gehen, bis ich eine Antwort bekommen hatte. „Warum seid ihr auf der Flucht? Wo bin ich hier eigentlich? Und warum ist diese Brücke unsichtbar? Meine Stimme bekam einen fast hysterischen Ton, aber es war eben auch ein bisschen viel gewesen in der letzten Stunde.

    „Mein Gefährte heißt John von Hanial und ich bin Jason von Arlhem." Jason machte eine galante Verbeugung.

    „Und warum seid ihr auf der Flucht?", fragte ich.

    „Nun, sagen wir, wir sind nicht immer ganz einer Meinung mit König Dorons Rittern, erklärte John in einem beiläufigen Ton. „Ihrer Meinung nach sind wir barbarische Räuber, Diebsgesindel und Mörder.

    „Und eurer Meinung nach?", hakte ich nach.

    „Unserer Meinung nach haben wir nur unser Land verteidigt und unsere Leute", setzte John hinzu.

    „Und wer seid Ihr?, wollte Jason wissen. „Ihr seht nicht aus wie ein Mädchen aus Galatan und Ihr benehmt Euch auch nicht so …

    Galatan – bei diesem Namen durchzuckte es mich innerlich. So hieß das Buch, in das ich geschrieben hatte, bevor ich an diesem merkwürdigen Ort gelandet war. Ich starrte die beiden an und brachte kein Wort heraus.

    „Ist alles in Ordnung mit Euch?", erkundigte sich Jason.

    „Hast du eben gesagt, dieser Ort heißt Galatan?" Ich flüsterte beinahe.

    „Das ganze Land hier heißt Galatan erwiderte John. „Wir befinden uns hier in der Provinz Ardania. Und dort jenseits des Waldes liegt Evia. Aber, Mädel, wo kommst du her, dass du das nicht weißt? Und wer bist du?

    „Ich … ich heiße Sophie, Sophie Grevenbrock. Ich komme aus … Deutschland, antwortete ich zögerlich, weil ihnen dieses Land vermutlich nichts sagte. In der Tat blickte ich in fragende Gesichter. „Ehrlich gesagt, ich habe das Gefühl, ich komme aus einer anderen Welt, fügte ich daher hinzu. Wie albern das klang!

    „Ihr kommt aus einer anderen Welt? Das erklärt einiges!", stellte Jason fest und schien nicht im Mindesten überrascht. Oder tat er vielleicht nur, als würde er mich ernst nehmen und machte sich einen Spaß mit mir?

    „Was willst du damit sagen, Jason?", hakte jetzt auch John nach.

    „Sie ist wie aus dem Nichts vor mir aufgetaucht!, erklärte Jason und wandte sich wieder an mich: „Ihr seid ein merkwürdiges Mädchen!

    „Egal, was sie ist und wer sie ist. Ohne sie wären wir vielleicht nicht mehr heil aus Thurmos entkommen …", fuhr John fort. Und nun war es an ihm, Jason zu erzählen, warum ich überhaupt mit ihnen auf der Flucht war.

    „Der Gaul hätte mich beinahe plattgetrampelt! Jason setzte eine vorwurfsvolle Miene auf, die im nächsten Moment wieder in ein fröhliches Grinsen überging. „Aber ich dank Euch schön, edles Fräulein!

    Edles Fräulein? Wo immer ich hier gelandet war, vom 21. Jahrhundert waren wir wohl noch Lichtjahre entfernt.

    „Wie bist du hierhergekommen?", hakte John nach.

    „Ich weiß es nicht genau. Ich habe ein Buch auf unserem Dachboden gefunden, das den Namen Galatan trug …"

    „Du hast ein Buch, das den Namen Galatan trägt?, unterbrach mich John. Er kniff die Augen zusammen und runzelte die Stirn. Seine Stimme klang aufgeregt. „Etwa das magische Buch von Galatan? Wo ist das Buch jetzt? Was ist damit passiert?

    „Ich … ich weiß es nicht. Ich habe hineingeschrieben und dann war ich plötzlich hier. Ich meine, auf dem Markt in diesem Dorf …"

    „Thurmos. Das Dorf heißt Thurmos, sagte Jason. Er legte den Kopf schief und sah mich von der Seite aus an. „Ihr kommt also tatsächlich aus einer anderen Welt …

    „Sieht so aus … Ich nickte und strich mir eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Was ist mit dem Buch? Was hat es damit auf sich? Und warum bin ich hier?

    Vielleicht wusste einer der beiden, was hier vor sich ging.

    „Das magische Buch ist vor vielen Jahren aus Galatan verschwunden. Damals brach die dunkle Zeit über unser Volk herein, erzählte John. „Dieses Buch ist mächtiger als alles und jeder hier in diesem Land. Aber wie kann es sein, dass das Buch in deine Welt kam? Und vor allem: Wo ist es jetzt?

    „Vermutlich immer noch bei mir zu Hause …", entgegnete ich.

    Konnte ich ihm trauen? Vielleicht wollte er das Buch ja für sich selbst haben? Aber irgendwie spürte ich, dass das nicht so war. Außerdem würden ihm meine Informationen kaum etwas nützen. Schließlich hatte ich das Buch ja selbst nicht mehr.

    „Wer weiß, vielleicht ist Euer Buch ja auch gar nicht das magische Buch von Galatan, fügte Jason hinzu. „Aber lasst uns weiterreiten. Es wird bald dunkel und der Weg nach Riaston ist noch weit.

    Und dann saß ich wieder vor Jason im Sattel. Auf einmal war ich schrecklich müde. Sogar zu müde, um zu fragen, wohin wir eigentlich ritten. Die weichen, wiegenden Schritte von Jasons brauner Stute trugen auch nicht gerade dazu bei, mich wach zu halten. Und irgendwann musste ich wohl eingeschlafen sein.

    4

    Es war stockfinster, als ich aufwachte. Mir stieg der Geruch von Pferdeschweiß und feuchtem Moos in die Nase. Im ersten Moment hatte ich keine Ahnung, wo ich überhaupt war – bis mir alles wieder einfiel: die Aufregung vor Daddys Heiratsantrag, unser Dachboden, die Adoptionspapiere, das Buch und dann der Dorfmarkt von Thurmos und die merkwürdige Flucht hierher. Benommen richtete ich mich auf.

    Ich saß vor Jason im Sattel. Es regnete leicht. Kein prasselnder Regen, sondern ein feiner Sprühregen, von dem ich ganz durchnässt war, sofern ich das nicht nach meinem Sturz in den Bach sowieso schon gewesen war. Nur am Oberkörper, wo Jason seinen Wollmantel um mich gewickelt hatte, war ich halbwegs trocken geblieben. Meine Finger und Zehen waren klamm vor Kälte, die Beine wundgescheuert vom Sattelleder. Wie lange wir wohl geritten waren? Keine Ahnung. Ich hatte jedes Gefühl für Zeit verloren.

    Ich hatte von Daddy geträumt. Von seinem runden, fröhlichen Gesicht und dem liebevollen Blick, wenn er mich anschaute. Und von Evi mit ihrem frechen Funkeln in den dunklen Augen. Sie fehlten mir beide so sehr. Aber dann gewann die Wut in mir wieder die Oberhand. Wie hatte Daddy mir das nur all die Jahre über verheimlichen können? Er hatte mich belogen. Dieser Vertrauensbruch war noch viel, viel schlimmer als die Tatsache, dass er eigentlich gar nicht mein Vater war. Und trotzdem fehlte er mir so sehr. Ich schüttelte energisch den Kopf, als könnte man so seine Erinnerungen einfach aus den Gedanken verbannen, und schaute mich um. Der schmale Waldweg vor uns war kaum noch erkennbar und selbst das Mondlicht wurde vollkommen von den Wolken verschluckt.

    Kurz darauf war der Ritt hinter einer Wegbiegung plötzlich zu Ende. Wir durchquerten ein Tor in einem Palisadenzaun und hielten vor einer kleinen Ansammlung von Holzhütten. Wie viele es waren, konnte ich in der Dunkelheit nicht erkennen.

    Als ich aus dem Sattel glitt, wäre ich fast auf dem aufgeweichten, matschigen Boden ausgerutscht. Mein dünnes Leinenkleid schützte kaum vor der Kälte und ich merkte zum ersten Mal, dass ich mit den Zähnen klapperte.

    „Mädel, komm! Du holst dir noch den Tod!" John legte den Arm um meine Schulter und dirigierte mich zu einer der Hütten. Jason nahm die Zügel der Pferde und zog sie in eine kleine Scheune, die wohl der Pferdestall sein sollte. Im Augenwinkel erkannte ich neben dem Verschlag ein Mädchen, das sich unter dem Dachvorsprung an die Bretterwand drückte und uns offenbar beobachtet hatte. Als ich näher hinsah, drehte sie sich um und rannte in die Dunkelheit davon.

    John öffnete mit lautem Quietschen die Tür. Sie war so niedrig, dass ich mich beim Hindurchgehen bücken musste und dabei war ich nicht besonders groß. Drinnen brannte ein Feuer im Kamin. Ein rothaariges Mädchen legte ein paar Holzscheite nach und wischte sich dann die Hände an ihrer Schürze ab. Sie hatte die Haare zu einem Bauernzopf geflochten, aus dem einzelne Strähnen bereits anfingen, sich herauszulösen. Argwöhnisch blickte sie mir entgegen.

    „Lia, das ist Sophie. Sophie, das ist Lia. Sie ist mein Patenkind und kümmert sich hier um den Haushalt." Ich streckte ihr die Hand entgegen und Lia beeilte sich, ein freundliches Gesicht zu machen. In ihren Augen las ich die Frage, wer ich wohl sei. Doch das war nicht in einem Satz zu erklären.

    „Lia, ist noch Suppe da?", fragte John.

    Lia nickte. „Ja, sie ist sogar noch warm." Sie stellte uns zwei Teller voll auf den Tisch, der in der Mitte der Stube stand und aus schwerem, dunklem Holz gefertigt war. Dann wickelte sie sich in ihr gestricktes Schultertuch und verließ die Stube. John setzte sich auf einen Stuhl an der Stirnseite des Tisches, schenkte mir und sich selbst einen Becher voll Tee ein und begann zu essen. Ich war ebenfalls hungrig. Trotzdem ging ich zuerst zum Kamin und hielt meine klammen Finger über das Feuer, bis die Haut zu prickeln anfing.

    „Mädel, iss doch was! Wärmer wird die Suppe nicht!" Ich nickte und nahm neben ihm Platz. Viel lieber allerdings wäre ich an dem prasselnden Kaminfeuer stehen geblieben. Sogar mein Hunger von vorhin war verflogen. Jason kam herein und setzte sich zu uns an den Tisch. Lia, die ihm gefolgt war, beeilte sich, ihm einen Teller heiße Suppe zu bringen, bevor sie neben ihm Platz nahm und ihm einen anhimmelnden Blick zuwarf.

    John hatte sein Mahl beendet und schob den Teller von sich. Ich hatte nur wenig von der Suppe gegessen, denn sie schmeckte so ziemlich nach gar nichts und hatte ohnehin mehr Ähnlichkeit mit einem grauen Brei. Stattdessen wärmte ich mir nun die Finger an dem heißen Teller.

    „Wo bin ich hier eigentlich?", fragte ich John.

    „In Riaston, unserem Dorf", erwiderte er.

    „Oder im Lager der Rebellen, wie die Evianer sagen", warf Jason ein.

    „Wer sind die Evianer?"

    „Du hast sie heute kennengelernt, als sie den Markt von Thurmos gestürmt haben. Zwischen den Völkern von Evia und Ardania herrscht schon lange Krieg. König Doron von Evia hat einen Großteil von Ardania unterworfen. Doch ein Teil von uns setzt sich ihm immer noch zur Wehr, wenn auch leider nur ein kleiner Teil, fügte John erklärend hinzu. „Wir kämpfen dafür, unser Land und unsere Rechte wiederzubekommen. Aus diesem Grund werden wir von den Evianern verfolgt. Wir leben in diesem Teil von Ardania, weil die Evianer kaum je hierherkommen. Sie interessieren sich nicht für das Gebiet hier. Der Boden ist zu wenig fruchtbar, die Ernten schlecht. Aber das heißt auch, dass das Land für uns oft nicht genug zum Leben abwirft.

    „Deshalb organisieren wir ab und zu etwas in Evia", grinste Jason und meinte damit offensichtlich stehlen.

    John verschränkte die Arme auf dem Tisch und beugte sich zu mir. „Aber nun zu dir, Mädchen. Nun erzähl du nochmal von vorn …"

    Und dann erzählte ich nochmal von vorn. Die ganze merkwürdige Geschichte. Wo ich herkam, wer ich war, jedes Detail, an das ich mich erinnerte. Nur eines verschwieg ich: die Sache mit den Adoptionspapieren. Es tat zu weh.

    Und vielleicht war es auch nicht wichtig. Zumindest nicht hier. Während ich redete, kam mir alles noch seltsamer vor als am Anfang.

    John und Jason hörten aufmerksam zu. Ich hatte erwartet, dass sie mir nicht glauben und mich als eine Verrückte abtun würden. Aber das Gegenteil war der Fall. Wenn man in einem Land lebte, in dem es unsichtbare Brücken gab, dann fiel es vielleicht leichter, an ein magisches Buch zu glauben und an Menschen, die plötzlich aus dem Nichts auftauchten. Einzig Lia, die sich bei Jason eingehängt hatte, warf mir argwöhnische Blicke zu, wenn sie glaubte, ich merkte es nicht. Irgendwie erinnerte sie mich an einen Hund, der seinen Knochen bewachte. Sie war nicht sonderlich intelligent – das merkte man, auch wenn man sie kaum näher kannte. Sonst hätte sie auch ihre Gefühle besser verborgen.

    Ich wandte mich John zu. „Glaubt Ihr, das Buch hat mich hierhergebracht? „Wenn es das magische Buch von Galatan ist, dann halte ich das durchaus für möglich …, antwortete John und sah mich ernst an.

    „Und was mache ich jetzt?", fragte ich, wobei ich mehr zu mir selbst sprach als zu den anderen. Offenbar war das Buch die einzige Möglichkeit, wieder nach Hause zu kommen. Denn auch wenn all das, was bisher geschehen war, die Grenzen des Glaubhaften überstieg – das war kein Traum, keine Fantasie. Diese Menschen hier waren real. Ihre Geschichte war real. So real wie das Flackern der Kerze vor mir auf dem Tisch und das Wachs, das über den Kerzenständer auf den schweren Eichentisch tropfte.

    „Wie sah das Buch aus, von dem Ihr gesprochen habt?", fragte Jason nachdenklich und lehnte sich in seinem Stuhl zurück, nur um sich im nächsten Moment gleich wieder aufzurichten.

    „Nun, der Einband war aus blauem Leder, schon ziemlich abgegriffen", antwortete ich. „Er war am Rand mit Ornamenten verziert. Und in der Mitte stand Galatan. Es war nicht besonders groß, aber ziemlich dick. Das Papier war rau und schwer. Und es war leer."

    „Wie? Was meint Ihr mit leer ?"

    „Die Seiten waren komplett unbeschrieben."

    Jason schüttelte nachdenklich den Kopf. „Dann kann es wohl nicht das gleiche Buch sein, von dem wir sprechen. Ich habe gehört, es soll voller magischer Sprüche sein."

    John verzog skeptisch das Gesicht und drehte den grauen Steingutbecher, aus dem er getrunken hatte, in seinen Händen hin und her. „Vielleicht hast du recht. Vielleicht aber auch nicht. Das heilige Buch von Galatan hat eine eigene Macht. Und es entscheidet selbst, wem es diese Macht offenbart. Vielleicht erscheinen die Seiten nur unbeschrieben für denjenigen, der sie nicht lesen soll … Außerdem wird über das Buch viel erzählt, von dem wir nicht wissen, ob es wahr ist."

    „Warum ist dieses Buch eigentlich so wichtig? Was hat es genau damit auf sich?", fragte ich.

    John hielt inne und holte tief Luft. „Das Buch ist eins mit dieser Welt. Und es ist ein magisches Buch. Es heißt, wer es besitzt, könne ganz Galatan beherrschen. Doch das Buch ist schon vor Jahren verschwunden. Bis jetzt weiß niemand, was damit passiert ist. Johns Stimme klang unheimlich in dem kleinen Raum. Die Flammen im Kamin warfen düstere Schatten an die Wand. Ich schaute zu Jason hinüber. Seine Augen waren dunkel und schauten ernst auf John, der weitererzählte. „Es ranken sich allerlei Sagen und Mythen um dieses Buch. Welche davon wahr sind, vermag ich nicht zu sagen. Aber die Menschen sagen, dass mit dem Verschwinden des Buches die finstere Zeit über Ardania hereinbrach. Denn das Buch war stets in der Hand der ardanischen Druiden. Und seit seinem Verschwinden haben die Ardaner der Herrschaft von Evia nichts mehr entgegenzusetzen.

    „Und warum führt Evia Krieg gegen Ardania?", hakte ich nach.

    John verzog das Gesicht, schien nach einer Erklärung zu suchen und keine zu finden. „Dieser Krieg dauert schon ewig an. Wie und warum er anfing, weiß ich gar nicht. Ich kann dir nur sagen, dass unsere Völker immer in Hass und Feindschaft zueinander gelebt haben. Nur ein paar Jahre lang hatten wir Frieden. Ich erinnere mich noch genau. Ich war damals noch ganz jung. König Dorons Vater war gerade gestorben und Doron an die Macht gekommen. Zunächst schien es wirklich, als würde endlich Ruhe in unser Land einkehren.

    Doron nahm sogar eine Ardanerin zur Frau, um den Frieden zwischen unseren Völkern zu besiegeln. Doch dann wurde seine Familie ermordet – ausgerechnet von einer Ardanerin …"

    „Von einer alten Frau, einer Verrückten, fiel Jason ihm ins Wort. „Sie hat ein Feuer gelegt …

    John machte ein ernstes Gesicht, schien wohl noch etwas sagen zu wollen und schwieg dann aber. Stattdessen nahm er die Teekanne, goss Tee in Jasons und seinen Becher und wollte auch den meinen nachfüllen. Doch ich lehnte ab. Der Tee schmeckte bitter und war zudem noch kalt. John nahm einen Schluck aus dem Steingutbecher, bevor er fortfuhr zu erzählen: „Der Tod seiner Familie hat Doron schwer getroffen. Nichts war seitdem wie es vorher war. Doron rächte sich an ganz Ardania. Er beschlagnahmte das Land der Ardaner und ließ ihnen offiziell sämtliche Bürgerrechte aberkennen. Immer wieder dringen evianische Soldaten in ardanische Dörfer ein, rauben, morden und plündern. Du hast es ja heute selbst erlebt."

    „Doron ist kein guter König, warf Jason ein. „Er lässt sich von seinem Hass leiten, nicht von seinem Verstand und seiner Vernunft. Sonst würde er nicht ein ganzes Volk dafür bezahlen lassen, was eine Einzelne verbrochen hat. „Nun gut. Diese Geschichte bringt dich aber auch nicht weiter, meinte John. „Wir sollten lieber überlegen, was wir tun könnten, um dir zu helfen. Wenn wir nur wüssten, wie das Buch in deine Welt gekommen ist! Dann hätten wir zumindest einen Anhaltspunkt!

    „Vielleicht hat ja jemand aus ihrer Familie das Buch gestohlen und es aus Galatan fortgebracht, warf Lia ein. „Ihre Eltern zum Beispiel.

    Damit hatte sie einen wunden Punkt getroffen. Ich warf ihr einen Blick zu, der alles verriet, was ich über sie dachte. Aber sie ließ sich erst verunsichern, als John tadelnd meinte: „So etwas solltest du nicht

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