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GUSTAV RENE HOCKE

Die Well
als .Labyrinth ^
Manierismus ^H|^
in der europäischen Kunst
und Literatur

R O W O H L T
D
as Jahrhundert de«, Manie
rismus, jene Periode der
Kunstgeschichte zw lachen
1550 und 1650, die von der Renais-
sance zum Barock überleitet, v\ urde
lange Zeit weniger wegen seine«,
eigenen Stils als wegen der hoch
gezüchteten künstlerischen V ir-
tuosität beachtet. Man sc hätztc den
raffinierten Eklektizismus dieser
Zeit, man sah die stilistist heu
Anleihen aus dem Kormenarsenal
der Geschichte, aus der antiken und
christlichen Tradition. Man staunte
immer wieder über die Vus^efallen
heit der Themenwahl. Einen über
raschenden Aufschluß über «las
Menschenbild und das problema
tische Weltverhältnis dieser Zeil
brachten die grollen kirnst- und lite-
raturhistorischen Werke von
Gustav Rene Hocke «Die Welt als
Labyrinth - Manier und Manie in
der europäischen Kunst» (1957) und
«Manierismus in der Literatur»
(1959). Sie werden hier in einem
sorgfältig ausgestatteten Band neu
vorgelegt. Das ungemein spannend
verfaßte, niemals fachsimpelnde
Werk setzt Mallstabe: Eine Kulle
unbekannten dokumentarischen
Materials zeigt die geistigen Grund
lagen jener Epoche und ihn* philo
sophischen Voraussetzungen. Auf
diesem Boden entstanden die zuvor
in der europäischen Kunst mibe
kannten ästhetischen Leitgedan-
ken, die eben das ausmachen, v\ ,is
w i r heute «manicristiseh* nennen.
Mit Hockes Buch gewann jener Stil
literatur- und kunsthistorisch ganz
eigene Konturen, er wurde faß-
barer, deutlicher abgegrenzt und
bestimmbar als europäische Stil
erscheinung. Hocke setzt die Eigen
arten im Denken der maniensti
sehen Epoche in Beziehung zur gei
stigen Struktur der Gegenwart, was
GUSTAV R E N E HOCKE

Die Welt
als Labyrinth
Manierismus
in der europäischen Kunst
und Literatur

Durchgesehene u n d erweiterte Ausgabe


herausgegeben von Curt Grützmacher

Rowohlt
Einmalige Sonderausgabe August 1991

Dürr besehene und erweiterte Neuausgabe der erstmals in der Reihe


<rowohlts deutsche enzyklopädie> erschienenen Bände
(Die Welt als Labyrinth) (1957; rde 50/51) und
(Manierismus in der Literatur> (1959; rde 82/83)
Copyright© 1957 und 1959 by Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg
Neuausgabe Copyright © 1987 by Rowohlt Verlag GmbH,
Reinbek bei Hamburg
Alle Rechte vorbehalten
Redaktion Burghard König
Layout Edith Lackmann
Einbandgestaltung Manfred Manke
(Abbildungvon Giorgio de Chirico:
Bildnis Guillaume Apollinaire, 1914;
© VGBild-Kunst, Bonn/SIAE, Rom, 1987)
Säte aus der Walbaum (Linotron 202)
von Utesch Satztechnik GmbH, Hamburg
Druck und BindungPassavia Druckerei GmbH, Passau
ISBN 3 498 091840

!
ÜBERBLICK

Zu dieser Ausgabe 6

Erstes Buch:
Manier und Manie in der
europäischen Kunst
Inhalt 9

Zweites Buch:
Manierismus in der Literatur
Inhalt 267

Nachwort 533
Über Gustav Rene Hocke 542
Bibliographische Ergänzungen 545
Personen- und Sachregister 547
Zu DIESER AUSGABE

Die vorliegende Ausgabe folgt, mit wenigen geringfügigen Ände-


rungen, dem Text der Erstausgaben, die, herausgegeben von Er-
nesto Grassi unter den Titeln <Die Welt als Labyrinth - Manier und
Manie in der europäischen Kunst) (1957) und <Manierismus in der
Literatur - Sprach-Alchimie und esoterische Kombinationskunst>
(1959), in der Reihe <rowohlts deutsche enzyklopädie> als Band 50/
51 und Band 82/83 erschienen sind. Um der leichteren Lesbarkeit
willen wurde der umfangreiche Fußnotenapparat stark reduziert,
d. h. bloße Textverweise und Seitenangaben in häufig k a u m zu-
gänglichen Werken wurden gestrichen, da die Titel ohnehin in den
Literaturhinweisen in der Reihenfolge der Zitation genannt wer-
den. Solche Fußnoten jedoch, die weiterführende Hinweise oder
interpretierende Bemerkungen enthalten, wurden übernommen;
sie stehen jetzt in den Marginalien. Eine weiterführende Bibliogra-
phie, die die inzwischen erschienenen wichtigsten Werke zum Pro-
blemkreis chronologisch aufführt, ist als Zusatz des Herausgebers
am Schluß angefügt. Der Bilderteil, der im Unterschied zu der Ta-
schenbuchausgabe jetzt im Text erscheint, wurde etwas reduziert,
teils aus technischen Gründen; an Stelle mancher Abbildungen
wurden sprechendere Beispiele in besserer Qualität gewählt. Dies
gilt besonders für die Farbtafeln. Der Literaturteil (Zweites Buch),
der ursprünglich ohne Bildmaterial erschien, wurde jetzt erstmals
für diese Ausgabe mit entsprechenden Illustrationen angereichert.
Der Entschluß, beide Werke in einer Ausgabe zu vereinen und
durchgängig mit Abbildungen zu versehen, ergab sich aus der The-
matik. Damit hat der heutige Leser die Gebiete der bildenden
Künste und der Literatur im Bannkreis des Manierismus geschlos-
sen vor sich. Und wir sind sicher, daß dies im Sinne des Autors ist.

Berlin, im Dezember 1986 Curt Grützmacher


ERSTES BUCH

Manier und Manie


in der
europäischen Kunst
von 1520 bis 1650
u n d in der G e g e n w a r t
<Keine Realität ist wesentlicher für unsere Selbstvergewisserung als die
Geschichte. Sie zeigt uns den weitesten Horizont der Menschheit, bringt
uns die unser Leben begründenden Gehalte der Überlieferung, zeigt uns
die Maßstäbe für das Gegenwärtige, befreit uns aus der bewußtlosen Ge-
bundenheit an das eigene Zeitalter, lehrt uns den Menschen in seinen
höchsten Möglichkeiten und in seinen unvergänglichen Schöpfungen se-
hen. - Unsere Muße können wir nicht besser verwenden, als mit den
Herrlichkeiten der Vergangenheit vertraut zu werden und vertraut zu
bleiben und das Unheil zu sehen, in dem alles zugrunde ging. Was wir
gegenwärtig erfahren, verstehen wir besser im Spiegel der Geschichte.
Was die Geschichte überliefert, wird uns lebendig aus unserem eigenen
Zeitalter. Unser Leben geht voran in der wechselseitigen Erhellung von
Vergangenheit und Gegenwart.) RarlJaspers

Zu danken haben wir für Ermunterung zu dieser Arbeit, außer dem un-
vergeßlichen Lehrer Ernst Robert Curtius, den römischen Freunden
Guido und Marie Luise von Kaschnitz, Hermann und Toni Resten, Edo-
ardo und Vera Cacciatore, Ingeborg Bachmann, Prof. Engelbert Kirsch-
baum; sodann dem Mitherausgeber der Zeitschrift <Merkur>, Joachim
Moras, München, und dem Herausgeber von <rowohlts deutscher enzy-
klopädie>, Prof. Dr. Ernesto Grassi, München, sowie Prof. Franziskus
Graf von Wolff-Metternich, Rom, Dr. Ludwig Schudt, Rom, Dr. Helly
Hohenemser. Rom, und Dr. Karl Troost, Köln. Für Photosammlung und
Manuskript stand mir meine Frau unermüdlich zur Seite. Zu danken
habe ich ferner der kunsthistorischen <Bibliotheca Hertziana>, der d e u t -
schen Bibliothek), dem Tstituto per gli Studi Germanica (Villa Sciarrä)
und dem Keats-Institut (alle in Rom) für Rat und Tat bei der Beschaffung
von Literatur, sowie schließlich den vielen anderen Freunden, die mir in
Gesprächen und Briefen Mut gemacht haben, das <Labvrinth> zu betre-
ten, und die mir durch manche Zeichen halfen, seinen Ausgang zu fin-
den. G. R. H.
INHALT
Erstes Buch

E i n f ü h r u n g in d e n P r o b l e m k r e i s *3

Vorwort 15 ERSTER TEIL:


Zauber des Spiegels ] 5 - Ein europäisches Phänomen 1 6 - IM Z E I C H E N
Die Ahnenschaft des Revolutionären ig - Neues Sehen 23 SATURNS

1. Die erste E r s c h ü t t e r u n g 26
Saturnische Melancholie 26 - Renaissance: auch Geburt
eines Neuen 2g

2. A n m u t u n d G e h e i m n i s 54
Welt im Schweben 34 - Problematische Naturen 40

3. S e r p e n t i n a t a — konvulsivisch 42
Die Raum-Ding-Relativität 42 - Die <Deformationen> Rossos
44 - Mit den Augen von heute 45 - Kontraste und
Paradoxien 46 - Die geistige Wende in Florenz 51

4. <Idea> u n d m a g i s c h e N a t u r 55
<Deus in terris> oder Ohnmacht des Menschen 53 -
Ruheloses Wandern in den Wundern der Welt 54 -
Hieroglyphen der Welt 57 - Magia naturalis 5g - Die <Idea>-
Lehre 61 - Die Vergöttlichung des Subjekts 62

5. C o n c e t t i s m u s 63
Zuccaris Kunsttheorie 63 - Der extreme Ausdruck der
Phantasie 67 - Idea-Lehre = Ästhetik der Moderne 68

6. U n t e r g a n g s v i s i o n e n 7i
Bewußtwerden einer epochalen Krise 71
Zw KI IKH T E I L : 7. S c h ö n h e i t u n d G r a u e n
77
D i l Wh LT ALS Zwischen Tod und Feuer 77 Sehnsucht nach dem
WUNUERKAMMER verlorenen Paradies 79

8. A n g s t u n d N e u g i e r 82
Tod = obstrakte Schönheit) 82 - D e r Tod bildet eine <Geheim-
gesellschafb 87

9. Die E n g e l s b u r g 89
Aufgang der Neuzeit 89 - <Objet surrealiste> der G e s c h i c h t e
go - Irreale Phantastik 92 - Grotesken g 3 - Monstrosität
und Gesuchtheit 95 - <Zauberstücke> 97

1 0 . U h r als A u g e d e r Z e i t 100

Manieristische Kunstgriffe 100 - M e r a v i g l i a - U h r e n 102 -


<Gestundete Zeit> 105

11. Künstliche N a t u r 107


Der (Heilige Wald> von Bomarzo 107 - M o n s t r e n 112 - D e r
Schlaf der Vernunft 114

12. S e l t s a m e M y t h e n 11t

Urbild Laokoon 116 - Das Trojanische Pferd 120 - M y t h o s


des Irregulären 122

DRITTER TEIL: 1 3 . D i e W e l t als L a b y r i n t h 125


AüFBRl CH DER Landkarten des Mysteriums 125 - U m w e g e f ü h r e n zum
MASCHINENWELT Mittelpunkt 128

14. A b s t r a k t e M e t a p h o r i k 132
Zeichen für unirdisches Sein 132 Sein u n d Sosein ist zweier-
lei 135 - Fragmentarismus 136

15. K u b i s t i s c h e Vor- u n d Nachfahren 138

Netze geometrischer Formen 138 - E x p e r i m e n t a l l m ä h l i c h


Selbstzweck 138 - Luca C a m b i a s o 140 - Bracellis R o b o t e r
143

16. Bilder-Maschinen 147


Instrumente des extrem Künstlichen 147 - <Das Antlitz des
Menschen entstellen> 149

1 7. K o n s t r u k t i v i s m u s e i n s t u n d j e t z t L
54
Die Kunst des Auswechslerischen 154 - <Anamorphose> als
Mode 156 - Grenzen des Verstandes 161

18. K r e i s o d e r E l l i p s e 166
Über manieristische <Ordnung> 166 - M a n i e r u n d M a n i e
168 - Das mythische Ei 171 - N u l l p u n k t - S i t u a t i o n im
Übergang? 174
19. D a s R u d o l f i n i s c h e P r a g 179 VIERTER TEIL:
Der P r o b l e m a t i k e r auf d e m Kaiserthron 1 79 - Macht und TRAUMSTÄDTE
A n t i - M a c h t 182 EUROPAS

20. Arcimboldi u n d die A r c i m b o l d e s k e n 184


Der <seltsame> Reichsgraf 184 - Uneinigkeit des Einigen
190 - Allegorische M e t a p h o r i k i g 2

2 1 . A n t h r o p o m o r p h e L a n d s c h a f t u n d D o p p e l g e s i c h t 193
Die u m g e k e h r t e Welt 193 - J a n u s u n d die <Doppelgänger>
196

22. Die Welt des T r a u m e s 199


Neue W a n d l u n g der <Idea> 199 - Desiderio M o n s ü s
Geheimnis 201 - Der <Andrang> des U n b e w u ß t e n 205

23. Zierseuche 207

Kosmopolitismus 207 - Epilepsie des Formsinns 208

24. Wahnsinn 211

Agonie i m E x t r e m i s m u s 211 - Die <paranoische> Ästhetik


u n d ihre Folgen 212 - Das <atomare> Gleichnis 215

25. Pansexualismus 219 FÜNFTER TEIL:


<Terribile> u n d <Suave> 219 - <Höllisches Paradies> 222 - E R O S VERSUS
Mystik u n d Erotik 223 SEXUS

26. Inversion u n d Deformation 226


<Erfüllung> in der eigenen <Vorstellungskraft> 226 -
E p h e b e n u n d Lesbos 228

27. E i n h ö r n e r , L e d a u n d Narziß 230


Deformierte M y t h e n 230 - Das Phallus-Symbol 231 -
D e m a s k i e r u n g 234 - Sexuelle E i n - s a m k e i t 236 - Das
P r o b l e m des <Alles-Sagens> 239

28. H e r m a p h r o d i t e n 240
D a s Zweigeschlechter-Wesen 240 - Der künstlerische
Sexus> 243

29. M a n i e r i s m u s u n d Manieriertheit 245


<Verbergung> in der <Lichtung> 245 - E r s t a r r u n g u n d
Auflösung 247 - D a s <eiserne Netz> 249 - M a n i e r u n d Stil
250

30. M e t a p h e r n Gottes 252


D a s Absolute in <zweifacher> Weise 252 - Gott als W e s e n
oder W i r k e n 254 - D e r ästhetische Urstreit 254 - Klassik
u n d M a n i e r i s m u s 256

Nachwort 258
P r o b l e m e der Kritik 258 - Integration? 259

Literaturhinweise 261
EINFÜHRUNG
IN D E N P R O B L E M K R E I S

Am Aufgang der Neuzeit, zwischen 1520 und 1650, vom Tode


Raffaels bis zu Pascals <Vision> findet man das Wort <modern> zum
ersten Mal bewußt angewandt. Gleichzeitig entwickelte sich, von
Florenz ausgehend und mit der Malweise Pontormos beginnend,
der sogenannte <manieristische> Stil in Kunst, Literatur und Mu-
sik, in Philosophie und Theologie, in gesellschaftlichen Konventio-
nen und <subjektiven>, <avantgardistischen> Lebensgewohnheiten.
In dieser Zeit haben Manieristen von hohem Rang wie Parmi-
gianino, Rosso Fiorentino, Bronzino, der ältere Michelangelo,
Tintoretto, Arcimboldi, Greco und Monsü in der Kunst sowie
Castiglione, Göngora, Marino, der mittlere Shakespeare, Donne,
Crashaw und die <Preziösen> Frankreichs in der Literatur die ent-
scheidenden Voraussetzungen für eine <subjektive> Kunst ge-
schaffen, die mehr von der <Idee> im Sinne ästhetisch säkularisier-
ter Lehren Piatons ausging als von der <objektiven> Natur.
Es handelt sich um bewußt antiklassische Ausdrucksformen,
welche die Grundlage für einen phasenhaft immer wieder auftre-
tenden <Manierismus> bilden, so etwa auch in der zeitgenössischen
<modernen> Kunst, Literatur, Musik und Philosophie Europas. Die
wichtigsten damaligen Theoretiker, deren maßgebende Werke
mehr oder weniger verborgen bis auf unsere Tage nachwirken,
sind Gracian, Tesauro und F. Zuccari. Dieser Stil, der sich zu-
nächst von der Spätrenaissance bis in die Barockzeit in vielfältiger
Weise äußerte, wird - was die Literatur angeht - Concettismus,
Kultismus, Konzeptualismus, Euphuismus, Gongorismus, Mari-
nismus oder Preziosität genannt.
Alle haben zumindest eins gemeinsam: sie sind Ausdruck einer
entscheidenden geistigen Wandlung in der Neuzeit. Die <Renais-
sance> bedeutet nicht nur Wiedergeburt—der klassischen Antike —,
sondern auch Geburt eines Neuen, wobei allerdings ebenfalls auf
antike Überlieferungen zurückgegriffen wird, auf Vorbilder und
Stoffe, jedoch nicht auf die <klassische>, sondern auf die <manieri-
stische> Antike, auf die ionische Zeit, auf Alexandrien, auf die Epo-
che Hadrians. Nimmt man den Manierismus, der ursprünglich im
nur tadelnden Sinne gebraucht wurde, als Oberbegriff für den
< subjektiven), antiklassischen Stil, so stellt er sich - w i e der Ober-
begriff Klassik - als eine europäische Konstante> dar, im Sinne der
Forschungsergebnisse von E. R. Curtius, von Max Dvorak, von
E. Panofsky und der Motivforschungen des Warburg-Instituts. Es
gilt dies jedoch nicht nur für die entsprechenden künstlerischen und
dichterischen Manifestationen der wichtigsten fünf <manieristi-
schen> Epochen Europas: Alexandrien (etwa 350-150 v. Chr.), die
<Silberne Latinitäb in Rom (etwa 14—138), das späte Mittelalter,
die <bewußte> manieristische Epoche von 1520 bis 1650, die Ro-
mantik, speziell die romanische von 1800 bis 1830, und schließlich
die unmittelbar hinter uns liegende, aber noch stark nachwirkende
Epoche von 1880 bis 1950.
Wenn man nämlich den Regriff Manierismus auch zur Kenn-
zeichnung einer bestimmten Ausdrucksgebärde der Menschheit
verwendet, so wird er zu einem geeigneten Mittel, um ein bestimm-
tes problematisches) Verhältnis zur Welt zu kennzeichnen, um die
entsprechende Ausdrucksgebärde des aus mannigfachen psycho-
logischen und soziologischen Gründen problematischen Men-
schen) zu deuten. <Manierismus> bezeichnet somit das spezifische
ästhetische Verhalten eines bestimmten Menschentypus in der Ge-
schichte und gegenüber der Wirklichkeit jeder Art.
Konfrontiert man nun den <Manierismus> von damals mit dem
zeitgenössischen, so wird demgemäß eine Konstante des europäi-
schen Geistes sichtbar, auch in Rebellion oder Weltflucht, in Welt-
anklage und Weltangst, in Deformation, Konstruktion, in Expres-
sionismus, Surrealismus und Abstraktion. Diese manieristische
Konstante ist — bis heute — genauso umstritten geblieben wie die
maniera florentinischer Maler um 1550. Erst mit dem Aufkommen
der <modernen> Kunst, etwa ab 1910, verliert der Regriff Manieris-
mus immer mehr seinen polemischen Akzent. Schon Dvorak
stellte fest, es habe der Manierismus <eine konstitutive Redeutung
für die ganze Neuzeit>, und Rriganti bezeichnete den Manierismus
als einen selbständigen neuen Stil. Man kann also den Regriff Ma-
nierismus weiterhin in einem spezielleren Sinne für die Kunst zwi-
schen Spätrenaissance und Hochbarock anwenden, wird ihn aber
auch erweitern dürfen - im Sinne von Curtius — auf alle künstleri-
schen und literarischen Tendenzen Europas von der Antike bis
heute, <die der Klassik entgegengesetzt sind, mögen sie vorklas-
sisch oder nachklassisch oder mit irgendeiner Klassik gleichzeitig
sein>.
Führt man die Fülle der manieristischen Ausdrucksformen in
den verschiedenen Phasen phänomenologisch auf Grundmotive
zurück, so wird man allerdings feststellen, daß der Manierismus
nicht nur eine konstitutive Redeutung für die ganze Neuzeib hat.
Er ist in einer spezifischen und durchaus problematischen Weise
ein Medium für Absolutes, ein Mittel zur <Lichtung> des Seins, wie
die Klassik es auf ihre Weise ist. Die Klassik will das <Verborgene>
des Mysteriums in der <verständlichen>, nur <sublimierten> Natur
zur Darstellung, der Manierismus will das <Verborgene> in einer
<emblematischen>, in der <Idee> meist Reformiertem Natur zur
Wirkung bringen. Man hat es also in einem auch metaphysischen
Sinne mit zwei voneinander verschiedenen, aber in ontologischer
Beziehung jede auf ihre Art durchaus seinsbezogenen Urgebärden
der Menschheit zu tun. Beide sind - in jeweils andersartiger Weise
- auf das Abgründige bezogen. Der Klassiker steht Gott in seiner
Essenz, der Manierist Gott in seiner Existenz dar. Wenn es zwei
ästhetische Erscheinungsweisen des Absoluten gibt, so hängen sie
beide vom Absoluten ab; in beiden wirkt das Absolute.
Die Gefahr der Klassik ist die Erstarrung, diejenige des Manie-
rismus die Auflösung. Die gemeinsame Rezogenheit auf das Abso-
lute bietet die Möglichkeit zumindest einer fruchtbaren Annähe-
rung. Das seinsgewisse und das seinsungewisse Dasein stehen in
einem Zusammenhang. Klassik ohne Manierismus als Spannung
wird Klassizismus, Manierismus ohne Klassik als Widerstand wird
14 Manieriertheit.
ERSTER TEIL

7m Z e i c h e n
iSaturns

VORWORT

Zauber des Spiegels

D
er französische Dichter Paul Eluard, von allen europäi-
schen Surrealisten mit dem besten <inneren> Sehnerv aus-
gestattet, schließt sein Gedicht <Sterben> mit dem Dreizei-
ler: <Zwischen den Mauern lastet ganz der Schatten / Und ich
steige hinab in meinen Spiegel / Wie ein Toter in sein offenes
Grab.> Im Werk des Mitbegründers des Dadaismus, Tristan Tzara,
findet man den Vers: <Spiegel, Früchte derÄngste>, und der zeitge-
nössische amerikanische Lyriker E. E. Cummings berichtet in ei-
nem Gedicht <Impression>: <Im Spiegel / sehe ich einen zarten /
Mann / träumend Träume, Träume im Spiegel.) Nach Hermann
Bahr wollten Hofmannsthal, Rilke und George <die Welt im Spie-
gel sehen>. In der expressionistischen und surrealistischen Kunst
von heute wimmelt es von Spiegeln und Gespiegelten, von Spiege-
lungen und Zerr-Spiegeltheiten.
Spiegelmetaphern findet man seit der Antike in der Literatur oft.
Sie sind besonders beliebt im Hellenismus und im Mittelalter.
Nach der Hochrenaissance, im <Manierismus>, wird diese Meta-
pher fast zu einer Halluzination, wie Motive der Angst, des Todes,
der Zeit. Das gleiche gilt, wie G. F. Hartlaub in seinem Buch <Zau-
ber des Spiegels) nachgewiesen hat, für die Kunst. Wenn Plato die
Tätigkeit des Künstlers mit einem Abspiegeln der Dinge verglich,
so rief Leonardo in einem ganz anderen Sinne aus: <Der Spiegel ist
unser Lehrmeister.) Am Aufgang der Neuzeit wird der Spiegel ge-
radezu zu einem Symbol für die <Problematik> des <modernen>, des
nachmittelalterlichen Geistes. Modern? Das Wort wird ab 1520 in 15
einem sehr ähnlichen Sinne wie heute gebraucht. Vincenzo Gali-
lei, der Vater des großen Anregers zu einer empirischen Naturwis-
senschaft, schreibt 1581 einen <Dialog zwischen der antiken und
modernen Musik>. Rund sechzig Jahre später tadelt der italienische
Literat Lorenzo Stellato die <modernen> Übertreibungen in der
Poesie seiner Zeit.
siehe Farbabbildung 1 Der Spiegel wird nicht nur zur Bestätigung einer neu gewonne-
nen Subjektivität. Er gibt vielmehr die Möglichkeit einer Kombi-
nation von Spiegeln. Als Leonardo in Rom weilte, wollte er eine
achteckige Spiegelkammer bauen, ein optisches Labyrinth. Die
unendliche Spiegelung ist die Vorläuferin des abstrakten Laby-
rinths der totalen Irrealität. Zahllose Möglichkeiten finden sich,
Labyrinthe als Gegenpole alles <Durchschaubaren> aufzuzeich-
nen. In der neu gewonnenen Freiheit wird das <Wahrscheinliche>,
das unmittelbar Verständliche, im Sinne der aristotelischen Re-
geln, kein bindendes Kriterium mehr. Es gibt nicht nur zwei Wahr-
heiten (Fideismus), es gibt mehrere, ja zahllose (Pyrrhonismus),
und sie verlieren sich in der Undurchdringlichkeit des Labyrinths.
Im letzten Sinne <wahr> seiend, wird schließlich nur noch das sich
in seinem Denken spiegelnde Subjekt selbst (Descartes). Davon
wird später in einer konkreteren Weise die Rede sein. Lesen wir
vorerst noch einmal den Vers von Cummings: <träumend Träume,
Träume im Spiegeb, und wenden wir diesen Spiegel auf einen
<zarten Mann>, der 400 Jahre vorher gelebt hat. Wir haben zeitlich
am Ende begonnen, wir wollen von vorne anfangen... In Italien.
Dort und damals fing Europas <Moderne> an.

Ein europäisches Phänomen


siehe Farbabbildung 2 Francesco Mazzola aus Parma, genannt <I1 Parmigianino>, stellte
sich im Jahre 1523 vor einen Konvexspiegel und malte ein verblüf-
fendes Selbstporträt. Es geschah dies am Anfang einer neuen modi-
schen Stilgewohnheit, die den Namen Manierismus erhielt. Für die
Dauer von 150 Jahren sollte diese Pointenkunst das geistige und
gesellschaftliche Leben von Rom bis Amsterdam, von Madrid bis
Prag bestimmen. Das maskenhaft schöne JünglingsgesichtMazzo-
las ist glatt, undurchdringlich, rätselhaft; fast abstrakt wirkt es durch
die Aufgelöstheit der Flächen. In der perspektivischen Verzerrung
des Konvexspiegels wird der Vordergrund von einer riesigen, anato-
misch allerdings abstrusen Hand beherrscht. Der Raum dreht sich
in einer schwindelerregenden konvulsivischen Bewegung. Nur ein
schmaler, ebenfalls verzerrter Teil des Fensters wird sichtbar; er
bildet ein verbogenes langschenkliges Dreieck, und Licht und
Schatten scheinen seltsame Zeichen in ihm zu erzeugen, staunener-
regende Hieroglyphen. Das medaillonartige Bild stellt sich als Illu-
stration zu einer geistreichen Formel dar. Es ist, um mit einem
Begriff dieser Zeitzu sprechen, ein ingeniöses Concetto, eine scharf-
sinnige Pointenfigur, in optischer Form. Inhaltliche und formale
Bestimmungen enthält es, die man zwischen 1520 und 1650 in der
Kunst wie in der Literatur des damaligen Europa beachten mußte,
um modern zu sein. Einer der italienischen Theoretiker, Peregrini,
nannte in seinem Traktat über die Sinnfiguren (<Trattato delle acu-
tezze>, 163g) deren sieben: <das Unglaubliche, das Zweideutige, das
Gegensätzliche, die dunkle Metapher, die Anspielung, das Scharf-
sinnige, den Sophismus>. Das Bild ist nicht nur das Porträt des früh-
16 verstorbenen Parmigianino. Es weist über diese Epoche hinaus auf
den manieristischen Menschentypus, auf den geistvoll-melancholi-
schen Dandy, dessen ganzes Streben, nach Baudelaire, daraufge-
richtet sein müsse, <erhaben zu sein>, <vor einem Spiegel zu leben
und zu schlafen> (<Mein entblößtes Herz>). Die merkwürdige Ten-
denz von mehreren Generationen in diesem damals politisch so
chaotischen Zeitalter Europas enthüllt es: den Drang nach dem
Absonderlichen, nach dem Exklusiven, nach Extravaganz, nach
dem Verborgenen jenseits und innerhalb der physischen, <natürli-
chen> Wirklichkeit, auch nach gesellschaftlicher Absonderung,
nach aristokratischer Sonderstellung. Legitimiert wird sie durch
das <scharfsinnige> Talent, und dieses fühlt sich nicht mehr an einen
klassischen Kanon gebunden.
Dieser Menschentypus, der die Unmittelbarkeit scheut, die
Dunkelheit liebt, sinnliche Bildhaftigkeit nur in der verkleidenden
abstrusen Metapher gelten läßt, der das wunderlich (meraviglia)
Uberreale in das intellektuelle Zeichensystem einer äußerst stili-
sierten Sprache einzufangen sucht, ist weder historisch noch sozio-
logisch ein Sonderling und erst recht keine Originalfigur. Er tritt
im Zusammenhang mit einer problematisch gewordenen religiö-
sen und politischen Wertordnung in bestimmten Phasen der euro-
päischen Geistesgeschichte immer wieder auf, und zwar stets in-
nerhalb einer mehr oder weniger <alexandrinischen> Kultur, an
Höfen, in bürgerlichen Salons oder in den Konventikeln der Bo-
heme. Ernst Robert Curtius hat den Begriff Manierismus, mit wel-
chem im 16. Jahrhundert Vasari die künstlerische Ausdrucksweise
des späteren Michelangelo kennzeichnete (maniera) — weil sie von
der klassischen Harmonievorstellung abwich —, historisch erwei-
tert. In seinen (für die literarhistorische Manierismus-Forschung)
wegweisenden Untersuchungen (Kapitel <Manierismus> in seinem
Buch <Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter)) schlägt
Curtius vor, den Begriff Manierismus zu wählen <für alle literari-
schen Tendenzen, die der Klassik entgegengesetzt sind, mögen sie
vorklassisch oder nachklassisch oder mit irgendeiner Klassik
gleichzeitig sein>. In diesem Sinne sei <der Manierismus eine Kon-
stante der europäischen Literatur), <die Komplementär-Erschei-
nung zur Klassik aller Epochen). Seine Höhepunkte finde man in
der Spätantike, im Mittelalter, im 16. und 17. Jahrhundert. <Vieles
von dem, was wir als Manierismus bezeichnen, wird heute als ,Ba-
rock' gebucht. Mit diesem Wort ist aber so viel Verwirrung ange-
richtet worden, daß man es besser ausschaltet. Das Wort Manieris-
mus verdient auch deshalb den Vorzug, weil es, verglichen mit b a -
rock', nur ein Minimum von geschichtlichen Assoziationen ent-
hält.) Wie Benedetto Croce weist Curtius auch kurz auf Parallelen
im 20. Jahrhundert hin. Auch Eugenio d'Ors war in seinem Buch
über das Barock in formenkundlicher Hinsicht zu dem Ergebnis
gekommen, daß der <barocke> Stil sich, alternierend mit dem klas-
sischen) Stil, in der gesamten Geistesgeschichte nachweisen lasse.
Er unterscheidet - von der Vorzeit angefangen - 22 Barockarten. 1 1
Barocchus Pristinus - Archaicus —
Macedonicus — Aleiandrinus — Ro-
Wir stehen somit vor einem gefährlichen <embarras de richesse>. manus - Buddhicus — Pelagianus -
Es ist daher unumgänglich, sich schon in dieser Einführung um Gothicus — Franciscanus — Manueli-
nus (Portugal) - Orificensis (Spa-
klare Abgrenzungen zu bemühen. Nach neueren Untersuchungen nien) - I^ordicus (Nordeuropa) -
erscheint dies relativ einfach. Hier sollen zunächst jedoch nur ele- Palladianus (Italien. England) -Ru-
pestris - Maniera — Tridentinus, sive
mentare Strukturen aufgedeckt werden. In der späteren Darstel- Romanicus, sive Jesuiticus - Rococo
lung müßten sie dann durch die Analyse der einzelnen Phänomene (Frankreich. Osterreich) - Romanti-
cus - Finisaecularis - Posteabellieus -
reicher ausgebaut werden. Wir folgen also Curtius, wenn wir - an- Vulgaris - Ojficinalis.
statt der Bezeichnung <Barock> - den Begriff <Manierismus> wäh-
len für alle künstlerischen und literarischen Tendenzen, <die der
Klassik entgegengesetzt sind, mögen sie vorklassisch oder nach- 17
klassisch oder mit irgendeiner Klassik gleichzeitig sein>, wir ver-
zichten also auf die zeitliche Ausdehnung des Begriffs <Barock>
bzw. Manierismus im Sinne von Eugenio d'Ors. Wir können uns
auch nicht zur Unterscheidung von 22 Barock- bzw. Manierismus-
Epochen entscheiden, zumal Rubrifizierungen dieser Art ohnehin
dürftige kategoriale Hilfsmittel sind. Die Dialektik Klassik - Ma-
nierismus hat den Vorzug, Randfelder des Übergangs offenzulas-
sen, schließt also den zu engen Schematismus aus. Dennoch wird
man natürlich auf die Begriffe <Manierismus> und <Barock> im
zeitlich engeren Sinne nicht verzichten können. Sie haben sich jetzt
eingebürgert, und damit muß man sich abfinden. Hier ergeben
sich die größten Schwierigkeiten, aber auch sie lassen sich lösen.
Viel unnötige Polemik kann erspart werden, wenn man oberbe-
grifflich die dialektische Beziehung Klassik — Manierismus für die
ganze Kunst- und Literaturgeschichte gelten läßt, den Begriff Ma-
nierismus aber (vor allem in der Kunstgeschichte) im engeren
Sinne auch weiter anwendet auf die Zeit von der <Hochrenais-
sance> bis zum <Hochbarock>. Es wird sich erweisen, daß Wylie
Sypher mit seinen neuen Untersuchungen über Literatur und
Kunst zwischen 1400 und 1700 recht hat. In seinem Buch <Four
Stages of Renaissance Style> unterscheidet er Renaissance, Manie-
rismus, Barock und Spätbarock. Das ist nicht neu, aber Sypher
weist genau die Übergänge von der Renaissance zum Manierismus
und dessen Weiterwirken im <Frühbarock> nach. Dadurch wird es
vor allem möglich, den Manierismus zwischen Renaissance und
Barock viel schärfer vom Hochbarock zu unterscheiden als bisher.
Wir können also, auf Grund vergleichender kunst- und literaturge-
schichtlicher Untersuchungen, ebensogut den Manierismus des
16. und 17. Jahrhunderts wie den Hochbarock zwischen 1660 und
1750 gesondert für sich definieren und gleichzeitig den Begriff
Manierismus in seiner allgemeineren, vor allem in seiner psycho-
logisch und soziologisch vertieften Bedeutung, der Anregung E. R.
Curtius' entsprechend, auf die europäische Geistesgeschichte an-
wenden, mit der wir uns hier begnügen wollen und müssen.
Bei unseren Untersuchungen, deren Anfänge in der Lehrzeit bei
dem unvergeßlichen großen Kritiker und Gelehrten, in den Stu-
dienjahren bei Ernst Robert Curtius in Bonn liegen und die wäh-
rend eines nun schon mehr als zehnjährigen Aufenthalts in Italien
durch immer wiederholte Begegnung mit den unerschöpflichen
geistigen Schätzen dieses Landes, also auch der bildenden Kunst,
systematisch ergänzt wurden, stießen wir — und sicherlich nicht nur
wir —, zunächst in deutlicherer Abgrenzung innerhalb der antiklas-
sischen <Konstante> Europas, auf fünf <manieristische Epochen>:
Alexandrien (etwa 550-150 v. Chr.), die Zeit der <Silbernen Latini-
tät> in Rom (etwa 14-158 n.Chr.), das frühe, vor allem das späte
Mittelalter, die <bewußte> manieristische Epoche von 1520 bis
1650, die Romantik von 1800 bis 1850 und schließlich die unmit-
telbar hinter uns liegende, aber noch stark auf uns einwirkende
Epoche von 1880 bis 1950. Jede Manierismusform bleibt anfangs
noch <klassizistisch> gebunden, verstärkt dann ihre <Ausdrucks-
zwänge> (Gottfried Benn). Sie wird also <expressiv>, schließlich R e -
formierend), <surreal> und <abstrakt>. Gerade das wird in unserer
Darstellung zu belegen und zu erklären sein, nämlich am Beispiel
der manieristischen Epoche von 1520 bis 1650 in einer besonderen
Konfrontierung mit den Manierismen Europas in der Kunst und in
der Literatur von 1880 bis 1950. Die psychologische Vorausset-
zung <des Manierismus>, d.h. der manieristische Menschentypus,
soll dabei genauer beobachtet und beschrieben werden.
Die Ahnenschaft des
Revolutionären

Es wird in der vorliegenden Arbeit also versucht, nachdem E. R.


Curtius die Beziehung zwischen dem Manierismus in der lateini-
schen Literatur des Mittelalters und der antiken Rhetorik und auch
die Weiterwirkung rhetorischer Kunstformen auf den Manieris-
mus des 16. und 17. Jahrhunderts dargestellt hat, Stilmerkmale,
Ausdrucksformen und auch geistige Grundmotive dieser Epoche
näher zu charakterisieren; ferner soll die <Wahlverwandtschaft> in
der Kunst (bzw. im zweiten Ruch in der Literatur) ausführlicher
geschildert und belegt werden, die sich zwischen dem damaligen
Manierismus der Kunst bzw. der Literatur des 20. Jahrhunderts er-
gibt, obwohl den meisten Protagonisten des 20. Jahrhunderts eine
unmittelbare Beziehung dieser Art nicht oder nur wenig bewußt ist.
Eine ganze Epoche kann somit der List der Geschichte unterlie-
gen. Ihre eigengeartete Mitwirkung an der schöpferischen Konti-
nuität des europäischen Geistes wird dadurch nicht vermindert. Im
Gegenteil. Die Einbeziehung des Uberindividuellen, des anschei-
nend beziehungs- und geschichtslosen Geistes in den Strom der
Tradition verleiht dem umstritten Revolutionärem, dem epochal
<Einmaligen> Ahnenschaft und damit — nach Novalis — Adel und
Würde. Dieser Versuch geht von einer Differenzierung des Manie-
rismus in der Kunst aus. Erfahrung boten dafür europäische Aus-
stellungen, u.a. Wien (<Französische Phantastik>, 1946), Rom
(Monsü, 1950), Neapel (<Manierismus>, 1952), Nürnberg ^Auf-
gang der Neuzeit), 1952), Amsterdam (<De Triomf van het Manie-
rismen 1955), Rom (Arcimboldi, 1955) und Florenz (<Pontormo e
il primo Manierismo fiorentino>, 1956), ferner Einsichten aus zi-
tierter und noch zu erwähnender Literatur der letzten Jahre. Einen
entscheidenden Impuls erhielt dieser Essay jedoch durch literar-
historische Studien, aus denen sich ergab, daß die <outrierteste>
Dichtung der Gegenwart im <Manierismus> einen Ursprung hat,
und aus dem sich daraus ergebenden Schluß, daß sie eine — auch -
historische Legitimation, vor allem eine nicht von heute datierende
Sinnerfülltheit und Hintergründigkeit habe. Wie der literarische
<Concettismus> auf rhetorische Figuren der lateinischen Literatur
des Mittelalters zurückgreift, so der künstlerische Manierismus
auf die Gotik. Zeitgenössische Dichtung im anscheinend antitradi-
tionalistischen Gewand hat, wie <moderne> Kunst, einen europäi-
schen, also (um nur eines zu erwähnen) einen nicht nur primiti-
vem oder nur existentiellem Ursprung im Sinne einer pseudo-
schöpferischen action gratuite, einer Willkürhandlung. Ihre
Regungen, Restrebungen, ihre Anliegen und Experimente, Ur-
ansätze zu ihren Funden, sind weder historisch noch europäisch
< exterritorial).
Zwischen Spätrenaissance und Moderne gibt es eine Typenver-
wandtschaft, allerdings keine Identität des Individuellen, was
ohnehin eine paranoische Vorstellung wäre. Diese positive Ein-
schränkung gilt allerdings nur für <echte> Talente. Die Epigonen
einer persönlichen maniera wirken wie Lemuren auf den Bildern
Boschs. Über geistesgeschichtliche Filiationen im anscheinend
Ungewöhnlichen (des Ausdrucks) sagt Gottfried Benn, <daß sich
im Verlaufe einer Kulturperiode innere Lagen wiederholen, glei-
che Ausdruckszwänge wieder hervortreten, die eine Weile erlo-
schen warem. Über die bloßen Nachahmer schreibt er: <Gott er-
halte ihnen ihren Nachahmungstrieb.) 1g
Auch im Manierismus, das ist heute im Hinblick auf die Epoche
zwischen Spätrenaissance und Spätbarock inzwischen eindeutig
geworden, auch im Experiment, im schizothymen Ausdrucks-
wahn, in der Gespaltenheit, läßt sich das echte vom falschen Talent
unterscheiden, selbst dann also, wenn es sich um ein <Werk> han-
delt, das sich einer ästhetischen Kontrolle mit klassizistischen
Maßstäben entzieht. Es muß schließlich wiederholt werden, daß
schon die damalige manieristische Kunst als Ergebnis einer erre-
genden Synthese des europäischen Geistes zu betrachten ist. Man
kann mit philologischer Akribie nachweisen, aufs Jahr genau, wie
lateinischer Formsinn sich mit germanischen <Ausdruckszwän-
gen> z.B. im florentinischen Manierismus verbindet, in romanti-
scher Peregrinaliebe vermählt. Der Einfluß Dürers, Schongauers
und Boschs auf die toskanischen Frühmanieristen, die ihrerseits in
ganz Europa als Vorbilder empfunden werden, in Rom und Fon-
tainebleau, in Madrid und Prag, in Haarlem und München, ist
ebenso auffallend wie die bis vor kurzem so starken geistigen Ver-
flechtungen zwischen Paris, Rom, Berlin, München, Prag, London
und Amsterdam.
Parmigianino schuf das Antlitz des europäischen Manieristen,
und der kaum erkennbare Raum, der um ihn schwingt, ist sicher-
lich das: ein poetisches Labyrinth, wenn auch noch dasjenige
Gottes. Die Welt mit ihren gestörten politischen und ethischen
Ordnungen bildet keinen harmonischen Kosmos mehr. Sie ist eine
terribilitä (so nannte man Bilder Michelangelos), eine angstvolle
Beziehungslosigkeit, ein Schrecken, der sich nicht mehr mit den
Regeln der Klassik darstellen ließ, eine Verdrehung. Man wollte
das Schreckliche, Seltsame, das in Raum und Zeit Heimatlose ein-
fangen, um es zu bannen. In Florenz begann das Streben, durch
individuelle maniera diese Welt der zerstörten Ordnungen darzu-
stellen, hi der Malerei gehen dort Pontormo, Rosso und Beccafumi
den neuen Weg, in Rom die Brüder Taddeo und Federico Zuccari,
in England Nicolas Hilliard und Isaac Oliver, in Prag am Hofe Ru-
dolfs IL Giuseppe Arcimboldi, Bartholomäus Spranger und die
Brüder Jamnitzer, in Holland Karel van Mander, in Frankreich
Jean Coussin, in Deutschland Hans Reichle, um nur einige dieser
Künstler-Nomaden zu nennen; sie aber geben in den Hauptstädten
Europas mit staunenerregenden Kunstwerken Zeichen, Zeichen,
durch die man immer wieder wissen sollte, daß der <Cortegiano>,
der damalige Hofdandy, wie der <scharfsinnige) Geistige im An-
sturm der lebenshungrigen Masse in seinem verwickelten So-Sein
verharrt, daß er das unkomplizierte Da-Sein nobel verachtet.
Eine säkularisierte Rangordnung wird hergestellt: Geist (mente)
hat jeder, Talent (ingegno) besitzen wenige; über Genie (genio)
verfügen nur seltene Halbgötter. Der Edelmann Castiglione emp-
fiehlt: <Wenn die Worte, die ein Schriftsteller gebraucht, etwas ver-
borgenen Scharfsinn enthalten, so wird er mehr Autorität gewin-
nen. Der Leser wird über sich selbst hinausgeführt, er wird die
geistvolle Begabung und die Ideen des Autors viel mehr zu würdi-
gen wissen.> Hier handelt es sich also um eine Protokollregel für
den höfischen Dandyismus des 16. Jahrhunderts, und es wird da-
mit ein soziologischer Hintergrund für den literarischen Ge-
schmack sichtbar. Das Wort acutezza recondita (verborgener
Scharfsinn) wurde zur Zauberformel für diesen damaligen Manie-
rismus, der alles prägt: dieHof-<Manieren>, das Kunstgewerbe, die
Mode.
Wie sich zeitgenössische Stilisierungen und Abstraktionen im
20 Kunsthandwerk und im Werbestil ausbreiten, so drang auch da-
mals die neue <Revolution> in fast alle Lebensgebiete ein. Die klas-
sische Standardisierung galt als rückschrittlich. Sie bot dem indivi-
duellen Geschmack nicht genügend Raum. Vasen mußten ver-
dreht, Broschen aufgeblasen, Uhren schief sein. Gebrauchs- und
Schmuckgegenstände galten als schön, wenn sie kaum noch mit
der Natur vergleichbar waren. Am Mittelmeer wurde das umrißlos
Nordische Mode. Vasari berichtet, Pontormo habe seine Malweise
geändert, nachdem er Stiche von Dürer gesehen hatte. In den Ein-
leitungen zum Katalog der Ausstellung <Der Triumph des europäi-
schen Manierismus> im Rijksmuseum zu Amsterdam (1955)
belegt R. van Luttervelt die internationale Ausbreitung dieser
Modekrankheit und vergleicht den <Serpentinata-Stil> mit dem
Style Metro des 20. Jahrhunderts. Die Amsterdamer Ausstellung
hat übrigens, wie kaum ein ähnliches Ereignis in Europa seit 1920,
dazu gedient, die <Moderne> von ihrer vermeintlichen <Bezie-
hungslosigkeit> zu befreien. Gerade dort gewann man den Ein-
druck, daß diese tausendfältige Transponierung des Realen ins
Irreale mit intellektuellen Mitteln zu einem der charakteristischen
Merkmale des europäischen Geistes gehört. Auch die Kunst kün-
det von wiederholter Weltflucht, von stets erneuertem Bestreben,
das <Diesseitige>, sobald politisch und soziologisch eine babyloni-
sche Sprachverwirrung einsetzt, in eine akausale Traumwelt zu
versetzen, gleichzeitig aber auch — mitten in der politischen Auflö-
sung—einen neuen gemeineuropäischen <Stil> zu finden.
Man ist also auf die Darstellung eines Menschentypus und auf
die Analyse vielfältiger und häufig sehr reizvoller <Kulturdoku-
mente> angewiesen, wenn man das Zeitalter der maniera zu deuten
unternehmen will, um seine vielfach auch nur verborgene Bezie-
hung zur Gegenwart sichtbar werden zu lassen, dieses Zeitalters,
das auch in Shakespeare Spuren hinterlassen hat. Wie er, so wuchs
auch ein anderer geniopuro der Epoche darüber hinaus, Leonardo
da Vinci. Man wäre versucht, auch ihn, den Hermetiker, den uner-
gründlichen Magier, den rätselhaften Grübler, der die Sprache
und das Denken aus der Technik erneuert, als Manieristen zu be-
zeichnen. Leonardo, die Verkörperung des <Ingeniums>, die Valery
faszinierte, die höchste Form des scharfsinnigen Talents, das die
Theoretiker des Manierismus, wie Graciän, Peregrini und Te-
sauro, als <cherubinisch> preisen, er steht, weil er sich <universal>
verhielt, weil er vor dem Politischen, dem Ethischen, dem den-
kerisch Systematischen nicht zurückscheute, vor, über und hinter
der Epoche wie ein Riese. Parmigianinos Bild weist immer wie-
der auf den richtigen manieristischen Phänotypus, wenn es auch
seiner <Rätselhaftigkeit> wegen aus der Werkstatt Leonardos kom-
men könnte, dieses Bildnis, in welchem sich eine verdünnte Welt-
erfahrung, in allzu früher Jugend erlitten, in einer zu frühen Resi-
gnation spiegelt. Er, Parmigianino, findet, wie seine Brüder im
Stil, im Gegensatz zur vitalen Fülle Leonardos, den Schluß am An-
fang. Es hat hamletische Züge, das Bildnis des genialischen Jüng-
lings. Parmigianino starb, verzweifelt nach <magischen> Weltge-
heimnissen suchend, im Wahnsinn. Man empfand die Welt zwar
als poetisches Labyrinth Gottes, suchte aber nicht mehr nach dem
Eingang oder auch nur nach dem Ausgang. Man blieb im Unent-
wirrbaren stecken. An der Verlorenheit fand man Gefallen, und
mit dem <Wahnsinn> begannen andere zu spielen... auch damals.
Was ist ein wahrer Dichter, fragt der Humanist Conte e Cava-
liere di Gran Croce Don Emanuele Tesauro (1591-1667) in sei-
nem heute fast vergessenen Monumentalwerk mit dem zeitgerech-
ten preziösen Titel: <Das aristotelische Fernrohr oder die Idee der 21
scharfsinnigen Schreibweise... erläutert mit den Grundsätzen des
göttlichen Aristoteles> (erschienen zu Genua im Jahre 1654; bis
1682 acht Ausgaben). Das bereits zitierte Buch Peregrinis, dem
Manierismus gegenüber viel kritischer, erscheint 1639; Baltasar
Graciäns berühmtes Werk über den Concettismus: <Agudeza y
Arte de Ingenic» wurde 1642 veröffentlicht (Näheres darüber, um
Wiederholungen zu vermeiden, im Literaturband). Schon prolo-
gisch erklärt Tesauro, der scharfsinnig Begabte unterscheide sich
vom Plebejer. Er trenne, bevor er verbinde. Es sei daher geboten,
alles andere als einfach zu sein. Ein wahrer Dichter sei derjenige,
der fähig sei, entfernteste Zusammenhänge miteinander zu ver-
binden). Wir können auf diese literarischen Bezüge hier nicht ver-
zichten, weil sie uns zur Einführung in die historischen Zusam-
menhänge unentbehrlich erscheinen. Mit diesem Bezept Tesauros
nämlich wird eines der verbreitetsten und allgemeinsten Stilmerk-
male für den damaligen literarischen Manierismus Europas unter
seinen verschiedenen Namen gegeben: in Spanien Conceptismo
oder Gongorismo, in Italien Concettismo oder Marinismo (nach
dem Dichter Giambattista Marino, 1569—1625), in England Eu-
phuism, wit und conceit, in Frankreich preciosite, in Deutschland
Sinnspiel (Sinngedicht). Diese discordia Concors Tesauros wurde
damals in England so erklärt: <Kombination ungleichartiger Bilder
oder Aufdeckung verborgener Ähnlichkeiten in anscheinend ver-
schiedenartigen Dingen.> Nach Tesauro entspricht diesem Stilmit-
tel in der Architektur die Illusionsperspektive, die in Parmigiani-
nos Bild zu erkennen ist. Tesauro weist auf die berühmte Säulen-
galerie im römischen Palazzo Spada hin und meint, man solle auch
schreibend perspektivische Durchblicke) schaffen. Giambattista
Marino, der <König> des italienischen Manierismus, faßt es in ei-
nem Concetto zusammen: <E del poeta il fin la meraviglia, / Chi
non sa far stupir vada alla striglia.> Das <Wunderliche, Wun-
derbaro ist also Ziel der Dichtung —wer nicht verblüffen kann, soll
zum Stallknecht gehen. Für Tesauro stellt sich die <Sirene> Marino
als eines der höchsten Beispiele für concettistische Kunst dar. Er
wird zum Prototyp der poeti moderni, der modernen Dichter.
Hier zwingen sich Vergleiche mit Zeitgenössischen auf. Andre
Breton schreibt im <Manifeste du Surrealismex <Das Wunderbare
ist immer schön, ganz gleich, welches Wunderbare; es ist sogar nur
das Wunderbare schön.> (<Merveilleux> hat hier den Sinn des selt-
sam Wunderbaren, des Erstaunlichen.) Wie wird dieses (Wun-
derbare) im Surrealismus erschlossen? Breton zitiert einen seiner
Freunde, Pierre Beverdy, der mit Tesauro fast wörtlich überein-
stimmt: <Das Bild ist eine reine Schöpfung des Geistes. Es kann
nicht aus dem Vergleich, vielmehr nur aus der Annäherung von
zwei mehr oder weniger voneinander entfernten Wirklichkeiten
geboren werden. Je entfernter die Beziehungen dieser Wirklich-
keiten zueinander sind, desto stärker wird das Bild sein.> Schon
früher hatte Lautreamont geschrieben, nur die Vereinheitlichung
des Disparaten wirke schön, nach dem Vorbild: <die zufällige Be-
gegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf dem
Operationstisch). Differenzierter ist die ästhetische Sentenz Bau-
delaires: <Was nicht unmerklich entstellt ist, wirkt kühl und emp-
findungslos; — hieraus ergibt sich, daß das Unregelmäßige, d. h. das
Unerwartete, die Überraschung, das Erstaunen, ein wesentliches
und charakteristisches Merkmal des Schönen darstellt) (aus <Ra-
keten>, 1855—1862). Praktisch entstanden daraus bei Baudelaire,
dessen schöpferische Kraft die Verspieltheit des Dandy überwand,
22 die correspondances zwischen Tönen, Gerüchen und Gefühlen.
Graciän hatte das metaphorische Sinnspiel definiert als intellek-
tuellen Akt>, der die <Verbindung> (correspondencia) zwischen den
Dingen herstellt. Wer denkt nicht vor allem an Rimbaud, wenn
Tesauro den wahren, den <ingeniösen> Dichter als denjenigen
preist, der <alles in alles verwandeln kann, eine Stadt in einen Ad-
ler, einen Mann in einen Löwen, eine Schmeichlerin in eine
Sonne>.

Neues Sehen
Wir stehen mit Tesauro am äußersten Ende der manieristischen
Phase zwischen Renaissance und Hochbarock. Durch diese Be-
gegnung ist allerdings zweierlei gewonnen: einige weitere Formeln
für die Wesensbestimmung des Manierismus und ein weiterer
Ausblick auf seine europäische Ausbreitung, damals wie heute.
Wie steht es denn nun mit der bildenden Kunst? Sie eilt im damali-
gen Europa der Dichtung um mindestens 50 Jahre voraus, den
Traktatisten über Literatur um mehr als hundert Jahre. Der euro-
päische Manierismus zwischen Renaissance und Hochbarock be-
stätigt sich, findet zum ersten Mal - in dieser Phase - seinen Aus-
druck in der bildenden Kunst, wenn man davon absieht, daß der
Manierismus der mittellateinischen Literatur die Dichtung nach
der Renaissance wieder stark anregte. Die erste bedeutende Kunst-
revolution der Neuzeit begann schon vor Raffaels Tod (1520). Ihre
Ursprünge liegen in Florenz. Mit genialischer antiklassizistischer
Willkür suchen einige junge, gebildete, äußerst sensible Maler
nach einem neuen Stil. Sie stoßen sofort auf Bewunderer und Geg-
ner. Der Subjektivismus der Pontormo, Rosso, Beccafumi und des
in Florenz lebenden Spaniers Alfonso Berreguete wird dadurch
nur noch entschiedener: sie treten in einen bewußten Gegensatz
zur akademischen Geschmackskultur ihrer Zeit. Die Künstler der
Hochrenaissance hatten in der chaotischen Stunde eines erschrek-
kenden neuen Sehens jenseits religiöser Ordnungen einen ausglei-
chenden Ordo durch den harmonisierenden Logos gesucht. Es
ging diesen Meistern ähnlich wie den Griechen, so wie Hölderlin
sie schilderte: weil sie Geheimnis, Spannung, Ungelöstes in sich
hatten, erstrebten sie eine magische Präzision der Gleichgewichte.
Die Renaissance-Künstler retteten sich, besänftigten ihre Proble-
matik, während in astronomischen und geographischen Dimen-
sionen die Welt immer größer wurde, während Glaubensinhalte
zerfasert und politische und gesellschaftliche Ordnungen angegrif-
fen wurden, während neue Reiche sich bildeten und die frühkapi-
talistische Wirtschaft eine erste Krise erfuhr. Der von außen ange-
regte Drang zur Maßlosigkeit wurde durch einen Rückgriff auf den
klassischen Kunstkanon gebändigt. Dieses ebenso geniale wie
künstliche Bemühen, eine gefährdete Denk- und Gesellschafts-
ordnung im dramatischen Übergang in ruhigen, glanzvollen, un-
bewegten Emblemen der Schönheit zu versteinern, gelang aller-
dings nur für ziemlich kurze Zeit.
Schon in der fiebrigen und gleichzeitig vom Intellekt so scharf
überwachten Tätigkeit Leonardos spürt man, wie das Rätsel des
Widerspruchs zur Halluzination wird. Mensch und Welt spalten
sich. Der Blick verfängt sich in einem Labyrinth von Unauflösbar-
keit. Gerade dies, das Labyrinth, fesselt Leonardo immer mehr.
Die Schönheit wird zur geheimnisvollen Anmut. Flächen und Li-
nien lösen sich vom nur gegenständlichen Zusammenhang, sie
werden, wenn auch in einem vorerst noch erbitterten Spiel, schon
selbständig. Auch Raffael verliert, als er die Entwürfe für die Fres-
ken der vatikanischen Loggien zeichnet, die Geduld für eine offen-
sichtlich auch ihm später etwas mühsame Anmut und Würde; ein
Drang zur Abstraktion, eine Freude am Selbstgenuß in der Kühn-
heit, eine Neigung zur bannenden Kraft, nicht nur der Schönheit,
sondern der Gorgo, des Grauens, wird in der Sintflutdarstellung
der Loggien sichtbar. Doch der entscheidende, vitale Übergang
von der frühen zur späten Renaissance, von der sublimen Stilisie-
rung der Renaissance-Klassik zur neuen <manieristischen> Expres-
sion wird erst im Werk Michelangelos zu einem geistesgeschichtli-
chen Ereignis. Das gilt erst recht für sein Spätwerk. Das <Jüngste
Gericht) in der Sixtinischen Kapelle (1541), die <Bekehrung Pauli>
(1545) und die <Kreuzigung Petri> (1550) in der Paolinischen Ka-
pelle sowie seine letzten Zeichnungen wirken auf die jüngere Ge-
neration etwa so wie im 20. Jahrhundert Picasso auf europäische
Maler, deren Vater auch er sein könnte. Durch den Expressions-
drang des alten Michelangelo, der noch tiefere Höllenschlünde zu
kennen schien als Dante, werden der statische Harmoniebegriff
und seine rationale Verengungstechnik gesprengt. Die dramatisie-
rende Bewegung, die scharfe Schockwirkung durch verblüffende
Kompositionseinfälle lassen die Nachahmer der Natur schon nach
ganz kurzer Zeit biedermännisch erscheinen. Michelangelos da-
maliges futuristisches Manifest heißt kurz und bündig: <Si pinge
t col cervello, non con la mano> (<Man malt mit dem Kopf, nicht mit
der Hand>). In seinen letzten Gedichten schildert er sich selbst als
einen Gescheiterten, als einen Bettler, als einen Erniedrigten und
Beleidigten in einem römischen Elendsquartier. Er haßt seine
Umwelt, ihren Lärm, ihren Prunk, ihre Selbstzufriedenheit. Wie
die Jüngeren, wie Pontormo, Rosso und Parmigianino empfindet
er sich, bei allem Ruhm, nur noch als Lump, Zigeuner, Pinselfuch-
ser, als ein moralisch in mancher Hinsicht Verdächtigter. In seinen
letzten Stunden umfängt er die höchste und einzige, die herm-
aphroditische Geliebte; die <Idea>, als ein König des geistigen Eu-
ropa.
So wirkt schon zwischen 1515 und 1525 in Florenz diese erste
<moderne> Avantgarde, diese zwischen epikureischem Ausgleichs-
drang und intellektuellem Hunger nach magischen Weltformeln
hoffnungslos zerrissene Künstlerschaft. Es sind die toskanischen
Frühmanieristen: Pontormo, Rosso, Beccafumi, Bronzino. Man
hat vor unserer Jahrhundertwende darüber gestritten, ob diese Ma-
ler von <Rang>, ob sie also nicht bloße <Nachahmer> seien, im Sinne
des unglückseligen Ausspruchs des nicht gerade phantasievollen
und kritisch zuverlässigen Vasari, als er von ihnen meinte, sie mal-
ten <alla maniera di Michelangelo. Es ist hier nicht der Ort, nach
den hervorragenden Arbeiten von Panofsky, Dvorak, Briganti,
Lossow, Benesch und Becherucci, um nur einige zu nennen, die
verwickelten Zusammenhänge eines heute überwundenen Streits
darzustellen. Eine zuordnende Bemerkung ist unerläßlich. Tatsa-
che ist, daß gegenwärtig die These Dvoräks, es habe der <Manieris-
mus> in der Kunst <eine konstitutive Bedeutung für die ganze Neu-
zeit), an Geltung gewinnt, oder diejenige Brigantis, es sei mit der
<manieristischen> Kunst ein selbständiger neuer <Stil> entstanden,
ein neuer <Geschmack>, eine neue <Sensibilität>, eine neue g e i -
stige Haltung). Kunsthistoriker und Kritiker Europas und Ameri-
kas, die ihre ästhetischen Urteile nicht nur vom klassizistischen
(oder spätbarocken) Kunstkanon ableiten, finden heute, es sei die
24 <manieristische> Kunst vernachlässigt, mißverstanden, jedenfalls
unzulänglich gewürdigt w o r d e n . Ihr Blick auf diese historische
Phase einer antiklassizistischen künstlerischen Darstellungsweise
ist d u r c h das vielfältige E x p e r i m e n t der <Moderne> von Cezanne
bis Klee geschärft worden. Sicher ist, daß m a n den <Manierismus>
heute weniger z u m G e g e n s t a n d dogmatischer Polemiken oder gei-
stesgeschichtlicher K o m b i n a t i o n e n m a c h t . M a n zieht es vielmehr
vor, das Werk der einzelnen Künstler in diesem äußerst vielfältigen
manieristischen Stil <mit Augen> anzusehen, in diesem Stil, der vor
1520 entstand, im Barock nachwirkte, in der Romantik wieder auf-
tauchte u n d m a n c h e n T e n d e n z e n der zeitgenössischen Kunst zwi-
schen 1880 u n d 1950 entspricht. Es gibt Versuche, der <modernen>
Kunst (deren b e d e u t e n d e schöpferische Gestalter fast alle zwi-
schen 1880 u n d 1890 geboren sind) <Ahnen> zu schenken, und
m a n h a t dabei auch den <Manierismus> nicht übersehen. Kunstkri-
tik u n d Kunstgeschichte gingen jedoch, von A u s n a h m e n abgese-
hen, eigene Wege. Die Kunstgeschichte beachtete - als akade-
mische Wissenschaft — das Zeitgenössische zuwenig, und die
Kunstkritik, die sich mit d e n M i t l e b e n d e n zu beschäftigen hatte,
b e g n ü g t e sich meist mit aphoristischen Hinweisen auf die welthi-
storische Tatsache, d a ß es geistige Kontinuität gibt, auch da, wo sie
k a u m n o c h zu e r k e n n e n ist. Die Wissenschaft unterlag der sugge-
stiven Kraft des Vergangenen, die Kritik derjenigen der Gegen-
wart. D i e A n d e u t u n g e n genealogischer Beziehungen zwischen der
<modernen> europäisch-amerikanischen Kunst zwischen 1880 u n d
1950 u n d derjenigen zwischen 1520 u n d 1660 hatten vor allem
einen C h a r a k t e r bloßer Apercus, weil m a n sich jetzt erst über die
Vielfalt des historischen M a n i e r i s m u s in Kunst u n d Literatur u n d
über die Verschiedenheit <manieristischen> Verhaltens klarzuwer-
den beginnt. D a ß der d a m a l i g e <Manierismus> ein europäischer
Stil war (wie die zeitgenössische Kunst, Literatur), hatte m a n er-
kannt, nicht aber die z u m i n d e s t dreifaltige Ahnenschaft des <Con-
cettismus> zwischen 1520 u n d 1660.
Wir h a b e n n u n schon einige allgemeine Begriffe gewonnen, u m
das P h ä n o m e n des <Manierismus> in einem <umfassenden> Sinne
zu e r k e n n e n . D a s <Umfassende> aber oder gar die <Panoramen>
k ö n n e n in der Welt der Kunst u n d Dichtung, wo individuelle Q u a -
litäten m e h r Sinn u n d Wert h a b e n als Gesetze u n d Typologien, n u r
die Funktion einer ersten Orientierung h a b e n . Es fehlt uns auch
noch eine p h ä n o m e n o l o g i s c h e Definition des Begriffs <Manieris-
mus>. W i r wollen sie hier nicht v o r w e g n e h m e n . Die B e g e g n u n g
mit den Künstlern u n d Dichtern, vor allem mit ihren Werken, soll
uns in k o n k r e t e r Weise selbst zu dem Schluß gelangen lassen, was
<im Wesen> diese manieristische Urgebärde der M e n s c h h e i t sei, im
Gegensatz zur <klassischen>, a m Aufgang der Neuzeit u n d in der
Gegenwart, a n zwei g r o ß e n Kreuzstationen ihres geschichtlichen
Weges. W e n n wir den Begriff <Gebärde> bzw. <Urgebärde> benut-
zen, b e d i e n e n wir u n s a u c h hier eines Terminus, der in der m a n i e -
ristischen Traktatenliteratur des 17. J a h r h u n d e r t s eine große Rolle
spielt u n d der auf die antike BJietQxik zurückgeht. Gottfried Benn
schrieb von e i n e m b e s t i m m t e n Ausdruckszwang. Es m u ß ein ei-
gengearteter A u s d r u c k s z w a n g auch zu einer bestimmten Aus-
drucksgebärde führen. Tesauro weist d a r a u f h i n , daß schon Cicero
die gesuchte, g e d r ä n g t e R e d e - u n d Schreibweise des Concettismus
(griechisch: Schemata, lateinisch: figurae, italienisch: concetti) mit
einer b e s o n d e r e n <Gestik> (<schemata> = <gestus orationis>) ver-
glich, also als G e b ä r d e mit eigenem Duktus bezeichnete. Manieris-
m u s ist also - im allgemeinsten triebpsychologischen Sinne - spe-
zifische Gebärde eines b e s t i m m t e n Ausdruckszwanges.
i. D I E E R S T E
ERSCHÜTTERUNG

Saturnische Melancholie
In den Jahren 1554 bis 1556 schrieb der florentinische Maler Ja-
copo da Pontormo (1494—1557) das wahrscheinlich merkwürdig-
ste Tagebuch, das je ein europäischer Künstler hinterlassen hat.
Meist ist darin die Rede von schmaler Kost, die der Sonderling sich
zubereitet, von Fasttagen, von intimeren hygienischen Sorgen, von
seltenen Begegnungen mit Freunden; und von einem von diesen
wurde der erste bedeutende <Ausbrecher> aus der harmonischen
Welt der Renaissance sogar einmal <geschlagen>. Ein dürftigeres,
farbloseres und zugleich menschlicheres Dokument, im ganz ele-
mentaren Sinne des <Menschlichen>, kann man sich kaum vorstel-
len. Es wurde - merkwürdig genug - erst 1916 in Amerika, als
Anhang zu einem Werk über die Zeichnungen Pontormos, in eng-

Seite aus Pontormos Tagebuch,


April bis Juni 1556
Jacopo da Pontormo Pittore
Fiorentino

lischer Sprache und 1956 m Italien in der Ursprache veröffentlicht.


Etwa in der Mitte dieser trostlosen Notizen findet man eine interes-
sante Bemerkung über die Zeit von Ende März bis Ende April
1555. Eine Pestepidemie suchte Florenz heim. Es sei gewesen, so
zeichnet Pontormo auf, als habe man <das Feuer im Wasser braten
hören>. Die Schuld für die Katastrophe wird dem Mond zuge-
schrieben. Dieser angstvolle Hinweis auf die unheimliche Kraft des
Mondes, auf die Unheimlichkeit der Nacht findet sich häufig in
diesen Aufzeichnungen. Man begreift, daß Pontormo ein Melan-
choliker war, ein temperamento lunatico, ein Saturniker, und man
weiß es auch aus Geschichten, die ein Zeitgenosse, der Anekdoten -
sammler Giorgio Vasari (1511 —1574), über ihn zu berichten weiß.
Dieser peintre maudit, der noch vor Raffaels Tod (1520) seine er-
sten Bilder malte, war als mürrischer Menschenfeind berüchtigt,
der mit einer Leiter in sein schwer zugängliches schäbiges Atelier
kletterte und diese hochzog, damit niemand ihn besuchen könne.
Vasari nannte ihn daher <un uomo fantastico e solitario. Wie Leo-
nardo wurde er wegen Nekrophilie angezeigt. Angeblich hatte er
auf dem Friedhof Leichen nicht nur zu Studienzwecken ausgegra-
ben. Solche Angriffe richteten sich gegen Persönlichkeiten, die
man wie Leonardo als <Zauberer> oder wie Aretino als Publizisten
oder wie Pontormo als Outsider fürchtete. Von Frauen ist im Tage-
buch Pontormos allerdings nie die Rede, und das ist wohl auch ein
Grund für diese Anzeige. Man kann eines als sicher annehmen:
wie Leonardo und wie Michelangelo fand Pontormo sein Ideal im
Bilde des platonischen und wohl auch des nicht nur platonischen
Epheben. Dieser erste Akzent auf eine erotische Invertiertheit ist
unausweichlich.
Dazu das Bild Saturns! Marsilio Ficino (1433-1499) hatte in sei-
nem Werk <De Vita triplice> (1494) Saturn als den Bringer der
schöpferischen Melancholie bezeichnet. Plato war ein <Saturn-
kind>. Pontormo fand für seine eigene neue <Freiheit> wichtige
Anregungen bei Dürer. Dürers <Melencolia> ist, nach den Untersu-
chungen Panofsky-Saxls, die Darstellung einer <Komplexion>, 27
welche dem Einfluß des Saturn untersteht. Um diese Zeit wird der
Saturn - wie bei Aristoteles - wieder ein Symbol der Genialität,
allerdings auch der Verdüsterung. des Verbrechens, des Wahn-
sinns. Ficino definiert den saturnischen Typ in folgender Weise:
<Selten gewöhnliche Charaktere und Schicksale, sondern Men-
schen, die von den anderen verschieden sind, göttliche oder tieri-
sche, glückselige oder vom tiefsten Elend niedergebeugte), und er
empfand sich selbst als einen Charakter dieser Art, weil er wußte,
daß in seinem Horoskop der Saturn seinen Aszendenten Wasser-
mann beeinflußte. Einem Freund schreibt Ficino einmal: <Ich
weiß in diesen Zeiten sozusagen gar nicht, was ich will, vielleicht
-'Dazu ein hübsches Apercu, dort auch will ich gar nicht, was ich weiß, und will, was ich nicht weiß. >2
ohne Bezug auf Ficino. aus d'Ors' r-> i • 1l -1 • I - A- c I T? • L. 1 • 1
Barockbuch: <Der Geist des Barocks Dabei klagt er über seinen lastigen Saturn. Em psychologischer
weiß nicht, was er will.» Grundzug des genialischen, melancholischen, subjektiven, bizar-
ren, <manieristischen Menschern vom Typus Pontormo wird hier
in der mustergültigen Form eines paradoxalen, literarisch-manie-
ristischen Concetto geschildert. Kontrastreiche Figuren dieser Art
wirken bis in die Literatur des Barock hinein,
siehe Farbabbildung i Von Pontormo sind Zeichnungen erhalten, die zu den interes-
santesten <aller Zeiten> gehören (Dvorak). Nicht nur das. Es han-
delt sich um die ergreifendsten Dokumente am allerersten Ur-
sprung des europäischen <Manierismus> - immer von dieser Phase
und nur von dieser ist jetzt die Rede. Vor ihnen versteht man, selbst
wenn man die Einflüsse Michelangelos (1554 gestorben) gelten
läßt, wie sehr dieser Schüler Leonardos und Andrea del Sartos in
seiner seltsamen Vereinsamung und <saturnischen> Eigenbrötelei
geahnt hatte, vor welchen ganz neuen Problemen der Mensch in
dieser Zeit von 1520 bis 1550 stand und vor welchen er noch stehen
würde. Unruhe, Angst, Verlassenheit, <Unbehaustheit> treten
gleichsam auf gegen Harmonie aller Teile, Proportion, Maß, Kreis,
geordnete Mitte, Albertis Vollkommenheitsideal der Renaissance.
Mit überraschender Plötzlichkeit tauchen sie auf in dem damals
Jacopo da Pontormo:
Vertumnus (links)
und Zeichnung
geistig so äußerst a n g e s p a n n t e n Florenz. M a n c h e dieser Zeich-
n u n g e n , vor allem diejenigen, von d e n e n hier die Rede ist, sind
Entwürfe für die Darstellung eines Jüngsten Gerichts, das P o n -
tormo für d e n Chor von S.Lorenzo in Florenz plante, jedoch nie
b e e n d e t e . Die Technik dieser Z e i c h n u n g e n ist für diese Zeit auf-
fallend u n d neu: Betonung der Umrisse, ein extremer, aber i m m e r
expressiver Realismus, ein fast frenetischer Verzicht auf Details, so
daß m a n c h e hohläugigen Gesichter an Z e i c h n u n g e n von Käthe
Kollwitz u n d m a n c h e <Aussparungen> an Matisse erinnern. An der
hin u n d wieder korrigierten Linienführung k a n n m a n den Willen
zur Deformation e r k e n n e n . Deformation? M a n m u ß hier zunächst
d e m Verdacht ausweichen, in historisch unzulässiger Weise einen
Begriff der zeitgenössischen Ästhetik auf die Vergangenheit zu
übertragen, ja geradezu auf die Zeit der Hochrenaissance.

Renaissance:
auch Geburt eines Neuen
Suchen wir d a h e r zunächst in damaligen literarischen D o k u m e n -
ten n a c h Belegen u n d g e h e n wir davon aus, daß die Renaissance
keineswegs n u r die W i e d e r g e b u r t eines <Altem, sondern auch die
Geburt eines <Neuen> war. D e r aus d e m alten Ordo losgelöste
M e n s c h sucht einen eigenen n e u e n Weg. H a r m o n i s i e r e n d e n
Trostvorstellungen weicht er nicht i m m e r aus. Gerade in dieser
Frühzeit des M a n i e r i s m u s ! An den Höfen besonders, an den Mit-
telpunkten des d a m a l i g e n gesellschaftlichen Lebens, will m a n
soviel von früheren <Ordo>-Vorstellungen hinüberretten wie mög-
lich, aber die U n b e f a n g e n h e i t ist verloren. Konventionelle <Manie-
ren> verdecken die Unsicherheit, M a s k e n , geheimnisvolle For-
meln, eine künstlich verdunkelte Sprache t a u c h e n wieder auf wie
zur Zeit der provenzalischen Hofkultur, aber viel b e w u ß t e r u n d viel
differenzierter wird alles, was zur ä u ß e r e n Erscheinung, z u m Wis-
sen u n d zum G e h e i m n i s des <Edelmanns> gehört. Nützliche H i n -
weise finden wir zunächst bei e i n e m gewiß wegen Radikalität oder
psychopathischer C h a r a k t e r z ü g e unverdächtigen Zeitgenossen
Pontormos, i m damals w e l t b e r ü h m t e n Werk Baldassare Castiglio-
nes ( 1 4 7 9 - 1 5 2 9 ) , i m <Cortegiano>. Castiglione widmete sein Buch
Franz I. Als Botschafter der Herzöge von Urbino u n d M a n t u a u n d
als Apostolischer Protonotar unter C l e m e n s VII. stand er mit den
G r ö ß e n seiner Zeit, vor allem mit d e n e n des geistigen L e b e n s , in
Verbindung. E r starb 152g in Toledo, der Geburtsstadt Göngoras
u n d der Wirkungsstätte Grecos, als <Ehrenbürger> Karls V Der
<Cortegiano> gehörte zu den Lieblingsbüchern Karls V. U m ein
<idealistisches> Gegenstück z u m Realismus des <Principe> M a c h i a -
vellis h a n d e l t es sich, u m ein Buch, das nicht n u r für den höfischen
Lebensstil E u r o p a s , sondern auch für die bella rnaniera in Kunst,
Literatur, Musik t o n a n g e b e n d wurde, u m eine F u n d g r u b e vor al-
l e m für erste M e r k m a l e des n o c h diskreten anfänglichen Manieris-
m u s dieser P h a s e . Das Wort rnaniera wird benutzt u n d definiert,
also r u n d dreißig J a h r e früher als bei Vasari. E t w a 130 J a h r e vor
Graciän u n d Tesauro, d e n b e w u n d e r t e n Theoretikern des M a n i e -
rismus in seiner E n d p h a s e , beschreibt u n d empfiehlt Castiglione
einige der wichtigsten manieristischen <Techniken>. (Der <Corte-
giano> w u r d e zwischen 1513 u n d 1518 geschrieben u n d 152g, zwei
J a h r e n a c h d e m Sacco diRoma u n d 28 J a h r e vor Pontormos Tod in
Venedig, z u m ersten M a l veröffentlicht.) M a n m u ß es dahingestellt
sein lassen, ob ein mürrischer Sonderling wie Pontormo, der wahr-
scheinlich auch viel weniger belesen war als seine meisten, z.T.
hochgebildeten Zunftgenossen, ein solches Buch überhaupt ge-
kannt hat. Aber er wirkte für die gesellschaftliche Welt, deren Nei-
gungen, Geschmack und Interessen Castiglione sammelte und
aufzeichnete. Pontormos Jünglingsporträts könnten Abbilder von
Zöglingen des Ideal-Hofes von Urbino sein. Diskutiert hat er mit
seinen Freunden, mit anderen <Phantasten> dieser ersten antiklas-
sischen, revolutionären Avantgarde wie Rosso, der später Selbst-
mord beging, wie Beccafumi und Bronzino, beim Wein in den Fia-
schetterien von Florenz über alles, was damals <modern> war, viele
Nächte; und wenn man sich nicht einig wurde, schlug man aufein-
ander ein. Doch Argumente dieser Art scheinen Pontormo (dünn,
langhaarig, wie ein Wilder [Vasari]), bei aller Rauheit, wie van
Gogh, äußerst sensibel und wohl auch fromm, nicht gefallen zu
haben. Daher die Leiter in seinem Atelier, Symbol der Zurückge-
zogenheit wie die Kammer van Goghs in Arles. Das Wichtigste,
was Castiglione in seinem Vademekum für Weltleute sagte, hat
Pontormo also sicher gewußt. Man kann es an seinen berühmte-
sten Werken ablesen. Castiglione empfiehlt schon die <Umkeh-
rung> aller Logik. Er meint, alles werde schöner, <dicendo ogni
cosa al contrario>, wenn man alles auf <umgekehrte> Weise sage.
Ein Blick auf die berühmte, von Dürers Technik beeinflußte
<Kreuzabnahme> (Florenz, S. Felicita, 1523—1530) machtzunächst
dies klar. Becherucci schreibt darüber: <Die Formen verketten sich
mit rhythmischen Entsprechungen, die jedem rationalen Maß wi-
dersprechen. > Die ganze Gestaltentraube erscheint, der Schwer-
kraft nach, entmaterialisiert. Eine labyrinthische, der normalen
<Realität> entgegengesetzte Gegen-Wirklichkeit wird in diesen
<expressiven> Linien sichtbar, und was auffällt, ist der Mittelpunkt
des Bildes: ein gegenständlich Unwesentliches, ein Tuch, ostenta-
tiv in die wesenlos gewordene Mitte gehalten. Dazu eine preziöse
Farbgebung: Rubinrot, Violett, Türkis, alles in gleißendem Licht.
A. M. Vogt stellt die Hypothese auf, es müsse schon während der
Hochrenaissance, im Zusammenhang mit den <Primi Manieristb
von Florenz, eine Art geistiger <Untergrundbewegung> gegeben
haben; in diesen Zusammenhängen spricht er von einer H e r a u s -
forderung), von einer <simultanen Gegenleistung), welche die
Kunstgeschichte von ihrer fixen Idee der Sukzession langsam ab-
löst. Zu den Farben Pontormos wird vermerkt, es handle sich um
einen <Halbtonschritt der Farbe> und um eine Kraft der <minima-
len Differenz), Zeichen für ein Bedürfnis nach Aufhebung der
Grenzen; es sei somit ein <neues Tongeschlecht> in der Malerei ge-
schaffen (gefunden) worden, das selbständig neben dem Dur-Sy-
stem und neben dem Moll-System der üblichen Farbnetze bestehe.
Das ist gegenüber den <ruhigen> Tonverhältnissen in den Meister-
werken der Hochrenaissance ein wichtiger Schritt, den man, will
man an den Ursprung, an den Ansatz dieser neuen <Urgebärde>
gelangen, nicht übersehen kann.
In Pontormos <Kreuzabnahme> also wie in seinem Altarbild von
San Michele Visdomini (1518) wird man die ersten konkreten Ma-
nifestationen der antiklassischen Revolution des Manierismus se-
hen müssen. Auch die ursprüngliche Verwendung des Begriffs ma-
niera wird klarer. Vasari meint in seinen <Viten>, diese Künstler
malten <alla maniera di Michelangelo. Es liegt darin ein tadelnder
Beiklang. Manierismus gilt hier als bloße, ja sogar als schlechte
Nachahmung. Beklagt wird hier also, daß diese Künstler keine ei-
gene <Manier> haben (von lat. manus - Hand, übertragen manu,
von M e n s c h e n h a n d , von der H a n d , durch Kunst, gleichsam die
persönliche Handschrift), d a ß sie übertreiben, zu unruhig, zu u n -
geordnet sind. Vasari hatte übersehen, daß diese <Antiklassiker>
von Florenz nicht n u r <Manieristen> im Sinne der bloßen N a c h a h -
m u n g waren, sondern daß sie mit der künstlerischen Darstellung
zumindest gerade dieser <Unruhe> zu den ersten Vertretern einer
neuen <Manier> w u r d e n , d a ß sie die Begründer des n e u e n , durch-
aus eigengearteten <Manierismus> waren. Seit Vasari ist dieser Be-
griffrund 300 J a h r e lang meist im tadelnden Sinne gebraucht wor-
den. Erst seit Dvorak gewöhnt m a n sich allmählich daran, den
<Manierismus> als einen eigenen Stil anzuerkennen. <Die anatura-
listische Abstraktion) (Dvorak) wird das Ziel des Zeitalters. Anstatt !v
der N a t u r n a c h a h m u n g entwickelt sich eine <Phantasiekunst>. Sie
<stellt die psychischen Erlebnisse u n d E m o t i o n e n höher als die
Ü b e r e i n s t i m m u n g mit der sinnlichen W a h r n e h m u n g ) .
Dieses n e u e Tongeschlecht also ist g e n a u wie die mit u n w i c h t i -
gem), mit d e m drastisch Akzidentiellen schockartig ausgefüllte
Bildmitte zweifellos das Ergebnis einer intellektuellen Überle-
gung: <Die B e k e h r u n g Pauli) [das Bild galt lange als Werk von Ni-
colö dell'Abate, wird jedoch von der neuesten Forschung P a r m i -
gianino zugeschrieben]. E i n <ingeniöser> Effekt wird erzielt durch
etwas b e w u ß t <Gemachtes> u n d allerdings sehr <Gekonntes>. Bei
Castiglione finden wir ein merkwürdiges Sonett gelobt. Es handelt
sich u m das Erzeugnis eines ebenso a l o g i s c h e m wie gewollten
Verfahrens. Tesauro u n d Gottfried Benn verlangen später vom gu-
ten Dichter <fabrizierte> sprachliche Gebilde. 3 Castigliones Begei- Tesauro schreibt: <Maniere di fab-
brieare concetti> o.c.p.V. und von
sterung gilt e i n e m Gedicht, in d e m fast jedes Wort mit <S> anfängt, den <Maniere dello stilo erudito»
u n d diesen Kunstgriff charakterisiert er als <ingenioso e culto>. Da- o.e.p.59.
mit sind zwei Begriffe v o r w e g g e n o m m e n , welche m e h r als h u n d e r t
J a h r e später Graciän u n d Tesauro b e r ü h m t m a c h e n sollten. Dar-
aus ergibt sich zweierlei: die <alogischen) rhetorischen Kunststücke
des Spätmittelalters k e h r e n in der antiklassischen <Mode> von Flo-
renz zwischen 1520 u n d 1550 in der Malerei ebenso zurück, wie sie
— über Castiglione — n a c h Spanien eindringen. M a n erinnert sich,
daß die b e d e u t e n d s t e Lyrik Spaniens im <Goldenen Zeitalter), die-
jenige Göngoras, als <kultistisch> u n d als <ingeniös> bezeichnet
wurde. Baltasar Graciäns <Agudeza y Arte de Ingenio> erschien
teilweise erst 1642, ganz 1648, ein F l u g also schon in der D ä m m e -
r u n g des M a n i e r i s m u s .
W i r stehen d e m n a c h vor einem doppelten U r s p r u n g manieristi-
scher Modernität: e i n e m sonderlinghaften, verborgenen, höchst
subjektivistischen u n d e i n e m weltmännischen, gesellschaftlichen,
v o r n e h m individualistischen. Zwei F o r m e n der Verdrängung u n d
ihrer Bewältigung stehen sich gegenüber: eine etwas vertrackte,
aber genialische <Privatlösung> u n d eine vom D r a n g n a c h allge-
m e i n e n guten, aber ausschließenden, exklusiven guten <Manieren>
(des Hofs) bestimmte <kollektive> L ö s u n g . D o c h beide ergänzen
sich. Bevor die geistigen H i n t e r g r ü n d e im damaligen Florenz et-
was erhellt werden, noch weitere Beispiele aus dieser paradoxen
Kopplung: Pontormo-Castiglione. I m dreißigsten Kapitel seines
Buches empfiehlt der Diplomat, H u m a n i s t u n d Polyhistor Casti-
glione d e m Hof von Urbino, m a n solle in die Worte, die m a n
schreibt, etwas <acutezza recondita> hineinlegen, also scharfsin-
nige Dunkelheit. 4 Oft lobt er, was <süß u n d künstlich) ist. E r wen- * Etwa 150 Jahre später lobt Tesauro
die «dunklen Y\endungen> und
det sich damit an die r a u h e aristokratische Jugend. W i e Sokrates schreibt: <Die Sterne leuchten im
beschwört er sie. Sie sollen sich von der barbarischen Lebensart der Dunkeln.) o.c.p. 11.
Franzosen lösen. I h m gefalle es, so schreibt er im 16. Kapitel, einen
J ü n g l i n g zu sehen, der <etwas Ernstes) an sich h a b e , <etwas
31
Schweigsames). Diese <maniera riposata>, diese beruhigte Manier,
verleihe würdigen Stolz, den Beweis einer Selbstbeherrschung. Mit
anderen Worten: Castiglione empfiehlt mit seiner gesellschaftli-
chen <Hebammenkunst>: Distanz, Verschlossenheit, ein bewußtes
Anders-Sein. Ist diese Anregung, eine <innere> Leiter hochzuzie-
hen, um in der Verborgenheit des unnahbar Individuellen Abstand
von der rauhen Umwelt zu erlangen, sehr verschieden von der so
konkreten Leiter des allmählich menschenscheuen, zergrübelten,
wenn auch längst nicht <höfischen> Jacopo?
Die Antwort mag man in den Porträts vornehmer Jünglinge fin-
den, die den größten Ruhm Pontormos ausmachen. Alles an dem
Bilde Alessandro Medicis - außer den Augen und der rechten
Hand — erscheint abstrakt. Die Vergeistigung legt um Mund und
Wangen einen dekadenten Zug, die Augen blicken fassungslos,
traurig, aber mit einer merkwürdig lauschenden Gefaßtheit auf ei-
nen rätselhaften Blickpunkt. Die Hand greift nicht mehr zu. Sie
zögert. Das pompöse, kardinalrote Gewand verhüllt, wie ein Pan-
zer, den Körper. Dann das Porträt des Komponisten Francesco
siehe Farbabbildi dell'Ajolle. Der Körper verschwindet fast im Schatten, beleuchtet
bleibt ein <saturnisch> zergrübelter Blick, ein depressiv herabgezo-
gener Mundwinkel, ein von empfindsamen Händen getragenes,
hellbeleuchtetes Buch, ein musikalisches Werk. Wenn man mit
Recht Hamlet als die großartigste Figur des damaligen europäi-
schen <Manierismus> preist, als den Zergrübelten, Zaudernden,
stets anders Handelnden, als die Logik, die Konvention und die
Pflicht es vorschreiben, als den auch erotisch Vieldeutigen, kann
man sich dann nicht zumindest vorstellen, daß Shakespeare, sie-
ben Jahre nach Pontormos Tod geboren, diese oder andere ähnli-
che Jünglingsporträts Pontormos gekannt habe, wenn auch nicht
im Original? Damals zirkulierten durch die Hauptstädte Europas,
viel schneller als man annehmen sollte, Gravüren, Zeichnungen
berühmter Kunstwerke; und diese Zeit bebte geradezu vor intellek-
tueller Gier. Das Schicksal aufsehenerregenden Kunstwerke war
damals abenteuerlich genug. Bevor dieser Abschnitt beendet wird,
kann gerade in dieser Hinsicht auf den nächsten übergeleitet wer-
den, auf Parmigianino. Das in der Einleitung bereits besprochene
Selbstbildnis im Konvexspiegel (wie man annehmen darf, auch ge-
macht, um Möglichkeiten expressiver Deformation zu studieren)
erregte, als der junge Künstler 1524 nach Rom ging, am Hofe Cle-
mens VII. höchstes Aufsehen. Es galt als eine meraviglia, eine
5
Tesauro stellt fest: <In jeder scharf- <Wunderbarkeit>, und erzeugte stupore, Erstaunen. 0 Parmigianino
sinnigen geistigen Geburt ist die no-
vitä (Neuheit) notwendig. Aus dieser
schenkte das kleine Bildnis diesem Papst, der in seinen Apparte-
ergibt sich die meraviglia. durch ments, in der Engelsburg, Rom — nach Florenz — zum zweiten Zen-
diese aber der Erfolg.> o.c.p.71.
trum des frühen europäischen Manierismus machte. Clemens VII.
gab es weiter an das einflußreiche enfant terrible der Zeit, an Pietro
Aretino. Dann kam es in den Besitz des venezianischen Bildhauers
Alessandro Vittoria. Von dort gelangte es nach Prag, an den Hof
Rudolfs II., den geistigen Sammelpunkt der Exzentrischsten des
damaligen Europa, wo - in der Geburtsstadt Rilkes und Kafkas -
einer der abstrusesten Maler der Epoche als <Reichsgraf> wirkte:
Giuseppe Arcimboldi. Jetzt befindet sich das Bildnis in Wien.
Doch bevor wir uns von Pontormo trennen, noch die Frage, die
man sich stellen wird: Ist er ein großer Künstler? Die Frage wird
man nicht davon abhängig machen können, ob er <Klassiker> oder
<Manierist> ist, sondern nur vorn Rang dieser spezifischen und
nicht andersgearteten Kunst. Daß Pontormo dann nicht nur als
<großer> Künstler erscheint, sondern vor allem als großer Vorläu-
32 fer, wird nicht bestritten werden können. Zu den <Größten> unter
Parmigianino:
Die Bekehrung des Paulus

den Bahnbrechern und Erfüllern im Manierismus, wie dem späten


Michelangelo, wie Tintoretto und Greco, wird man ihn nicht zäh-
len können. Seine Grenzen liegen in seinem intellektuellen Ego-
zentrismus, in seiner Verbissenheit. Es ist kein Zufall, daß er mit
seiner geplanten Darstellung des Jüngsten Gerichts scheiterte. Erst
mit dem Jüngsten Gericht> Michelangelos, der über die echte in-
nere Freiheit, über das größere Talent und über die sicherere gei-
stige Universalität verfügte, wird, was diese expressive Form des
Manierismus der neuen Generation angeht, eine ungeahnte Welt
der Vollkommenheit eröffnet, einer neuen Vollkommenheit des
<Ausdrucks>.
Die erste antiklassische <Erschütterung> in Europa, soweit wir
vorerst ihren bloß künstlerischen und gesellschaftlichen Spuren
folgen, wurde an zwei Polen sichtbar: am Werke eines Malers und
in den Lebensvorschriften eines Weltmanns. Die Zeichnungen
Pontormos legen diese <Erschütterung>, als Folge neuer Erkennt-
nisse und sozialer Umwälzungen, gleichsam in einem brutal klini-
schen Sinne bloß. In den meisten Tafelbildern und Fresken Pon-
tormos findet sich ein Ausgleich zwischen einem extremen Subjek-
tivismus und einer Vorliebe der <Gesellschaft> für scharfsinnige
Pointen, für <Verdrehtheiten) und <Dunkelheiten>. In den Porträts
Pontormos wird dieser gefährliche Gegensatz am vollkommensten
überwunden: Geheimnis verbindet sich wieder mit Anmut. 33
2. A N M U T UND G E H E I M N I S

Welt im S c h w e b e n

Diese Formel wird für die erste Stufe des europäischen Manieris-
mus nach der Hochrenaissance verbindlich, wenn man vom späten
Michelangelo und von Erscheinungen in Rom zur Zeit Pauls III.
absieht. Die Radikalität des ersten Anstoßes erscheint durch die
Macht der aristokratischen Hofkultur aufgefangen. Aber die
Erregung wirkt weiter. Sie wird durch einen schärferen Sinn für
Geschmack, für klassizistische Dämpfungen neutralisiert, aber
keineswegs abgetötet. Im Gegenteil. Man könnte meinen, daß die
rigueur, die Strenge im Sinne Valerys, die den Künstlern durch die
zwar preziöse, aber natürlich in einem geistigen Sinne nicht gänz-
lich <offene> Lebens- und Denkart der weltlichen und geistlichen
Fürsten aufgezwungen wird, zu einer Steigerung der inneren
Spannung führt. Das schönste Beispiel dafür bietet das Werk Par-
migianinos, des <Mozart> unter den damaligen Künstlern. Sieben-
unddreißig Jahre alt war er, als er starb. Sein Werk hat bis tief ins
17. Jahrhundert hinein Generationen von Malern beeinflußt, be-
sonders in Nordeuropa. Francesco Mazzola wurde 1503 in Parma
geboren. Er, wie auch die anderen genialischen Vorläufer: Pon-
tormo, Rosso sowie Beccafumi und Primaticcio, verbinden das
Streben nach dem Geheimnisvollen, nach dem <Änigmatischen>,
noch mit Anmut. Die <Hieroglyphik> des Daseins wird noch ins
Gegenständliche hineingeprägt. Es löst sich aber im sogenannten
Serpentinata-Stil die statische Form auf. Der Raum wird durch
Tiefenachsen zerdehnt. Auf Ruhe und Ausgewogenheit wird ver-
zichtet. Lossow hebt folgende Merkmale hervor: das Licht wird zu

Hendrik Goltzius: Stur/, des


Phaeton (nach einem Stich von
Comelisz van Haarlem)

34
Adrian de Vries: Psyche mit der
Büchse der Pandora (links)

Prozessionsfigur für die <Ingegni>-


Prozession in Campobasso
einem stärkeren Faktor in der Bildkomposition, hellbeleuchteten
Partien stehen dunkle Schattenflächen gegenüber ohne Übergang
und Vermittlung. Zur farbigen Gestaltung: kühle, helle, glatte und
<giftige> Töne mit vielen weißlichen, hellgrünen und gelben Nuan-
cen, scharfe Kontrastierung satter oder kühler Farben. Neue Pro-
portionierung der Gegenstände und Figuren; Streckung aller Län-
gen, Zusammenziehung der Breitenproportionen. Die Haltung der
Figuren wird gespreizt, geziert, verrenkt. — Diese Kunst zeichnet
sich durch eine zarte Sensibilität aus, durch einen verfeinerten Ge-
schmackssinn, durch ein Gefühl für magische Raumwirkung, für
reichere Ausdrucksmöglichkeit im Porträt, für überraschende psy-
chologische Nuance. Wie später, in der Lyrik Marinos und seiner
Schüler, liebt man seltsame Gegenstände, ausgesuchte Gewänder,
<überraschende> Elemente in Form und Inhalt. Eine Treibhausluft
spürt man, eine invertierte Erotik der Verkleidungen, die später in
Lyrik, Roman, Theater, Ballett eindringt. Man findet sie in den
dichterischen Meisterwerken der <Concettisten> wieder, im
<Adone> von Marino, in den <Soledades> von Göngora, in Marlowes
<Hero und Leander>, in Shakespeares <Maß für Maß>.
Parmigianino ist ein Meister dieser Kunst der <Grazie und Subti- siehe Farbabbildimg -
lität> (Dvorak). Man vergleiche dazu die <Madonna con Figlio e
Angelb aus der Galleria Pitti in Florenz. Die Anmut der Madonna
und der geschlechtlich ambivalenten Engel zeugt für eine von Raf-
fael ausgehende Verfeinerung, die aber <outriert> wird. Die Gestal-
tengruppe links der Säule wirkt wie ein Strauß tropischer Blumen,
und an (geheimnisvollem Subtilitäten fehlt es wahrhaftig nicht: die
Säulen mit den in <beschleunigter> Perspektive gezeichneten Stu-
fen; die Prophetenfigur mit dem überlangen Arm, an eine Greco-
Gestalt erinnernd; der Fuß Maria vor allem, auf dem Kissen ru-
hend wie ein eigengeartetes, skurril-schönes Lebewesen. - Subtili-
tät gehört zur Concetto-Kunst. Sie ist ein Bestandteil des i n g e n i ö -
sem, ein Element geistvoller Schönheit, ein Mittel, das <Verbor-
gene> sichtbar zu machen. Man findet noch mehr davon in diesem
Bild. Einer der Engel starrt auf das Geschlecht des Knaben; man
erkennt ferner: jede Figur hat eine eigene Blickrichtung. Jede lebt
im Blick für sich und durch sich. Die Augen des Jesusknaben sind
geschlossen, diejenigen des Propheten erscheinen wie maskiert.
Rechts von der Madonna aber entfaltet sich dunkel, mächtig, in
einer dämonischen Düsternis, die ein Fabelwesen zu verschleiern
scheint, der Mantel, hinüberleitend in das ebenso subtile perspek-
tivische Rätselspiel der in einer Mondlandschaft entgleitenden
Säulenstufen. Die Madonna mit den überschlanken Händen, wel-
che die blütenhafte Brust kaum berühren, scheint eher zu schwe-
ben als zu sitzen. Wie die Abdrängung des Wichtigen an die Peri-
pherie, um ein <Vakuum> der Mitte zu schaffen, wird das <Schwe-
ben> für die ganze Folgezeit zu einem der beliebtesten modischen
Motive. Dieses <Scbweben>, welches allen Gesetzen der Schwer-
kraft spottet, welches den Stoff spiritualisieren zu wollen scheint,
welches den Phänomenen in der Welt den Aspekt psychischer,
traumhafter Erscheinungen verleiht, findet man im Manierismus
immer wieder bis zu Chagall und Dali.
Parmigianino wirkt <raffaelisch>, aber es fehlte ihm die heitere,
unproblematische Lebensart des großen Renaissance-Meisters.
Gegenwärtige italienische Kunsthistoriker, wie z.B. Lionello Ven-
turi, neigen neuerdings zu einer anderen Wertung ihres bisher
<Größten>. Der Maler Italiens, dem die Ehre zuteil wurde, neben
den Schöpfern des geeinten Italiens im römischen Pantheon be-
graben zu werden — Raffael —, wird nicht mehr als die höchste
schöpferische Figur der Renaissance empfunden. Venturi tadelt an
ihm die <oberflächliche Art, das Leben zu betrachten). Bei Raffael
löse sich alles in (nur) Anmut auf, bei Grünewald werde sogar das
Lächeln der Engel dramatisch, aus der fast unerträglichen Span-
nung zwischen Gott und Welt. Wertungen dieser Art mögen frag-
würdig erscheinen. Sie sind jedoch symptomatisch für die Revision
des verabsolutierten Werts des klassischen Kunstkanons auch in
der italienischen Wissenschaft. Doch, wie gesagt, Italien hat am
Ende der Hochrenaissance seinen Francesco Mazzola, bei dem
sich keineswegs alles <in Anmut auflöst>. Diese Ubergangsfigur an
der Schwelle des Manierismus war sicherlich alles andere als eine
idyllische Natur. Francesco wirkte in Parma, ging dann nach Rom,
wo er — wie viele andere — von der dramatischen Laokoongruppe
hingerissen wurde, die de Fredi 1506 in den Weinbergen über dem
<Goldenen Hause> des Nero gefunden hatte. Der Sacco di Roma
vertrieb ihn aus der Ewigen Stadt, er konnte rechtzeitig fliehen,
und damit begann der letzte Teil seines kurzen, unruhigen Lebens:
Max Ernst: Dandv mit Gardenia Bronzino: Allegorie der l.icbe

*' '
Parmigianino: Detail aus der
«Hochzeit der hl. Katharina>

38
Parmigianino: Johannes der Täufer
in der Wildnis

3K>&*2ä#

wieder Parma, dann Verona und Venedig. Aus Parma mußte er


heimlich verschwinden, weil er Schulden gemacht hatte, um alchi-
mistische Experimente zu finanzieren. Was wollte er finden? Den
Stein der Weisen — oder Gold? Streben nach materiellen Werten in
der <Magie> der Zeit, oder Streben nach einem ideell wie materiell
Absoluten? Man weiß es nicht genau, aber auch sein Denken wird
erfüllt vom florentinischen Neuplatonismus und von der magi-
schen Naturphilosophie. Darüber später. Aus dem vieldeutig lie-
benswürdigen Dandy, der eine ursprünglich im Auftrag Pietro
Aretinos gemalte <Venus mit Cupido> für Clemens VII. in eine
<Madonna mit der Rose> umänderte und dessen Atelier zu einem siehe Farbabbildung 8
Treffpunkt der eleganten geistigen Welt geworden war, wurde all-
mählich ein <Wilder mit langem Bart und ungeordnetem Haan
(Vasari). Francesco wurde immer wunderlicher und verfiel
schließlich in Trübsinn. Manche Kritiker glauben, das Porträt aus
den Uffizien sei sein Selbstbildnis. Es könnte mit der Schilderung
Vasaris übereinstimmen. Für einen so jungen Mann haben die Au-
gen eine unheimlich bohrende Kraft. Der Schilderer seraphischer
Schönheit hatte sich in einen von Dämonen Gehetzten, in einen
von Phantasmen heimgesuchten maudit verwandelt, d.h. diese
Seite seines Wesens brach im Mannesalter — ohne Möglichkeit des
Ausgleichs — hervor, denn sie war gewiß von Anfang an vorhanden.
Aus der Subtihtät wird Skurrilität. Die Größe liegt in der Tiefe des
Zwiespalts.
39
Problematische Naturen
6
Hugo Ball (in <Flucht aus der Zeit>. Ähnlich spiegeln Porträts des toskanischen Frühmanierismus, vor
1946) schreibt 1916 über Baude-
laire: «Was ihn am Dandyismus der
allem diejenigen Bronzinos, den Menschentypus wider, der wache
Brummel und d'Aurevilly reizte, war Reflexion mit passiver Verträumtheit verbindet, erotische Vieldeu-
die Ausschaltung des Natürlichen tigkeit mit intellektueller Melancholie. 6 Eine Galerie von proble-
zugunsten des Künstlerischen und
Künstlichen.> matischen Naturem bietet sich dar. Der elegante Narziß, den Cara-
vaggio und so viele Zeitgenossen darstellten, leidet an jeder mate-
riellen Wirklichkeit, der erotischen, sozialen, politischen, religiö-
sen. Spiel, Rätsel, Anmut, Geheimnis bilden neben Magie und
Hieroglyphik einen Ausgleich. Im Streben nach Geheimnis ver-
führt die noch dominierende Verliebtheit in Anmut zu einer un-
menschlichen Anmut, zu einer deformierten Anmut. Sie erhält erst
bei Greco wieder ein religiöses Gegengewicht. Bei ihm, dem be-

r^^r deutendsten aller Maler dieser Zeit, nach dem späten Michel-
angelo, gewinnt die Anmut (Charme) ihre Urbedeutung als
I N^ ^N Carmen, als Faszination wieder — in Verbindung mit einem genial-
subjektiven Gefühl für die <schöne> Wirkung der Farben, der Li-

ykT^ nien und Flächen, und zwar in einem abstrakten Sinne. Doch die-
ses morbid Problematische, das Psychologische, ja Psychologisti-
sche dieser Kunst macht sie - außer ihren so bezeichnenden und
g ^ — ^
wegweisenden Formexperimenten - so <modern>, so <vorausset-
zungslos> menschlich, so geistig ambivalent, so wichtig also für
Aristide Maillol: Narziß
jede Epoche, die zwischen verbrauchten alten Tafeln und noch

Michelangelo da Caravaggio:
Narziß

40
Rosso Fiorentino: Kreuzigung
nicht klar verständlichen neuen Weltformeln steht. Marcel Proust
liebte, wie man weiß, die frühen Manieristen. Zauberhafte Lyris-
men in seinen Romanen sind ihnen verwandt wie Picassos <Blaue
Epoche> den Porträtskizzen Pontormos. Neuere <religiöse> Bilder
Dalis, der sich vor einiger Zeit Werke Rossos in Florenz genau an-
gesehen hat, stehen dem toskanischen Frühmanierismus so nahe
wie Frühwerke Pontormos Stichen Dürers. Es fällt jedem jedoch
rasch auf: Dalis neoreligiöse Anmut verbindet sich weniger dem
Geheimnis als dem plakativ Augenfälligen. Rossos religiöse Bilder
haben etwas von der lyrischen Dunkelheit des provenzalischen tro-
bar clus. Aus den entsprechenden Werken Dalis strömt die Kälte
von Abziehbildern. Um das schwermütige dolce in besten Gemäl-
den, Fresken und Zeichnungen der toskanischen Meister mit ge-
wiß umstrittenen, aber gerade darum von ihnen geschätzten Ana-
logien zu interpretieren, ohne also dem problematischen Verfah-
ren einer wechselseitigen Erhellung der Künste> zu verfallen,
könnte man Verse Verlaines zitieren. Auch die tragische Existenz,
die Existenz ohne gültige überweltliche Antwort des Dichters der
<Poemes Saturniens> (1866) und der <Fetes Galantes> (186g) ist mit
biographischen Zügen der frühen toskanischen Manieristen ver-
gleichbar.

5. S E R P E N T I N A T A —
KONVULSIVISCH

Die Raum-Ding-Relativität
Am Ende seines Romans <Nadja> schreibt Andre Breton, der Pro-
grammatiker des zeitgenössischen Surrealismus: <Die Schönheit
wird konvulsivisch sein oder sie wird nicht sein.> Später in
<L'Amour-Fou> kommentiert er: <Die konvulsivische Schönheit
wird verschleiert-erotisch, explosiv-starr, magisch-zufällig sein
oder sie wird nicht sein.> Nicht das gestalthafte, geordnete <Hu-
mane> steht im Mittelpunkt des Konvexspiegel-Selbstporträts Par-
migianinos, sondern ein überdimensionaler, <paranoischer> Teil-
aspekt des Menschlichen, die hybride, im <Serpentinata-Stil> be-
wegte, <konvulsivische> Riesenhand. Hinter der <Änigmatik> steckt
der kunstvoll verschleierte, auf Eis gelegte, gewollte, verspielte
Wahnsinn des Para-Logischen, Para-Statischen und Para-Rheto-
Auf die beiden ersten Begriffe wird rischen.7
in diesem Teil später, auf den dritten
im Literaturband näher eingegan- Die <Riesenhand> im Selbstporträt Parmigianinos entspricht ei-
gen. Der Begriff <Para-Logik> nem ersten, fast noch kindlich-übereifrigen Wunsch, im Raum je-
stammt aus der damaligen manieri-
stischen Traktatenliteratur. Den Be- den Gegenstand hinsichtlich seiner Bewegungsverhältnisse zu re-
griff <Para-Statik> prägte A. Kircher lativieren, d.h. von seinen normalen Dimensionen zu befreien, je
in seiner <Phvsiologia> (1624). Den
dritten schlage ich vor für die im Ma- nach der Angespanntheit des subjektiven Ausdruckszwangs. Die
nierismus bewußt veränderte Aristo- tiefsten Einsichten über die Raum-Ding-Relativität dieser Art hat
teles-Überlieferung, d.h. alles, was
Aristoteles als fehlerhaft für die Rhe-
schon Leonardo gehabt, der, wie wir später sehen werden, mit eini-
torik bezeichnete, wird im Manieris- gen seiner Theorien und Experimente noch eine ganz andere Ent-
mus für die Dichtung als vorbildlich
gepriesen.
wicklung im Manierismus einleitet. Im Faszikel III seines <Traktats
von der Malereü schreibt er zur <stetigen> und <unstetigen> Bewe-
g u n g - u n t e r Nr. 340 <Beispiel einer Hand in Bewegung): J e d e ste-
tige Größe ist bis ins Unendliche teilbar. Das Auge, das die Hand
betrachtet und sich dabei von a nach b fortbewegt, durchmißt hier-
42 mit einen Raum a-b, der eine stetige Größe und infolgedessen ins
Unendliche teilbar ist. Die Hand, die sich in dieser Weise bewegt,
verändert ständig ihre Lage und ihr Aussehen. In diesen Bewegun-
gen kann man ebensoviel Aspekte wie Teilbewegungen unter-
scheiden. Also gibt es in dieser Hand unendliche Aspekte, die
keine Vorstellungskraft fassen kann. Das gleiche wird geschehen,
wenn die Hand, anstatt sich von a zu b zu senken, sich von b zu a
erhebt.> Weiter schreibt er: <Unendlich verschieden sind also die
Aspekte, die uns jede menschliche Handlung bietet. > Hier wird
also die Bewegung bezeichnet als ein <unendlich teilbarer und ver-
änderlicher Prozeß>, wie Panofsky in seiner Studie über den Kodex
Huyghens schreibt. Die <Deformation> als ästhetisches Mittel wird
hier optisch-physikalisch legitimiert. In der Sprache von heute: in
der Zeitlupen-Technik, d.h. je nach dem Blickpunkt und nach der
jeweiligen Dynamik des Auftretens einer Erscheinung im Raum
bzw. je nach dem reproduzierenden Rhythmus des Filmapparats,
werden das Ding oder die Gestalt nur noch Opfer des Raums und
des Betrachters.
Nach der Mitteilung eines der wichtigsten Theoretiker des Ma-
nierismus im 16. Jahrhundert, G. P Lomazzo, hat Michelangelo
die <figura serpentinata> (Andre Bretons <konvulsivischer> Stil)
empfohlen. Schönheit werde durch innere Bewegtheit in der
<Idea>, durch/urore erzeugt. Die Flamme wird dafür zum Gleich-
nis. Leonardo hat in einem experimentell-psychologischen An-
sätze die <figura serpentinata> vorweg definiert. Bei Michelangelo
findet man einen Unterschied, der für die Entwicklung der Kunst
ab 1520 eine ähnliche Bedeutung hatte wie Galileis neue Astrono-
mie für die Kosmologie und Naturwissenschaft. Bei Leonardo han-
delt es sich noch um eine <wahrnehmungstheoretische> Beobach-
tung aus der <natürlichen> Relation Subjekt-Objekt, d.h. der Beob-
achtende sieht eine Hand in Bewegung von einem äußeren Blick-
punkt aus, er erkennt die Wirksamkeit eines optisch-physikali-
schen Gesetzes. Die Manieristen nach Pontormo verlegen diesen
<Blickpunkt> nach innen, sie beobachten die gleiche Erscheinung,
aber sie beobachten nicht mehr mit dem leiblichen Auge, sondern
mit einem <seelischen> Auge. Das betrachtende Subjekt wird in ei-
nem doppelten Sinne Subjekt. Es nimmt aus seiner subjektiven
Blicksituation nicht optisch-physikalisch Objektives auf, sondern
<subjektiv> Gesehenes, Erschautes, <Imaginiertes>, aber unter den
gleichen Bedingungen, die Leonardo beschrieben hat. Man sieht
aus der <Idee>, nicht aus der <Natur>. Daraus entwickelt sich später
die <Idea>-Lehre, die noch zu berücksichtigen sein wird. Auf dieser
noch frühen Stufe des Manierismus vor Greco ist jedoch zunächst
diese Technik des <inneren Blickpunktes) zu beachten, die zu Län-
gung, Windung und Streckung der Gestalten führt, bevor, mehr als
ein Menschenalter später, Federico Zuccari in seinem hyperma-
nieristischen Traktat: <L'Idea de'Pittori, Scultori ed Architettü, im
Jahre 1607, die Nachahmung von Vorgängen empfiehlt, die nur
noch in der Phantasie zu sehen sind. Auf dieser späteren Stufe
spielt also auch das objektiv Gesehene kaum noch eine oder gar
keine Rolle mehr. Es genügt hier festzuhalten, daß aus den vielfäl-
tigen, so geistvollen und so scharf durchdachten Theorien Leonar-
dos die Manieristen wichtige Anregungen empfangen haben, bis in
unsere Gegenwart hinein. Das gilt jedoch nicht nur für dieses eine
Grundproblem der <Sehweise>. Vom Werk und von den Theorien
Leonardos führt noch ein anderer Weg über den Manierismus des
16. und 17. Jahrhunderts in die Gegenwart.
Die <Deformationen>
Rossos

Man findet <Deformationen> auf der ersten Stufe des Manierismus


von Florenz vor allem im Werke Rosso Fiorentinos (1494-1540),
des Freundes Pontormos. Diese <Technik> ist bei ihm manchmal
mit einem herausfordernden Verismus verbunden. Rossos <Heilige
Familie>, erst kürzlich als von ihm geschaffen erkannt, ist in dieser
Hinsicht eines der merkwürdigsten Bilder des frühen Manieris-
mus. Das Streben nach starker <Expression> wirkt hier wie eine
Besessenheit. Eine morbide, irre Atmosphäre scheint sich mit den
beiden, wie siamesische Zwillinge verwachsenen Engeln über die
vier Gestalten auszubreiten, und gleichzeitig der Elendsgeruch der
Erniedrigten und Beleidigten, der <kleinen Leute>, des <Volks>, das
später auch in der concettistischen Literatur, im Werke Marinos
und Gongoras (Sonette) seltsam beirrend wird, penetrant, aggres-
siv. Doch Rosso kann mit seiner Sprengtechnik auch ganz andere
Register ziehen: Dehnung, Abstraktion (breite, hellbeleuchtete
Flächen), Deformation und eine michelangeleske <Technik des
Wirbels> findet man, mit einer entzückenden Konzession an die
»ehe Farbabbildung9 bella maniera, in seinem Bild <Rebekka und Elieser am Brunnen>.
Zahlreiche Elemente verbinden dieses Bild also mit der heutigen
<Moderne>. In diesem Falle sind sogar konkrete Hinweise möglich,
wenn es sich auch um sog. <Zufälle> handeln könnte; vielleicht läßt
man zumindest <physiognomische> Relationen gelten, ähnlich wie
sie Aristoteles aufstellte, um <Analogien> nachzuweisen. So gese-
hen, wird dieses Werk Rossos, bei der Konfrontierung des Manie-
rismus des 16. mit dem des 20. Jahrhunderts, zu einem interessan-
ten <Rebus>. Die Mädchengestalt im rechten oberen Bildteil, die
Konzession an die bella maniera, haben schon italienische Ge-
lehrte mit der <bizarren Eleganz eines Manichino verglichen. Aber
dieser Mannequin, diese Schaupuppe, läßt uns, ihrer starren Hal-
tung wegen, auch an Andre Bretons Wort denken: <explosiv-starr>.
Um so <erstarrter> ist die <Puppe>, als sie aus einer gestoppten Be-
wegung des Schreckens oder Beschwichtigenwollens vor dem dra-
matisch-bewegten Wirbel steht. Manichinos! Welche Rolle spiel-
ten sie im Leben des frühen Kokoschka, in der Kunst de Chiricos,
als er noch nicht das späte Opfer eines Mißverständnisses gewor-
den war, dessen, was er für grande pittura hielt! Am äußersten obe-
ren Bildrand rechts: zwei fast geometrisch ineinander komponierte
Jünglingsfiguren, erinnern sie nicht an die hieratische Starre ähn-
licher Gestalten in Bildern Oskar Schlemmers? Dann noch: links
neben unserem Manichino der bella maniera die Frauengestalt mit
dem <halluzinierten> Gesicht und dem langen blonden Zopf. Hätte
sie Max Ernst nicht in seine <Femme 100 tetes> hineinkomponie-
ren können? Schließlich aber der nun schon fast konventionelle
Trick dieser <Bohemiens> und - man denke an Aretino - sicher
auch <panerotischen> Revolutionäre: Genau im Bildmittelpunkt:
das <Akzidentielle> - wie bei Pontormo - , das Geschlecht der
kämpfenden, zentralen Männerfigur. Überlegung und Berech-
nung also im anscheinend dramatisch Spontanen! Keckheit und
Können, Literatur und Schock, Concetti, Raffinement und Über-
mut. (Man vergleiche die an den Bildrändern abgeschnittenen
Glieder, Gewänder und Bauten.) Kontraste und Paradoxien (die
arkadischen Schafe zwischen dem Manichino und den Streiten-
den), die Abstrusitäten und Virtuositäten, mit denen Marino etwa
44 100 Jahre später in seinem <Adone> so verschwenderisch umging,
werden hier vorgemalt. Man weiß, daß Marino sich stark von der
bildenden Kunst anregen ließ. Sein <Adone> wurde im 17. Jahr-
hundert in Europa als eine faszinierende <Sensation> des a l o g i -
schem empfunden wie 300 Jahre später der <Ulysses> von James
Joyce.

Mit den Augen


von heute

Wir haben hier einer kritischen Frage zu begegnen! Sehen wir <et-
was hinein> in diese Kunstwerke mit den <Augen von heute>? Las-
sen wir sie durch sich selbst wirken oder erklären wir sie mit für
damals — zeitgerechten Elementen? Wir wollen uns die Mühe ma-
chen, all dies gleichzeitig zu versuchen, und dabei jeder Spekula-
tion) ausweichen. Einem <Gegenstand> verpflichtet, der sich im-
mer mehr ins Ungegenständliche verflüchtigen wird, hoffen wir
durch gegenständliche Bezogenheit gerecht zu bleiben. Wir leug-
nen indes nicht, durch Begegnung mit heutiger Kunst, im Sinne
der so belehrenden Studien von Athanasius Kircher (1601-1680)
über Perspektivismus und (auch) Magnetismus, ein Recht daraus
abzuleiten, geschichtliche Phänomene mit den Augen, mit den
<Perspektiven>, mit der <Zuneigung> einer Generation zu deuten,
die mit der sog. <modernen> Kunst aufgewachsen ist. Das bedeutet
allerdings nicht, daß wir den <Magnetismus> dieser modernen,
zeitgenössischen Kunst für ein Erzeugnis von Demiurgen oder für
Manifestationen einer <Endzeit> halten. Canova hat die Antike mit
seinen Augen gesehen, Burckhardt die Renaissance mit den seini-
gen. Wer moderne Deutungen antiker Mythen gelesen hat, wird
schwerlich Gefallen daran finden, die Antike mit Bildwerken Ca-
novas zu identifizieren. Ein heutiger jüngerer Künstler, der auch
nur einige Monate in Rom gelebt hat, wird daran zweifeln müssen,
ob der <Cicerone> in allen Punkten <recht> hat. Das sagt nichts ge-
gen die bewunderungswürdige Größe Burckhardts und nichts ge-
gen das liebenswürdige Talent Canovas. Es soll nur — in dieser Par-
enthese - um eine gewisse Geduld und Ungeduld gebeten werden.
Geduld, um den Fortgang dieser Darstellung abzuwarten, und
Ungeduld gegenüber der unerträglichen Verabsolutierung zeitbe-
dingter Deutungen, so wertvoll ihre einzelnen Ergebnisse auch
sein mögen. Es gilt dies auch für Benedetto Croce, d e r - einer der
größten Geister des zeitgenössischen Italiens - im <Barock> nur
eine elende Geschmacksverirrung sah. Aber Croce war ein kompli-
zierter Kritiker. Seine ästhetische Verurteilung des Barockzeital-
ters entspringt einer Haß-Liebe. <Positiv> wird dieser universale
Vertreter der rationalistisch-liberalen Kritik Italiens in bezug auf
den <Barock> immer dann, wenn er über die <sensualistische> Ero-
tik dieser Zeit schreibt. Er, der Gedichte Hölderlins nie verstanden
hat, findet dann zärtliche, gute Töne. Das Phänomen der Verdrän-
gung findet sich nicht nur bei Künstlern!
Wir aber werden gelegentlich Opfer der manieristischen Tech-
nik der <Umwege> sein müssen. Es liegt dies nicht nur an einer
Anpassung an diesen enzyklopädischem Gegenstand. Eine in-
duktive Methodologie muß sich ihrem Thema angleichen. Das
Wort Enzyklopädie (en kyklos paideia) hat es mit dem <Kreis> zu tun
(Umkreis des Wissens). Die Manieristen waren der Figur des Krei-
ses abhold. Sie liebten die Hyperbel und die Ellipse, Begriffe aus
der antiken Rhetorik, aus der Mathematik und Astronomie, Be-
griffe also, die — wie wir später aus kurzen Einblicken in die Natur-
Wissenschaft magischer oder empirischer Art sehen werden - die
Künstler des Hochmanierismus ebenso fesselten, wie Franz Marc,
Paul Klee, Max Ernst, Boccioni und viele andere von Erkenntnis-
sen der Kernphysik ihrer Zeit angeregt wurden.

Kontraste und Paradoxien


Rosso Fiorentino! Das denk- und merkwürdige Bild in dieser Zeit
der zahllosen Kriege zwischen Abendländern (unter sich) und Tür-
ken (mit den Europäern), in dieser Zeit der ersten, geradezu e x -
plosivem Schismen und Entdeckungen auf allen Gebieten hatten
wir sozusagen als Prüfstein verlassen für die erste Konfrontierung
von Manierismen in jeweils vor- oder zurückliegenden Epochen.
Das Drama der Epoche trägt Rosso nicht aus. Doch eines ist in
diesem Bilde angelegt, mehr noch als in denjenigen Pontormos:
die Weiterentwicklung des bildnerischen Manierismus der bella
/" maniera und der maniera serpentinata. Die bella maniera, der ele-
gant-dekadent erotische Manierismus (mit vielen erotischen Plus-
und Minus-Zeichen), wirkt vor allem in Fontainebleau weiter, von
dem Erasmus nach dem Sacco diRomavon 1527 sagte, es sei dort

Rosso Fiorentino:
Pompejanische Szene
Jacques Beilange: Die drei Marien
am Grabe Christi

das neue Rom, das Rom des Nordens, entstanden. In Fontaine-


bleau, am Hofe Franz I. (1515—1547), wirkten ab 1531 u.a. Rosso,
später Primaticcio und Nicolö dell'Abate. Diese italienischen
Künstler haben die <preziöse> französische, ja die ganze nordeuro-
päische Malerei und Literatur (bis zum Impressionismus und bis
zur Gegenwart) vorwiegend <manieristisch> beeinflußt. Dafür nur
wenige Beispiele. Man vergleiche Rossos <Pompejanische Szene>
mit Jacques Behanges (Anfang des 17. Jahrhunderts, genaue Da-
ten unbekannt) <Drei Marien am Grabe Christh. Die Darstellun-
gen sind so verschieden wie Feuer (Rosso) und Wasser (Bellange);
doch genügt es, um die Weiterwirkung der <Serpentinata> zu beob- ./
achten, die drei Frauengestalten im linken unteren Bildrand des
Werkes von Rosso mit den Figuren im linken oberen Bildrand von
Beilange zu vergleichen, um die <serpentinarische> Deformations- vr
tendenz festzustellen. Wenn man die drei Marien Beilanges länger
beobachtet, werden sie wie drei organische Formen, die allmählich
zu abstrus vegetativen Wucherungen <hybrieren>. Dieses Wuchern
des Organischen findet man in der Kunst des 20. Jahrhunderts wie
in der Literatur. Diese visionären <Zeitlupen-Bilder> im <Serpenti-
47
Tintoretto: Himmelfahrt

nata-Stil> haben in der Geistesgeschichte Europas Höhepunkte.


Einer dieser <explosiv-starren> Höhepunkte ist Tintorettos Mei-
sterwerk: <Die Himmelfahrt) der Scuola di S. Rocco in Venedig.
Man beachte die <Explosion> der Engelsflügel, eine <Para-Statik>,
die in der ganzen europäischen Kunst ihresgleichen sucht. Dann
' Teleplasma: ein schleimartiger den etwas vertieften Bildmittelpunkt: ätherische, teleplasmische
Stoff bei parapsychologischen Er-
scheinungen, der angeblich ^Mate- Figuren aus der Welt der <Idea> sowie die Verschiebung des klassi-
rialisationen» der Seele beweist. schen unteren Bildgewichts nach links anstatt nach rechts. Anti-
klassisch par excellence ist der Fuß des Engels (obere Hälfte des
linken Bildrands), der wie eine Monstrosität von ganz und gar
Nichtengelhaftem die ätherischen Zentralfiguren in höchst un-
ästhetischer Weise bedroht. Kontraste! Geniale Paradoxien! Bei
Tintoretto erreichten sie - wie bei Greco - Gipfel des damaligen
48 Manierismus. Greco, der den französischen und italienischen Ma-
nierismus kannte, wendete in vollkommenster schöpferischer
Reinheit diesen europäischen Stil an und erreichte wie Göngora
eine echte, eine visionäre Kongruenz von <Form und Inhalb. Sein
Meisterwerk im Serpentinata-Stil, die Johannesvisiom, ist für die
spätere Zeit ein <Urbild> geworden wie für die Vorgänger Grecos
die Laokoongruppe. Dazu heutige Beispiele: Picassos <Fräulein
von Avignom, Scipiones <Apokalypse> und Max Ernsts <Vision des
bewegungslosen Vaters>.
Wir dürfen mit Dvorak festhalten: <Im Manierismus erhebt sich
die künstlerische Phantasie zu einem Fluge, der alles, was in den
vorangehenden Jahrhunderten geschaffen wurde, wie ein beschei- Pablo Picasso: Les Demoiselles
denes Vorspiel erscheinen läßt.> <Der Expressionismus ist in mehr d'Avignon
als einer Beziehung mit dem Manierismus verwandt, (er wird) von
einer eigentümlichen Spekulation begleitet, die in diejenigen Bah-
nen zurücklenkt, auf denen das kunsttheoretische Denken des
16. Jahrhunderts gewandelt war, in die Bahnen einer Kunstmeta- 9
Werner Hofmann: <\4anier> und
physik, die das Phänomen des künstlerischen Schaffens aus einem <Stil> in der Kunst des 20. Jh.s. Stu-
übersinnlichen und absoluten, wie man es heute gern ausdrückt, dium Generale. Heft 1/1955. W.
Hofmann hat mit bedeutendem
kosmischen Prinzip abzuleiten sucht.> <Will man aufzeigen, wel- Scharfsinn eins der ersten Bezugssy-
che Tendenzen, Problemstellungen und Theorien der Gegen- steme dieser Art entworfen. Er geht
im wesentlichen dabei aus von einer
wartskunst sich auf diese Epoche einer ähnlich gewaltigen ,Distur- für den Manierismus kennzeichnen-
bation' zurückverfolgen lassen (in der geheimen Hoffnung, damit den <Formenpluralität> und Abwen-
dung von der Natur, die zur «Kunst
der eigentlichen Ursprungszone der ,modernen Kunst' auf die aus Kunst> führt. In den von Goethe
Spur zu kommen), so scheint es unerläßlich, die Fülle der Beob- umrissenen Ausdruckskategorien
(Einfache Nachahmung - Manier -
achtungen, welche wir Dvoräks weitblickender Intuition verdan- Stil) spiegle sich «das künstlerische
ken, zu einem Bezugssystem zu verknüpfen.) 9 Erste Hinweise die- Streben heute wie ehedem>.

El Greco: Johannesvision

49
ser Art finden wir schon zwischen 1920 und 1930, dem Jahrzehnt
der höchsten Entfaltung der modernen Kunst in Europa. Einem
neuen Interesse und auch einem ersten besseren Verständnis für
den <Barock> begegnet man in dem Jahrzehnt, in welchem die
wichtigsten Meister der modernen Kunst geboren wurden, in den
Jahren 1880 bis 1890. <Das Jahr 1887, das Erscheinungsjahr des
,Springer', ist trotz aller Antipathien im Kreis älterer Forschung
der Wendepunkt in der Gewinnung unserer Barockbegriffe.> In
der Neuauflage des Meyerschen Lexikons von 1885 wird festge-
stellt: <Seit dieser Zeit (1880) machen sich wieder starke Neigun-
gen für Barock- und Bokoko-Kimst geltende Ab i8go spricht man
von einem <Neobarock>, gleichzeitig entsteht der Impressionismus.
1883 veröffentlicht Huysmans sein aufsehenerregendes Werk
<L'ArtModerne>. 1911 erscheint eine der ersten neueren Arbeiten,
die den Manierismus als selbständigen Stil zwischen Benaissance
und Barock unterscheiden. Es fallen also die ersten Jahrzehnte der
Entwicklung der zeitgenössischen <modernen Kunst> mit der Wie-
derentdeckung des Barock und mit den ersten Einsichten über
Sonderart und Charakter des Manierismus zusammen. Das hat
psychologische und soziologische Ursachen, die sich in der Zeit-
kritik Nietzsches widerspiegeln. Schon vor dem Ersten Weltkrieg
ahnen viele die kommende Katastrophe. Rationalismus und Idea-
lismus begegnen einer wachsenden Ablehnung. Die <klassische>
Naturwissenschaft wird erschüttert. Neue mystische Lehren brei-
ten sich aus.

Scipione (Gino Bonichi):


Apokalypse
Die geistige Wende in Florenz
Ein ähnliches Bild ergibt sich um 1500 in Florenz. Eine neue
Anthropologie entsteht im Zusammenhang mit naturwissen-
schaftlichen Erkenntnissen und mit einer neuen antischolasti-
schen Philosophie. Um 1500 wird in Florenz der moderne Begriff
v»«u<«r,.
der Subjektivität langsam aus einem Gestrüpp von philosophisch-
theologischen Spekulationen und von magisch-naturwissenschaft- 3? ^
* \ i3d^ 1
lichen Vorstellungen immer schärfer definiert. Die <Idea>, die On- B 1 itf^^
tologie des Subjektiven, wird dabei vertieft und die Anschauung
der Natur bereichert. Der Mensch gewinnt neue <innere> Dimen-
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sionen und die Natur neue <wunderbare> Aspekte. Die toskani- ^£j| %3§*^3ß?
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schen Frühmanieristen müssen vor diesem Hintergrund gesehen •-önsEt v ^ ' . ^ s ^ ^ Jpl
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werden. Hinzu kommt, daß diese geistige Wende in Florenz, die


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u. a. zur Kunsttheorie der <Idea> führt, breite Ströme des Denkens
Hartmann Schedel: Illustration aus
und Empfindens, besonders in der <Magie> und Mystik Europas, dem <Liber Chronicarum>
bis um die Mitte des 17. Jahrhunderts speist, bis zum Aufkommen
der matürhchen Systeme> nach Descartes und Leibniz, die beide
noch dem <Barock> angehören. Wenigstens Grundzüge dieser er-
regenden geistigen Vorgänge im Arno-Athen muß man beachten,
will man die weitere Ausstrahlung des Manierismus verstehen, die
zunächst, außer nach Fontainebleau, nach Rom, dann nach Prag,
nach Wien, München, Haarlem, Antwerpen, nach Würzburg und
Nürnberg, nach allen bedeutenden geistigen Zentren Nord- und
Mitteleuropas reichte. Die manieristische <Idea>-Lehre breitet sich

Max Ernst: Vision des


bewegungslosen Vaters

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Joan Miro: Person, einen Stein nach


einem Vogel werfend

gleichzeitig mit der Wiederentdeckung der Antike über ganz Eu-


ropa aus. Auch die Manieristen nehmen die Antike auf, aber es ist
eine Antike der meraviglia, der abenteuerlichen Seltsamkeiten, der
erotischen Kühnheiten, der Rätsel, Geheimnisse und auch der Ab-
normitäten. 10 Das Florenz um 1500... Es wurde für das Europa
10
Vgl. dazu die Herodot-Illustration
aus dem <Liber Chronicarum>
(1493) von Schedel und ein zeitge- von 1550 bis 1660 das, was für das Zeitalter Hadrians Alexandrien
nössisches Werk: Miros <Person, ei- gewesen ist. Davon soll, bevor wir uns in das Rom Clemens VII.
nen Stein nach einem Vogel wer-
fend) (1926).
und Pauls III. begeben, dem zweiten manieristischen Mittelpunkt
im damaligen Italien, in den letzten Abschnitten dieses Kapitels
einiges erwähnt werden. Didaktische Hinweise, wie sie in diesem
letzten Abschnitt enthalten sind, sollte der Leser verzeihen. Sie die-
nen dazu, in einem nicht nur des Themas, sondern auch der Fülle
des historischen Stoffes wegen unabsehbaren, aber faszinierenden
Dschungel übersichtliche Pfade zu finden.

52
4. <IDEA> UND
MAGISCHE NATUR

<Deus in terris> oder O h n m a c h t


des M e n s c h e n

Der Mensch ist Dens in terris, ein Gott auf Erden. Mit diesem Aus-
spruch, der wie ein Axiom des Renaissance-Individualismus an-
mutet, faßte noch vor 1500 Marsilio Ficino, Arzt und Philosoph,
seine wichtigsten Erkenntnisse zusammen. Dieser Mitbegründer
der Platonischen Akademie von Florenz wollte damit nicht blas-
phemisch wirken. Er vereinte in sich Gelehrsamkeit, Sensibilität,
die weltmännische Geschmackssicherheit der großen Alexandri-
ner mit <saturnischer> Schwermut, aber er war von einer tiefen, my-
stischen, von einer geist- und phantasievollen Frömmigkeit erfüllt
(er wurde 147a Priester), die im nachtridentischen Italien, nach
1565, relativ selten geworden ist. Ficinos herausforderndes Wort
ist aus der Skepsis zu erklären, die dem bisherigen mittelalterli-
chen Vorsehungsglauben entgegengebracht wurde. Leidenschaft-
lich werden Piaton und Plotin interpretiert. Der Mensch mit seiner
Fähigkeit, <Ideen>, kosmische Urhieroglyphen, zu erkennen, emp-
findet seine Sonderstellung in der Hierarchie alles Seienden mit
einem starken Gefühl von Auserwähltheit und Sonderbarkeit. Die-
ses mystische Selbstbewußtsein, als einziger in der Schöpfung die
<uranischen Orter>, die <Zeichen> des Absoluten begreifen zu kön-
nen, gibt ihm ein Machtgefühl; gleichzeitig nährt dieses sein Miß-
trauen gegenüber jeder leicht erklärbaren, leicht faßlichen, zu ein-
fach gedeuteten Realität der materiellen Welt. Das Subjekt, in wel-
chem sich das Absolute im platonischen Sinne spiegelt, empfindet
sich vor allem mit seiner produktiven Phantasie als allmächtig;
aber die Unsicherheit gegenüber der Natur bleibt bestehen. Die
Natur-<Kritik> weicht dem Rationalistischen noch aus, sie bleibt
magischen Vorstellungen verhaftet. Die Natur bleibt, je mehr das
Subjekt an Sicherheit gewinnt, <magisch> unsicher, voller Fremd-
artigkeiten und Wunder. Das gesellschaftliche und politische Le-
ben, das auch damals genügend Anlaß gegeben hätte, sich über
<soziale Standort-Bedingtheiten> klarzuwerden, wird noch nicht
zum Gegenstand einer entsprechend engeren Kritik gemacht. Ma-
chiavelli schildert es realistisch; er nimmt die entsetzlichen Wider-
sprüche als gegeben hin, er legitimiert das <Grauen> als nie zu
überwindende Eigenschaft der Polis. Wie Nietzsche baut er dem
Amoraliste schlechthin, Cesare Borgia, einen Altar. Die Unsicher-
heit des Menschen entstammte - im Umkreis der Platonischen
Akad emie von Florenz — der rätselhaften Natur, seine Sicherheit
der Gewißheit, daß er den <mythischen Menschern überwunden
habe und mit freiem, neuem Bewußtsein philosophisch-theologi-
sche Wahrheit finden könne. Das ist eine der Ursachen für die
<Problematik> des damaligen <modernen> Menschen: die Freiheit
des Subjekts und die <magisch> zwar zu erklärende, aber rational
nicht zu verstehende Natur.
Die Problematik des zeitgenössischen Menschen hat, wo auch
immer man entsprechende entscheidende Dokumente prüft, eine
ähnliche, aber andersgelagerte Ursache. Auf der einen Seite im
<Subjekt> das selbstherrliche Gefühl, daß mit der ethischen Ver-
nunft alle gesellschaftlichen Konflikte, vor allem Kriege, überwun- ej*
den werden müßten, auf der anderen das Erlebnis, daß gerade
an Höhepunkten moralistisch-philosophischer Erkenntnisse das
Grauen des <Irrationalen> geradezu mit doppelter Gewalt alle
<Fortschritte> vernichtet. Hugo Ball, der Mitbegründer des Dadais-
mus, stellte während des Krieges 1914 bis 1918 die Frage: <Was
soll und was sollte der Geist? Welche Macht besaß er, da ein sol-
ches Blutbad entstehen konnte? Wie war es möglich, daß der Geist
nicht das Massensterben und die Not verhindern konnte? > Der
Mensch des 20. Jahrhunderts steht vor dem Geheimnis der Ge-
schichte und der Gesellschaft, doppelt empfunden aus seiner sub-
jektiven Konstruktionsmöglichkeit aller erdenklichen <Vollkom-
menheitem. Am Anfang des 16. Jahrhunderts ergibt sich auch eine
Antinomie, die zu starken Spannungen führt, aber nicht die von
Subjekt und Geschichte, sondern die von Subjekt und Natur. Auch
Kriege werden mehr als Naturereignisse oder sogar als religiös-
metaphysische <Strafgerichte> empfunden denn als wirtschaftliche
und menschlich-psychologische Katastrophen. In beiden Fällen
wird, neben Scheitern, Selbstmord, Wahnsinn, das <Subjektive>,
das wissend-leidende <Ich> übersteigert, die Welt als ein tragischer
Widerspruch empfunden. Auf der einen Seite Deus in terris, auf der
anderen der Mensch in der Ohnmacht. Das muß für alle, die sich
nicht mit der Ersatzfunktion von konstruierten Harmonie-Mythen
begnügen wollen, den Ausdruck in jeder Hinsicht bestimmen.

Ruheloses Wandern in den


Wundern der Welt
Ficino hatte am Ende der mittelalterlichen Ordo-Idee die meta-
physische Freiheit des Subjekts in einer noch theistischen Bezo-
genheit formuliert. Später wird bei Giordano Bruno daraus ein
pantheistischer Rausch und eine radikale, antiklassische ästheti-
sche Theorie. Aber auch in der Platonischen Akademie von Flo-
renz fand man in der Deus in terris -Vorstellung keineswegs Sicher-
heit. <Die Lebensphilosophie des magisch-selbstherrlichen Men-
schen (der Spätrenaissance) war unfähig, das Leben nach be-
stimmten Grundsätzen zu gestalten. Das Leben war hier über-
haupt keine der Welt gegenüber abzugrenzende Sphäre, die auto-
nom zu regeln ist. Dieser Mensch faßte sich stets im Verhältnis zu
einer naturhaften, magisch-gedeckten Umgebung auf. Sein Leben
war ein ruheloses Wandern in den Wundern der Welt, in der va-
rietas rerwrn\> <Die Melancholie erlebte in der florentinischen
Frührenaissance ihre Nobilitierung, sie wird, was sie beinahe bis
heute geblieben ist, zur typischen Haltung des modernen Genies>
(Panofsky-Saxl. o.e.). Im Zusammenhang mit den geistigen Span-
nungen in Florenz um 1500 beginnt die große Reihe der <Proble-
matiker>, von Calderon, Crashaw und Donne, von Rousseau und
Amiel, von Kierkegaard, Leopardi und Novalis bis hin zu Gide
Yeats und Eliot. Die Grenze zwischen Leben und Traum wird ver-
wischt. Die magische Landschaft bildet sich aus, die Welt als
Traum, als bilderreiches Sinnbild für alles Arkane, als unerschöpf-
liche Erzeugerin von meraviglia, und in der Welt spiegelt sich das
Geheimnis Gottes. Ein Beispiel dafür findet man in dem Druck von
Giorgio Ghisi (1520-1582), <Raffaels Traum>: Fabelwesen astro-
nomische Zeichen, phantastische Buinen, eine Stadt wie eine Fata
Morgana, ein irdisches und ein überirdisches (?) Wesen in einem
räumlich distanzierten Zwiegespräch rechts und links von einer
Giorgio Ghisi: IJer Traum des
Raffael

Marc Antonio Raimondi: <Traum>


nach Giorgione

ha f

Dosso Dossi: Der Traum

55
Fabius von Gugel: Traumlaiidschaft

unheimlich bedrohten Barke. Was auch immer hier dargestellt


werden sollte (in der bärtigen Figur links glaubt man, Michel-
angelo erkennen zu können; Panofsky hält es für eine Schilderung
der Begegnung zwischen Aneas und der Sibylle von Cumä, nach
Vergils Aneis), vieles ist möglich: verschiedene Aspekte der Dinge
ineinander zu komponieren, da eine Antike der Seltsamkeiten, der
Mysterien bevorzugt wird. Auch von Marc Anton Raimondi (um
1
475 — etwa 1534) gibt es einen Kupferstich mit einer <surrealen>
Traumlandschaft, die Hartlaub als <Traum> nach Giorgione be-
zeichnete. Die schlafenden Mädchen mit dem Höllengetier am
Flußrand (Styx?), der Turm mit den astronomischen Instrumenten
- vor allem die beunruhigende Stille bei so vielen Vorgängen, als
sei alles plötzlich zu Glas erstarrt, lassen nicht nur an so viele ähn-
liche Schilderungen im zeitgenössischen Surrealismus denken.
Man könnte an eine Art von psychoanalytischer Symbolik avant la
lettre denken, wie Hartlaub meint. Die brennende Stadt, Szene
eines <stummen> Deliriums, Symbol für das <Paranoische> des
Traums, findet man auch im Dresdener Traumbild (<I1 Sogno>) von
Dosso Dossi (1482-1552). Begnügen wir uns mit der Feststellung,
daß magische Landschaften u n d gemalte Träume auftauchen, daß
sie als <Wunderbarkeiten> beliebt sind, und daß die größten Künst-
ler des Manierismus ihre Phantasie daransetzen, solche zu erfin-
den, so z.B. Greco in dem eindrucksvollen Bild <Der Berg Sinai>
(Ausschnitt) aus dem Museum von Modena. Dazu zwei Beispiele
ung . o aus der Kunst der Gegenwart: H. Rousseau, <Der Traum> und Fa-
bius von Gugel, <Traumlandschaft>. Welten alter meraviglia. Wie-
derholt sei das Zitat Andre Bretons: <Das Wunderbare (fe merveil-
leux) ist immer schön, ganz gleich, welches Wunderbare; es ist so-
gar nur das Wunderbare schön.>

56
Hieroglyphen der Welt
In der florentinischen Spätrenaissance wird Ficinos Wort zur pro-
grammatischen Formel: Die Seele ist in der Kunst eine <Rivalin
Gottes>. Es gibt keine Grenze zwischen Fiktivem und Wirklichem,
daher eine trunkene Experimentierfreude, ein unaufhörliches
Versuchen, die subjektive Welt, die dem metaphysisch Absoluten
verbunden ist, gegen die <objektive> Welt der <Natur>, der <Mate-
rie>, der konventionellen Harmonien, der pharisäischen <Ordnun-
gen> zur Geltung zu bringen. So entsteht allmählich der Konflikt
zwischen den Künstlern als <Zigeunern>, <Bohemiens>, <Träu-
mern>, <Lebensunfähigen>, <Narren> usw. und der Welt der Büro-
kratie, des Militärs, des späten Bürgertums (das frühe war immer
antikonformistisch) sowie der konventionellen <Bildung>.
In der geistigen Umwelt der Platonischen Akademie in Florenz
fallen Subjektivismus und Magie zusammen: <Man will erproben,
was man in der Welt vermag> (L. v. Renthe-Fink). Die Welt wird
zum weiten Bereich des überhaupt Ausdenkbaren>, aber sie wird
immer — des geschilderten Zwiespalts wegen - mit <melancholi-
schen> Augen gesehen. Der Scharfsinn eines stets fragenden Sub-
jekts mit einem schmerzlichen Gefühl für <Ungeborgenheit> sind
wichtigste Merkmale des Hochmanierismus um 1600, vor allem in
den Dramen Shakespeares und in der Lyrik Donnes. Piaton
wurde, wie im Zusammenhang mit Pontormo bereits erwähnt, als
<Melancholiker>, als <Saturn-Kind> angesehen. Im Jahre 1474, also
20 Jahre vor der Geburt Pontormos, veröffentlichte Marsilio Ficino
seine <Theologia Platonica>, die Bibel der florentinischen Neupla-
tonik. Sie übte auch in Spanien einen großen Einfluß aus.11 Die
Ideen werden darin als <erste Bilder> und zugleich als <bewegende
Kräfte> bezeichnet; nur die menschliche Seele erkennt sie, also
wird sie zum Mittelpunkt der Welt. In der Natur jedoch kann sie
das in ihr stets Verborgene nicht so leicht erkennen wie in der my-
stischen, inneren Schau der Ideen. Die <Natur> ist eine unergründ-
liche Schatzkammer von <Hieroglyphen>. Das Wort Hieroglyphe
gehört, wie die Wörter Labyrinth, Rätsel, Wunder, Spiegel, Zeit,
Uhr, Tod usw., zu den bevorzugten im Wortschatz der Manieristen.
Damals glaubte man, die ägyptischen Hieroglyphen entziffert zu
haben. Ficino selbst hatte 1463 einen entsprechenden ersten grie-
chischen Interpretationsversuch dessen, was die ägyptischen Hie-
roglyphen seien, ins Lateinische übersetzt. Ficino fragt: Was ist das
letzte Rätsel? Die Kraft der Verwandlung eines Dinges in ein ande-
res. Ahnlich hatte Aristoteles das Wesen der Metapher definiert.
Die <Hieroglyphe> ist ein <Zeichen> — für etwas anderes — wie die
Metapher.
Diese Hieroglyphe-Metapher wird seit Ficino das Hauptmotiv
einer ästhetischen Mode, vor allem in der Literatur, aber auch ein
beliebtes Attribut in Kunstwerken. Mario Praz, dem die scharfsin-
nigsten Erkenntnisse über die Emblemen- und Devisenliteratur in
ihrer Verbindung zur Hieroglyphik zu verdanken sind, meint, diese
<Geheimschrift> der Wappenzeichen und Wahlsprüche habe die
gesamte damalige Literatur mindestens so stark beeinflußt wie die
Bibel. Wir werden darauf in unserer Darstellung über die manieri-
stische Literatur näher eingehen, besonders was die zeitgenössi-
sche Lyrik angeht, denn das Wort Hieroglyphe ist in der Kunst und
Literatur der Gegenwart genauso lebendig geblieben wie die eben
genannten Wörter: Labyrinth, Rätsel, Wunder, Spiegel, Zeit. Uhr,
Tod. Wir finden sie allein als Titel von Gedichtausgaben in der
europäischen Literatur von 1890 bis 1950 auffallend oft. Friedrich
Schlegel nahm den Begriff der Hieroglyphik für die Ästhetik wie-
der auf. Er findet sie in den Landschaften Philipp Otto Runges.
Der menschliche Leib gilt ihm als <höchste aller Hieroglyphen).
Werner Haftmann benutzt das Wort in seiner <Malerei des
20. Jahrhunderts) ebenfalls häufig. Er zitiert eine Aussage Ernst
Ludwig Kirchners (1880-1938) über dessen künstlerische Absich-
ten, die an wissenschaftliche) Phantasien des Enzyklopädisten des
Manierismus erinnern, an Athanasius Kircher, den Verfasser der
<Sphinx Mystagoga> (1626), die 25 Jahre nach Shakespeares größ-
ter hieroglyphischer Theater-Metapher, <Hamlet>, erschienen ist:
<Die Hieroglyphik, diese unnaturalistische Formung des inneren
Bildes der sichtbaren Welt.) Der Kreis schließt sich <magisch> bis
auf den Zusammenklang der Namen. Unsere Reproduktion einer
Illustration aus Kirchers <Sphinx Mystagoga>, eine <magische> Py-
ramidenlandschaft, verbunden mit einer Unterwelt von Gräbern
und Toten, zeigt, wie die Entdeckungen Ficinos, dieses Kolumbus

Cornelis Decker:
Pyramiderdandschaft in Athanasius
Kirchers «Sphinx Mvstagoga>

58
Max Ernst: Der gestohlene Sp

der europäischen Geistesgeschichte, über die Zeiten hinweg wirk-


ten. Diese geheimnisvoll sprechende Todeslandschaft Deckers im
Werke des deutschen Jesuiten Athanasius Kircher gehört zu den
interessantesten Dokumenten für jene Sehnsucht nach Ursprung,
nach Urschriften, nach Urworten, nach einer voradamischen Welt.

Magia naturalis
Esoterik, Hermetismus, theosophische Astrologien - eine univer-
sale magia naturalis im Sinne der <Magia naturalis sive de miracu-
lis rerum naturalium> (1558) von G. B. della Porta (1535-1615),
eines Werks, das Goethe lobte, Kant zitierte und Salvador Dali aus-
giebig benutzte - gehören zu den bevorzugtesten Themata und
rorschungsmotiven der vielen <Geheimakademien> dieser Zeit
nach den <Theosophien> Polizians, Ficinos und Pico della Miran-
dolas. G. B. della Porta hatte eine <Accademia de' Segreti> gegrün-
det. In Padua gab es eine.<Accademia degli Occultü. Sie wurden
von der Kirche zeitweise verboten. Diskutiert wurde dann vielfach
in den Ateliers der Künstler. Die ersten Anregungen kamen von
den unerschöpflichen theologischen Enzyklopädisten, von Ficino
und Pico. Versunkenes Geheimwissen wird ausgegraben. Pico
schreibt: <Der uralten Theologie des Mercurius Trismegistus. der
cnaldäischen und der pythagoreischen Lehren und den dunklen
Mysterien der Hebräer habe ich manches bis dahin Unbekannte
entnommen und durch eigenes Forschen ergänzt.) 59
G. B. della Porta ist demgegenüber eine ganz andere Figur. Sein
Leben (1540-1615) umfaßt die beiden ersten Epochen des Manie-
rismus. Er starb im selben Jahr wie Kaiser Rudolf IL, der sich von
Prag aus mit dem in Neapel wohnenden Meister der Natur-<Mera-
viglia> und Wunderarzt in Verbindung setzte, damit er ihm <experi-
mentelb den Stein der Weisen suche. Della Porta schuf in seinem
Haus in Neapel eines der ersten Wunderkabinette der Zeit. Ge-
lehrte aus ganz Europa kamen, u m seine abstrusen Sammlungen
zu bewundern. Seine krankhafte Liebe für das insolito, für das Un-
gewöhnliche, galt als Merkmal einer bewunderten Genialität. Er
glaubte, im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Galilei, nicht an
Naturgesetze. Die <Geheimnisse> der Natur könnten nämlich nur
durch magische Künste sichtbar gemacht, aber nicht rational er-
klärt werden. Jedoch: er vereint Magie bereits mit einer Experi-
mentierpraktik. Experimentelle Empirie wird mit Okkultismus
kombiniert; doch um nur eines zu erreichen: <absurd> Praktisches,
so etwa Pfirsiche ohne Kern und künstliche Hexennägel. Er be-
schreibt die Laterna magica und die <geheimen> Eigenschaften von
Steinen und Pflanzen; so soll z. B. Karneol nützlich sein gegen den
Wahnsinn. Dann entwirft er Kryptographien, Geheimschriften,
und plant Wundermaschinen, so etwa einen <parabolischen Strah-
lenspiegeb, der aus der Ferne eine ganze Flotte hätte vernichten
I können. Weltberühmt wurde damals seine <Humana Physiogno-
monia> (1586), in welcher er Menschengesichter mit Tiergesich-
•tern vergleicht, aber auch Tiergesichter mit Pflanzenformen. Gali-
lei, der Vater der modernen Naturwissenschaft, nannte sein Werk
goffissimo — lächerlich, gestaltlos, plump. Wie dem auch sei, für
die damaligen Manieristen war es eine Fundgrube wie die Philoso-
phie Ficinos, und man begreift, warum auch der heutige Salvador
Dali, der selbst gern den Narren spielt, so viele Anregungen holte
aus dem Werk dieses <paranoischen> Wundermannes aus dem ma-
nieristischen Neapel zur Zeit Marinos.
Metaphysische Ideenlehre und Naturphilosophie sollen um
diese Zeit noch ausdrücklich im Rahmen einer <guten>, einer <wei-
ßen> Magie bleiben. Diese bleibt dem Göttlichen verbunden. Erst
später nach des Kopernikus neuer Erkenntnis (1543), nach Gior-
dano Brunos Pantheismus (Hauptwerke 1584, 1591), nach Keplers
aufsehenerregenden Publikationen (1596, 1609, 1619), während
der späteren Lebenszeit von Galilei (1564—1624), im späteren Ma-
nierismus also, wird auch diese letzte Bindung locker. Die erschüt-
terte Welt scheint vollends zusammenzubrechen. John Donne
schreibt sein berühmtes Gedicht <Anatomie of the World>: <Eine
neue Philosophie stellt alles in Zweifel / D a s Feuerelement ist ganz
erloschen / Die Sonne nun verloren / die Erde auch, und nieman-
des Geist, kann richtig lenken, wohin denn nun zu schauen / -
Alles ist zerbrochen, jeglicher Zusammenhang zerrissen, / jede
gerade Ordnung und jede Beziehung. > Wenn die erste Stufe des Ma-
nierismus noch im Korrelat <Anmut und Geheimnis) zu fassen ist,
die folgenden Stufen aber, wie wir sehen werden, zu einer viel stär-
keren Desintegration führen, so liegt dies an dem spezifischen
Charakter der italienischen <Pansophien> u m 1500. Diese zeitli-
chen Abgrenzungen sind nicht immer genau genug gezogen wor-
den. Im Okkulten der Natur offenbart sich bei Ficino und Pico je-
denfalls noch immer Gott, ebenso wie er sich im Reiche der Ideen
dem Subjekt erschließt. Von 1511 bis 1518 hält in Italien auch der
in Köln geborene Agrippa von Nettesheim Vorlesungen über
Reuchlins Schrift <De verbo mirifico. 1529 erschien seine <Occulta
philosophia>. Für diese Werke, welche die weitere Entwicklung
der Naturphilosophie anregten, bilden ebenfalls Ficino und Pico
die Grundlagen, aber bei Agrippa wird alles realistischen. Man
sucht weniger theologische als psychologisch-magische Analo-
gien. Die Astrologie wird säkularisiert. Man verbindet das Dispa-
rate miteinander, verkoppelt entfernteste Zusammenhänge, aber
mehr im Sinne einer <schwarzen> Magie der praktischen Seelen-
führung und -beherrschung.
Ganze Ketten von solchen symbolistischen Verkuppelungen ent-
stehen. Sie müssen auf die großen Metaphoriker der späteren ma-
nieristischen Literatur, aber auch auf den späteren nordischen
Manierismus (Arcimboldi in Prag) faszinierend gewirkt haben.
Ein Beispiel: eine Aufzählung der Attribute des Mars. Genannt
werden u. a. Feuer, Scharfes, Brenzliges, Galle, Bitteres, rotes Erz,
Schwefel, Diamant, Magnet, Blutstein, Jaspis, Seidelbast, Stern-
hut, Disteln, Nesseln, Maultier, Wolf, Giftschlangen, Drachen.
Die idealisierte Magie der Platonischen Akademie von Florenz,
dieser ebenso subtile wie geistvolle Versuch, Geist (Gnade) und
Natur (Wunder) in ein neues <System> zu fassen, wird also allmäh-
lich zu einer bloß ein- und unterordnenden pantheistischen Magie.
Ein (im Rahmen magischer Überlieferungen) pseudoempirisches
Analogieverfahren, das kaum noch religiöser Substanz und er-
kenntniskritisch keiner philosophischen Methode mehr verbun-
den bleibt, setzt sich immer stärker durch. Die magische Naturphi-
losophie verführt immer mehr zu abenteuerlichen Abstrusitäten,
zu bloß konstruierten, abstrakten Hermetismen. Wir werden Par-
allelen dafür in der Kunst um 1609 später schildern.

Die <Idea>-Lehre
Dementsprechend müssen wir zwei Stufen der von der Platoni-
schen Akademie in Florenz ausgehenden Ästhetik der <Idea>-
Lehre unterscheiden. Eine erste bei G. P. Lornazzo (1584) und
eine zweite bei Federico Zuccari in Rom (1542-1609). Erwin Pa-
nofsky bietet mit seinen Untersuchungen über die Traktatenlitera-
tur des 16. Jahrhunderts einen reichhaltigen, geistig aufs schärfste
durchdrungenen Stoff, eins der hervorragenden Beispiele philoso-
phisch geschulter Gelehrsamkeit in Deutschland zwischen 1920
und 1930, im Zusammenhang mit den Renaissance-Forschungen
Cassirers und den motivkundlichen Untersuchungen des War-
burg-Instituts. Panofsky zufolge wird im 16. Jahrhundert die Pla-
tonische Ideie_säkularisiert, d.h. sie wird zu einer <menschlichen>
Potenz. Ein Kunstwerk ist das Ergebnis einer Idee desJKünstlers,
nicht eine Kopie der Natur. Idgeji sind Vorstellungen oder An-
schauungerv£eimüeiste"des Menschen selbst ihren Sitz haben,
allerdings als göttliche <Spiegelung>. Ansätze zu einer solchen Um-
bildung der Platonischen Ideenlehre hat es schon, wie wir sagen
möchten, in den beiden ersten europäischen Phasen des Manieris-
mus gegeben, in Alexandrien und in der Spätantike. <Höhere>
Kunst kann demzufolge des sinnfälligen Vorbilds entraten. Ein
Ausspruch des älteren Philostrat (um 250 n.Chr.) lautet: <Die k_-*-^t* .-
.Phantasie hat (die Kunstwerke des Phidias) gemacht; sie ist eine
bessere Künstlerin als die Nachahmung, denn die Nachahmung
wird darstellen, was sie sah, die Phantasie aber, was sie nicht sah.>
Wir erinnern uns, daß Piaton die Künstler in zwei Kategorien ein-
teilte. Die einen sind Vertreter der mimetike techne, d.h. sie stehen
nur die sinnliche Erscheinung der Körperwelt dar, die anderen 6l
bringen in ihren Werken auch die <Idee> zur Geltung. Es sind dies
die <heuretischen> oder <poietischen> Künstler. Plotin, der für die
Philosophie Ficinos und Picos wichtiger wurde als Piaton, tritt vor
allem für die heuretische oder poietische Auffassung der Kunst ein
wobei die Kunst allerdings der spekulativen geistigen Anschauung
untergeordnet bleibt. In der mittelalterlichen Scholastik, die keine
ausgesprochene Ästhetik entwickelt hat, stand es jedoch ebenfalls
fest, daß der Künstler, wenn auch nicht aus einer Idee, so doch aus
einer dem Werk vorangehenden inneren Formvorstellung oder
<Quasi-Idee> gestalte. Nachahmung der Natur, dies ist vor allem,
wenn auch in einem idealisierenden Sinne, das Programm der Re-
naissance wie jeder Klassik: Kunst ist idealisierte Natur. Allerdings
Leonardo läßt die <überwindende> Kraft der freien Phantasie gel-
ten. Sie kann <neuartige> Gebilde schaffen, wie Chimären und
Kentauren. Leonardo und Michelangelo bilden die vitalsten Über-
gänge von der Hoch- bzw. Spätrenaissance zum Manierismus. Die
Renaissance fühlt sich als Erbin Athens und des Augusteischen
Rom. Der Manierismus zieht Alexandrien und das Hadrianische
Rom vor. In der Hochrenaissance erfolgt aber schon der <Bruch>.
Für Ficino sind die Ideen metaphysische Realitäten, die irdischen
Dinge nur Bilder, Abbilder dieser Wirklichkeit.

Die Vergöttlichung des Subjekts


Dieser <Neuplatonismus> im Zusammenhang mit einer magischen
Naturlehre führt also zu einer Art <Vergöttlichung) des Subjekts,
vor allem des <subjektivistischen> Künstlers. Schon für Vasari wird
die Idee zu einem Synonym für künstlerisches Vor Stellungsvermö-
gen. Bei ihm bleibt jedoch die Idee-Vorstellung noch naturabhän-
gig. Erst in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wird der Künst-
ler zum Urheber aller Regeln überhaupt (Giordano Bruno). Der
Neuplatonismus der Ficino und Pico wird <anthropomorph>. 1543
erscheint die <Revolution der himmlischen Weitem des Koperni-
kus, 1584 Lomazzos Traktat über die <Kunst der Malereh. In der
Kunsttheorie wird der Heliozentrismus zum Psychozentrismus.
Der Geist wird gegenüber der Natur selbstherrlich, die Rebellion
allmählich herausfordernd, aggressiv. In seinem Traktat <De veri
Precetti della Pittura> schreibt G. B. Armenini (Ravenna 1587):
<Ich lache über diejenigen, die jegliches Natürliche für gut halten.>
Der zeichnerische Entwurf müsse vorsorglich <künstlich> sein, der
Intellekt müsse sich regen, die <schöne Idee> zu verwirklichen; er
müsse wie ein lebendiges Licht sein des ingegno, des erfinderi-
schen Geistes, also nicht abhängig von Stoffen, sei es aus der Bibel,
aus der griechisch-römischen Mythologie oder aus der Geschichte.
In der Zeit Pontormos entsteht also, verglichen mit späteren anti-
naturahstischen Programmen, ein Subjektivismus gleichsam er-
sten Grades. MitLomazzo wird ein zweiter Grad erreicht.
Es gibt noch einen dritten und vierten - doch zunächst noch wei-
teres aus der Traktatenliteratur dieser Zeit, die, wie die Kunst-Es-
sayistik im 20. Jahrhundert, so auffallend reich ist. Theorie und
Produktivität regen sich gegenseitig an. <Die mystisch-pneumato-
logische Schönheitslehre des Florentiner Neuplatonismus erlebt
ihre Wiederauferstehung als manieristische Kunstmetaphysik>,
und sie bildet <eine Brücke zwischen der Renaissance und der Ge-
genwart, sie bereitet die moderne, d.h. heutige Kunstkritik vor>
(Panofsky). Kurz der <dritte Grad>: Gregorio Comaninis <I1 Figino
overo delFine della Pittura> (1591), in welchem der Hofmaler Ru-
dolfs IL, Giuseppe Arcimboldi, buchstäblich wie ein Vorläufer Pi-
cassos erscheint. Maler werden gelobt, die alles in alles verwandeln
können. Die <Capricci> Arcimboldis werden von G. P. Lqmazzo in
einem anderen Traktat (<Idea del Tempio>) genannt. In seinem be-
reits erwähnten Dialog-Essay geht Gregorio Comanini auf den
Gegensatz von Darstellungen tatsächlich existierender) und <nicht
existierenden, nur aus der Phantasie geschöpfter Gegenstände ein.
Als wichtigstes Beispiel für diese Tmitazione fantastica>">nennt er
Arcimboldi (15g6), der am Prager Hofe Rudolfs IL Menschenfigu-
ren aus Früchten, Pflanzen, Tieren und Gegenständen zusam-
mensetzt. <Dipingere di maniera> heißt allmählich <dipingere di
sua fantasia>. <Manierismus> ist hier nicht nur anaturalistisch, son-
dern naturfeindlich. Die Emanzipation von derNatur erreicht eine
Intensität, die weder in Alexandrien noch im Hadrianischen Rom
und sehr selten nur im Mittelalter zu finden ist.
Arcimboldi also gilt auf dieser Stufe als der Meister der totalen
Metamorphosen. Dazu der für diese Zeit aufregende Satz: <Die
Kraft der Phantastik hat das Vorrecht, alles was von außen auf uns
eindringt, durch die Sinne aufzunehmen, es dort zu sammeln und
dann neu zu komponieren.) Arcimboldi malt nicht Dinge der
Phantasie, sondern Dinge, von denen man meinen könnte, daß sie
sich nicht vereinigen lassen. Er scheint dem ästhetischen Glau-
bensbekenntnis Lautreamonts zu folgen: <Schön ist die zufällige
Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf ei-
nem Operationstisch.) Wir haben es aber in diesem <dritten Grad>
noch mit einer <gegenständlich> gebundenen <Phantasie> zu tun,
mit einem noch gegenständlich gebundenen magischen <Raum>.
Ansätze dazu findet man u. a. bei Tintoretto und heutige Entspre-
chungen in zahllosen Bildern zwischen igoo und 1950. Das Hete-
rogene im nachnaturalistischen magischen Raum ist schlechthin
ein Kennzeichen des Futurismus, des frühen und späten Surrealis-
mus.

5. CONCETTISMUS

Zuccaris Kunsttheorie
Es fehlt noch der vierte Grad! Man findet die scharfsinnigsten
theoretischen Elemente dazu in Federico Zuccaris (1542-1609)
Traktat: <L'Idea de'Pittori, Scultori ed Architettb (1607), in einem
ausgesprochen ästhetischen System> des Manierismus, wenn es
auch, wie manche andere solcher Abhandlungen, durch vielfach
überflüssigen philosophischen Ballast <überladen> erscheint. Fe-
derico Zuccaris Werk und Persönlichkeit bilden einen weiteren
Übergang zum zweiten manieristischen Kunstzentrum Europas,
zu Rom. Zuccari wurde geboren, als Pontormo noch lebte, er starb
(in Ancona) sieben Jahre vor Shakespeare, im gleichen Jahr 1609,
als Shakespeares Sonette erschienen, 18 Jahre vor Göngora und 14
Jahre vor der ersten Veröffentlichung des <Adone> von Marino zu
Paris. Wichtig ist vor allem, daß sein Leben und Wirken 33 Jahre
vor dem Erscheinen des für die manierisusche Concetto-Literatur
maßgebenden Werks von Graciän <De Arte y I n g e n i o und 45
Jahre vor Tesauros <Fernrohr des Aristoteles> abgeschlossen ist. Lr
gehört somit generationsmäßig der Mittelphase des Manierismus
am Anfang der Neuzeit an, nimmt aber in seiner Theorie die Spat-
phase vorweg. Er bringt den Manierismus gerade deswegen in die-
sen Jahren seines erfahrungsreichen Lebens - Arcimboldi war
schon 1593 gestorben — in einer ebenso scharfsinnigen wie be-
schwingten Weise theoretisch zum Ausdruck. Zuccaris Kunsttheo-
rie geht vom frühen Florentiner Neuplatonismus aus, aber er er-
weitert, durch eigene und fremde neue Aristoteles-Forschungen
angeregt, den Idea-Begriff zur Concetto-Formel, also längst vor
Graciän und Tesauro. Er faßt den <Concettismus> zum ersten Mal,
in bezug auf die bildende Kunst, in ein größeres neuplatonisches
System, das mit Grundbegriffen der Aristotelischen Ontologie er-
gänzt wird; es ist das erste Mal, selbst wenn man berücksichtigt,
daß der Italiener Camillo Pellegrino schon 1598 ein <concettisti-
sches> Programm schrieb: <Del Concetto Poetico>; es wurde jedoch
erst 1898 gedruckt. Der bedeutende spanische Vorläufer Graciäns,
Luys Carillo, veröffentlicht sein <Libro de la Erudiciön Poetica> mit
dem manieristischen Kernsatz: <Klarheit beim Dichter hat den
Charakter des Lasters> erst 1611 und 1613. Andererseits hat Zuc-
cari 158g bis 1595 am Hofe Philipps II. in Madrid gearbeitet. Sei-
ner rastlosen Wißbegierde wird kaum die erste kultistische und
concettistische Mode in den Schriften und Predigten des damali-
gen Spaniens entgangen sein. Um 1600 war der Concettismus an
fast allen Höfen West- und Südeuropas nicht nur zu einer Manier,
sondern zu einer Manie geworden. Dennoch steht es fest, daß Zuc-
cari, dieser vielgereiste, weltgewandte und gebildete Künstler, mit
seinem Traktat eine erste concettistische Kunsttheorie verfaßt hat,
allerdings nur für die bildende Kunst. Die späteren bedeutenden
Theoretiker des literarischen Manierismus, Graciän und Tesauro,
könnten ihn durchaus benutzt haben, so auffallend sind die Paral-
lelen. Tesauro hat an verschiedenen Stellen über den <Concettis-
mus> in der bildenden Kunst gescheite Bemerkungen gemacht. Er
beruft sich dabei auf einen Ausdruck von Plinius: <picturae ar- >c
gutiae>. Nicht nur die manieristische Kunst eilt der manieristischen
Dichtung voraus; das gleiche gilt für die Kunsttheorie gegenüber
der Poetik. Zuccaris Traktat erschließt uns den geistigen Hinter-
grund manieristischer Kunst aus dem Nachwirken Marsilio Fici-
nos bis zum Prag Kaiser Rudolfs IL, bis zum München Orlando di
Lassos und bis zu den nordischen Spätmanieristen.
Federico Zuccaris Leben war bewegt wie die meisten Figuren
auf seinen Bildern und Fresken. Er wirkte zunächst in Rom, dann
in England, wo er die Königin Elisabeth und Maria Stuart porträ-
tierte. Nach Rom zurückgekehrt, wurde er dort wegen allerlei
Streitigkeiten von Gregor XLfl. fortgetrieben. Er reiste nach Vene-
dig, kehrte wieder nach Rom zurück und ging dann für drei Jahre
nach Spanien. Wenn auch Philipp II. mit ihm nicht recht zufrieden
war, wurde er reich belohnt und wendete sich als wohlhabender
Mann wieder Rom zu, wo er sich auf dem Pincio-Hügel einen vor-
nehmen Palazzo bauen ließ; mit seinen architektonischen Grotes-
ken (Türeingänge in Form von Dämonenfratzen) und Fresken ei-
nes der interessantesten Beispiele für den römischen Manierismus.
(Der Palazzo Zuccari ist seit 1912 Sitz des deutschen Kunsthistori-
schen Instituts, der <Bibliotheca Hertziana>.) Vor seinem Lebens-
ende wurde Zuccari zum Princeps der römischen Akademie von
San Luca gewählt. 12 Aus Studien an dieser Akademie ist sein Trak- u
In der Bildersammlung dieser
auch heute in Rom noch existieren-
tat entstanden. Gewidmet ist er dem Herzog Karl Emmanuel von den Akademie (jetzt im Palazzo Car-
Savoyen, gedruckt wurde er zuerst in Turin 1607, in Rom erst 1768. pegna) - die große elliptisrhe
(Aus dieser Ausgabe wird nachfolgend zitiert.) Von Federico Zuc- Treppe im Innern ist von Borromini
- findet man ein Selbstporträt Zuc-
cari gibt es noch ein Selbstporträt, eine Zeichnung, auf der zu se- caris. In dieser Sammlung über-
hen ist, wie er die Laokoongruppe kopiert. Von seinen eigenen ma- haupt viele interessante M-Bilder:
Bassano, Salvator Rosa u.a. Eben-
nieristischen Werken seien genannt die <Cappella dei Angelb in <H so reich in dieser Hinsicht die Bil-
Gesü> zu Rom und die Fresken in der <Cappella Paolina> des Vati- der-Galerie des Palazzo Spada.
besonders aus der Sammlung des
kans, die neben den beiden Spätwerken Michelangelos für den
Kardinals Bernardino Spada (1 ^94
späteren Manierismus als Vorbilder galten. (Taddeo, Federicos bis 1661), dazu vor allem Fresken
Bruder, ebenfalls Maler, geb. 152g, starb bereits 1566. Er wirkte von Pierin del Vaga. in geistvoller
Illusionsperspektive.
vor allem in Rom. Federico zitiert ihn in seiner Schrift als Beispiel
für den <neuen Stil>. Taddeos Werk bietet dafür allerdings nur eine
milde Form.) Den künstlerischen Entsprechungen des <divino di-
segno metaforico Federico Zuccaris wird man anderenorts begeg-
nen, so etwa u. a. im Werk Arcimboldis, den Zuccari zu interpretie-
ren scheint, ohne ihn, im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen
Traktatisten, zu nennen.
Die <Idee> in der Ästhetik des Neuplatonismus von Ficino wird
im Traktat Zuccaris <L'Idea de'Pittori, Scultori ed Architettb zu
einem <Concetto> (Bildbegriff oder Begriffsbild). Ein Concetto ist
also nichTabstrakt. Es handelt sich, nach Zuccari, beim Künstler 65
um eine präexistente bildliche Vorstellung, um einen <Disegno In-
terno>, um eine Innere Zeichnung. Diese Idea-Concetto-Disegno-
Interno-Dreiheit beherrscht Zuccaris gesamte spekulative Ästhe-
tik, er macht daraus sogar eine ästhetische Kosmologie. Oft ist er
verworren, belastet mit lähmenden Schulvorstellungen, nicht sel-
ten zu pathetisch, aber gelegentlich bricht seine bizarre Persönlich-
keit durch. Er dreht und deutet, um seine Concetto-Auffassung
von der <Inneren Zeichnung) aller Dinge mit begrifflichen Mitteln
aus Plato und Aristoteles zu definieren; aber immer wieder bricht
das Bekenntnis des Künstlers durch, des subjektivistischen, manie-
ristischen Künstlers: ich male, was ich im Kopfe und in der Seele
habe. Das soll hier kurz geschildert werden. Man wird erkennen
können, daß, wirft man den Begriffsballast ab, manche der persön-
lichsten Einsichten Zuccaris moderne psychologische und ästheti-
sche Erkenntnisse berühren, so etwa die <Eidetik>-Psychologie der
Wahrnehmungsbilder Jaenschs oder Bergsons Lehre von der in
uns wirkenden <Welt von Bildern), deren Individualität nur die
Dichter und Künstler erfassen. Der <Disegno Interno> Zuccaris
entspricht auch Geigers <mentalem Objekt), den <Form-Farb-
Sehern> Krohs und Rothackers <Bildwelt des erlebenden Es>.
Zunächst entsteht <in unserem Geiste ein Concetto>, sagt Zuc-
cari, eine ddeeliche Vorstellung), ein <Disegno Interno>, dann ge-
langen wir zur Verwirklichung, zum <Disegno Esterno>. Der <Dise-
gno Interno wird mit einem Spiegel verglichen, der <Vorstellung
und Gegenstand des Sehens> sei: Piatons Ideen sind ein <Disegno
Divino Interno>, während Gott <Spiegel seiner selbst) ist. Gott
schafft <natürliche>, der Künstler <artifizielle> Dinge. Die menschli-
che Phantasie bildet — wie im Traum und wie Gott — <neue Arten
und neue Dinge>. Das geistige In-Bild des Künstlers hat also de-
miurgische Kraft. Die bloße Nachahmung der Natur erscheint als
eine Kopie einer Kopie. Während die <Innere Zeichnung), das gött-
liche Abbild aller Dinge, die <expressive Form unserer Seele> ist,
wäre die <Äußere Zeichnung) zunächst nur das, was erscheint (zu-
nächst und möglicherweise), also das, was <gegenstandlos> ist, d.h.
nur Umriß, Linie, Figuration <einer vorgestellten und wirklichen
Sache>. Wie bei Leonardo und später bei Klee (<Das erste Gemälde
war nichts weiter als eine Linie>) wird bei Zuccari die <LJjtne> sicht-
yw bare Substanz der <Inneren Zeichnung) in jeglicher maniera, wie
-
auch immer sie gestaltet wird. Die abstrakte Definition dessen, was
Kunst sei, lautet: <Bildliche geistige Vorstellung, durch die Linie
oder in anderer maniera ausgedrückt) und damit verwirklicht.
Kombiniert werden also Platonische Ideenlehre und aristotelischer
Entelechie-Begriff, also das überweltliche und das innerweltliche
Formprinzip.
Zuccari unterscheidet drei Formen von <Disegno Esterno>, also
von verwirklichtem Concetto. 1. <Disegno Naturale), d. h. die Kunst
ahmt die Natur nach. 2. <Disegno Artificialo: Der Geist macht aus
der Natur ein eigenes künstliches Bild. 3. <Disegno Fantastico-arti-
ficiale>: Ursprung aller <Seltsamkeiten>, überraschenden Wendun-
gen, d.h. <Capricci> (von <Sprüngen> des Bocks), <Erfindungen>,
<Phantasien> und <Ungewöhnlichkeiten> (ghiribizzi). Die Natur-
nachahmung ist allerdings nützlich und gut, sie belehrt uns, hin
uns technisch weiter und bildet die Voraussetzung für die bellapit-
tura. Sie ist aber nicht als die höchste Form künstlerischen Stre-
bens und Erfüllens zu betrachten. Die Kunst ist überhaupt weder
<bloß eine Nachahmerin noch Schmeichlerin der Natur>. Sie ha
nicht nur ihren geistigen Ursprung im <Concetto>, sie bewegt sie
66 auch in der Welt aller bisherigen Kunstformen. Sie bezieht also
auch aus dieser künstlichen Welt der bereits existierenden Kunst-
werke Anregungen. Die wichtigste Voraussetzung der großen
Kunst des <Disegno artificiale> ist demzufolge hier insofern auch
aristotelisch, als für Aristoteles die Rhetorik das Reale, Wirkliche,
die Poesie aber das Mögliche, Vorgestellte behandelt. Für Zuccari
sind die Meister der <artifiziellen> Kunst <großen Lobes> wert, weil
sie <effettimeravigliosi> erreichen, Effekte der Wunderbarkeit, und
zwar expressiver oder sur-realer Art. Er tadelt die Maler, die nur
mit <pratica naturale> arbeiten. Ernennt sie <semplici naturalis Sie
haben keine <teoria>. Es handelt sich um Kunstgewerbler.

Der extreme Ausdruck


der Phantasie
Die höchste Stufe aber, auch wenn sie Zuccari nicht von den bei-
den des <Disegno naturale> und des <Disegno artificiale> getrennt
sehen möchte und vor übertriebener Verwendung warnt, ist der
<Disegno esterno prodottivo, discorsivo, fantastico>, die völlig anti-
naturalistische Kunst. Sie stellt alles dar, was die ungehemmte
Phantasie uns beschert. Hier wirkt sich die eigentlich <erfinderi-
sche> Kraft der Kunst aus. Sie ist von <größter Hilfe> für <universa-
les> künstlerisches Schaffen, für die Herstellung von <Theaterbüh-
nen, Fontänen, Loggien, Gärten, Sälen, Tempeln, Palästen, Fest-
Apparaturen, Maschinen, Grotesken, Sphären, mathematischen
Figuren, Uhren, Chimären>. Als Vorbilder lobt er Raffael^Grotes- *k
ken in den Loggien des Vatikans, welche die Kunstgeschichte
heute z.T. <manieristisch> nennt, die Arbeiten seiner Schüler Gio-
vanni da Udine und Pierin del Vaga (Grotesken der <Sala Regia> im
Vatikan und in der Engelsburg), Taddeo Zuccaris Fresken im
Schloß von Caprarola bei Viterbo, jetzt Sommersitz des italieni-
schen Staatspräsidenten, Michelangelos Spätwerke in der Paolini-
schen und Sixtinischen Kapelle und u. a., Francesco Salviatis deko-
rative Arbeiten im Palazzo Farnese. Gewarnt wird allerdings vor
geschmacklosen Übertreibungen, manieristischen Dilettantis-
men), modernistischer Sudelkocherei und banaler Obszönität.
Die Kunst wird somit, dank der extremen Ausdrucksmittel der
Phantasie, zu einem <Disegno metaforico>, zu einem Abenteuer
des Metaphorischen, d.h. der Möglichkeit, alles mit allem zum
Ausdruck zu bringen. Auch in der Literatur setzt sich, wie wir se-
hen werden, ein extremer Metaphorismus durch. Seine größten
Vertreter sind Göngora, Marino und Shakespeare. Diese Kunst
wird nicht aus der Natur, sondern aus der Kunst selbst <geboren>.13 ,3
<Der Manierist sucht in anerkann-
Zunächst entsteht nach Zuccari <eme> Kunst aus der Natur, dann E^S^W^Sw
eine <andere> aus der Kunst selbst, ohne jeden Bezug mehr auf die menheit fehlt.. \\. Hofmarin o.e.
Natur, von allen stofflichen Geburtszeichen <reingebadet>. Nicht
die Natur, sondern die Kunst selbst nährt die Kunst mit der <Milch
ihrer nährenden Brüste>. An diesen Stellen gibt Zuccari seinen
mühsamen, lehrhaften Stil auf. Er wird lebendig, persönlich, vor-
schwärmt. Diese Kunst, schreibt er, malt mit ihrem <chiari> und
<scuri> mnsichtbare D i n g o , die nur im ünneren Sinne> oder nur im
Intellekt ohne Form der Dinge bekannt sind. Aus diesem entschie-
denen Visionarismus und Intellektualismus einer rationalen My-
stik wird der Künstler gelobt, der <künstliche Dinge> schafft, wel-
che <die Augen der Menschen, der Unwissenden wie der Weisen,
tauschen und trügen>. Fast wörtlich das gleiche fordert Tesauro 50
Jahre später von den Dichtern. J e mehr die Kunst täuscht), wieder- 67
holt Zuccari, <desto vollkommener ist sie.> Die Kunst wird mit Pro-
teus verglichen, der sich in alles verwandeln kann. Mathematische
Berechnungen, die Leonardo und Dürer vorgeschlagen hatten
lehnt Zuccari ab. Er nimmt sie nicht ernst, weil er darin mehr
<phantastische> Experimente sieht. Begeln sind gefährlich. <Der
Intellekt muß nicht nur klar, er muß auch frei sein.> Innere und
äußere Zeichnungen sind ein <anderes Numen>, eine andere pro-
duktive Natur, in welcher die künstlichen Dinge leben.
Schließlich wird das Wort disegno selbst zu einem manieristi-
schen Symbol, ganz im Sinne rhetorischer Manierismen der latei-
' nischen Literatur im Mittelalter: di-segn-o. Die erste und letzte
Silbe bilden Di - o = Gott. D - I - 0 aber, nach alter Überlieferung,
besagen: D = dono, Hl. Geist; I = Bild (Gottsohn); O = Omnipo-
tenz. <Segen> in der Mitte wird gedeutet als <segno di Dio in noi>.
Kunst bleibt, wenn jetzt auch in einem theologisch verspielten
Sinne, Signatur des göttlich Überirdischen, daran wird ausdrück-
lich festgehalten. Das Wort disegno ist aus sieben Buchstaben ge-
bildet. Sieben aber ist die vollkommene Zahl, das Symbol Gottes.
Hierin liegt zweifellos einer der entscheidenden Unterschiede
zum zeitgenössischen Manierismus. Die Surrealisten z.B. haben
einen tendenziösen, auch antitheistischen Radikalismus gepredigt.
Die surrealistische Aktivität) sollte nur dazu dienen, einen gewis-
sen Punkt immer wieder zu entdecken, wo Leben und Tod, Wirkli-
ches und Vorgestelltes, Vergangenes und Zukünftiges, Mittelbares
und Unsagbares, Oben und Unten nicht mehr als Gegensätze
wahrgenommen werden> (Breton). Daraus ergäbe sich keine neue
ästhetische Schule, sondern <der totale Ungehorsam, die regel-
rechte Sabotage, und vor allem nichts anderes als die Gewalt>. Der
<gewisse Punkt>, den die Surrealisten immer wieder <entdecken>
wollen, ist für Zuccari der <Disegno Interno ed Esterno metafo-
rico>, metaphorisch, weil er ein Gleichnis Gottes ist. Tesauro
meint, Gott offenbare sich in dunklen Concetti.

<Idea>-Lehre =
Ästhetik der Moderne
Was die <Idea>-Lehre angeht, so findet man ihre Weiterwirkung,
den Autoren bewußt oder nicht, in zahllosen Traktaten der zeitge-
nössisch <modernen> Kunst. Sie ist an theoretischen Essays ebenso
reich wie die Zeit von 1550 bis 1660 an essayistischen Traktaten.
Kunst, Dichtung und Essay <erhellen> sich gegenseitig, und, wie
heute, so sind es nicht selten Künstler selbst, die es als notwendig
empfinden, ihr eigenes Werk oder die Kunst ihrer Zeit zu interpre-
tieren. Aus dieser ästhetischen Gnosis> (H. Ball) einige Beispiele.
<Das Geheimnis), schreibt Ernst Ludwig Kirchner (1880 geb.,
1938 Selbstmord), <liegt nicht im momentanen Schaffen, es liegt
im Sehen, in der Vorstellung, in der Phantasie, darin, daß ein
Mensch die Kraft hat, es in einem inneren Bild, das ihm sein Erle-
ben gibt, sichtbar zu machen. Die Hieroglyphe, diese unnaturalisti-
sche Formung des inneren Bildes der sichtbaren Welt formt sich
nach bisher in der bildenden Kunst noch nicht verwendeten opti-
schen Gesetzen, z. B. dem der Reflexion, der Interferenz, Polarisa-
tion usw.> Aber Kirchner (Essays unter dem Pseudonym Louis de
Marsalle), eine der gescheitesten kritischen Begabungen im ersten
deutschen Expressionismus, fühlt sich nicht ganz sicher hinsicht-
lich der apodiktischen Aussage dieses zweiten, hier zitierten Sat-
68
zes. Er korrigiert sich gleich und schreibt: <Man müßte schon auf
Dürer zurückgreifen, der ja seinerzeit etwas Ahnliches hervor-
brachte, als er die deutsche Kunst aus der Enge gotischer Bindung
in die lebensprühende Renaissance hinüberführte.) Wassily Kan-
dinsky nennt die gegenwärtige Kunst> das <zur Offenbarung ge-
reifte Geistige>. <Die Regeln) sind <keine allgemeinen Regeln: sie
führen nicht zur Kunst). AVenn aber der Künstler zum Ausdruck
seiner inneren Regungen und Erlebnisse sich einer oder der ande-
ren fremden Form der inneren Wahrheit entsprechend bedient, so
übt er sein Recht aus, sich jeder ihm innerlich nötigen Form zu
bedienen, sei es ein Gebrauchsgegenstand, ein Himmelskörper
oder eine durch einen anderen Künstler schon künstlerisch mate-
rialisierte Form.) Die Kunst der dnneren Wahrheit) entsteht also
aus Kunst, nicht aus Natur. Die eigentliche Kunst hat jederzeit ein
tiefes psychisches Bedürfnis befriedigt, nicht aber den reinen Nach-
ahmungstrieb, die spielerische Freude an der Nachformung des
Naturvorbildes. Paul Klee bezeichnet sich als einen Illustrator von
Ideen>. Max Ernst definiert die <Rolle des Malers) in folgender
Weise: <cerner et projeter ce qui se voit en lui.> (<Einkreisen und
projizieren, was er in sich selbst sieht.)) Ernst zitiert Paul Eluard:
<Die poetische Objektivität besteht einzig in der Verkettung aller
subjektiven Elemente) und bezeichnet als für sich verbindlich das
bekannte Wort Lautreamonts über die metaphorische Vereinigung
des Disparaten (discordia Concors): <die Annäherung von zwei (oder
mehr) scheinbar wesensfremden Elementen auf einem ihnen we-
sensfremden Plan provoziert die stärksten poetischen Zündun-
gen), und er erklärt seine Freude an jeder gelungenen Metamor-
phose). Der <Disegno metaforico> Zuccaris im Zeichen des Proteus
erscheint einem Kernmotiv der surrealistischen <Ästhetik> kongru-
ent. <Die Kunst, so individuell, so subjektiv die Voraussetzungen
ihres Werdens sind, steht in einem eingegrenzten allgemeinen
Raum.) Noch ein Beispiel: Max Ernst bezeichnet die berühmte
Stelle in Leonardos Traktat über die wertvollen Anregungen, wel-
che ein Maler aus der Beobachtung fließender, irrealer Naturer-
scheinungen empfangen kann, für sich als eine entscheidende
<Lektion>. Ausgehend von dem Satz Leonardos über den Antrieb
zum künstlerischen Schaffen: <es ist wie Glockenläuten, aus dem
man das heraushört, was man als Vorstellung in sich trägt), zitiert er
weiter Leonardo: <Meiner Meinung nach ist es nicht zu verachten,
wenn einer, der den Klecks an der Wand, die Kohlen auf dem Rost,
die Wolken, den fließenden Strom genau anstarrt - wunderbare
Erfindungen macht. Von diesem mag dann der Genius des Malers
vollen Besitz ergreifen, um Kompositionen zu schaffen, von Tier-
und Menschenschlachten, von Landschaften und Ungeheuern,
von Teufeln und anderen phantastischen Dingen, die einem Ehre
machen.) <(Aber) man m u ß sie zeichnen können.) Auch Paul Klee
und viele andere zeitgenössische Maler haben diesen Leonardo-
Passus geradezu als Dogma für ihre neue Programmatik empfun-
den. In seiner Autobiographie zieht Salvador Dali die <Kunst der
Renaissance) der <afrikanisch-modernen Kunst>, d.h. der Kunst
der <Primitiven> und ihrer Nachahmer, vor, weil sie eine Materia-
lisation von Intelligenz) sei. Er beruft sich auf die bereits erwähnte
<Magia naturalis) des G. B. della Porta, aus welcher er Rezepte ent-
nommen habe, u.a. für die Herstellung <von Eiern jeglicher
Größe>. Illustriert wird diese paranoische Selbstdarstellung mit
Zeichnungen, die dem Kodex Huyghens von Leonardo entnom-
men sein könnten. Dali erklärt, die <Renaissance> erneuern zu wol-
len. Alle seine konkreten Ansätze dazu beweisen, daß er zwar für
Raffael schwärmt, aber nur wie die extremen Manieristen der
Spätrenaissance malen oder zeichnen kann oder will. Er spricht ein
Glaubensbekenntnis aus zugunsten der Magie des 16. Jahrhun-
derts. Seine <kritisch-paranoische Interpretation von Bildern> führt
er auf diese Art von Lektüre zurück. Wie Leonardo will er <alles
morphologisieren>. Er vergleicht den spanischen Gelehrten Euge-
nio d'Ors mit Piaton und ruft pathetisch aus: <Laßt mich den ersten
Vorläufer der neuen Renaissance sein!> Wir werden das alles, in-
nerhalb eines «paranoischem Wertsystems, nicht allzu wörtlich
nehmen dürfen, können aber feststellen, daß Dali während seiner
verschiedenen Italienreisen literarisch und künstlerisch starke
Eindrücke von einer <Renaissance> empfangen hat, die nichts an-
deres ist als der Manierismus der Spätrenaissance.
Kirchner - Kandinsky — Klee — Eluard — Ernst - Dali - einige
Beispiele im Umkreis der europäischen Malerei des 20. Jahrhun-
derts. Die Weiterwirkung der <Idea>-Lehre findet sich schon am
Anfang der neuen europäischen Malerei, in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts. Werner Haftmann hat für die ästhetischen
Selbstbestimmungen von Künstlern aus dieser Zeit ein uner-
schöpfliches Material geboten. Seurat: <Harmonie, das ist Analogie
des Gegensätzlichen.) Gauguin will <Ideen> mit <Farben und For-
men heraufbeschwören). Er verlangt von einem Schüler, er solle
<Träume malen und immer auf der Suche nach dem Absoluten
bleiben). Die Symbolisten in der Malerei erklären: <In der Natur
ist jedes Ding nur eine bezeichnete Idee.) Ausdrücklich wird die
neuplatonische Tradition aufgegriffen, die Kunst als metaphysi-
scher <Schlüssel> betrachtet, als mystische Emblematik. Zu erin-
nern ist schließlich noch an Oscar Wildes: <Der Kritiker als Künst-
ler). <Wo immer man ... zur Natur zurückkehrte, wurde die Kunst
vulgär.) <Die Natur ahmt die Kunst nach, nicht umgekehrt.) Der
Künstler ist ein (idealer) <Lügner> (Zuccaris und Tesauros plato-
nisierender <Inganno>-Begriff). <Das Lügen, das Erfinden schöner
Unwahrheiten ist das eigentliche Ziel der Kunst.) Dazu Hugo Ball
(Tagebuch): <Vielleicht auch ist n u r unser Gewissen so geängstigt,
so belastet, so gequält, daß es beim geringsten Anruf mit den er-
staunlichsten Lügen und Vorwänden (Fiktionen und Bildern)
reagiert.)
Wilde und Dali — zwei <Extremisten> unter den heutigen Manie-
risten, Verfasser und Darsteller turbulenter <Capricci> und heraus-
fordernder Bizarrerie (sprachliche Grundbedeutung <bärtig> =
<ungewöhnlich>; den ungewöhnlichen Schnurrbart hat Dali ja
auch). Doch es gibt in der heutigen Moderne auch andere Pole. So
etwa Gauguin, de Chirico und Kandinsky. Hier bilden das Ge-
heimnisvolle, die Suche nach dem magischen Weltgrund, die gei-
stige Rastlosigkeit die Antriebe. Giorgio de Chirico nennt eines sei-
ner surrealen Manichino-Bilder: <L'Enigma del Secolo>. Der Titel
des berühmten Bildes von Severini <Ball Tabarin> wird selten voll-
ständig zitiert. Es heißt: <Dynamische Hieroglyphik des Ball ia-
barin>. Gauguin verlangt, man müsse das <verschleierte Bild des
unergründlichen Rätsels schaffen), und Kandinsky fragt: <Das
Sprechen von Geheimem durch Geheimes. Ist das nicht der In-
halt?) Nach einem Vortrag über Kandinsky, mitten in seiner dadai-
stischen Zeit, trägt Hugo Ball, am 8. April 1917, in sein Tagebuch
ein (>Flucht aus der Zeit)): <Die Maler als Sachverwalter der Vita
contemplativa. Als Verkünder der übernatürlichen Zeichenspra-
che. Rückwirkung auf die Bildgebung auch der Dichter. Die sym-
bolische Ansicht der Dinge ist eine Folge der langen Versenkung m
70 Bilder. Ist die Zeichensprache die eigentliche Paradiessprache? Die
persönlichen Paradiese - : nur mag sein, daß sie Irrtümer sind; aber
sie werden die Idee des Paradieses, das Urbild neu färben.>
Dazu ein letzter Rückgriff zum Abschluß dieses Berichts über die
Traktatenliteratur. In der <Iconologia> (1593) von Cesare Ripa fin-
det man einen merkwürdigen kleinen, künstlerisch anspruchslo-
sen Kupferstich unter dem Stichwort: <Änigme> = Rätsel. Ein mas-
kierter Mann ist da zu sehen, umgeben von einem Netz. In der
rechten Hand trägt er ein Seil, in der linken einen Pfirsich. Zu sei-
nen Füßen liegt eine anmutige Sphinx. Seil und Netz sind verkno-
tet. Um eine symbolische Darstellung des Geheimnisvollen, der
dunklen Schreib- und Malweise handelt es sich, um die Verkörpe-
rung des Anigmatischen und Zweideutigen, Widerspruchsvollen
und <In-Verlegenheit-Bringenden>, wie Ripa selbst erklärt. Das
Wort Änigma, so führt Ripa weiter aus, kommt aus dem Griechi-
schen, die Lateiner nannten es <scrupus>. Augustinus habe die
Anigme als <dunkle Allegorie> bezeichnet. Seil und Netz mit Kno-
ten und Windungen symbolisieren die kunstvolle Mühe, der Pfir-
sich bedeutet die <acutezza dell'ingegno>, den geistigen Scharfsinn.
(Der Pfirsichbaum stammt aus Persien, und die Perser galten als
besonders scharfsinnig.) Er ist aber auch ein Symbol für das Hiero-
glyphische wie die Sphinx. Nach Ripa ist nun ein Emblem eine
gemalte Anigme. Wir sehen also vor uns eine gemalte Anigme des
Anigmatischen. Die dargestellten Figuren und Gegenstände sind
zwar konkret, aber ihr Sinn ist noch dunkler, als man sog. <ab-
strakte> Bilder als dunkel empfinden mag. Wilde: <Die Schönheit
ist das Sinnbild der Sinnbildern <Das Sprechen von Geheimem
durch Geheimes. Ist das nicht der Inhalt?> so fragte Kandinsky. Es
ist der Inhalt jeder manieristischen Kunst geblieben. Die Idea in
der Idea, die absolute Idee in der geistigen Vorstellung bleibt vom
Geheimnis verhüllt. Nur ihr Wirken ahnt man: als wesende Magie.
Für Baltasar Graciän ist die ganze Welt <chiffriert>, alle Dinge sind
in Chiffren niedergelegt. Geistig erlöst wird nur derjenige, der über
die <Dechiffrierungskunst verfügt).

6. U N T E R G A N G S V I S I O N E N

Bewußtwerden
einer epochalen Krise
Der Manierismus ist nicht nur Ausdruck einer geistigen Krise. Er
ist auch Bewußtwerden einer <aus den Fugen> geratenen Welt, ei-
ner epochalen Krise (wenn auch daraus keine gesellschaftskriti-
schen Folgerungen gezogen werden). Auch die Renaissance stellt
sich in politischen Abläufen nicht als Idyll dar; aber der sich anbah-
nende Wechsel so vieler Erscheinungen wurde im Hintergrunde
des Bewußtseins gehalten und durch ein gelegentlich über-
menschlich erscheinendes Harmoniestreben kompensiert. Gerade
das madit den ästhetischen Glanz aus, diese überrelative, sinnlich
strahlende Harmonik der Renaissance. Doch ab 1520, dem Jahr,
als Luther die Papstbulle verbrennt, als die jungen toskanischen
Manieristen aufzutreten beginnen, findet ein Bewußtseinswandel
statt. Es ist, als ob das mittelalterliche miserere über die Zeiten hin- j 1
weg in schaurig neuer Weise erklingt. Dazu geben die Jahrzehnte
bis zum Hochbarock immer wieder neuen und dramatischen An-
laß. 1527, im Todesjahr Machiavellis, eroberten und plünderten
die deutschen, spanischen und italienischen Truppen Karls V.
Rom. Clemens VII. floh mit 13 Kardinälen in die Engelsburg, die
überlebenden Künstler, Dichter, Schriftsteller und Gelehrten, un-
ter ihnen Rosso und Parmigianino, begaben sich nach Norden. Der
Traum des erneuerten Roms schien zu Ende. Selbst die Papstgrä-
ber waren durchwühlt, Erinnerungen an das Imperium zerstört,
Kirchen verwüstet worden. Hauptmann Wilhelm von Saudezell
ließ sich, als Papst verkleidet, von Landsknechten, die Kardinals-
gewänder trugen, den Fuß küssen, segnete sie mit Wein und riet
schließlich Luther zu seinem Nachfolger auf dem Stuhle Petri aus.
Vier Fünftel der Stadt waren eine Zeitlang unbewohnt. Erasmus
schrieb 1528 über den Sacco: <In Wahrheit, dies war nicht der Un-
tergang der Stadt, sondern der Welt.> <Die Hölle ist nichts im Ver-
gleich mit dem Bilde, das Rom jetzt bietet>, schreibt ein anderer
Zeitgenosse. Wenn auch manches an den Berichten sog. damaliger
Augenzeugen der kritischen Forschung nicht standhält, so ist mit
dem Jahr 1527 ein verhängnisvolles Datum bezeichnet, das Ende
der Renaissance, so wie 1914 das Todesjahr des alten Europa ge-
wesen ist.
<Weltangst> breitete sich aus, zumal das Jahr 1527 eine ganze
Reihe anderer Katastrophen einzuleiten schien. Bis 1532 belagert
Soliman II. mit seinen Türkenheeren Wien. Von 1521 bis 1538
führen KarlV. und Franzi. Kriege gegeneinander. 152g wird in
Schweden, Dänemark und Norwegen die Reformation eingeführt,
und dann folgt für den Stuhl Petri ein Schlag auf den anderen:
1530 die Augsburgische Konfession, 1531 die Loslösung der angli-
kanischen Kirche von Rom, 1541 die Reformation in Genf. Die
Auseinandersetzung zwischen Spanien und England nähert sich
ihrem Höhepunkt. Der Freiheitskampf der Niederlande beginnt.
Wir stehen an der Schwelle des 17. Jahrhunderts. Man hat ausge-
rechnet, daß es in diesem Jahrhundert nur sieben Friedensjahre in
Europa gegeben hat. Kriege und Hungersnöte waren ein Normal-
zustand geworden. Sechs große politische Bewegungen zeichnen
sich noch vor 1600 ab: der Untergang der spanischen Macht, die
Auflösung Deutschlands, der Aufstieg Frankreichs, der Untergang
der baltischen Mächte sowie Schwedens, Dänemarks und Polens.
Zugleich erfolgt die Vereinigung der baltischen mit den östlichen
Fragen. Verbindungen zu Asien, Afrika, Amerika entstehen. Dazu
könnte man den politischen Zerfall Italiens nennen, die Zerset-
zung der universalen Ideen des Kaiser- und Papsttums, die Aus-
bildung eines europäischen Staatensystems; das Ende der ritter-
lich-feudalen dynastischen Staatsauffassung, das Entstehen neuer
sozialer Strukturen und Wirtschaftssysteme, insbesondere die
Ansammlung großer Kapitalien im <Fugger-Jahrhundert). Erst die
Friedensschlüsse von 1648, 1654, 1659, 16601 legten das Verhält- '* Westfälischer Frieden. Ende des
Dreißigjährigen Krieges: Pyrenäen-
nis der neuen europäischen Staaten für lange Jahre fest. Die Reli- frieden zwischen Frankreich und
gionskriege sind abgeschlossen. Um ij56o, abgesehen von einigen Spanien; Friede zu üliva. linde
Verspätungen in Deutschland, ist der Manierismus des 16. und des schwedisch-polnischen Krieges:
Ende des niederländisch-englischen
1 7. Jahrhunderts zu Ende. Seekrieges. (Anm. d. Red.)
Doch: gleichzeitig liegt ein mystischer Edelsteinglanz über der
ganzen Zeit. Die höfische Kultur mißt sich an Raffinement und
Geschmack mit Alexandrien und Spätrom. Nach den entscheiden-
den Anregungen des Neuplatonismus von Florenz erhält ein
neues, <voraussetzungsloses> Philosophieren Auftrieb. Kunst und
Literatur erleben eine ihrer größten Blütezeiten seit Altägypten
und Athen, speziell in der Zeit von 1580 bis 1660. Durch die Ent-
deckung der beiden Amerika und neuer Seewege nach Indien wer-
den nicht nur die Seemächte, sondern auch die Literatur, die Wis-
senschaften sowie selbstverständlich auch die Kunst bereichert.
Doch erst mit den späten und spätesten Auswirkungen des Konzils
von Trient (1545 — 1563), d.h. nach den Erfolgen der Gegenrefor-
mation, als das merkantilistische System sich gefestigt hat und die

Albrecht Dürer: Traumvision


Religionskriege, vor allem in Deutschland, beendet werden, also
ab 1648, im Hochbarock, beginnt ein entsprechender geistig-vita-
ler Aufschwung im Sinne eines neuen Optimismus, eines Wun-
sches nach einer neuen repräsentativen Ordnung. Erst im ganz
und gar un-manieristischen, repräsentativen Hochbarock werden
die Weltangststimmung, das Grübeln, das intellektuelle Wühlen
und Zerwühlen der Dinge zwar nicht ganz überwunden, aber
gleichsam versachlicht. Aufklärung und Neuklassik folgen, Ord-
nungsmythos und Fortschrittsgläubigkeit. Die Folgen der Franzö-
sischen Revolution und die Napoleonischen Kriege vereinzeln er-
neut das denkende und fühlende Subjekt. Die Romantik mit ihren
vielen manieristischen Zügen fasziniert Europa, bis die bürgerli-
che Welt der Restauration sich zu neuer <Rewältigung des Lebens>
sammelt. Innerhalb des Bürgertums selbst aber ahnen schon nach
dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 die <Grands Ner-
veux> neues kommendes Unheil. Die <Stimmung> für einen neuen
Manierismus entsteht. Seine großen Schöpfer werden mit ihren
Werken meist kurz vor und unmittelbar nach dem Weltkrieg 1914
bis 1918 sichtbar.
Die Künstler von 1520 bis 1650 werden wie diejenigen, die zwi-
schen 1880 und 1890 geboren sind, von Untergangsvisionen heim-
gesucht. Schon Leonardo malt apokalyptische Bilder von Sintflut-
Katastrophen und anderen Kataklysmen. Er beschreibt mit er-
schreckender Akribie das Ende der Welt. Von Dürer gibt es eine
<Traumvision> von beunruhigend aktueller Art: sie gleicht einem
Atompilz. Noch vor 1520 stellt Raffael in den Fresken der Loggien
des Vatikans eine ausgesprochen manieristische, fast <abstrakte>
Sintflut dar. Vergleichen wir damit die Untergangsvision 1955 von
Fabrizio Clerici, eine <gescheiterte> Arche Noah. Man hat den Ein-
Michelangelo Buonarrotti: Detail
aus dem »Jüngsten Gericht'

druck nicht nur der Angst, sondern der Fassungslosigkeit. <Die


Herrlichkeit der Erden / Muß Rauch und Asche werden / - Was
wir für ewig schätzen / wird als ein leichter Traum vergehen>, ruft
Andreas Gryphius nach dem damaligen Zusammenbruch des
Deutschen Reiches aus. Entsetzen und Fassungslosigkeit, nicht
nur intellektuelle Idealität und Freude am Abstrusen, werden im
Bewußtsein der <Manieristen> immer wirksamer. Das Bild des Ver-
dammten in Michelangelos Jüngstem Gericht> (1541) gibt davon
den stärksten Eindruck. Wir nähern uns der Ewigen Stadt nach
dem Sacco di Roma.
ZWEITER TEIL

Die Welt
als FPunderkammer

7. S C H Ö N H E I T UND
GRAUEN

Z w i s c h e n Tod und Feuer


A nläßlich seiner römischen Reise trug Paul Klee in sein Tage-
/-M buch ein, er zähle <Michelangelo mehr zu den Modernen>.
-^ -"-Ähnlich urteilten die Zeitgenossen über den Schöpfer der
beiden aufsehenerregend <antiklassischen Bilden in der Paolini-
schen Kapelle. Nach dem Sacco di Roma, am Ende der Renais-
sance, nach dem Tode der großen Meister der Renaissance, Leo-
nardo, Raffael, Bramante, Fra Bartolommeo, Andrea del Sarto,
wird Michelangelo zu einer Herrscher-Figur in der italienischen
Kunst, der einzig Überlebende aus dem <Goldnen Zeitalten. Zahl-
lose Talente lassen sich von ihm anregen. Die neue Generation
bewundert ihn wie eine übernatürliche Erscheinung. Man nennt
ihn den <Göttlichen>. Viele ahmen ihn nach, selbst Raffael-Schü-
ier. Nach 1540 wird ein großer Teil der europäischen Kunst
<michelangelesk>. Auch Michelangelo hatte die Kunst als Aus-
druck einer <Idea> bezeichnet, den <Serpentinata-Stil> empfohlen
und in den beiden letzten Jahrzehnten seines Lebens eine Tendenz
zur Abstraktion, zur irrealen Raumgestaltung und auch zur Defor-
mation Sichtbarwerden lassen. Die leidenschaftliche Gewalt seiner
expressiven Kraft, die terribilitä, die kompromißlose Individualität,
auch im Umgang mit den Päpsten, fesselt ebenso wie seine Nei-
gung zu titanischer Vereinsamung und saturnischer Melancholie.
<Einmal auf dem rechten, dann auf dem linken Bein stehend>,
schreibt er, ähnlich wie Marsilio Ficino, in einem Selbstbekennt-
nis, <schwanke ich; suche ich mein Heil, hin- und hergerissen zwi-
schen Laster und Tugend, quält mich mein unruhiges Herz.> Die
<Alogik> der Zeitverhältnisse, insbesondere die Belagerungen von
Florenz und Rom, die Katastrophen als Ergebnisse bloß menschli-
cher Unfähigkeit (Clemens VII.), erschüttern ihn ebenso wie die
vor allem geistige Grausamkeit der Inquisition. Der Anblick des
Grauens in seiner Zeit verstärkt seine Tendenz zur Rebellion, auch
in der Verwendung <manieristischer> Ausdrucksmittel. In seinen
Tagebüchern vermerkt Paul Klee: <Je schreckensvoller diese Welt
(wie gerade heute [1915]), desto abstrakter die Kunst, während
eine glückliche Welt eine diesseitige Kunst hervorbringt.) In der
Dichtung Michelangelos und in der Erscheinungsform seines
Charakters spürte die neue Generation in Rom nicht nur die terri-
bilitä. Sie fühlte sich auch von der sinceritä angezogen, von der
allerdings nie verbissenen und auch nie monomanischen Art, wie
er die Korruption in der Gesellschaft seiner Zeit ablehnte: immer
mit einem Ton von Selbstanklage. Im <Jüngsten Gericht) der Sixti-
nischen Kapelle läßt er den Blitz des Herrn in sein eigenes Konter-
fei niederfahren, in das Selbstporträt, das er— anamorphotisch-in
die Haut des geschundenen hl. Bartholomäus hineinkomponiert
hatte. Das ist <Abstraktion> aus dem ekstatischen Schmerz, nicht
aus dem erschütterten Intellekt. Und doch ist es das gleiche <We-
sen> zwischen <Tod und Feuer> Paul Klees, das Bildnis des Bedroh-
ten und Gescheiterten: denn als solcher empfand sich Michel-
angelo im Alter. Das Bildnis eines Bildes vom abgründigen Grauen
der Welt, in dem eine Falle unter dem richtenden Herrn, im ande-
ren ohne den richtenden Herrn.
In einem seiner letzten Gedichte beschreibt sich Michelangelo
selbst als alten und kranken Mann. Der Inhalt wird nachfolgend
wörtlich (allerdings in freier Übersetzung) wiedergegeben, weil
dieser Text in der vollständigen Ausgabe (nach Guastis Text) in
deutscher Sprache, von Sophie Hasenclever (1875), allzu prüde die
Vulgarismen mißachtet. Hier also Michelangelos dichterisches Al-
ters-Selbstbildnis:
<Ich bin, wie Mark in seiner Hülle, abgesperrt, arm, einsam,
Weingeist in der Flasche. Die grabähnliche Wohnung hemmt mir
den Flug, Spinnen und ihre Schwestern weben hier tausend staub-
graue Werke. Wer gegessen hat oder Arznei nahm, scheißt vor
meiner Tür. Ich lerne den Geruch der Urinarten in der Abflußrinne
unterscheiden, den Gestank von Narren, die nachts umhertreiben,
Katzen und Aas, Nachttöpfe und Dungpfannen, wer auch nur Ge-
räte dieser Art zu entleeren hat, kommt ganz sicher zu mir. Meine
Seele ist allerdings meinem Körper gegenüber im Vorteil, denn,
wenn auch die das alles riechen würde, würde sie nichts mehr bei
sich behalten, weder Brot noch Käse. Husten und Kälte schütteln
mich; wenn ich ,unten' atmen könnte, würde aus dem Mund bald
wohl kein Hauch mehr dringen. Ausgeleiert bin ich, zerrissen, zer-
brochen, durch all die Müh', und tot sind alle Wirtshäuser, wo ich
einst aß. Meine Freude ist die Melancholie, meine Ruhe die Qua-
len. Als Narrenfigur war' ich gut, mit dieser Hütte hier, mitten un-
ter prächtigen Palästen. Die Liebesflamme ist erloschen, die Seele
ist kahl. Ich schwätz' wie eine Wespe im Krug. Ein Lederbeutel bin
ich, voll Knochen und Sehnen, und Steine hab ich im Bauch. Die
Augen sind trüb und krank, die Zähne abgegriffen, sie klappern
beim Sprechen. Mein Antlitz ,ha forma di spavento\ ist ein Bild des
Grauens. Im Ohr nistet eine Spinne, im andern eine Grille. Das
katarrhalische Gekratze raubt mir den Schlaf. Die Liebe, die Mu-
sen, die blühenden Grotten, alles ist in Unrat erstickt. Was hilft's,
soviel Puppen gemacht zu haben, wenn man so endet wie der, wel-
cher den Ozean überqueren wollte und im Sumpf absackt! Die
wohlgelobte Kunst, von der ich so viel wußte, brachte mich hierher.
Arm, alt, andern Untertan. Ich löse mich auf, wenn ich nicht bald
sterbe! >
Das ist nicht nur der Schöpfer des Jüngsten Gerichts). Das ist
auch der Erbauer der Peterskuppel, der vatikanische Pfalzgraf. Ein
böser alter Mann, der Melancholiker, als Saturn das psychische
Bild der unerbittlichen terribilitä, auch gegen sich selbst. Wie weit
entfernt ist das alles vom Liebesidyll mit dem schönen jungen
Tommaso Cavalieri oder von der neuplatonisch-mystischen
Freundschaft mit Vittoria Colonna! Wie weit von dem einstigen
Arger über Paul TV. (1555—1559), der einige Figuren des Jüngsten
Gerichts> übermalen ließ, um ihre <Nacktheit> zu verbergen!

Sehnsucht
nach dem verlorenen Paradies
Michelangelos Spätwerk wurde schon damals als Ausdruck einer
terribilitä bezeichnet, als Manifestation eines kompromißlosen
Wissens um die Widersprüchlichkeit des Daseins. Die gegenrefor-
matorischen Scheiterhaufen flammten auf. Man begann - trotz
dieser Gefahren - sich zu fragen, ob es für den Menschen sinnvoll
sei, sich den Zufällen des Geschehens wie religiös-richterlichen
Entscheidungen widerspruchslos auszusetzen, oder ob es nicht an-
gemessen sei, der <Großen Realität) der Zeit, der Spannung von
Schönheit und Grauen einen neuen menschlichen Sinn zu verlei-
hen, indem man sie in einen künstlerischen Spiegel zunächst ein-
mal auffing. Doch auch diese Spiegelung wird antinaturalistisch.
Das ist die erste Stufe der Überwindung der Revolte. Die Spätre-
naissance erhält einen neuen Klang, einen düsteren, sibyllinisch
dumpfen Kontrapunkt, zugleich einen grellen Oberton von Wahn-
sinn.
Im Jüngsten Gericht) der Sixtina drehen sich Erlöste und Ver-
dammte in einem frenetischen Wirbel um den richtenden Herrn,
gleichzeitig aber wird das Gesicht der Leidenden, der Verurteilten,
der Zertretenen wirklicher, glühender, wahrer als die verzückten
Antlitze der Erlösten. Wie im ganzen Manierismus wird der Blick
vom in sich ruhenden Wert, vom geordnet Erlösten auf das Frag-
würdige, Vertrackte, Verdammte, auf das metaphysisch Neben-
sächliche gelenkt. Eines der beliebtesten Themata der Literatur
und Malerei des ig. Jahrhunderts wird vorweggenommen:
<rleisch, Tod und Teufeh. Das <titanische> Genie zerbricht den
klassizistischen Kanon in einer Weise, die ganz Rom erschrecken
und die neue Generation aufjubeln ließ.
Was war geschehen? Ein dramatisch-symbolistisches Ereignis
vollzog sich in einem nur noch pseudokonventionellen, in einem
<irrealen> Raum. Das harmonische Antlitz der Renaissance wird
damonisiert. Es entsteht das Gesicht des <Zeitgenossen>, der Ab-
gründe um sich weiß, der die <Abgründigkeit Gottes> ahnt, der an
der richterlichen Strenge dieses Gottes verzweifelt, der ohne Aus-
sicht auf philosophischen Trost und erst recht auf existentielle
<Freiheit> bleibt. Die theologische Brücke zwischen Schönheit und
Wahrheit ist gesprengt, aber die Beziehung zwischen beiden bleibt
erhalten. <Ich komme, Herr, auch wenn ich nicht weiß, was ich
erhoffen kann> (Michelangelo). Im objektiv theologischen Verhal-
ten werden Schönheit und Wahrheit durch Harmonie, im subjekti-
ven durch Disharmonie verbunden.
Ein Kritiker des frühen 17. Jahrhunderts, ein Zeitgenosse Te-
sauros, faßt in einem Distichon die Merkmale der zeitgenössischen
Kunst, in dieser manieristischen Phase also, derart zusammen:
<Glanz, Göttlichkeit, Grauen, Verbrechern. Es könnte dies von
Zeitgenossen Baudelaires, kaum aber von Rilke-Epigonen ge-
schrieben sein. Das Streben nach religiöser Wahrheit bleibt auch
in dieser <Erschütterung> erhalten. Die Urinfektion der Moderne:
Schönheit unabhängig von ihrem Wahrheitsinhalt gelten zu las-
sen, ist undenkbar. Hier liegt vielleicht der tiefste Unterschied zwi-
schen dem Manierismus am <Aufgang der Neuzeit> und demjeni-
gen des technischen Massenzeitalters.
Michelangelos Fresken der Paolinischen Kapelle werden zu ma-
nieristischen Formmustern, genau wie die tragische Gigantoma-
chie des <Jüngsten Gerichts). Zum <Sturze Pauli> einige Hinweise:
wie bei Beccafumi Mittelpunkt das Nebensächliche: das Pferd,
hineinspringend in eine <abstrakte> Landschaft; Raumillusionis-
mus (zweite Figur rechts vom Pferd); anaturalistische Perspektive;
die kalte und doch süße Faszination der lilafarbenen und grünen
Farbtöne. All dies noch stärker in der <Kreuzigung Petri>: die Ge-
stalten stehen übereinander, der Blick wird vom Mittelpunkt stän-
dig abgelenkt, ein seltsamer <Sprecher>; wir wollen ihn <SchÖnheit
im Grauem nennen. Er drängt aus dem Bild hinaus und scheint
den Vorgang zu kommentieren. Die Landschaft gleicht einer Wü-
ste; wieder ein <Waste Land>. Hier wird das <Architektonische> in
Michelangelos Kunst besonders sichtbar. Bei aller Dynamik
herrscht eine Symmetrie der je zwei Seitengruppen und der vom
oberen Kreuzdreieck umfaßten Mittelgruppe vor. Die innere
Spannung erklärt den Verzicht auf die Renaissance-<Proportion>.
Die <Abstraktion> ergibt sich auch aus dem Konflikt zwischen dem
Malerischen und Architektonischen. Man begreift, warum Paul
Klee Michelangelo <zu den Modernem zählte. In seinem Tagebuch
notiert er: <In Italien begriff ich das Architektonische — hart bei der
abstrakten Kunst stand ich da — der bildenden Kunst (heute würde
ich sagen, das Konstruktive).) Hoffmann stellt zu den beiden Fres-
ken fest: <Raumflucht> als <Ausdruck von Angst>. Streben nach
dem Schwankenden, Labilen, auch im architektonischen Raum.
Typisch tadelt Burckhardt (im Cicerone): Es ließe sich behaupten,
<daß nach Raffaels Tod (1520) kein Kunstwerk mehr zustande ge-
kommen, in dem Form und Inhalt ganz ineinander aufgegangen
wärem. Leo Bruhns stellt in seinem unerschöpflichen Werk über
<Die Kunst der Stadt Rom> fest, Michelangelo habe sich in diesen
Werken den Manierismus, der um ihn großgeworden war, dienst-
bar gemacht. Nach dem <idealistischen> und <heroischen> werde
hier der Mensch schlechthin, der <ungöttliche> Mensch dargestellt.
Man könnte darüber hinaus sagen, daß die vielen Anonymen in
den fünf Gruppen der <Kreuzigung Petri>, gebunden durch das kol-
lektive Miterleben, einen <Unanimismus> vorwegnehmen, das
Schildern der Erlebnisse einer Gruppen-Seele.
Die <Manier> Michelangelos, die zum Manierismus einer
ganzen Generation von Nachahmern werden sollte, findet sich
vor allem, neben der <Pietä Rondaninb, in seinen letzten Zeich-
nungen. Motivgebundene Arbeiten wie die <Kreuzabnahme>, von
außerordentlicher Intensität des Ausdrucks und scharfsinniger
Ausklammerung, findet man ebenso wie Drachen-Phantasmen,
<Hieroglyphen> jedenfalls auch, Irrbilder aus Tierfratze und Men-
schengesicht (sind sie von Michelangelos Hand?), rätselhafte Wer-
Michelangelo Buonarrotti: Drache

knotungen>, wie der Hals des Ungeheuers, der, sieht man es schräg
vom linken Bildrand her, an die anthropomorphischen Landschaf-
ten der <Arcimboldesken> erinnern. Ähnlichkeit von <Ausdrucks-
zwängen>, Symbolismen verschiedener Epochen! <Optische> Analo-
gien dieser Art, beliebte Spiele des Manierismus, dürfen uns nicht
dazu verführen, entscheidende Unterschiede zu übersehen. Wir
werden darauf zurückkommen. Sicher ist, daß wir uns in beiden
Fällen nicht mehr im Umkreis der Klassik befinden. Die Manieri-
sten suchen überall die discordia Concors. Wir werden später die
Gegenprobe machen: die concordia discors.
Michelangelo und Rom! Er bringt, von Florenz kommend, in die
Ewige Stadt: d'ardente desiderio verso le sfere superiori, verso le
idee> (<den glühenden Wunsch nach den oberen Sphären, nach
den Ideen>). Aber er bringt mehr, bringt Entscheidenderes: das
<tragische Lebensgefühh, das erschütternde Wissen um eine End-
zeit; eine neue Blickweise, die langsam ahnen läßt, daß sich in den
tödlich-grausamen Katastrophen etwas Neues vorbereite. Auch
durch Michelangelo - neben den vielen religiösen Erneuerern, die
allmählich nicht nur die Gegenreformation, sondern auch die in-
nere Reform der Kirche vorbereiten (Kapuziner, Jesuiten) - wird
Hom zumindest zeitweilig wieder mit dem Absoluten konfrontiert.
Die Re-naissance hört nicht so sehr mit dem Sacco auf, sondern mit
Michelangelos letztem Wirken in Rom. Die Ewige Stadt wird da-
mit zu einem ganz neuen europäischen Mittelpunkt. Nicht mehr
um die Wiedergeburt des <Alten> handelt es sich. Im Gegenteil! Im
Schmerz, angesichts des Todes, vollzieht sich die Geburt des
euen>. ^ s beginnt der Aufgang der Neuzeit. Eugenio d'Ors hat
das schöne Wort geprägt: Die (besten) Manieristen <sehnen sich
nacb dem verlorenen Paradies>. Sie tun dies vor allem angesichts
der gerade ihnen schrecklichen Krieee.
8l
Erasmus verwünscht während seiner Reise durch Italien die
Kriege, weil sie ihn darin stören, Museen zu besuchen und ruhige
Gespräche mit polyhistorischen Zeitgenossen zu führen. Die Er-
eignisse nach 1527 haben plötzlich alle hedonistischen Illusionen
einer möglichen sinnlich-geistigen Perfektion zerstört: Enttäu-
schung, desenchantement, desillusion, desengano — das Motiv eines
unerfüllten Perfektions- und Geltungstriebs. Die majestätischen
Perioden der humanistischen Prosa, die arkadischen Gespräche
zwischen Prinzessinnen und Rittern, die idealisierte Antike — alles
das verliert an Anziehungskraft. Es dauert Jahre, ehe der Leichen-
geruch, der über Rom liegt (die Pest wütet überall, ohne Rücksicht
auf Päpstliche oder Kaiserliche), sich verzieht. Im Antlitz dieses
Massensterbens verstärkt sich die den Manieristen innewohnende
saturnische Todesbeziehung und <Zeit>-Problematik, zwei geistige
Triebkräfte, die beherrschend werden bis zum Barock; dann wird
im Hochbarock der <Tod> zu einem nur noch repräsentativ-grausi-
gen Bestandteil rhetorischer Kirchendekoration, in einer anschei-
nend neuen <Ordnung>, im nur noch omamentalen Grauen.

8. A N G S T UND N E U G I E R

Tod = <Abstrakte Schönheit)


Noch unter Clemens VII. entstehen der Kapuziner- und der Jesui-
tenorden. In der <Höllenmeditation>, in der fünften <Exerzitie> der
ersten Woche, fordert Ignatius von Loyola (1492 — 1556): <Mit den
Augen der Einbildungskraft die Länge, Breite und Tiefe der Hölle
schauen... gewaltige Feuergluten und die Seelen wie in brennen-
den Leibern eingeschlossen. (Hören:) Weinen, Geheul, Geschrei,
Lästerungen... (Riechen:) Rauch, Schwefel, Unrat und faulende
Dinge... (Schmecken:) Tränen, Traurigkeit, den Wurm des Ge-
wissens... (Tasten:) die Feuergluten, welche die Seelen erlassen
und verbrennen.> Hölle und Tod in der <Idea>, in der imagina-
zioneA Bilder des Grauens wie mit einer <Laterna magica> in die
<meditative> Kammer des Bewußtseins hineinprojiziert, und zwar
durch die Vorstellungskraft. In einem Werk eines ganz andersge-
arteten Jesuiten in der <Physiologia> (1624) Athanasius Kirchers
findet man, am Ende der damaligen Manierismusphase, zwei
Illustrationen zu Laterna magica-Projektionen: 1. Skelett und 2
Verdammter in der Hölle (Rauch und Feuer durch <ingeniosen>
Zusatzspiegel erzeugt). Man könnte meinen, es werde das Medi a
tionssystem des großen militanten Vorfahren <surrealistiscm illu-
striert. Immer wieder heißt es bei Ignatius: <Ich soll mir vo
stellen...> Die Bewußtseinserweiterung wird methodisch,
Psychologie des Subjektiven systematisch.
Wer aber steht wirklich hinter dem Tod? Gott, der Teufel oder.. •
das letzte Geheimnis? Der Tod wird zu einer Halluzination. Mehr
als hundert Jahre fließt künstliches Theaterblut über die Bühnen
Europas, in grausigen Mord- und Folterszenen. Diese manie
stisch-barocke Todeskunst und -literatur erlebt exakt am Begi
der zeitgenössisch <modernen> Literatur ihre literarische VVi
auferstehung. Hugo Ball spricht von <moderner Nekrophilie^
gesichts einer Anatomiezeichnung von Vesalius (1555) schreibt
Charles Baudelaire: ^Geheimnisvolle und abstrakte Schönheit in
diesem mageren Gerippe, welchem das Fleisch als Kleid dient. Die
Landkarte zu einer Dichtung über den Menschen.> Doch Dichtung
und Wissenschaft dieser Epoche greifen dieses düstere Thema (in
einem neuen) Sinne später auf, als die Vorläufer der manieristi-
schen Kunst. P. Bruegels d.Ä. <Triumph des Todes> (Madrid, Teil-
stück) ist vielleicht das unheimlichste Todes- und Hinrichtungsor-
chester der Kunstgeschichte, ein visionäres Vernichtungslager a
priori, mit den Paukenschlägen des Skelett-Dirigenten und dem
Präsentieren (rechts unten) einer strammstehenden Skelett-Kom-
panie. Sicherlich eine beispiellose Landschaft des Todes, und am
grausigsten in ihr der aufgespießte Rumpf in der Höhlung des
ebenfalls skelettartigen Baumes, die Geräderten am Himmels-
rand. Dennoch fehlt in diesem sehr bewußt komponierten Toten-
tanz eines: das Gesicht des individuellen Schmerzes, des eigenen,
des persönlichen Todes. Dieses Gesicht des Sterbenden, in wel-
chem der Tod nicht nur Massaker irgendeiner Vorsehung ist, fin-
det man hingegen in einer Teilaufnahme des (Jüngsten Gerichts>
Michelangelos. Michelangelos Schauerquartett stellt mit einer lie-
genden Figur dar: das Sterben, mit dem Totenschädel (links da-
von); die Verwesung im Grabe, mit dem halb aufgerichteten Ske-
lett: einen Zwischenzustand zwischen Tod und Auferstehung und
schließlich mit der im Hintergrund <zwischen Tugend und Laster
noch schwankendem Schattenfigur: die Seele des summarischen
göttlichen Urteils - Himmel oder Hölle. Vier Phasen: Sterben,
Grab, chiliastische Wende, Auferstehung ...Das Ergebnis der

Illustration zu Athanasius Kirchers


<Phvsiologia>
Pieter Bruegel d. A.:
Triumph des Todes

Michelangelo Buonarrotti:
Ausschnitt aus dem <Jüngsten
Gericht)
Auferstehung bleibt ungewiß, wenigstens für diese Schattenfigur,
für Michelangelo selbst, für alle Manieristen. Nur eins fehlt nicht in
der pathetischen Gebärde des Schattens: die Hoffnung, die Sehn-
sucht, das verzweifelte Streben nach sfere superiori. Die Faszination
des Todes! Der Tod, besser das Sterben, der Anblick der in Kriegen
zahllos Sterbenden macht angst, aber die Aussicht auf den Tod
macht auch neugierig; man sehe sich nur an, wie der <Mensch> in
einer Ecke des <Jüngsten Gerichts> den Tod fixiert, als wolle er des-
sen letztes Geheimnis enthüllen. Der Tod ist das Geworfenwerden
ins letzthin Unbekannte, denn der Zweifel an theologischen Ver-
heißungen breitet sich immer mehr aus. So wird der Tod zum Hie-
roglyphischen schlechthin, zum <wunderbaren> Rätsel, zur ebenso
teuflischen wie göttlichen Anigme.
Auch die manieristische Literatur wimmelt von Todesdarstel-
lungen in der Polarität Angst, Neugier, ganz anders demnach als
im Hochbarock. <Alle Welt ist medial geworden...), meint Hugo
Ball in seinem Tagebuch, <vor Angst, vor Schreck, vor Qual.> Der
Monolog Hamletsl Weniger bekannte Beispiele findet man in ei-
nem Werk Jean Roussets über <Circe und Pfau>, Symbole des
Wechsels und der Verwandlung, Beispiele aus der französischen
Literatur der Shakespeare-Zeit. Ein Kapitel heißt <Todesland-
schaft>. Ein Anonymus dieser Zeit schreibt, er liebe nur die Beerdi-
gungen, die Einsamkeit mit seinem Schatten, er sucht: <Abgründe
von Grauen, zerstückelte Menschern. Er liebt: <Nacht, Schatten,
Einsamkeit.) Der Tod gefällt ihm. 1627 schwärmt ein wenig be-
kannter französischer Lyriker, Lortigue, von einem <mageren Ske-
lett, wimmelnd von tausend Würmern, sterbend, weil es nicht
sterben kann>. Ahnliche <Concetti> findet man im spanischen Cul-
tismo, bei den metaphysical poets Englands, bei deutschen Dich-
tern des 17. Jahrhunderts, Gryphius an der Spitze. Ein hyperveristi-
scher Todes-Expressionismus entsteht, ein Skelett- und Leichen-
kult. Kriegsgrauen und Kriegsgreuel füllen Bühne und Romane.
<Titus Andronicus> bietet dafür die entsetzlichsten Beispiele. 1630
verfaßt Quevedo seine <Träume des Todes und seines Reichest
Er schreibt ausdrücklich: <Der Tod ist eine änigmatische Fi- )<
gur.) 1 Gibt es überhaupt einen Unterschied von Tod und Leben? ' In der Gedichtfolge von <Altarwise
<Ihr selbst seid Euer Tod.> <Euer Gesicht ist der Tod.> Leben ist
findet man: <Death is all metaphors».
morir viviendo, lebend sterben. John Donne (1573-1631), der eng-
lische Manierist, dessen neuen Ruhm T S. Eliot mitbegründete,
hat einen Traktat über den Selbstmord geschrieben (<Biathanatos>,
1608, 1644 veröffentlicht). Von dem englischen Hofhält e r - etwa
1630 — seine letzte Predigt: <Death-Duel>, <Wettkampf mit dem
Tode>. Darin heißt es: <0 Wurm, Du bist meine Mutter und meine
Schwester.) <Wenn mein Mund voll Staub sein wird, wird der
Wurm sich friedlich von mir ernähren.) Und die Liebe? Die Schön-
heit? Die Geliebte, auch sie wird, stellt man seine Einbildungskraft
auf den Tod ein, genau wie am Anfang des zeitgenössischen Ma-
nierismus, zur <Nymphe macabre> (Baudelaire).
Der <Caractere maudit> (Baudelaire) der manieristischen Kunst
und Poesie des 16. und 1 7. Jahrhunderts erlebt seine Wiederaufer-
stehung als neue, antibürgerliche, antiklassizistische Vorstellungs-
welt, noch bevor die anderen manieristischen Motive und vor allem
die manieristischen Deformations- und Transpositionstechniken
wieder auftreten. In neue <Abgründe> will man tauchen. Baude-
laire: <Plonger au fond du gouffre, Enfer ou Ciel, qu'importe? / au
fond de l'inconnu pour trouver du nouveau.) (<Hinabtauchen in die
Tiefe des Unbekannten, um Neues zu finden.)) Der Tod läßt er-
schauern in Angst, er macht auch neugierig, er läßt das Unge- 8^
wohnliche ahnen, das völlig andere, im Abgrund der Geheimnisse
das letzthin Unergründliche. Walt Whitman erklärt den Tod als
Erfüllung der größten Neugier: <I see that 1 am to wait for what/
will be exhibited by death.> (<Ich begreife, daß ich n u n auf das war-
" Ostern 161g sagt John Donne in ei- ten muß, was der Tod mir zeigen wird.>2) Wenn <Manieristen> in
ner Predigt: eich weiß, daß ich die-
sen Tod sterben muß, was küm- Charakter und Werk zwiespältig erscheinen, so in diesem doppel-
mert's mich! Ich will einen andern ten Verhältnis zum Tode. Die <Angst> vor dem Tode läßt eine echte,
Tod ausfindig machen, morte raptus,
einen Tod im Hingerissen-Sein. in
existentielle Erschütterung sichtbar werden. M a n lebt in Span-
der Ekstase.) nung: zum Tode hin. Er wird in keiner Weise verkleidet, weder
heroisch noch sentimental. Aber gleichzeitig bleibt der Intellekt
wach, hell, neu-gierig. Im Streben nach <Novitä> (Marino) glaubt
und hofft man innerhalb der Landschaft des Todes die faszinie-
rendste meraviglia zu finden. Ergriffenheit und Kalkül interferie-
ren ständig, wenn auch — wie bereits dargestellt — im 16. und
17. Jahrhundert die mystisch-theologischen Bindungen nie (auch
wenn sie nicht theistisch sind) aufgegeben werden. Hier, vor dem
schrecklichsten aller menschlichen Geheimnisse, ist — zur psycho-
logischen Charakterisierung des manieristischen Typus — einer der
entscheidenden Dualismen sichtbar geworden. Schon im Ergrif-
fenwerden wird das Instrumentarium ausgepackt, mit dem aus
dem Ergreifenden das absolut Ungewöhnliche, das Schock-Erzeu-
gende, das die Aufmerksamkeit Überwältigende herausseziert
wird - mit beobachtenden Augen — mitten in Greuel und Grauen.
Von 1540 bis 1660 und von 1850 bis 1950 gibt es eine Greuellite-
ratur, nicht nur im Zusammenhang mit Kriegen, die, besonders in
Frankreich und in England, allmählich jede auch nur ethische Be-
deutung verliert. Es handelt sich u m eine Kunst und Literatur der
Schreckenskabinette. Man darf— heute — von einem Vulgärmanie-
rismus des Massenzeitalters sprechen. Es geht in solchen Fällen
nichtum den Kampf gegen den Irr-Sinn des Kriegs. Es gehtum die
Inszenierung schauriger Effekte, die oft mit kaum noch verschlei-
erter Pornographie vermischt sind.
Wie einst in den aristokratischen Salons, so fing es jetzt in den
bürgerlichen Salons an. Alberto Martini (1 879—1954) gibt dafür -
im ersten Jugendstil-Surrealismus — mit seinem <Pöe-Kip-Frog>
ein Beispiel, zu dem ein kurzer Kommentar genügt. Die innere
Verlogenheit des Vulgärmanierismus wird hier entlarvt. Selbst der
Tod ist dekadent geworden. Welch ein Unterschied zu dem Vier-
Phasen-Tod, den Michelangelo im Wirbel des <Jüngsten Gerichts>
so schamhaft versteckt, fast naiv, aber gläubig, in eine einzige
Raumdimension hineinzwängen sollte! Den einzigen Begleittext
zu diesem protorypischen Werk der zeitgenössischen Nachahmer-
Manieristen scheint uns die <künstlerisch> so banale Fratze eines
Lebemannes geben zu wollen, die, säuberlich abgeschnitten, ne-
ben einem Likörglas auf einem preziösen Salontisch ruht. Wir wis-
sen es: abgedroschene Phrasen aus diesen bas-fonck aller Manieri-
sten, <säkularisiertes> Geschwätz zu dem einst so dramatisch ech-
ten Quartett von <Glanz, Göttlichkeit, Grauen, Verbrechern. Der
<saure Kitsch> (Egon Holthusen) entsteht. Ein Humanist des
16. Jahrhunderts nannte dies <sauren Rauch>. Im 20. Jahrhundert
ändert sich das Salon-Makabre des Bürgertums - nach zwei Welt-
kriegen, wenn auch die Grauenliteratur der literarischen und
künstlerischen Poseure weiterwuchert.

86
Fabrizio Clerici: Die große Beichte
von Palermo

Der Tod
b i l d e t eine <Geheimgesellschaft>

In manchen Fällen findet man eine Annäherung an die noch sa-


krale Todeslandschaft von 1540 bis 1650, so vor allem im Werk
eines der begabtesten nenen italienischen Maler, Bühnenbildner
und Zeichner, im Werk Fabrizio Clericis. In seinem Ölgemälde:
<La Grande Confessione Palermitana> (Die große Beichte von Pa-
lermo. i 9 5 2 ) , von welcher man unter den Abbildungen eine leil-
aufnahme findet, wird in auch historisch <surrealen> Bezügen die
seltsam angespannte Innenwelt des Frühbarock wiederentdeckt
Der Übergang von einem Erschüttert-Sein, das zur Vision der
Heil-losigkeit zu verführen schien, zu der Vision eines nicht^mehr
«neugierigem, sondern erlösungsgewisseren Umgangs mit dem
Tode wird in diesem scharfsinnigen und spitzfindigen Werk™
einem sicherlich denkwürdigen Ereignis. Man wird sich allerdings
fragen müssen: Wer hört noch unsere Beichte? Nur n o c h » .
Wohin dringt sie? Ins Nichts? Stehen wir hier yor einem <N hüis-
mus>, wie er uns in den <Four Quartets> T. S. Ehots begegnet. Sa-
gen die Beichtenden etwa: <Nicht an sich ist begehrenswert^ Lud
denken die horchenden Kapuziner-Skelette nicht: <Das war eme
Art, es darzustellen - nicht sehr befriedigend /Eine penphxasto^
sehe Studie in einer überlebten poetischen Mode>... <AUi
sie kommt es nicht an>... <Was zu erobern ist, durch S ^ k e und
Unterwürfigkeit, ist schon ^ ^ £ % £ ä £ Z
0
um wieder einzubringen, w a . ^ f ^ ^ W i r g l a u b e n es
Todes also? Eine Landschaft des Nihihsmus. vv s ^ ^ ^
nicht, ebensowenig wie wir - n e h m e n d u r i e n b ^ . ^
hieroglyphischen Versen einem metaphysischen v g
mus verfallen. Was an Clericis Bild entscheidend ist 1 c h e e n e u
erte Symbolik des Todes, zumindest metaphorisch des lodes.
87
wieder auf das Leben horcht.
Das stellt eine religiöse Wendung dar, und es ist nützlich, sich
einige Daten aus dem Leben Clericis zu vergegenwärtigen. Wir
werden dann erkennen, daß hier nicht etwas <konstruiert> ist, son-
dern daß im zeitgenössischen Manierismus, der bewußt diesen
<Ausdruckszwang> des 16. und 17. Jahrhunderts wiederaufgreift,
im Sinne eines auch im Manierismus legitimen Traditionalismus
ebenfalls die einstige Relation von Ästhetik und Theologie über-
nommen wird. Clerici, ig 13 in Mailand geboren, besuchte sieben
Jahre in Rom das jesuitische Collegio Massimo. Das Rom von 1550
bis 1650 wird ihm zu einer <Traumwelt>, nicht zu einer <klassischen
Erinnerung). Um zu leben, zeichnet er Anatomietafeln. Zu Stu-
dienzwecken wohnt er oft Operationen bei, ist häufiger Besucher
der römischen Leichenhalle. Er sammelt Bücher aus dem 16. und
17. Jahrhundert. Die <Magie> der Illustrationen in damaligen Wer-
ken fesselt ihn. Er liebt Max Ernst, illustriert die <Reise nach Paris>
von G. B. Marino, dem Literatur-Papst des italienischen Manieris-
mus in der Dichtung, und vertieft sich in die <magische> Literatur
Deutschlands aus dem 17. Jahrhundert. Clerici gehört zu den er-
sten <traditionalistischen> Surrealisten Europas. 1946 schreibt er
eine Mongraphie über Jan Bruegel. Und nun zum Tod! Breton
hatte erklärt: <Der Surrealismus wird Dich in den Tod einführen,
und dieser bildet eine Geheimgesellschaft.> In der <Beichte von Pa-
lermo> sind Glaube und Unglaube kein <Problem>. In den Tod
braucht man nicht <einzuführen>. Er ist eine Realität, die den Men-
schen nicht nur neugierig, sondern ... schöpferisch macht. In einer
Stadt der Toten wie Rom kann der Mensch nur schöpferisch blei-
ben, wenn er den Tod in einer sinnbildlich wirkenden Traditions-
kette überwindet.
Die Fackel des Lukrez flammt wieder auf. Eine Generation gibt
der anderen die Flamme des Lebens, des Wissens ... und auch der
' G e b . 1916 in Worms. Seit früher
<manieristischen> Impulse. Der Tod als <Angst> und als Antrieb zur
Jugend in Rom lebend. Eigene morbid-intellektuellen <Neugier> wird hier in einem modernisti-
künstlerische Entwicklung bewußt schen Traditionalismus überwunden. Das ist römisch. Auch das
von damaliger manieristischer
Kunst angeregt. Hervorragender Extreme wird in Ahnenschaft einbezogen! Im Norden ist es anders
Kenner der <manieristischen> Kir- und wird es wohl anders bleiben.
chen Roms: Sta. Susanna, S. Gio-
vanni DecollatO, Sta. Maria in Tra- Ein zeitweise in Rom lebender jüngerer deutscher Künstler, Fa-
stevere (Kapelle Alterns) u.a. bius von GugeP, zeigt den <Tod in der Nacht> aus und in der Inten-

Fabius von Gugel:


Der Tod in der Nacht

88
sität Grünewalds, wenn auch kühler und gewiß auch skurriler.
Ruinenlandschft, der Tod als Januskopf, die Fliehenden, die Rat-
ten das Atom-Bomben-Luftschutz-Gespenst der Zukunft mit dem
Kind vor der spiegelnden Vitrine, darin Graburne und Toten-
maske. Das Kind sieht sich im spiegelnden Glas als Totenkopf, und
daraufweist der Grünewald-Finger: das Schicksal der jungen Ge-
neration? Etwas Programmusik wohl, viel Talent, romantische
Phantasie, vor allem mehr <Angst> als <Neugier>. Doch mehr Hin-
ordnung auf die gespenstische Zukunft> als Gelassenheit im weis-
heitspendenden Wissen um das Vergangene. Anders noch der be-
kannte und umstrittene Entwurf Reg Butlers (England) für eine
Skulptur, Symbol für die in Vernichtungslagern des 20. Jahrhun-
derts Gestorbenen. Hier erhält das Antlitz des Todes eine neue
Würde: die Aura des Stolzes, für etwas gestorben zu sein, für die
Freiheit, für die Freiheit schlechthin, mit oder ohne Glauben, für
die Freiheit der Sterblichen.

9. D I E E N G E L S B U R G

Aufgang der Neuzeit


Gibt es noch eine geistige Hauptstadt des zeitgenössischen Eu-
ropa? Paris hatte schon vor dem Ersten Weltkrieg viel von dem
Glanz der Jahrzehnte von Balzac bis Mallarme verloren. Berlins
Aufstieg unter der Weimarer Republik hatte nur kurze Dauer.
London war schon seit dem 17. Jahrhundert Hauptstadt eines
überseeischen Reichs geworden.
Wenn wir heute Rom sagen, so meinen wir in erster Linie, neben
dem Rom der Antike, das Rom von etwa 1450 bis 1650, das <zweite
Rom>, das Rom der spannungsvollen Persönlichkeiten von Niko-
laus V. bis zu Urban VIII. (1447-1644). Dieses noch immer leben-
dig nachwirkende Rom der Renaissance, des Manierismus und des
Barock, dieses Rom am Aufgang der Neuzeit, ist allerdings für die
beste internationale Elite die geistige Hauptstadt Europas geblie-
ben. Nicht nur das. Es überschattet neuerdings immer mehr das
iaris Ludwigs XTV, aber auch dasjenige des 19. Jahrhunderts. Es
wird gegenwärtig in einem doppelten Sinne wieder eine solche eu-
ropaische Hauptstadt in merkwürdiger zeitlicher Distanz und
ne
- Wenn ein so dreister und herausfordernder Wirrkopf wie
ivador ^ a a heute meint, die Kunst bewege sich auf eine neue
Renaissance hin, und er, Dali, habe sie bereits antizipiert, so wer-
en wir mißtrauisch sein müssen. Wir werden aber zu prüfen ha-
e
n, was zu einem solchen Axiom veranlassen könnte. Wir haben
im zweiten Rom bisher zu sehr den Ausdruck einer erneuerten An-
e
gesehen, die <Wiedergeburt> eben des Augusteischen, Trajani-
s en u n d Hadrianischen Rom. Unsere Väter haben Raffael als
n
Maßstab des Schönen bewundert und gepriesen, sie sahen in
m das Idealbild des Klassischen. Im Rom der Gegenreformation
. m a n die äußere Fassade des barocken <Prunkstils>, der großen
vitalen Repräsentation gewürdigt - tadelnd oder lobend. Erst jetzt
ginnen wir besser zu verstehen, daß diese Zeit zwischen 1450
1050 nicht nur eine Zeit der Wiedergeburt von etwas bereits
r
gelebtem oder Vorgedachtem und auch nicht nur eine Zeit der
glanzvollen Rhetorik gewesen ist. Wir begreifen, wie wir schon an-
läßlich des vom Rom dieser Zeit angeregten zeitgenössischen sur-
realistischem Werks von Clerici gesagt haben, daß diese Zeit auch
zur Geburt eines gänzlich Neuen jenseits alles Antikisierenden, zur
Geburt nämlich der Moderne geführt hat.
Wir sind also im Begriff, Rom <neu> zu entdecken, es mit <moder-
nen> Augen zu sehen. Wir stoßen im zweiten Rom, wie im Florenz
der Pontormo und Rosso, etwa 1520 bis 1540, auf Zeichen, Gebär-
den, auf seltsam intensive Formeln und Bilder, die unserer Über-
gangszeit) entsprechen. Wir erkennen nach einer scharfsinnigen
Vorbereitungsarbeit europäischer Autoren von jetzt schon mehr als
zwanzigjähriger Dauer, daß der Mensch in seiner Problematik im
zweiten Rom genau so oder noch stärker im Mittelpunkt des künst-
lerischen Wollens stand wie der Mensch in der <Harmonie>, in der
<Perfektion>, in der ausgleichenden <Mitte>. Wir stehen vor einem
neuen Strom von erregender Schönheit und Phantastik, von ver-
zweifelter Sehnsucht nach dem Absoluten und von verspielter Ver-
liebtheit in das Bizarre, Zweideutige, Vieldeutige. Auch Nietzsche
irrte wohl für unser heutiges Empfinden, wenn er meinte, im Re-
naissance-Rom, ja sogar auf dem Stuhl Petri, habe das <Leben>
wieder gesiegt. Was damals geschah, sehen wir vom engeren Klas-
sizismus und vom programmatischen Barock ab, war mehr als <das
große Ja zu allen hohen, schönen und verwegenen Dingern.
Gewiß, auch das findet man. Aber es blieb doch, ja es dominierte
geradezu ein schöpferischer Zwiespalt von Geist und Leben im An-
sturm neuer Weltverhältnisse, ein Zwiespalt von Gebet und Ge-
nuß, von Macht und Demut, von Sinnlichkeit und Intellekt, von
Weltangst und Zuversicht. Allerdings, und das ist das Entschei-
dende: diese geradezu ungeheure Problematik, die der unsrigen so
vielfach, wenn auch nicht ganz entspricht, vollzog sich damals in
Rom immer in den Umrissen der überlieferten römischen Größe,
die wir heute noch mit den Augen abmessen können, an der Ma-
xentius-Basilika, am Colosseum, an den Diokletian-Thermen, an
der Peterskirche . . . und an der Engelsburg. <Die Stadt, die wir als
Kulturhauptstadt des Abendlandes verehren, verdankt... nur sehr
wenig von den Werken, die in ihr geschaffen wurden, ihren eige-
nen Söhnen. In ihr wurden nur sehr wenige Künstler geboren,
trotzdem aber blieb der ,Genius Romae' eine Kraft, die nie er-
lahmte, die von ihrem Wesen jeden überzeugte, der Geisteszeuge
Zum Studium des <manieristi- war.> Die Manieristen in Rom um 1550 waren vielfach Toskaner.
schen Rom> seien im übrigen emp- Das <Moderne> im und am <zweiten Rom>, das, was uns Heutigen
fohlen Leo Bruhns (o.e.), Hans
Hoffmann (o.e.) (vor allem Archi- dieses Rom wieder zu einer europäischen Hauptstadt im Geiste
tektur des Manierismus, so z.B. Pa- macht, kann hier nur an einem einzigen Beispiel erläutert werden.
lazzo Massimi. Villa Lante und Pa-
lazzo Caprarola bei Viterbo, Villa
Wir werden dann in einem neuen Sinne die Richtigkeit des Wortes
Giulia. Palazzo Spada. Palazzo von Nietzsche würdigen müssen: <Die italienische Renaissance
Chigi, II Gesü). H. Voss. Die Malerei
der Spätrenaissance in Rom und in
barg in sich alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne
Florenz. Kultur verdankt.) 4

Objet surrealisto der Geschichte


Jeder kennt die Traumgegenstände der Surrealisten. Abstruse Ge-
bilde sind es, aus den Zufällen der Eingebung entstanden. Sie er-
geben sich aus dem Ablauf von Mechanismen der Phantasie, nicht
aus formbestimmtem künstlerischen Wollen. Dennoch kristallisie-
ren sich aus diesen äußeren Anstößen vielfach Gebilde von eigen-
90 tümlichem Reiz, von irrealer Organik.
Schon Bosch, Leonardo und Bruegel haben dieses akausale
Spielenlassen der Phantasie gekannt und angewandt. Die Engels-
burg in Rom tritt uns Heutigen wie eines der größten objets surrea-
listes der europäischen Geschichte entgegen. Sie ist eine der faszi-
nierendsten Kristallisationen Tausender historischer <Zufälligkei-
ten>, welche am Ende doch eine <Form> annehmen, obwohl kein
planender Geist, keine rationale Überlegung, gestaltend für das
Ganze — wie es uns heute entgegentritt-verantwortlich war. Wenn
es wahr ist, daß starke geistige und sinnliche Wirkungen von der
Vereinigung des Gegensätzlichen ausgehen, so ist dies sicher rich-
tig für die jetzige Einheit der vielen verschiedenartigen Metamor-
phosen, welche dieses Gebäude am Rande des Tibers erfuhr, seit-
dem Kaiser Hadrian im Jahre 139 n. Chr. dort ein Grabmal für sich
und seine Nachfolger errichten ließ. Schon vor dem Zusammen-
bruch des Imperiums verwandelte sich diese magische Funktion,
Macht symbolisch durch die Idee des Ewigen zu vertreten. Die My-
stik des Grabes hatte keine bannende Kraft mehr. Man brauchte
realere, materielle, physische Kraft. Das Grabmal wird säkulari-
siert. Es erlebt seine erste Metamorphose. Es wird Festung, Brük-
kenkopf am Tiber, legendäre Zitadelle, mit welcher man Rom und
das Tibertal beherrscht, ein harter, rauher, defensiver Organismus
verzweifelter Selbstbehauptung, einer der erstaunlichsten artifi-
ziellen Riesenpanzer im menschlichen Kampf ums Dasein, um den
Sieg des Stärkeren, den es in der paranoischen Lebensgeschichte
des Homo sapiens gibt. Es beginnt der <Roman> der Engelsburg, so
phantastisch, so abstrus, daß kein Epiker ihn schreiben könnte,
weil er alle Grenzen des Wahrscheinlichen sprengt. Es ist, als habe
sich am Tiberufer ein gigantischer Stein-Drache eingewurzelt, der
nur noch eines repräsentiert: das Dämonische. An den Mauern des
Kastells werden rund 1000 Jahre lang europäische Konflikte aus-
getragen, Machtkonflikte, Ideenkonflikte; Tragödien menschli-
cher Hybris enden dort, gesellschaftliche Zerwürfnisse finden ihre
grausamen Epiloge. Im Jahre 1389 kam die Burg in den Besitz der
Päpste. Sie gehörte ihnen bis 1870. Das Castel Sant' Angelo wird
mit seiner Umgebung zum Schauplatz der Machtkämpfe zwischen
dem römischen Adel, den Päpsten und Gegenpäpsten, und es ge-
schehen dort Dinge, welche die schaurigsten Tragödien Senecas
oder Shakespeares übertreffen. Aus dem alten Kaisergrab wird,
außer einer Festung, ein Kerker, eine Folterkammer und eine Hin-
richtungsstätte. Vor allem Persönlichkeiten von Rang, politische
Gefangene, Häretiker, Konspiratoren, Philosophen und Dichter,
Kurtisanen und Großliteraten, Kardinäle und Bischöfe, Prinzen
und Hofintriganten wurden dort, im erbittertsten Kampf um eine
geistige und politische Neuordnung der abendländischen Verhält-
nisse, in diesem Kampf- der später meist nach Strömen vergosse-
nen Bluts mit einer <Synthese> endet - erhängt, erwürgt, enthaup-
tet, ertränkt oder lebendig begraben. Wie überflüssig erscheinen
dem später Zurückblickenden diese Manifestationen des <Dämo-
nischen> in der Geschichte, wenn man an die heute im allgemeinen
längst vergessenen Konflikte denkt!

91
Irreale Phantastik
Es wird einem in Wanderungen durch die Verliese der Engelsburg
nun allmählich klar, wie zahm die kühnsten Darbietungen der
<modernen> Kunst sind, wenn man dort der äußerst konkreten, ge-
genständlichem <Menschlichkeit> in den Schichtungen unseres
Schicksals begegnet, dort, in diesem uranischen Konzentrat euro-
päischen Glanzes und europäischen Elends. Denn es gibt in die-
sem historischen Labyrinth auch Glanz, Wärme, Anmut, Lieblich-
keit, Ausdruck der Sehnsucht nach Schönheit, Gleichgewicht
Freiheit, Morgenröte. Ausdruck aber auch der Verzweiflung, einer
irrealen Phantastik.
Es fängt in der Renaissance an. Die Päpste Alexander VI.
Pius III., Julius IL, Leo X., Hadrian VI., Clemens VII., Paul III.,
Julius III. und Paul IV. (alle von 1492 bis 155g) machen die Bure
zeitweise zu ihrer Residenz. Während in ganz Europa ein Sterben
von Millionen und in neuen großartigen Schöpfungen von weni-
gen sich das, was man <Neuzeit> nennt, vorbereitete, fühlten sich
die Oberhäupter der Kirche dort sicher und förderten von dort aus
Künstler und Dichter. Sie ließen sich über dem Rundbau Apparte-
ments, Wandelhallen und Loggien bauen. Die Todesburg wird zu
einer Stätte des Geistes, der Sehnsucht nach Schönheit. Von hier
aus konnte man Vatikan, Peterskirche, Rom beherrschen. Nach-
dem Rom sich vom Sacco di Roma erholt hat, wird das Kastell vor
allem unter Paul ffl. (1534-1549) immer kunstvoller ausge-
schmückt. Auch räumlich wird es zu einem <Labyrinth> von Prunk-
sälen, Bibliotheken, Schlafgemächern, Gerichtsräumen, Kerkern,
Theaterbühnen, Schatzkammern.
In dieser Burg entwickelte sich auch eine Kunst, die, wie gesagt,
manche Stilprobe des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt. <Ausge-
ruhte> Klassik findet man dort kaum. Es herrscht das Experiment
vor, das ästhetisch Abstruse, das Gewollte und Gesuchte im Sinne
des Manierismus, das geistvoll Fragwürdige und das elegant Brü-
chige. Die <Grotesken>, die Wanddekorationen im Paolinischen
Saal, im Apollo-Saal, im Amor- und Psyche-Schlafgemach, sie vor
allem künden, diese so wenig beachteten damaligen <Surrealis-
men>, von der Tendenz, gleichsam <voraussetzungslos> das Wirre
und Verwirrte einer Epoche des Übergangs einzufangen. Pierin del
Vaga, Luzio Luzzi, Raffaelo da Montelupo, Giulio Romano, Ser-
moneta, Giovanni da Udine, Beccafumi, Tibaldi wirken nun in den
labyrinthischen Sälen, Gängen u n d Kammern des ehemaligen
Grabmals. Sie schmücken sie mit Motiven antiker <Grotesken> aus,
aber mit einer viel entfesselteren Phantasie. Auch hier herrscht vor:
die Tendenz, das Gegensätzliche zu vereinen und das Gegenständ-
liche nur noch als Ausdrucksmittel für paralogische Visionen zu
verwenden.
Ein faunisch-dadaistisches Ballett von verzwickten Mystifikatio-
nen entsteht. Man sieht in den Fresken und Grotesken der päpstli-
chen Räume Libellen mit Frauengesichtern, Männer mit Beinen
aus Blütenblättern, Frauen mit Brüsten in der Leistengegend, die
Picasso somnambulisch zuzuwinken scheinen, einen Buckligen
mit einem pompösen Phallus, einen Faun, der einer Unersättli-
chen den gleichen Gegenstand, den er sich, antiken Beispielen fol-
gend, amputiert hatte, freundlich in der ausgestreckten Hand
überreicht, damit sie ihm die Mühe abnehme, perspektivistische
Kunststücke, frenetisches Auflösen der Raumgesetze, Jungfrauen
mit einem Blumenkelchrock ohne Beine, erinnernd an die traum-
haftem Varieteplakate, die Breton so liebte, Gesichter mit Entset-
zen in den Augen und Lächeln auf den Lippen, Menschen halb aus
Pflanzen, halb aus Wasser, halb aus Erde wie die Urzeitgeschöpfe
von Max Ernst; alles entstanden aus dem leidenschaftlichen Trieb,
durch träumenden Geist das Grauen zu überwinden, es zu bannen,
wie im großartigsten Bilde des späten nordischen Manierismus, in
Rembrandts <Mann mit dem Goldhelm> und, auf dem Höhepunkt
der zeitgenössischen Kunst, in den gemalten paralogischen Meta-
phern Paul Klees, die sich allerdings von den vieldeutigen Irratio-
nalismen der Grabfestungs-Villa am Tiber unterscheiden: ihrer
abstrakten Reinheit wegen.

Grotesken
Dazu zunächst eine Reihe von Illustrationen. Die <Groteske> aus
den päpstlichen Appartements der Engelsburg hat noch etwas von
ihren hellenistischen und römisch-antiken Ursprüngen bewahrt.
Man erkennt also noch die Herkunft aus Raffaels Werkstatt, die
zur fruchtbaren Neuschöpferin der <Groteske> geworden war. Vor-
bilder dafür waren die antiken Ornamente in den <Grotten> des
<Goldenen Hauses> des Nero geworden. Raffael hat dort Studien
gemacht. Man nimmt an, daß diese antiken Arbeiten von Hand-
werkern aus Alexandrien angefertigt worden sind, also aus der
Stätte der ersten Phase des europäischen Manierismus. Griechi-
sche Anmut verbindet sich mit ägyptischen und (vielleicht) auch
mit indischen Motiven. Diese Kunst hat aber noch andere Ur-
sprünge. Die altrömische Grotten-Magie, denn um eine solche
handelt es sich, entstammt dem ägyptisch-kretischen Labyrinth-
kult. Dädalus war sehr wahrscheinlich ursprünglich der mythische
Bewohner einer riesigen, labyrinthischen Grotte, einer ähnlichen
Grotte, wie man sie heute noch in Apulien bei Castellana besichti-
gen kann. Schon die römisch-antike Arabeske (Grabmäler der Groteske Buchillustration von
Lobacco, i 558
Porta Latina) ist labyrinthisch. Darüber später. Nun aber zur Ciia^
rakteristik der (klassischen) Groteska^^DJe <Viktorien> der <Gro- X
teske I> wachsen aus kleinen Blumenkelchen hervor, es handelt
sich um libellenartige Gestalten ohne Schwere, um seiltänzerische
Figuren; sie schweben wie Bilder im Traum. Mischwesen sind es
aus Pflanzen, Tieren und Menschen, die sich in einer ständigen
Metamorphose befinden. Die Grenzen zwischen Pflanzen-. Tier-
und Menschenwelt sind aufgehoben. Diese Groteske ist von Gio-
vanni da Udine, der die Werkstatt Raffaels leitete, gemalt worden.

Giovanni da Udine: Groteske aus


der Engelsburg
Neue manieristische Elemente findet man dort nur in dem hypno-
tischem Blick und im starren Lächeln der beiden beinlosen Mäd-
chen.
Nun hatte aber die damalige <Magie>, mit ihrem besessenen
< Analogie-Verfahren >, geglaubt, <Urformen> der Natur entdeckt zu
haben. G.B. della Porta entdeckt in seiner <Physiognomonia>
(1588) Ähnlichkeiten von Menschen und Tieren (wie schon Aristo-
teles), aber auch von Tieren und Pflanzen. Literarische Einflüsse
aus der zeitgenössischen <Magia naturalis> (della Porta hielt längst
vor Erscheinen seines Werks darüber vielbesuchte Vorlesungen)
lösen die Grotesken-Kunst aus ihren Renaissance-Zusammen-
hängen. Sie wird manieristisch-phantastisch. <D'er Spiritusphanta-
sticus, der Bildergeist, gehört also zur Naturphilosophie (Hugo
Ball). Bruhns spricht in treffender Weise von einem <Sommer-
nachtstraum> der Grotesken. Mit einem Mal wird die Groteske ab-
strus, amorph, monströs.
Auf einer stark beschädigten <Groteske II> der Engelsburg sehen
Groteske aus der Cancelleria wir eine vierbrüstige Mädchenfigur, von der wir meinen, sie nehme
in Rom
das Ineinander-Komponieren verschiedener Daseinsebenen im
Stile Picassos vorweg. Das steigert sich immer mehr, wie auf der
Harpyien-<Groteske ü b . Hier sind Zuccaris aus der <Idea> stam-
mende <Imaginationen> und gleichzeitig die Deformation der Re-
naissance-Antike zu sehen. Die Teilaufnahme gleicht einem Poly-
pen, die Formen sind abstrakt. Man kann das kleine Monstrum
von allen Seiten ansehen, es behält immer mehr als eine dekorative
Form, es behält jeweils eine halluzinatorische Bedeutung. Es ge-
lingt ihm, den Raum nach allen Seiten auszufüllen. Ein entspre-
chendes dekoratives <Monstrum> finden wir in der Villa d'Este.
B. Graciän nennt die <Chimäre> <eine Anführerin der Mode>,
ein <wohleingeführtes Ungetüm, aller Leute Laster, Pest des Jahr-
hunderts >.
Es begegnet uns aber im <Saal der hundert Tage> der <Cancelle-
ria> in Rom eine für das damalige Rom gespenstische Steigerung.
Es handelt sich u m den Teil des Dekors eines Kamins (mit dem
Wappen Karls V). Aus einem augenförmigen Ornament (links)
<fließen>, wie zwei Tränentropfen, ein Bockskopf und daran hän-

Groteske aus der Engelsburg im


Zimmer von Papst Paul 111.
Brunnenplastik in der
Villa d'E«te

gend eine Art Mißgeburt mit dem Antlitz eines erwachsenen Man-
nes herab (Selbstporträt des Künstlers?), jedenfalls die Ausgeburt
einer <Imitazione fantastica>. Aus dem Mittelalter, aus dem Werke
des Hieronymus Bosch, ist man noch anderes gewöhnt, aber dieses
Gebilde hat mit der Welt einer durchaus deutbaren Symbolik
nichts zu tun. Es ist das Produkt eines imaginären Destillations-
prozesses, die Auspressung eines <Letzten> an Wahnsinnsvorstel-
lung neben dem Wappen eines Kaisers! Verhöhnung des Mannes, Emblem der Liebespein: Amor
der gegen seinen Willen den Sacco di Roma verschuldet hatte? Wir foltert und vernichtet I )m Concetto
glauben es nicht. Liebe zum Paradoxalen und zum Extremisti- dazu stammt MHI Seneca. Aus:
Heinsius. Aiederduytsi lu-
schen einer rein rationalen Phantasie, Spiel aber auch, Morbidität,
Poemata>. Amsterdam 1616
erste ästhetisch bewußte <Paranoia> ä la Dali, die hundert Jahre
später E. Tesauro Dichtern empfiehlt: <Die Irren (i matti) sind be-
sonders dazu befähigt, in ihrer Phantasie schillernde Metaphern
und scharfsinnige Symbole zu schaffen: genaugenommen ist der
Wahnsinn nichts anderes als die Fähigkeit, eine Sache in eine
andere zu verwandeln. Die subtilsten Genien, die Dichter und
Mathematiker neigen am stärksten zum Irreseins Und wieder der
unerschöpfliche Tesauro: Er nennt solche Gebilde <corpi naturali
chimericamente accoppiatb, d.h. natürliche Körper auf chimäri- 5
o.e. p. 18. Bei dieser \rt von Kin-
sche Weise miteinander verbunden. Wir begegnen also wieder blematik handelt es sieb meist um
Wappen-Symbole. Der Eranzötitt he
einem der wichtigsten manieristischen Grundsätze: <Das Entfern- Dichter Guillaume Apollinaire, der
teste miteinander verbinden.) Tesauro gibt aus der Emblematik bedeutende Vnregei dei heutigen
Beispiele: <Ein Krebs, der nach einem Schmetterling greifb. <ein alogischen Metaphern- Vssoziatio-
nen in der Lyrik, war ein Fachmann
Skorpion, der den Mond umarmt). 5 der Heraldik.

Monstrosität und Gesuchtheit


Uder handelt es sich nur um eine Äffung? Man würde weder den
damaligen noch den heutigen Manierismus verstehen, wenn man
es sich so einfach machte. Tesauro hat Marino geschätzt. Marino
beeinflußte John Donne. Schon Samuel Johnson kritisierte in sei-
nen <Lives of the Poets> (1779) anläßlich Cowleys den <metaphysi-
schen> <wit> {acutezza) und den >conceit< (Concettismo) der meta-
Ptysicalpoets, Was tadelt er an ihnen?l)as <Analytische>, das Zer- 95
brechen aller Bilder in Fragmente. Sie hätten nichts Besseres getan
als <einen Sonnenstrahl mit einem Prisma zergliedert, um das
Strahlen eines Sommermittags zu erfassen>. Die Kritik wußte also
daß man es nicht mit einem <Ulk> zu tun hatte. Das war meist alles
teuflisch ernst gemeint, wenn auch manche manieristische Ele-
mente dieser Art (in der Pamphletliteratur z. B.) zur Satire, zur Ka-
rikatur und gelegentlich wohl auch zur <Afferei> gebraucht wur-
Monstren aus den Herodot- den. Und doch spielt der <Affe> jn diesen Zusammenhängen eine
Illustrationen von Herold Bolle! Im gleichen vatikanischen <Saal der hundert Tage> entdek-
ken wir einen Affen. Bei Ernst Robert Curtius finden wir einen
Exkurs über <den Affen als Metapher>. Wir lernen daraus, daß -
nach der spätantiken Rhetorik des Apollinaris Sidonius (430-486)
— simius (der Affe) eine simia (eine Äffung) der menschlichen Natur
sei. Um 1200 war simia ein Modewort der lateinischen Schulpoesie
geworden. <Simia können Personen>, vermerkt Curtius, ober auch
Abstrakta, aber auch Artefakten heißen, die etwas vortäuschen.)
(Man erinnere sich an den /ng-anno-Begriff von F. Zuccari und E.
Tesauro.) Sidonius lehrte: <natura comparatum est ut in omnibus
artibus hoc sit scientiae pretiosior pompa quo rarior.> Curtius stellt
fest: 1. Die <Affen-Metapher> gehört zum (damals) populären mos
Sidonius. 2. Zum zitierten Lehrsatz des Sidonius mit dem Aus-
druck pretiosior (und auch rarior) meint er: <Ein Leitsatz des litera-
' Auch Tesauro bezeichnet die rischen Manierismus! Stammt daher das französische precieux?>6
iscimmia>, den Affen, als S\ mbol der
Affektiertheit, o.e. p. 148. Diese Frage können wir nicht beantworten. Aber der <Affe> in der
Groteske der Cancelleria ist uns jetzt vertrauter geworden.
Er symbolisiert das Künstliche (also nicht den <Ulk>), das Ge-
suchte, das Sich-künstlich-Verhalten. Wir haben es hier mit dem
Symbol der simia zu tun, mit dem Symbol alles dessen, was <Ab-
strakta>, aber auch <Artefakten> sind, mit allem, was - im Sinne des
Concettismus - etwas vortäuscht. Was bietet die Simia-Gestalt der
Cancelleria an? Feigen? Birnen? Wir konnten es nicht herausbrin-
gen. Nehmen wir an, sie, die simia huldige dem sie umgebenden
<Manierismus> des eigenen Verhaltens, wenn sie nicht mehr simius
ist. Sahen wir bei C. Ripa die gemalte Anigme des Anigmatischen,
so stehen wir hier vor dem gemalten Emblem der abstrusen Emble-
matik. Darüber hinaus gewinnen wir eine neue Bestätigung dafür,
wie sehr dieser <fragmentarisierende> Manierismus, diese Lust an
der <Zerbröckelung> der Weltinhalte, nicht nur aus dem Alexan-
drinismus, sondern auch aus dem Manierismus des Spätmittelal-
ters schöpfte. Allerdings haben auch die im 16. und 17. Jahrhun-
dert vielgelesenen antiken Beiseberichte (Herodot) und zeitgenös-
sische Beschreibungen von Entdeckungsfahrten die Phantasie auf
Wunderbarkeiten und <Monstrositäten> gelenkt. In Herolds <Hey-
den-Welt> (1554), Illustrationen zu Herodot, finden wir genug da-
von. Eine Teilaufnahme aus Herolds Herodot-Illustrationen kön-
nen wir bei aller Verschiedenheit der Ausgangspunkte mit einem
(und vielen anderen) der <Frauenköpfe> Picassos vergleichen. Ei-
nen Vogelmenschen aus den Herodot-Illustrationen von Aldro-
vandi (1628) mit Paul Klees <Seniler Phoenix> (1905). Zugeben
müssen wir wohl, daß der <Meraviglia-Endeiiekt> in allen Fällen,
Pablo Picasso: diese Mischung aus Staunen und Abscheu, sich wenig unterschei-
Frauenkopf, 1931 den läßt.
Baudelaire bezeichnete die Arabeske, die in den Grotesken die-
ser Zeit immer verwickelter wird, als <die geisthaltigste aller Zeich-
nungen>. Groteske, Arabeske und Phantasie bilden bei Novalis
eine Einheit, ebenfalls bei Gautier und Poe. Hugo Friedrich
Y spricht von einem Vermögen abstrakter, d.h. <sachentbundener
96 Bewegungen des freien Geistes> und bringt diese <sinnfreie Linea-
tur> mit der <reinen Ton- und Bewegungsfolge> in der modernen
Lyrik Europas in Beziehung. Für die Arabeske erscheint diese Re-
lation historisch legitim, während die Groteske selbst anderen Be-
zirken entstammt. Wir möchten die Groteske als Ausdruck einer
Desintegration bezeichnen. So wie sie uns in den <faulenden For-
mern (Bruhns) der römischen Wanddekorationen begegnet, kann
man sie allenfalls mit dem <Un-Sinn> des <Lettrisme> vergleichen,
mit der totalen Zertrümmerung der Sprache als eines grammati-
schen und syntaktischen Zusammenhangs, aber auch mit einem
Fabuliertrieb, der sich im Arationalen austobt. <Was mich an all
diesen Produktionen (der modernen Kunst) interessiert, ist eine
unbegrenzte, Prinzip gewordene Bereitschaft des Fabulierens, des
Übertreibens> (Hugo Ball, <Flucht aus der Zeib. Eintragung von
1917). Die Arabesken-Kunst ihrerseits entwickelt sich in zwei
Richtungen, in die irrationalen <Knorpel-Formern des späteren
<Ornament-Stils> und in die tatsächlich <sinnfreie, geistige, ratio-
/"
nale Lineatur> der abstrakten Kunst. Insofern bilden Groteske und Aus AJdrovandis
Herodol-Illustrationen
Arabeske zwar in der <Phantasie> eine Einheit, aber sie gehen selb-
ständig ihre Wege: die Groteske führt zum heutigen Surrealismus,
die Arabeske zur zeitgenössischen, <abstrakten> Kunst, besser: zur
peinture concrete.

<Zauberstücke>
Die Engelsburg ist ein europäisches Gleichnis für das, was Thomas
Mann <placet experiri> nannte. Kunst? Schönheit? Die extremisti-
schen Versuche dienen der Bewußtseinserweiterung, der Be-
reicherung der Ausdrucksmöglichkeiten. Die Fixierung des Häßli-
chen richtet sich nicht gegen die Schönheit. Sie soll dazu verhelfen,
der klassischen Schönheit der idealisierten Natur eine neue gei-
stige Tiefendimension zu verleihen und sie durch die Verwendung
neuer Formen in einer anderen Perspektive sehen zu lassen. Es ~Wr^C
gibt aber auch eine Schönheit des Experiments. Man findet sie auch *-A-B|HI
in der Engelsburg in den Fresken Pierin del Vagas und Tibaldis,
oder in der Cancelleria in den Fresken Vasaris, wenn es auch keine Paul Klee: Seniler Phönix
<Gipfel> mehr sind, ebensowenig wie Marino gegenüber Dante ei-
ner ist. Der experimentelle Übergangscharakter dieser Modernität
ist augenfällig. Das <Schöne> bleibt Ziel, aber es enthält neue Attri-
bute (im Experiment), fast als wolle man seine transzendentale
Würde <vermenschlichen>, <relativieren>. Die Schönheit wird in
die magische Umwelt eines komplizierten Raumillusionismus
gestellt. Sie soll vor diesen Hintergründen nun selbst wie eine er-
staunliche meraviglia wirken. Die <numinose> Schönheit, ihronto-
logischer Charakter, im klassischen Sinn, wird zu einer phänome-
nalem Schönheit im psychologistisch-manieristischen Sinne. Sie
ist nicht mehr Ausdruck des Kosmischen, sie ist Teil einer
magischen Wunderlandschaft, in deren Rätsel der <pantheistische>
Gottfried Müller: Phantastereien
Gott Giordano Brunos sich verschleiert zu erkennen geben könnte.
und Knorpelwesen der
Die beiden Fresken von Tibaldi und Vasari bringen dafür ein Spätn-naissance
neues Element: die Illusionsperspektive.' Man sieht dies deutlich
auf der Teilaufnahme einer von Tibaldi ausgemalten Wand in der
^ngelsburg. Die männliche Figur (Körperillusion), wahrscheinlich
siehe Farbabbildungen 11 und 1 •
ulvio Orsini, wird im Rahmen einer Pseudo-Tür (Raumillusion)
sichtbar. Sie wird in eine Pseudo-Realität hineingemalt, kommt
aus einem vorgetäuschten Zimmer (Tiefenillusion) hervor und be-
wegt sich, imaginär, anscheinend und <scheinbar> auf den wirkli-
97
chen Saalraum zu. Ähnliche Illusionsspiele findet man auch in
den Fresken des Palazzo del Te (Mantua) von Giulio Romano
(1499-1546), ebenfalls einem Schüler Raffaels. Diese illusionisti-
sche Malerei und Reliefkunst trat in der römischen Spätantike auf.
Aufgegriffen wurde sie zum ersten Mal wieder von Mantegna
(1431-1506) bei der Ausmalung der <Camera degli Sposi> im
Schloß von Mantua. Auch die anderen <Großen Konstrukteure)
und <Perspektiv-Meister> des frühen Quattrocento, Masaccio
(1401-1428), Paolo Uccello (1400-1475), Piero della Francesca
(1420-1492), allesamt von den Surrealisten des 20. Jahrhunderts
oft als vorbildlich zitiert, liefern den Manieristen Roms <Modelle>.
Illusionsspiele und Perspektiv-Künste beherrschen später den Ba-
rock im Sinne eines raumsprengenden Prunkstils. Auch in der ma-
nieristischen Architektur, selbst im Straßenbau (Treppen!) wird
7
1625. zehn Jahre vor Borromonis dieser <Raumflucht>-Trick zu einer neuen M o d e / Hoffmann hebt
Galerie, veröffentlicht P. Accohi in
Florenz eine Schrift mit dem be-
u.a. folgende Merkmale für die Architektur hervor: <Ungleiche
zeichnenden Titel: (Lo Inganno Verteilung der Fensterachsen, willkürliche Dehnung und Strek-
degli occhi. Prospettiva practica),
kung der Fassadenfläche.> Die Mittelachse <schießt> ohne be-
1658 J.F. Niceron seine berühmte
< Perspective Curieuse>. stimmtes Ziel in die Ferne. Diese architektonische Raumflucht
wird auch auf die Malerei übertragen. Gelegentlich führt dies
schon damals zu einem ganzen System von malerischen Wahn-
Beziehungen, wie z.B. in einem Teilstück des Deckengemäldes des
klementinischen Saales (Vatikan) von Taddeo Zuccari und Gio-
vanni Alberti. Illusionsästhetik wird zu einem <Perspektivismus>.
Der schon verschiedentlich zitierte Theoretiker des literarischen
Manierismus, Emanuele Tesauro, gibt dafür (vgl. Einleitung) ein
Beispiel. Er empfiehlt die berühmte Säulengalerie im römischen
Palazzo Spada und meint, man solle auch schreibend perspektivi-
sche Durchblicke) schaffen; solche findet man bekanntlich zu Dut-
zenden im großen Romanwerk von Marcel Proust. Borromini er-
richtete viel später als die Manieristen unter den Raffael-Schülern,
d.h. 1655, immerhin 19 Jahre vor der Erstausgabe des <Canno-
chiale Aristotelico> von Tesauro, für den Kardinal Bernardini
Spada in einem Seitenhof des gleichnamigen Palazzo, unweit vom
Palazzo Farnese, dieses architektonische Zauberstück> der per-
spektivischen Kolonnade. Wenn der Betrachter durch eine Tür den
Hof betritt, soll für ihn der Eindruck erweckt werden, daß eine
wenige Meter entfernte Säulengalerie sehr lang sei. In der Ferne
lockt eine mannshoch erscheinende Statue als <point de vue>. Die-
sen Eindruck hat zunächst jeder Betrachter. Dann tritt man näher
und stellt fest, daß man einem inganno zum Opfer gefallen ist. Auf
leicht ansteigendem Gelände erniedrigen sich die Stützen, der acht
Meter lange Gang verjüngt sich wie ein altmodischer Photoapparat
(Eingang 5,8 m, Ende 2,45 m). Man erkennt, daß die Statue-eine
Putte — nur puppenhoch ist. Ein Meraviglia-Stück beschleunigter
Perspektive, nicht nur ein Scherz, ein Wunderkabinett-Stück, eins
der Perspektivspiele, die man schon früher in der anamorphoti-
schen Kunst so oft findet und die später - Photographen im Freien
— so populär werden.
Gespenstisch erscheint auf einer Gravüre des 17. Jahrhunderts
die Engelsburg im Feuerschein der damals so beliebten <magi-
schen> Pyrotechnik. Sie wirkt so als Illustration zu einer <Magia
universalis). <Feuerwerk> ist die sublimste Übertreibungs-Gebärde
manieristischer Rhetorik. Kircher nennt die pyrotechnische Kunst
daher auch <ars parabolica>. In den Explosionen des Lichts löst sich
der Raum vollends auf, das Kastell wird zu einer flüchtigen, immer
wieder unterbrochenen Vision in kurz alternierenden Licht-<Zeit-
98 räumen>. Das alles wußte man, es wurde berechnet. Kircher ent-
Francesco Borromini; Siulengalerie
im Palazzo S|i,tiia

warf großartige Feuerwerke. Das <magische> Feuer löste die Reali-


tät auf wie die Illusionsperspektive. Die Dinge erscheinen nicht
mehr ruhend im Raum, sondern als wechselnde <Effekte> in der
Zeit. Man nahm auf diese Weise teil an altem Dämonenzauber.
Vom <Dämonischen> im psychologischen Sinne wußte man durch
Piaton. Es gibt auch eine dämonische <Ästhetik>. <Der Ästhet
braucht die Häßlichkeit als Kontrast. Der Moralist sucht sie auf-
zuheben) (Hugo Ball). Die Wunderkabinette des 16. und 17.
Jahrhunderts sind voll von Dämonen und von Dämonischem. Die
Engelsburg im Feuerwerk wird zu einem <Dämon>, zu einer Dämo-
nenfratze über der Zeit, zu einem Symbol der ständig lauernden
Gefährdung wie die nächtlich brennenden Städte auf Bildern Pie-
terBruegels d. J. (1564-1637/58).

99
io. U H R ALS A U G E
DER Z E I T

Manieristische Kunstgriffe
Solche <dämonischen> Illusionsphantasmen tauchen immer wie-

mSfh
der auf. Wir finden sie im Rom unsrer Tage, z.B. auf einem Bilde
Trevisans, <Die Spanische Treppe>. Der Palazzo Zuccari, der stolze
Herrensitz unseres Traktatisten der <Imitazione fantastica>, brennt
jetzt, mehr als 300 Jahre nach dem Tode seines Erbauers, lichter-
^(^" loh. Dämonische Fratzen bedrohen die elegante, weltstädtische
Treppe unterhalb des hieroglyphisch-<mysteriösen> Obelisks von
•:•:•• Sallust, einer römischen Imitation des Obelisks von Ramses dem
Deutsehe Großen. Gewiß keine <schöne> Rom-Vedute! Hier spiegelt sich die
FUNKAUSSTELLON ] von Vasari so getadelte maniera tedesca wider, diese für romani-
Dusssldorf 18 2 7 * u y 1950 sche Klassizisten so <vertrackte> Dämonisierung der Natur im Be-
Bbr
wußtsein seines <surrealistischen> Zeitgenossen. Und doch hat
W.Bergmann: Werbeplakat auch dieses Bild seinen Sinn. Vielen Römern erscheint Rom, das
<klassische> Bild der <Ewigen Stadt>, heute so gefährdet wie zur
Zeit des Sacco diRoma. An der Peripherie, außerhalb der Mauern,
entstehen nicht nur trostlos häßliche Stadtteile. Auch im Kern der
Urbs zersetzen Bauspekulation, Massenbetrieb, Technik, Motori-
sierung, Gewissenlosigkeit die jupiterhaft großartigen Züge der

Alberto Trevisan: Vision des


Spanischen Platzes

IOO
Jacques Callot:
Das wachsame Auge

antiken Urbs und der Päpstestadt von 1450 bis 1650. Dies ist im
Bilde Trevisans ausgedrückt, manieristisch-expressionistisch, lite-
rarisch und künstlerisch in fragwürdiger Weise, aber... die Zeit
Corots und Kochs liegt hinter uns. Hier soll jedoch keine Kunstkri-
tik getrieben noch für eine <Weltanschauung> plädiert, sondern
nur versucht werden, Phänomene aufzuzeigen. Auffallend sind in
dieser Hinsicht die beiden Türme von Trinitä dei Monti. Einer der
Türme hat eine Uhr mit einem Stundenzeiger, der andere eine
(heute verblichene) Sonnenuhr. Auf Trevisans Bild ist die alte Son-
nenuhr durch ein Auge ersetzt. Das ist ein echter, ausgezeichneter
manieristischer Kunstgriff. Für unsere Darstellung legt dies außer-
dem andere Zusammenhänge bloß. Während unserer Forschun-
gen fiel es uns immer wieder auf, welche Rolle das Auge, und zwar Aus Mario Betünis iApiaria>: Das
Auge des Kardinals Colonna
das einzelne Auge, sowie die Zeit bzw. die Uhr in der manieristi-
schen Kunst damals und heute spielen. Wie der Raum faszinierte,
so die Zeit.
Wenn gewisse manieristische Techniken, so vor allem die Illu-
sionsperspektive, raumvernichtend sind, so erfolgt diese Ver-
Nichtung im Auge und durch das Auge sowie in einem getäuschten 8
Insgesamt 21 solcher '(jrundsätze.
Zeitgefühl. Nicht die Augen, sondern der Blick, symbolisiert durch Techniken und Mittel- führt Barr an.
das Auge, richtet sich als Symbol des <inneren> Blickpunkts faszi- Als heuretische Hilfsmittel wie alle
dieser Art etwas zu schematisch. Sie
niert auf eine labil gewordene Welt der Vergänglichkeit, Wandel- treffen aber für fast alle •Manieris-
barkeit, die ihrerseits im Bilde der Uhr, der zahllosen abstrusen, men- zu. 1. Einfaches. Zusammen-
gesetzes Bild: 2. Doppelbild: 3. ko-
manienstischen Uhren dieser Zeit gesehen wird. Für das <isolierte>, operatives Werk (von mehreren
das einzelne Auge findet man in der Kunstgeschichte viele Beispiele Künstlernl; 4. Phantastische Per-
spektive: 3. Belebung des Unbeseel-
Um Mittelalter <Das Auge Gottes>), erst recht aber in der manieri-
s lscne
ten; 6. Metamorphose: -Isolierung
n Zeit und in der gegenwärtigen Kunst. Interessant ist dazu anatomischer Fragmente: 8.Verei-
eine <Liste der Grundsätze, Techniken und Mitteb der zeitgenössi- nigung des Inkohärenten: 9. Wun-
der und Anomalien: 10. Organische
schen modernen Kunst von Alfred H. Barr jr. Als typisch für die Abstraktionen: 11. Phantastische
moderne Kunst bezeichnet er <die Isolierung anatomischer Frag- Konstruktionen: 12. Traumbilder:
13. Schöpfung des «evokativen
mente). Zu unserem Thema: <Auge und Uhr> aber, in dem Sinne Chaos>: 14. Automatisches und
namlich, als - durch die Illusionsperspektive - nicht nur der Raum quasi-automatisches Zeichnen und
Malen: 15. Zufallskompositionen:
im Auge und durch das Auge vernichtet, sondern auch das Zeitge- 16. Frotlage: 1-. Collage: 18. Kom-
getauscht wird, eine <Komposition> von Man Ray. Hier wird bination wirklicher und gemalter
ln Dinge; ig.<Ready-made>: »o.«Kor-
Zeitmesser, ein <Metronom>, mit einer Heftklammer einem rigiertes Ready-made>: 2i.üadaisti-
mzelnen Auge verbunden. Sollte dies an <Paranoia> grenzen, so sche und surrealistische Gegen-
stände.
entalls an eine <traditionelle> Paranoia in der europäischen
Kunst. Aber diese <Komposition> von Man Ray wird für uns auf-
schlußreicher, wenn wir uns ihren <Titel> vergegenwärtigen. Sie
heißt nämlich: <Gegenstand der Zerstörung). Was ist daraus abzu-
leiten? Das Auge erlebt fasziniert die <Zerstörung> des Raums
durch die in ihm wirkende Zeit, und die Zeit <schlägt> ihre Rhyth-
men, unabhängig vom Standpunkt des betrachtenden Auges. Das
hat mit der physikalischen Relativitätstheorie gar nichts zu tun
sondern mit der <Einstellung> eines sensiblen, sehr subjektiven Be-
obachters, der die labile Zugeordnetheit aller Dinge zu erkennen
beginnt, unter den Oberbegriffen von Raum (Auge) und Zeit (Uhr).
Also: der (subjektive) Blick ist ein <Gegenstand der Zerstörung>,
d.h. er kann den Raum verändern wie er will. <Augen braucht man
sogar an den Augen selbst), schreibt B. Gracian. <Augen, zu
schauen, wie sie schauen.> Das Leben ist für ihn <ein Zollamt der
Zeit>. Ebenso ist die Uhr bzw. die Zeit ein Gegenstand der Zerstö-
rung, denn sie, die Zeit, zerstört außerdem ohnehin alles — durch
«-V ';"-' ihren bloßen Ablauf: die Jugend wird Alter, das Glück Unglück,
Man Ray: Gegenstand der die Macht Schwäche usw. Mit dem Entstehen des Raumillusionis-
Zerstörung mus beginnt in der manieristischen Kunst die Halluzination durch
die Zeit, die auch im Barock so auffallend ist, in der Kunst wie in
der Literatur.

Meraviglia- Uhren
Es ist für die bildende Kunst leichter, Raumperspektiven als Spiel
einer (ganz natürlich) relativierenden Phantasie erscheinen zu las-
sen. Die anamorphotischen Experimente dieser Zeit von Ehard
Schön bis zu Niceron u.a. (darüber später) beweisen es zur Ge-
nüge. Für die bildende Kunst, selbst einer solchen surrealer Art, ist
es, ihrer Raumbezogenheit wegen, schwierig, einen Zeitillusionis-
mus darzustellen, sofern es sich nicht um bloße Allegorien oder
Symbole handelt (Vanitas, Reue, Alter, Jahreszeiten usw.). Daher
die Bedeutung der Uhr, die als kunstvolleres und komplizierteres
Gebilde ja in der manieristischen Zeit der Spätrenaissance ge-
schaffen wurde. Die manieristische Zeitproblematik finden wir
daher in der kunstvollen Uhrenherstellung, in den Uhrendarstel-
lungen und in der manieristischen Literatur, die damals genau so
besessen von der <Zeit> war wie die heutige. Bessere und vollkom-
menere Uhren, die man gerade damals baute, wurden als sensatio-
nelle meraviglien empfunden. Kaiser, Fürsten und Prinzessinnen
sammelten sie. Rudolf IL, dessen Hof nach Rom zum dritten Mit-
telpunkt des europäischen Manierismus wurde, war der leiden-
Künstliche Wasseruhr, aus
schaftlichste Uhrensammler im damaligen Europa. Er hatte eine
Georg Philipp Harsdörffers
<Erquickstunden> Reihe von Hof-Uhrmachern als feste <Reichs-Angestellte>, so Ge-
org Schneeberger und Jobst Burgi, den Erfinder der Pendeluhr,
einen Freund Keplers. Die vielen Wunderuhren dieser Zeit bilden
eines der interessantesten Kapitel zur Kulturgeschichte des Manie-
rismus. Wahrscheinlich stellte der Nürnberger Schlosser Peter
Henlein (1480—1542, fast die gleiche Lebenszeit wie Pontormo!)
die ersten Taschenuhren mit Federn her. Die Sekunde wird zum
<Zeit-Atom>, einem <räumlichen> Begriff. Lukrez, der <Atomist>
der Antike, erlebt, wie kaum ein anderer antiker Schriftsteller au-
ßer Piaton, seine Auferstehung im 16. Jahrhundert. Wie das Fünf-
eck das Zeichen der Pythagoreer ist oder der Stirnfleck das Zeichen
der Buddhisten, so die Uhr das Zeichen, die <Kennmarke> der Ma-
102 nieristen. Beispiele: Am Anfang des 17. Jahrhunderts entwirft
Atlianasius Kircher: Orolopum
phanlasticum

Athanasius Kircher in seiner bereits zitierten <Physiologia> ein


<Orologium Phantasticum>, eine kombinierte, <singende> Wasser-
und Sonnenuhr. Er spricht bei dieser Gelegenheit von einer <Ma-
gia horographica>. In den <Mathematischen und Philosophischen
Erquickstunden> (1651) von Harsdörffer, der ganz in der italieni-
schen, spanischen und französischen Manierismus-Tradition wur-
zelt (Marinismus, Gongorismus, PreziÖsentum), findet man eine
<künstliche Wasseruhr), die an ein Ready-made-Gebilde Man
Rays erinnert. Eine andere <Phantastische Uhr> findet sich als <La-
terna magica>, als eine Uhr, die in den Raum Zeit ausstrahlt, in der
<Bolmannischen Baukunst> von Johann Jakob Schübler. Zur zeit-
genössischen <Moderne>: eine Uhrenlandschaft von Salvador Dali.
Dazu einige Bemerkungen. Diese Uhrenlandschaft heißt E i n -
dringlichkeit des Gedächtnisses). Die Uhr ist wie das Atom eines siehe FaitabbUdung 1,
der bevorzugtesten Symbole Dalis. Die schaurig-<konvulsivischen>
Uhren in vielen seiner Bilder kleben an Menschen und Dingen wie
zeittrinkende Blutegel. Dazu finden wir in dem Gedicht mit dem
Titel <Conditional> des spanischen Lyrikers Gerardo Diego (geb.
1896), einem Nachahmer Göngoras, folgende Verse: <Wenn Du
wie ein Ei / eine von den Stunden verlassene Uhr / auf Dein Knie
zerschlägst / wird es das Bild Deiner / toten Mutter sein.> Göngora
schreibt in einem <Standuhrengedicht>: <Du gibst, was Du uns
schweigend nimmst.) Ferner Göngora über die Uhr: <Der allge-
meine Wegweiser der Enttäuschung). In einem «Wachturm-Uh-
rengedicht) Göngoras heißt es: <Denn schon die Erfahrung lehrt
uns — ob wacht das Leben oder ob es träumt - , daß nie mit größe-
rem Maß unser unscheinbares, unbedeutendes Leben gemessen
wird.) Also: «Tyrannis der Zeit). Bartolomeo Dotti dichtet gar -
Emblem der Emblematik - eine <Uhr im Spiegel) an (1689). Der
Zeiger im Glas beweist, es sei das Leben ein <Tanz auf dem Was-
ser). Die Uhr wird zu einem <Spiegel der Wahrheit). Daher: <Nimm
die Zeit als Spiegel). Dazu Paul Flemings berühmtes Gedicht: <Ge-
danken über die Zeit) mit dem Vers: <Die Zeit, die stirbt in sich und
zeugt sich auch aus sich.)
Doch zurück zu Dali: in seiner <Vita Segreta> schildert er, wie er
zum ersten Mal darauf kam, <weiche> Uhren zu malen. Das ist ty-
pisch Dali, d. h. im Stile einer ästhetischen buffonata. Wir können
diese Relation von «weichen Uhren> und «paranoisch-kritischen 103
Camembert von Raum und Zeit> getrost übergehen, aber es ist -
historisch - interessant, daß er kurz danach wieder die <Magia na-
turalis> des G. B. della Porta zitiert. Mit seinen Uhrendarstellungen
errang Dali, wie er es selbst darlegt, seinen ersten Welterfolg. Wir
wollen jedoch diesen Bezirk des krampfhaften Kuriositäten-Feti-
schismus verlassen und uns ein letztes <Uhren-Bild> der zeitgenös-
sischen Kunst ansehen (Marc Chagalls <Die Uhr>), dem man gern
das Attribut einer überzeugenden <metaphysischen> Reinheit zu-
sprechen wird, und diese gemalte, tragische Raum-Zeit-Relation
durch einige letzte Belege aus der zeitgenössischen Literatur als
<Pendants> zu den Zitaten aus dem Gongorismus und aus dem
deutschen <Barock> ergänzen. Dieses Bild Chagalls ist von einer
fast unergründlichen Schönheit und Tiefe, vielleicht das schönste
Raum-Zeit-Emblem der europäischen Kunst. Der Raum erscheint
gesichtslos-unendlich, die Uhr (als messendes Gehäuse) despo-
tisch-gewaltsam. Auffallender ist der herrisch-erbarmungslos-

Uhr als Laterna magica, aus


J. Schülers <Boldmannischer
Baukunst>

IO4
richtende P e n d e l , der 54 (!) M i n u t e n vor Mitternacht (Neun -
Q u e r s u m m e von 5 4 — ist eine astrologische kabbalistische Todes-
ziffer) auf die winzige m e n s c h l i c h e Kreatur im linken Bildrand
(unten) ausschlägt wie ein Henkersbeil. Doch das wahrhaft Ge-
niale an diesem so <stillen> Bild ist dies: der mit den kärgsten Mit-
teln angedeutete M e n s c h blickt aus diesem Wettkampf zwischen
Raum u n d Zeit h i n a u s — in eine dunkle, eigene — beide überwin-
dende — T r a u m n a c h t . H i e r wird der <Manierismus> nach und bei so
vielen E x p e r i m e n t e n P o e s i e , uralte, Zeit und Raum überwin-
dende, <märchenhafte> Schönheit. In solchen Fällen von Vollkom-
menheit b e r ü h r t sich d e r M a n i e r i s m u s mit der Vollkommenheit
der Klassik, der völligen Ü b e r e i n s t i m m u n g von Sein und Werden.
Hat die m o d e r n e Dichtung je diese <Einheit von Form und Inhalb
erreicht? D a s ist schwer zu sagen. Hier sind einige Beispiele aus der Marc Chagall. D i e l bi
heutigen e u r o p ä i s c h e n L i t e r a t u r . D e r Leser m a g bessere finden.

Gestundete Zeit>
In seinem B u c h <Die Sanduhr> schreibt Maurice Maeterlinck Be-
trachtungen ü b e r d e n Tod. Philippe Soupault, einer der Besten un-
ter den <Radikalen> F r a n k r e i c h s , überrascht uns mit ultramanieri-
stischen U h r e n - V e r s e n : <Meine G e d a n k e n sind wie tanzende
Mikroben auf m e i n e r G e h i r n h a u t / nach dem Rhythmus der atem-
beraubenden Uhr.> Gottfried Benn: <.. .Totenuhren pochen, bald
wird es sein / N a c h t u n d Lemuren.> D e r litauische Dichter Jurgis
Baltrusaitis (1873 — 1943), Vater des Deuters der <Anamorphose>-
Künste, J. Baltrusaitis, schreibt ein Gedicht über die <Sanduhr>
ganz relativistisch: <Der d ü n n e Sandfaden k a n n unseren Schmerz
nicht kürzer u n d e i n e n s ü ß e n Augenblick nicht länger machen.>
Dylan T h o m a s h a t eine ganze Reihe von Gedichten in der Bildform
von S a n d u h r e n (Figurengedicht) geschrieben. Zur neuen Lyrik
Deutschlands: I n g e b o r g B a c h m a n n gibt ihrem ersten Gedichtband
den Titel <Gestundete Zefb. W a r u m ? Der Schlußvers des gleich-
namigen Gedichts i m W i e n - P r a g e r Barockstil um 1600 sagt es: <Es
k o m m e n h ä r t e r e Tage.> Dichterisch reifer, überzeugender blüht
der begrifflich so d ü r r e R a u m - Z e i t - A n t a g o n i s m u s auf in einem der
schönsten Verse dieser Dichterin: <Umgreift die Zeiten, schleudert
sie ins Heute.> 9 G e s u c h t e r , neomanieristischer wirkt Johannes " -Brief in zwei Fassungen>. liy. <An-
Poethen (<Risse des Himmels>, 1956): <Meinen Himmel habe ich rufuiif; <U-^ Großen Bären», Mün-
chen 1955. Unter«- bibliographi-
verloren / er fiel in die Schlucht der U h r / zwei Zeiger drehn sein sche Daten zur Literatur vgl j,,,,-r .,-
Gesicht.> D a n n n o c h : <Schleier der U h r / über den Rissen des Him- turband.
mels), u n d schließlich (über Athen): <Die untere Stadt / treibt mit
dem Motor der U h r / eine Sphinx aus Chrom / vorbei an der
Kelchwand des Mohns.>
Zufälle? D a s Vorwort einer der neuesten deutschen Lyrik-An-
thologien der <Jahrhundertmitte> fängt mit einem Hymnus auf
eine b e s t i m m t e U h r an (von H ö h e r e r ) , der aufschlußreicher ist, als
zahlreiche m a n i e r i s t i s c h - n a c h a h m e n d e <Gedichte> in dieser doku-
mentarisch allerdings interessanten Anthologie deutscher Lyrik
nach 1950. Gleich anfangs h e i ß t es: <Auf d e m Pincio in Rom steht
eine Uhr, d e r e n R ä d e r w e r k vom Wasser getrieben wird. Ringsum
bewegt sich, i m m e r n e u , das Spiel der römischen A b e n d e . . . Und
dies, ein M e e r von Augenblicken, bewegt sich vor dem Geräusch
des W a s s e r p u m p w e r k s , das m ü h s a m die Stete der Zeigerbewe-
gung aufrecht erhält. In diesem M o m e n t w u r d e die Imaginations-
kraft des Augenblicks offenbar, zeigte sich, im Nachdenken, wie IO5
viele moderne Gedichte aus der Faszination des Augenblicks und
des Nebeneinander der Augen -blicke geboren sind, der kleinsten
Erlebniseinheit, deren Funke ungetrübt blieb, die Einzelnes
scharfrandig herausschneidet aus dem Allzuvielen, es aneinander -
setzt, mit Klüften der Fremdheit dazwischen.> Diese Sätze gehö-
ren, was Mischung von logischer Diktion und alogischer Phantasie
angeht, zu den bemerkenswertesten Selbstanalysen einer Über-
gangssituation. In der Intensität einer solchen <Idea> leuchten Tra-
ditionen auf— auch im Nichtakademistischen. Auge und U h r - Uhr
und Auge blicken, getrennt und entfremdet, im Erlebnis eines jün-
geren deutschen Dichters auf dem römischen Pincio wie in Trevi-
sans zeitgenössischer Vedute des Spanischen Platzes die Welt wie-
der an. Ein italienischer Marino-Schüler, einer der Hypermanieri-
sten und -marinisten des 17. Jahrhunderts, Giacomo Lubrano
(1619—1692), hat in einem Sonett ebenfalls den <seltsamen> onto-
logischen Kurzschluß einer Interferenz von Raum und Zeit ange-
sichts eines solchen <artifiziellen> Wasser-Uhr-Gebildes empfun-
den. Sein Gedicht heißt: <Oriuolo ad Acqua> (Wasseruhr). Höllerer
schreibt: < Imaginationskraft des Augenblicks>; Lubrano: <Minutis-
sime gocciole d'istantb (<Winzige Tropfen des Augenblicks)). <Ci-
fra di fughe> (<Chiffre der Flucht>), aber Lubrano endet: <Agonie
unter Glas>. (Die Pincio-Wasser-Uhr bewegt sich in einem Glasge-
häuse.) In einem eigenen Gedicht über den Tod (<Der lag beson-
ders mühelos am Rand>) zitiert Höllerer Verse Garcia Lorcas und
kommentiert preziös-selbstbewußt: <Das Bedeutende hat immer
einen letzten metallischen Gehalt von Tod.> Hugo Ball schrieb in
<Flucht aus der Zeit> (1946): <Die Normaluhr einer abstrakten
Epoche ist explodiert.)
Dem <klassischen> Akademismus entspricht ein <manieristi-
scher>. Zur Ätiologie der zeitgenössischen Erkrankungen ist die
Erkenntnis notwendig, daß <Esoterismus> (Ausdruck eines Uber-
rationalismus) und <Manierismus> (Ausdruck einer Desintegra-
tion) ebenso legitim sind, ebenso zu den Urfunktionen der
Menschheit gehören wie <Akademismus> (Ausdruck eines Ratio-
nalismus) und Klassizismus (Ausdruck einer Integration), sofern
nicht eines entsteht: die in der Gegenwart vielfach so bedrückende
Kopierung des Modernen innerhalb des Modernen durch die ver-
meintlich Modernen. Ein berühmter deutscher Physiker sprach in
solchen Fällen von einer Gesellschaft für unverdauten Käse>. Sol-
che bloßen Abschriften, in denen weder einer Persönlichkeit noch
ein Können Sichtbarwerden, sind künstlerisch viel dürftiger als die
manieristisch-akademischen Stilgewohnheiten der damaligen
Concettisten in Literatur und Kunst, ja meist sogar belangloser als
die sogenannte Nachahmung der <Natur> oder der <Antike> seitens
der Realisten und Klassizisten.

106
ii. K Ü N S T L I C H E NATUR

D e r <Heilige Wald> von Bomarzo

In der N ä h e R o m s , bei Viterbo, unmittelbar hinter dem Städtchen


Bomarzo mit seinem melancholisch-grandiosen Orsini-Kastell,
findet m a n , h a l b versteckt von B ä u m e n u n d Gestrüpp, <verdrehte>
riesige Plastiken: M o n s t r e n , Giganten, Fabeltiere in einem ver-
wahrlosten P a r k , der ebenso an die magischen Landschaften der
manieristischen G r a p h i k erinnert wie an Visionen von Max Ernst.
Schon L e o n a r d o u n d a u c h Michelangelo haben solche monströsen
Kuriositäten gezeichnet, M i s c h - u n d Fabelwesen, Phantasiepro-
dukte des Intellekts. D e r P a r k von Bomarzo, kurz nach 1560 im
Auftrage Vicino Orsinis e n t s t a n d e n , vier Jahre vor Michelangelos
Tod, stellt sich als b i l d h a u e r i s c h e u n d architektonische meravigliu
dar. Aus Inschriften in d i e s e m Park weiß m a n , was dieser Sacra
Bosco b e d e u t e n sollte: e i n e n <heiligen Wald, der keinem anderen
gleicht>. Alles darin ist verzerrt, sogar die Wege; die Architektur ist
bewußt falsch konzipiert, j e d e m N o r m a l e n entgegengesetzt, so daß
sich eine W a h n v o r s t e l l u n g , ]enefollia, ergibt, welche etwas später
Giordano B r u n o in seinem antiklassischen Dialog <Degli Eroici
Furori> (1585) als wichtigste Triebkraft für Kunst und Dichtung
geradezu rezepthaft empfahl. Vicino Orsinis Park zeigt eine gei-
stige Verwandtschaft mit Rudolfs II. W u n d e r k a m m e r n in Prag, mit
der französischen u n d englischen Grauenromantik nach 1820, mit
den Schreckensbildern d e r Surrealisten. I m Sacro Bosco von Bo-
marzo g e h t es ä h n l i c h zu wie auf Bildern Chagalls, aber die Vor-
aussetzungen sind a n d e r e : w e l t m ü d e Fürsten und Hofdandies fan-
den hier ein intellektuelles, ein ästhetisches Schauerarkadien, ein
Stimulans für den Trieb z u m Irrealen, eine neue, künstliche Natur
innerhalb u n d o b e r h a l b einer Nur-Natur-Landschaft, die Verwirk-
lichung einer <Idee> der N a t u r , in welcher Schönheit und Grauen
sich m i s c h e n . W i e in der Literatur die dunkle Metapher dazu füh-
ren sollte, d a ß m a n vor E r s t a u n e n <die Augenbrauen hebt>, so emp-
fiehlt eine Inschrift in d i e s e m Park, mit <ciglie inarcate>, mit geho-
b e n e n A u g e n b r a u e n , d u r c h diesen Ort zu gehen. Die Entstellung
des m e n s c h l i c h e n Körpers, der Architektur, der Anlagen, der Na-
tur, ja der K o s m o g o n i e erfolgt hier mit verrücktem Kalkül; sie wird
bewußt als ästhetisches M i t t e l verwendet. Schönheit m u ß gnaden-
los sein, terroristisch, a t e m r a u b e n d , dämonisch-verwirrend. Sata-
nismus u n d D ä m o n i s m u s in der französischen Kunst des 19. Jahr-
hunderts. z.B. i m W e r k des viel b ü r g e r l i c h e r e m Redon, klingen
hier an, a b e r a u c h die D s c h u n g e l s t ä d t e des Surrealismus.

Annibale C a r o ( 1 5 0 7 - 1 5 6 6 ) schreibt in dem bereits zitierten


Brief an Orsini von <Giganten-Fabeln u n d so vielen anderen extra-
vaganten u n d ü b e r n a t ü r l i c h e n Dingern. M a n kann verstehen, daß
kein G e r i n g e r e r als Salvador Dali von diesem rätselhaften Park
entzückt war, als der in R o m lebende Schweizer Schriftsteller
Maurice S a n d o z i h n e i n m a l dorthin begleitete. Gewisse paranoi-
sche G i g a n t e n Dalis u n d m a n c h e andere deformierte <Monumen-
talitätem, d . h . ü b e r d i m e n s i o n a l e Abnormalitäten, hypermanieri-
stische W e i t e r e n t w i c k l u n g e n der Giganten Giulio Romanos im
Palazzo del Te u n d der terribilitä Michelangelos, haben ihre Hei-
mat in B o m a r z o , i h r e U r h e i m a t aber sehr wahrscheinlich - auf
G r u n d d a m a l i g e r a u f s e h e n e r r e g e n d e r Reiseberichte - in Indien
u n d Afrika. D e r <Giganten-Kampf> Bomarzos mitten in der üppig 10 7
wuchernden Vegetation einer alten etruskischen Landschaft ist,
wie verschieden auch immer die manieristische Monumentalität in
bezug auf die Sinngebung sein mag, u. a. dem <Gigantesken> des
<Großen Buddha> von Tep Pranam in Indien, zumindest im <Aus-
druckszwang> verwandt. Auch die griechische Antike liefert viel-
leicht unmittelbare Vorbilder, so die Berichte des Vitruv (zur Zeit
des Augustus) über den Architekten Dinokrates, der dem Berg
Athos das Aussehen eines Giganten verleihen, oder über den Ar-
chitekten Stasikrates, der den gleichen Berg in eine Monumental-
statue Alexanders des Großen verwandeln wollte. Etruskische Ein-
flüsse? Tarquinia liegt nicht allzu weit von Bomarzo. Auch sie sind
möglich. Für unsere Zusammenhänge wichtiger ist die Hypothese
von Mario Praz, Federico Zuccari habe bei der Konzeption dieses
<phantastischen> Waldes von Wunderbarkeiten seine Hand im
Spiele gehabt oder aber, er habe sich von ihnen inspirieren lassen.
Er könnte sie als Anregungen für maskenhafte Dekorationsmotive
an seinem eigenen Palazzo benutzt haben, den wir jetzt zum dritten
Mal nennen. Es ist reizvoll, sich vorzustellen, daß der Masken-Ein-
gang zum Garten der deutschen Bibliotheca Hertziana, im römi-
schen Palazzo Zuccari neben dem <Goethe-Saal>, sein Ur- und
Vorbild in jenem von Dali so hochgeschätzten manieristischen Gi-
ganten-, Dämonen- und Rätselwald Vicino Orsinis hatte. Zusam-
menhänge dieser Art hätten Agrippa von Nettesheim zur astrologi-
schen Berechnung eindrucksvoller saturnischer Analogieketten
veranlaßt. (Vgl. das <Dämonenhaupt> in Bomarzo, im Innern ein
Zimmer. Dazu <Drache mit Hunden kämpfend> sowie <Elefant>.)
Gigantomachien-Rätsel (vielleicht auch aus dem damals so be-
rühmten hieroglyphischen <Traum>-Roman, der <Hypnerotorna-
chia Poliphili>): Untiere, an Leonardos Zeichnungen erinnernd,
eine kapriziöse Sphinx, die wie heute noch die Frauen und Mäd-
1 08 chen Bomarzos Wasser, so eine Blumenschale auf dem voluminö-
Bomarzo: Masken-Saal und
< Drache mit Hunden kämpfend'

sen Haupt balanciert, ein Elefant, geführt von einem Neger, der
einen römischen Legionär im gerollten Rüssel erstickt, eine gewal-
tige Schildkröte u. a.m., mit einem Wort: manieristischer Synkre-_^
tismus. Der Schöpfer dieser artifiziellen Wunder-Natur? Sehr
wahrscheinlich der Florentiner Bartolomeo Ammanati: auf Grund
literarischer Vorlagen von Bernardo Tasso, dem Vater Torquatos.
Im Jahre 1560 veröffentlichte B. Tasso ein Versepos <Amadigi>.
Darin findet man einen <Zauberwald>, den der Held durchwan-
dern muß, allen möglichen Schrecken und Verführungen be-
gegnend, bis er - dank seiner stoischen Widerstandskraft - im
Ruhmestempel anlangt. Auch in der (späteren) <Gerusalemme
Eiberata> von Torquato Tasso findet man einen <Zauberwald> mit
täuschenden Phantasmen), <gigantischen Monstrem, mitFrauen-
nguren, <die sich verwandeln wie im Traum>. Doch welche auch
immer die Vorlagen sind, Würfel mit vielen Meraviglia-Punkten
werden hingeworfen: aus dem Zufall entsteht eine Welt, der <Coup
de Des> Mallarmes im <gigantesken Spieb.
Vielleicht war der europäische Geist damals, über alle Kriege
und Umwälzungen aller Art hinaus, in seinen Spitzen einig und
vereint in einem: im intellektuell-abstrus-mystischen Spiel, in ei-
ner Art aristokratischer Verachtung alles leicht Überschaubaren,
begreiflichen und Begrifflichen, in einer fast bösen, zumindest
mutwilligen Verachtung des <Normalen>. Doch das ist nur ein äu-
berer Aspekt des Sacro Bosco von Bomarzo. Wir werden später auf
andere Aspekte kommen. Vorerst die Erscheinungen selbst: Ein-
zigartigkeit! Unverel eichbarkeit! Man hat im Park von Bomarzo
eine andere Inschrift gefunden. Sie heißt: Er (der Park) <der nur
S1
ch und keinem anderen gleicht). Eine Formel des manieristi-
schen Subjektivismus, des besessenen Strebens nach Distanz und
Unterscheidung. Daher die <Verdrehtheit> aller Wege und archi-
tektonischen Gesetze. Welche Wirkung löst <Einzigartigkeit> aus, 109
und wenn sie abnormal wäre? Verblüffung, Erstaunen. Eine wei-
tere Inschrift im Park besagt, man werde <cose stupendo, verblüf-
fendem Dingen begegnen. Man weiß: <Stupore> ist das ästhetische
Ziel der manieristischen Dichtung.
<Stupeur> (Schock) ist die Wirkung, die alle Surrealisten vor-
zugsweise erreichen wollen. Nur als Reizmittel äußerer Art? Es
wäre zu einfach, sich mit derart psychologischen Erklärungen zu
begnügen. Das Fasziniert-Sein vom Mysterium der Dinge, der
Steine, Pflanzen, Tiere, Menschen und Gestirne überwiegt bei den
Schöpferischen. Die üppige Schar der nianieristischen Nachahmer
kopiert genau so wie die ebenso fette Schar der Klassizisten. Jakob
Böhme suchte die <Adamische Sprache>, die Urkombination von
Wörtern, in welcher der göttliche Logos sich unmittelbar aus-
drückt. Der Schöpfer von Bomarzo ist viel weniger grüblerisch;
aber er wollte doch auch ein Mysterium darstellen: die <Erschütte-
rung>, die man vor dem Ungewöhnlichen, vor dem ganz und gar
Andersartigen, vor dem Zusammenfall des Gegensätzlichen, vor
der plötzlich harmonisierenden Wirkung des Abstrusen, ja des
schlechten Geschmacks> spürt. Was hat der unbekannte <Corbu-
sier> von Bomarzo erreichen wollen? Dieser Kunstgriff, der <Ver-
blüffung> erzeugen will, ist von einem stärkeren als von einem nur
gauklerisch vordergründigem Effektstreben bestimmt: Es soll das
<Gegensätzliche> der Erscheinungen im Erlebnis des verblüfftem
Erschreckens überwunden werden. Die <Coincidentia opposi-
torurm, ontologische Magie des moselländischen Nikolaus von
Kues, wird in dieser nicht über-, sondern andersweltlichen Welt
schizophrener Phantasmen ein Ereignis des <Spleens>; Magie, sä-
kularisierte Mystik, Spleen und Dandyismus verbinden sich, von
introvertierter Erotik nicht zu reden. Der Ort galt den Bauern jahr-
hundertelang als eine Teufelslandschaft sexueller Orgien. Außer-
dem will man gewiß das Unverständliche in <Bild-Formeln> zu-

Pellegrino Tibaldi: Allegorische


Figur, Universität Bologna
Salvador Dali: «Construeciön
l)landa>. 19,56

Manfrede Manfrrdi: Bomara


sammenfassen. Etwa 15 Jahre vor dem Entstehen der <Villa von
Bomarzo> löste in seiner <Ars Magna> Cardano Gleichungen drit-
ten Grades.
Bomarzo ist ein manieristisches Konzentrat Europas, heute in
einem banalen Dschungel vulgärer Unkrautpflanzen fast erstickt.
Was würde sich ergeben, wenn man diesen Park einmal aus die-
sem Gestrüpp der Vergessenheit befreien würde? Wenn man seine
bloße <geographische>, nicht nur seine architektonische Struktur
erkennen könnte? Kein Zweifel: ein Labyrinth, ein anamorphi-
'" Tesauro berichtet von einem La- sches Labyrinth. 10 Einer derartigen Liebe zum Umweg müssen wir
bvrinth-Gesellschaftsspiel, das da-
mals in großer Mode war. Es hieß
uns wieder beugen, d.h. wir müssen abwarten, bis wir zum Kern-
«das Labyrinth des Ariost>. Das Spiel raum vorgestoßen sind. Zunächst wird eins klar: man steht in Bo-
hatte symbolische Orte und Figuren, marzo nicht nur vor einer <Idea> -Natur, vor einer künstlichen Natur
so u.a. die .Grotte des Merlin>, die
.Burg des Atlas> usw. Literarische im Sinne Federico Zuccaris, sondern vor einem <Quell> des Mo-
Vorlage ist der .Heilige Wald> im dernem. Zur <gigantesken> Monumentalität in der Perspektive des
.Orlando Furioso> von Ariost (letzte
Fassung i ^ v ) . Der .Heilige Wald> Grauen-Erlebnisses: Tibaldis <Schwebende Giganten) im Palazzo
galt also als labyrinthisch. Poggi zu Bologna sowie S. Dalis <Kämpfende Biesen>. Die Motive
Bomarzos regen auch zeitgenössische Darstellungen an. Dazu
Manfredo Manfredis Bild <Alla maniera di Bomarzo.

Monstren
In einem Buch über Max Ernst heißt es: <Wenn Ungeheuer existie-
ren, liegt es bei ihnen, uns von der Wirklichkeit ihrer Gegenwart zu
überzeugen.) <Monstren sind in der Kunst wieder erschienen - sie
sind nicht mit Zerrbildern zu verwechseln, sondern sind grauenhaß
existent, im Gegensatz zu dem archetypen Charakter der mytholo-
gischen Monstren.) Das gilt auch für die Literatur von damals und
'' cf. Jean Bodins (1596 gestorben) heute." Wir werden an Kafkas <Verwandlung> erinnert. Monstren
Werk: <Demonomarüe> (1580). von
Fischart schon 1581 ins Deutsche sind gewaltige Disharmonien, <Tumulte mächtiger Dis-korde>, die
übersetzt. Es wurde in ganz Europa im manieristischen Theater um 1600 geradezu schrill tonen, so m
sofort ebenso berühmt wie berüch-
tigt, weil es zeitweise zu einem juri-
Shakespeares <König Lear>, diesem Drama monströser Exzesse.
stischen Kodex der Hexenprozesse Über die Vorliebe für Monstren und Monstrositäten in der franzö-
wurde (später allerdings von Six-
tus V. auf den Index gesetzt). Durch
sischen und englischen Literatur des 19. Jahrhunderts findet man
die Torturen, die Bodin empfahl, um in <La Carne, la Morte e il Diavolo> von Mario Praz zahllose und
die <Dämonen> zum Bekenntnis zu V
buchstäblich erschreckende Beispiele. Das paranoische Element
zwingen, wurden Tausende harm-
lose Menschen verdächtigt. Man im Manierismus aller Zeiten sucht im Monstrum und im Monströ-
konnte sich .Katastrophen) der Ge- sen eine ins Riesige projizierte Verkörperung des Deformierten.
schichte meist nur aus dem Wirken
von <Dämonen> erklären. Doch Bo- Wieder wirken hier abenteuerliche Berichte nach über ein phanta-
din, der auch nüchterne rechtswis- stisches Sagen-Indien, Dämonenschilderungen aus der weitver-
senschaftliche Schriften schrieb und
einmal selbst wegen Freigeisterei breiteten hebräischen religiösen Literatur, vielfach verdrängte
auf der Anklagebank saß. befindet Erinnerungen an Kinderbücher, in denen Herodot noch spukt,
sich schon in e i n e r - typischen - w i -
derspruchsvollen L'bergangssitua-
überhaupt literarisch transformierte Kindheitserinnerungen. Der
tion. Eine Fundgrube für <Dämo- <Infantilismus> gewisser Manierismen, die Bückführung entschei-
nen>-Geständnisse und Dämonen-
dender geistiger Konstellationen auf primitive Kindheitserlebnisse
Figuren u.a. auch: Martin del Rios
«Disquisitiones maleficarum> im in Kunst und Literatur, findet in dieser Welt der Ungeheuer und
Jahre 1609. zeitlicher Höhepunkt Mißgestalteten seine geliebte prälogische Landschaft. Im Manie-
des damaligen Manierismus in sei-
ner mittleren Phase. rismus dieses Typus wird die zarte, hübsche, lichte Fee immer
wieder von Drachen überwunden. Neuerdings hat Dali im urwelt-
haften Nashorn den Archetypus für alle modernen <Formen>
gefunden, insbesondere in der massiven Hinterpartie dieses höchst
'-' cf. Rede Salvador Dalis in der Pa- uneleganten, <geschmacklosen> Tieres. 12 Alles, was gegen den <gu-
riser Sorbonne am 17. 11. 1955.
ten Geschmack) geht, erscheint in manchen manieristischen Pro-
grammen modern legitim, während der <gute> Geschmack als an-
stokratisch-bürgerlich-klassizistisch gilt. Das Monstrum ist auch
1 12 das Gegenbild des bongoüt. Es ist eine kitschig-schöne Schöpfung
der <magischen> Natur. Das Nashorn-Monstrum wird für Dali zum
Symbol der irrationalen Natur überhaupt, speziell das Hörn, für
die Sekte der Anti-Bürger, der Anti-Idealisten, kurzum der <Antis>
schlechthin.
Es liegt nahe, daß solche Aussagen die Psychiatrie mehr interes-
sieren werden als die Kunstästhetik. Wir überblicken aber eine
Motivkette in der Kunstgeschichte, und sie kann dazu beitragen,
unser Verständnis für manieristische Ikonographie zu erweitern.
Berühmte Psychiater Frankreichs haben diese infantilistische
Monstre-Kategorie mit ihren Mitteln untersucht. Sie selbst warnen
vor einer zu einfachen Identifikation <Schizophrenie> - Kunst die-
ser Art. Schizophrene <Psychosen> werden ohne weiteres zugege-
ben, <echte> Schizophrenie wird ausgeschlossen. Den malerischen
Produkten, den Monstren wirklich Wahnsinniger fehlt nicht nur
das künstlerisch <Gekonnte>. <Bilder> dieser Art sind geschichtlich
heimatlos. Vor allem: manieristische Monstren sind Produkte ei- sieheFaAabbUdung 15
ner Mischung von halluzinierten! und kalkuliertem Un-Sinn. Vor
der Sorbonne rief Dali aus: <Gefühl habe ich nie gehabte Ebenso-
wenig <Gefühl>, hatte Jean Bodin vor den lebenden <Monstren>, die
er der Tortur empfahl. Dieses Wort könnte unter vielen manieristi-
schen Bildern und über zahllosen manieristischen Gedichten ste-
hen. Insofern ist das Monstrum auch ein Beispiel für die hybrid-
monströse Zerebralität mancher <traumhafter> Manieristen. Es ist
psychologisch aufschlußreich, daß in vielen Künstlerromanen ent-
wurzelte Künstler-<Naturen> menschlich als kleine oder große
Monstren erscheinen, so meisterhaft in Aldous Huxleys (Kontra-
punkt). Marsilio Ficino hatte schon gewarnt: der allzu intensive
Umgang mit Wissenschaft, Kunst und Literatur macht saturnisch,
auch wenn man — im Horoskop — mit diesem unheimlich schwer-
gewichtigen <Monstrum> nichts zu tun habe. Ohne Demut und
ohne Frömmigkeit machen zwei Dinge <böse>: <Geist>, künstleri-
sches Vollkommenheits- und Originalitätsstrebcn. Für Papini le-
ben die Künstler im Bereich des Teufels. Ihre Gefahr ist die Sucht
nach Besonderheit und Einmaligkeit. Insofern ist das Monstrum
<Teufel> die äußer-weltliche Projektion so vieler Künstler, die-wie
es Piaton im Gespräch unter der Platane am Ilissos empfahl - ihren
Hoch-Mut nicht durch Liebe überwinden. Man weiß: in der christ-
lichen Tugendlehre gilt Hochmut als die schlimmste aller Sünden.
Im Inferno Dantes verschlingt im tiefsten Schlund der Hölle das
entsetzlichste Monstrum der Kunst- und Literaturgeschichte die
hochmütigen Verräter an der Liebe. <Große> Manierismen, <große>
Kunst? Das Monströse bleibt dialektischer Gegenspieler Gottes,
der Liebe, des Unscheinbaren, des In-sich-Geborgen-Kleinen. Ist
eine Welt von <Nur-Monstren> nicht das Abbild unserer irdischen
Welt? Wirkt in dieser irdischen Welt nicht doch auch das <Organi-
sche>, das <normal> Gestalthafte? Der Manierismus in seiner Spät-
phase hat sich häufig zu einer ästhetischen Schwarzen Magie und
zu einem Narzißmus des Scheiterns entwickelt.

Der Schlaf der Vernunft


Wir müssen Unterschiede zwischen <Gestern> und <Heute> beach-
ten. Wir finden immer mehr Ähnlichkeiten in unseren Motivket-
ten, aber auch Verschiedenheiten. Ohne eine manieristische <Um-
welt-Lehre> werden wir kaum auskommen. Die <Manierismen>,
ähnlich im Ausdruckszwang, entwickeln sich jeweils verschieden
in anderen epochalen Umwelten. Die <Gebärde> ist immer gleich,
sie deutet immer auf <Zeichen>. Innerhalb einer bestimmten histo-
rischen Umwelt aber wird diese Gebärde sehr verschieden im
<Duktus>; sie kann anmutig und brutal, freundlich und aggressiv
sein. Mit einem Wort: die Monstren Bomarzos erscheinen uns
noch humanistisch-liebenswürdig. Die Monstren der Ernst und
Dali - und so vieler anderer - weisen auf die Hoffnungslosigkeit
einer Zeit, die vor der wohl monströsesten Hybris der Menschheit
steht: der sogenannten Atombombe, dieser technischen Beinkar-
nation uralter prometheischer Mythen, aber gewiß in einem ganz
neuen Sinne. Braucht man denn überhaupt nur zu versuchen, ad-
vocatus diaboli zugunsten der kleinen und großen Künstler-Mon-
stren von heute und ihrer Monstrositäten zu sein? Haben sie nicht
recht? Ist das Wort <Liebe> vielfach nicht eine rhetorische Vokabel
geworden? Diese Frage muß man sich stellen, will man auch den
Sinn der heutigen <manieristischen> Gebärde aus heutiger Umweit
begreifen, ohne dem größten Laster unserer heutigen Massenge-
sellschaft zu verfallen: der Dummheit, der Dummheit in der viel
schrecklicheren Maske des erbaulichen Trostes. <Wer will den er-
sten Stein werfen?> Wollen wir daher nicht sogar Dali ein wenig
Kredit geben, wenn er sagt: <Gefühl, das habe ich nie gehabt). Wer
hat es denn, dieses Gefühl, in den geradezu automatisch funktio-
nierenden kernphysikalischen Instituten unserer
Machtapparatu-
ren? Haben nicht manche unserer furchterregenden Kernphysi-
ker, die es g e h a b t h a b e n , G r u n d , <Paranoikern> wie Dali und Ernst
die H a n d zu reichen? L e b t das Monströse nicht unter uns, viel
m e h r d e n n eh u n d je? Ist unsere Phantasie erlahmt? Haben wir
überhaupt n o c h A u g e n für <Monstren>? Erzeugen nicht atomare
Kriegswerkzeuge <Monstren>? H a b e n zeitgenössische Biologen
uns nicht vor u n s e r e m W a h n - S i n n , vor unserer technischen Para-
noia gewarnt? P a p s t P i u s XII. hat die <Monstren> der Zukunft, Op-
fer radioaktiver A u s s t r a h l u n g e n nach atomaren Kriegen, viel er-
schreckender geschildert als Dali u n d alle seine Vorgänger! Die
heutige Massengesellschaft hat k a u m noch Ohr und Auge für die
visionäre <Imitazione fantastica>. Sie schwelgt vom Kunsthonig der
Vergnügungsindustrie. Ist es nicht doch so, daß ein <dramatischer>
Typus des M a n i e r i s m u s , über alle Umwelt-Relativität, einem
Schreienden gleicht, e i n e m monströsen Kubin-Schreienden ... am
Rande des A b g r u n d s ? T ö n t über alle epochal relativen Umwelten
hinaus nicht ein greller Urschrei der Hypersensibilität, jener g e i -
stigem Hypersensibilität, die in der Weltangst Zukunft begreift?
Umwelten? Jeweils <individuelle> Schichten im Ge-schichteten
der Geschichte? M a n k ö n n t e an allen historiographischen Katego-
rien ü b e r das jeweils zeitlich <Unverwechselbare> irre werden,
wenn m a n <extreme> D o k u m e n t e liest, Dokumente nicht des Spe-
kulativen, s o n d e r n der E r f a h r u n g vor d e m <ewig> Elementaren, vor
Geburt u n d Tod, L i e b e u n d H a ß , Schmerz und Angst. Wieder dre-
hen wir <Auge u n d Uhr> 400 J a h r e zurück. Am 24. September 1513
u n t e r n i m m t L e o n a r d o da Vinci von Mailand aus eine imaginäre
Reise n a c h S ü d e n . Sein Reisebericht, für heute kaum überprülbare
Mischung von D i c h t u n g u n d Wahrheit, führt in abenteuerlich -
imaginäre Kafka-Landschaften. Dort begegnet er <Giganten>. Um
phantastische E r z ä h l u n g e n handelt es sich, um Visionen eines
Menschen, der das E n d e des Lebens auf der <Erde> durch die Zer-
störungskraft der M e n s c h e n witterte, längst bevor der kosmische
Zyklus diesen P l a n e t e n erstarren lassen könnte. Leonardo schil-
dert ein m ä r c h e n h a f t e s Indien. Seine Phantasie ist grenzenlos.
Plötzlich steht er, der in der Phantasie Reisende, vor dem Rätsel,
vor d e m <Monstrum>, vor d e m <Giganten>, vor dem weltvernichten-
den Goliath der Zukunft. E r beschreibt ihn. Es entsteht ein irres,
tollkühnes E n d z e i t - P o r t r ä t : Schwarzes Antlitz... Dauernd im
Zornzustand ... Wirft M e n s c h e n in die Luft wie ein Sturm ... Nie-
m a n d k a n n sich g e g e n diesen tollwütigen Dämon w e h r e n . . . Ihm
gegenüber h a t der M e n s c h G r u n d , das schlimmste Tier, seiner re-
lativen H a r m l o s i g k e i t w e g e n , zu beneiden ... Und dann ruft Leo-
nardo, in seiner <Idea> völlig verfangen, angesichts dieses imaginä-
ren M o n s t r u m s verzweifelt aus: <Ich weiß nicht, was tun, was
wagen. Ich h a b e das Gefühl, hineinzuschwimmen, gesenkten
Hauptes, m i t t e n in dieses Riesen-Maul hinein, und daß ich, vom
Tode verunstaltet, b e g r a b e n bin in diesem riesigen Eingeweide.»
Endzeit? In e i n e m waste land schreitet der skurrile Tod. Auf einem
<Capricho> Goyas ist zu lesen: <Der Schlaf der Vernunft zeugt Mon-
stren >.
12. S E L T S A M E M Y T H E N

Urbild Laokoon
Wenn es in dem zitierten Werk über Max Ernst hieß, es seien in der
heutigen Kunst wieder <Monstren> erschienen, jedoch im Gegen-
satz <zu dem archetypen Charakter der mythologischen Monstren>,
so ist damit ein Antagonismus zu denjenigen Mythen gemeint, die
in der klassischen Kunst der Renaissance beliebt waren. Es kann
dies also nicht bedeuten, daß mythologische Stoffe dem Manieris-
mus fremd seien. Im Gegenteil: wie die Manieristen um 1600 von
einer Antike der Seltsamkeiten gefesselt waren, so auch von selt-
samem Mythen. Nicht Homer, nicht Vergil, nicht Horaz gehörten
zu den Lieblingsautoren der Manieristen. Sie liebten vielmehr
X Ovids Metamorphosen und die <Hieroglyphica> des Horus Apollo,
ein aus dem Ägyptischen übersetztes Werk (etwa 3. Jh. n. Chr.) mit
phantastischen Ausdeutungen mythischer Zusammenhänge. Viel
gelesen wurde ferner die <Hypnerotomachia Poliphili> (1499), ei-
ner der ersten preziösen Traum-Abenteuer-Romane der europäi-
schen Literatur, ein Vorläufer der bizarren Mythologeme und des
preziösen Stils. Gerade in Frankreich wurde er später oft übersetzt.
Die Illustrationen dazu erinnern an den Stil der in Fontainebleau
wirkenden italienischen manieristischen Maler. Ein Maler-Poet
wie Max Ernst müßte davon entzückt sein.
Die Mythen der Antike werden selbst zu Voraussetzungen zahl-
loser Metamorphosen. Tolnay hat in seinem Buch über Michel-
angelo darauf hingewiesen, daß der Christus des <Jüngsten Ge-
richts> an den antiken Mythos des <Sol Invictus> erinnere, daß Chri-
stus sich mit Apollo verbinde, daß aus dem <Sol Invictus> der Antike
hier ein <Sol Justitiae> des Christentums werde. Der Rationalismus
der Klassik trennt, hebt ab, unterscheidet. Der intellektuelle Ma-
nierismus <zerstört>, aber er will auf seine Weise wieder verknüp-
fen, verbinden, wobei er meist alle Grenzen verwischt. Der Mythos
verliert seinen Charakter als <Urbild>, als archetypisches Zeichen,
er wird zu einem abstrakten, ideellen Muster, in das man jeweils
zeitgenössisch Problematisches sticken kann. Wie es im 20. Jahr-
hundert einen Hamlet im Frack gab, so findet man damals Helena
als die Urverführerin, die Venus als mondäne Hetäre, die heda als
pornographisches Weibchen, den Polyphem als <melanchoIischen>
Giganten, den Adonis als homoerotisches Zwittergebilde, die Nym-
phe Echo als akustische meraviglia, den Hermaphroditen als Sym-
bol der magischen Vereinigungskunst. Auch aus der Bibel sind die
<Zweideutigen> beliebt, so die hl. Magdalena, die faszinierendste
Heilige dieser Epoche, ferner Kleopatra, Semiramis... alles Lieb-
lingsfiguren auch der spätromantischen Literaturen in Frankreich
und England, aus denen die Surrealisten ebenso scheffelweise
schöpften wie aus den perversen <Mythen> des Marquis de Sade.
Man lese nur nach, wie Neptun in Marlowes <Hero und Leander>
den hübschen Leander zwischen Skylla und Charybdis verführen
will, während der Arme, um Atem ringend, zu seiner Hero hinüber-
schwimmt. Andre Gide war nicht umsonst von diesem Beispiel
poetisch-manieristischer Mythenkunde begeistert.
Die Mythen sind für die Manieristen zwischen 1550 und 1650
Bilderbücher des Ungewöhnlichen, für die Manieristen zwischen
1880 und 1950 Bilderkorrelate des Unbewußten, in beiden Fällen:
Bilderbazare des Irrationalen, diesmal deutlicher abzugrenzen in
Polyphem (Stich um 1600)

jeweils v e r s c h i e d e n e n epochalen Urnwelten. <Mythen> gelten nun


vor allem als <Bilder>, als bewegte Bilder, als jeweils verschieden-
artig ausfüllbare <Strukturen> von Metaphern, als ein kosmisches
W u n d e r k a b i n e t t herrlicher Travestien, als irreale Schnittpunkte
von Zeit u n d R a u m , von R u h e u n d Bewegung. Daher der damalige
sensationelle Erfolg der 1506 in Rom entdeckten Laokoongruppe,
einer Art von <parastatischem> G u m m i , den m a n in alle Baum-
D i m e n s i o n e n h i n e i n verlängern könnte, was bekanntlich den Zorn
des <Klassikers> L e s s i n g erregte.
Die Begeisterung für diese G r u p p e ist n u r mit derjenigen ver-
gleichbar, die so viele zeitgenössisch m o d e r n e Künstler - seit D. H.
Lawrence — für die E t r u s k e r empfinden. Das Original wirkt in gu-
tem Licht n o c h plastisch-raumverbunden, raumbezogen. In einer
Gravüre u m 1600, welche das Werk noch an der rekonstruierten
Fundstelle zeigt, wirkt es wegen des durch die Mauer abgegrenzten
u m g e b e n d e n e n g e n R a u m e s und der hart betonten Umrisse schon
viel m e h r <explosiv-starr>, im Sinne des Serpentinata-Stils: ein my-
thisches F e u e r w e r k , d . h . aufsteigende u n d jäh wieder erstarrende
Bewegung, also para-statische Kunst. Eine weitere Stufe: die
Gruppe wird auf eine Art illusionistische Bühne gestellt. Dramatis
personae e n t s t e h e n vor skurriler Kulisse. Ein Stich - ebenfalls um
1600 - zeigt dieses <Kuriosum>. D e n großartigsten Sinn einer fre-
netischen (Angst-)Bewegung, die den B a u m zerstört, findet dieses
Laokoon-Motiv bei G r e c o in seinem hypermanieristischen Lao- siehe Farbabbildung 16
koon, einer der w e n i g e n überzeitlichen Schöpfungen des damali-
gen M a n i e r i s m u s . D i e D y n a m i k der entsetzten Figuren wird hier
durch die <Explosion> des R a u m e s ergänzt, besser.ersetzt. Eine ge- 117
nialere manieristische Stilisierung als diejenige der angreifenden
Schlange wird man in der gesamten manieristischen Kunst Euro-
pas oder Asiens kaum finden. Das Wort <explosiv-starr> wird in
dieser Schlangen-Schnalle, die eine Stadt einfängt und gleichzei-
tig einen Menschen zu Tode beißt, zum höchsten bildlichen Ereig-
nis. Raum und Zeit, Sein und Werden fallen hier in einem Augen-
Blick zusammen. Das Sein wird in der Angst erlebt, wie man es im
halbwachen Zustand plötzlich so hypnotisch gelegentlich erleben
mag: die Zuversicht des Seienden im Sein jenseits aller Bedingt-
heiten. Also: <ontisches> Erfahren in plötzlich erstarrender Zeit. Al-
les das wird verstärkt, in unvergleichlicher Weise betont durch die
<Serpentinata-Figuren> in der rechten Bildecke: Bewegtheit und
Schweben, aber eben <erstarrt>, auch wieder ein Kulminations-
punkt, wie ein pyrotechnisches Feuer, Grenzzustand zwischen
Sein und Werden, unaussprechbare <ontologische> Erfahrung,
Zentralthema der besten europäischen Lyrik seit Mallarme. Man
vermeint, die magische <nicht sagbare> Er-fahrung in der noch im-
mer nicht näher ausgesprochenen <Offenbarung> am Grunde der
Achilles Aperges: Laokoon Philosophie Heideggers zu spüren. Was ist es? Wo liegt es, dieses
plötzliche Offenbarwerden des Seins? Das kann hier nicht geklärt
werden, obwohl man auf den <psychologischen> oder metapsycho-
logischen Ort einer solchen okkulten Erlebnismetaphysik höchst
neugierig ist. Vielleicht erschließt eins der großartigsten Bilder des
europäischen Manierismus das Geheimnis — zumindest — als Bild.
Oder ist es - das Weltangst-Emblem Grecos - zu konkret? Kön-
nen wir damit nicht an die Wurzel des <Existentialismus> dringen,
dieser manieristischen Ontologie kat'exochen? Ist es dazu zu bild-

Laokoon-Gruppe
Apoll und Daphn*

haft, zu <offen> im S i n n e einer nichts m e h r verschleiernden


Beichte? Sind <Holzwege> also <moderner>, weil das Geständnis
eher z u m h a r m o n i s i e r e n d e n , erlösenden D e n k e n gehört? Der zeit-
genössische M a n i e r i s m u s verschleiert seine <Problematik> immer
mehr. E r verbirgt seine menschliche Bedingtheit, auch in der m e -
taphysischen E r f a h r u n g , d u r c h verblüffende Abstraktion, durch Gian Lorenzo Beraini
eine n e u e G r a m m a t i k , eine n e u e Syntax, eine neue Sprache. Dafür Apoll und Daphne
ist die <Laokoongruppe> des Griechen Apergis Achilles, eines
Künstlers aus der H e i m a t des Phidias, ein denkwürdiges Beispiel.
Wir k ö n n e n es nicht ä n d e r n : dieses ästhetische oder metaphysische
<Täuschewerk> k a n n u n s e r e n Beifall nicht finden. Die klassische
<Beichte> erscheint u n s Sein-aufschließender als die nur noch ver-
hüllende M e t a p h e r des <Holzwegs>.
Unser T h e m a zieht u n s zurück auf die mythische Erde der Ma- aii&K
nieristen. W i r m ü s s e n sie uns i m m e r wieder — im Sinne Platens —
<mit Augen anschauen>, diese merkwürdig outrierte Schönheit.
Berninis <Apollo u n d Daphne> erscheint uns wie eine reizvolle Illu-
stration zu d e m (freilich mißverstandenen) Pantheismus Giordano
Brunos: das halb selig-erfreute, halb ängstlich-entsetzte Mädchen
verwandelt sich angesichts des halb amüsierten Apoll in einen
Baum. D a s ist e i n d e u t i g <neutralisierender> Barock: dekorative
<Repräsentation>. W i e a n d e r s wirkt der gleiche Apoll in einem viel
<bekennerischeren> <Verführungs-Akt> auf einer Gravüre um
1600. D e r Augen-Blick des E n t s c h e i d e n d e n wird hier nicht <ver-
hüllt>. D e n n o c h wirkt das Erotische nicht pornographisch durch
<alogische> Attribute i m <irrealen> R a u m in dieser im übrigen
durchaus kunstlosen Darstellung: der isolierte Frauenkopf, die Alfred Kubm: Daphne
Lyra des Apoll, v o m Besessenen zu Boden geworfen: ein <echter>
Vorgang... ohne H e m m u n g .
Ganz a n d e r s h i n g e g e n die <Daphne> Kubins: Angst, reines Ent-
setzen eines verführerischen passiven Stücks Natur vor der Aggres-
sivität überirdisch starker Natur, Auslöschen, Versinken, vege-
tative A n o n y m i t ä t vor d e m urgewaltigen <Pan>, m e h r noch: Entset-
zen vor der M a c h t des Allmächtigen. J1
9
Das Trojanische Pferd
Was ist den Manieristen <Mythos> in einem psychologischen
Sinne? Das Überwältigtwerden durch übersinnliche Macht, das
Zerstörtwerden - wie im Daphne-Mythos - durch die Überra-
schung, durch den Schock des unerwartet einbrechenden Zorns
der Götter und Halbgötter. Polyphem z.B. gehört zu diesen mythi-
schen Schreckensfiguren, hochbeliebt bei manieristischen Künst-
lern und Dichtern, schon in hellenistischer Zeit. Vorbild das
9. Buch der <Odyssee>, wo der einäugige Gigant als Übertreter jedes
menschlichen und göttlichen Gesetzes geschildert wird. Göngora,
der bedeutendste Dichter des Manierismus zwischen Renaissance
und Barock, schreibt 1612 ein Versepos: <Fabula de Polifemo y Ga-
latea>, aber die Anregung wird aus Ovid bezogen. G. B. Marino hat
das Thema in 24 Sonetten seiner <Rime> behandelt, Stigliani veröf-
fentlichte schon im Jahre 1600 einen <Polifemo>. Im 20. Jahrhun-
dert taucht der einäugige Gigant wieder sehr häufig auf, so in
Odilon Redon: Polyphem Andre Samains Drama <Polypheme> (1901), oder in der Kunst, in
einem erschreckend melancholischen Polyphemporträt Redons.
<Mythos> ist aber auch Urbild des <Ingeniösen>, des Schlauen, des
Erfinderischen, des <Idea>-Schöpfers. Ihr Vor- und Sinnbild ist
Odyssens. Er, der <ingeniöse> Mensch wird zum Leitbild zahlloser
Manieristen von George Chapman (1557—1634) bis zum <Ulysses>
von James Joyce. Das Meisterstück des odysseischen <Ingeniums>
ist das Trojanische Pferd, dieses Ur-Kunststück der Ver-stellung.
Eine Gravüre (vor 1600) zeigt uns dieses <ingeniöseConcetto> eines
Mannes, der wußte, wie man mit einer <Idea> die Gewalt der blo-
ßen Natur überwinden konnte. Das Holzpferd, eine meravigUa des

Das Trojanische Pferd


Gianfilippo l teUini:
Das Trojanische Pferd

Intellekts, beherrscht den Betrachter. In einer Welt erbarmungslo-


sen Untergangs steht wie ein vorsintflutliches Tier das <Trojanische
Pferd> auf einem Bilde des erst vor kurzem neuentdeckten Deside-
rio Monsü (um 1620), von dem wir später (Teil IV) Näheres hören
werden. Dieses so merkwürdige Trojanische Pferd, Sinnbild der
List, welche am Anfang der damaligen Epoche Machiavelli und an
ihrem Ende Baltasar Graciän so preisen, blickt uns aus einem Bilde
Clericis melancholisch-müde an, vor dem Hintergrund einer my-
thisch versunkenen Antike, einer Untergangs-Antike, einer Waste
Land-Vergangenheit, einer Antike des Vanitas-Symbols. Ganz an-
ders das gigantische List-Pferd Gianfilippo Usellinis, der gegen-
wärtig an der Kunstakademie von Mailand lehrt. Das Holzunge-
heuer wird Mittelpunkt einer Riesen-Bibliothek, in welcher zahl-
reiche Figuren der europäischen Kunst- und Literaturgeschichte
die untergeordnete Rolle von Statisten spielen. Das Pferd starrt uns
an, es ist aus einer ontisch-mythischen Vorwelt in unsere Buchwelt
eingedrungen: Gleichnis unseres vorwissenschaftlichen Erken-
nens, angestaunt von einem ebenfalls isolierten <Giganten>-Kopf
(oberer Bildrand rechts). Ein Pegasus entflieht entsetzt dieser Welt
der in Bibliotheken konservierten Mythen. In diesem Gemälde,
Werk eines der humorvollsten <Surrealisten> Italiens, sieht man
eine ziemlich vollständige Galerie <seltsamer Mythen>. Die Bücher
dominieren, die Interferenz von Kunst und Literatur... in einer
beschleunigten Perspektive, die (im Hintergrund) schließlich noch
sichtbar macht: eine Gruppe von kaum noch erkennbaren Betrach-
tern, von <Aufnehmenden>, die sich selbst in dieser Fabelwelt des
Synkretismus aufzulösen scheinen. 121
Mythos des Irregulären
Wieder stehen wir vor der Frage: Wird aus diesem verzweifelten
Experimentieren <große> Kunst? Tausende Experimente dieser Art
können zu einer fast auch mythischen <Konkretisierung> von Raum
und Zeit, von Bewegung und Ruhe, von Sein und Werden führen,
wenn auch nicht im klassischen Sinne. Gibt es gerade dafür viel-
leicht ein gleichnishaftes Kunstwerk? Im Jahre 1559 begann im
Auftrage der Farnese der italienische Architekt Vignola mit dem
Bau des Schlosses von Caprarola bei Viterbo. 1575 war es fast voll-
endet. Montaigne besuchte es im Jahre 1580 und lobte es begei-
stert: es sei das schönste Italiens. Ganz <korrekt> ist noch, im Sinne
der Bramante-Schule, die Fassade, aber die Kühnheit seiner mit
gewaltiger Serpentinata-Bewegung in den unendlichen Raum hin-
einreißenden Treppe ist so <manieriert> wie eine kunstvolle rhetori-
sche Hyperbel. Hier handelt es sich um ein großes manieristisches
Kunstwerk. Nach vielen vorherigen Experimenten entsteht eine
neue, eine antiklassische Form von vollendeter, irregulärer
Schönheit, die tausendfältig in die zeitgenössische Moderne aus-
strahlt. Um solche nichtklassische, neue, <moderne> Grundfor-
men ging es schließlich. Im Bewußtsein der damaligen Künstler
gewannen solche meisterhaften künstlerischen Manifestationen
des Erdachten, der <Idea>, ebenfalls einen <mythischen> Sinn,
mythisch im Sinne Sorels: Alles <Hypertrophische>, welches eine

Treppe von Giacorao da Vignola im


Palazzo Farnese von Caprarola

122
Innentreppe im Sanatorium dei
Fiat-Werke

ästhetische Form findet, wurde als ein <Wunder> gepriesen; es


begann allmählich selbst zu einem künstlerischen <Mythos> zu
werden, <seltsam> gegenüber dem Klassischen, aber <vollendet> für
die Moderne.
G.B. Marino hat zahlreiche Kunstessays in Versen geschrieben.
In einem solchen Versuch über die Malerei schreibt Marino: <Die
erste Tochter der Idee, Mutter des Modells, Königin der Wun-
der>. Aus der <Idea>, aus dem <Concettismo> entwickelt sich ein '' <l)ii <-ric Sacre>. Mailand i'titv
Wenige Jahre nach dem berühmten
<Mythos>, ein < Mythos des Irregulärem. Die kunstkritischen Verse Traktat von F. Zuccari erschienen.
Marinos gehören zu den kühnsten metaphorischen Akrobatien der Zuccari schmückte «las Schloß von
Caprarola mit Fresken aus. Marino
Zeit. Man erinnert sich, daß Tesauro solche Künstler, Meister der schätzte ihn sehr.
abstrusen Metapher, als mit <göttlicher> Kraft begabt erklärt. Das
<irreguläre> Bild in Werken der Kunst und der Dichtung ist hier
tatsächlich zum <Mythos> des <modernen> Menschen geworden, im
oinne Marsilio Ficinos, zum Mythos des <Deus in terris>.

125
D R I T T E R TEIL

Aufbruch der
Maschinenwelt

13. D I E W E L T ALS
LABYRINTH

Landkarten des Mysteriums

M
an kann im unerschöpflichen Werk Leonardos Ansätze
zu vielen späteren <Manierismen> finden, vor allem An-
sätze zu dem, was man heute <abstrakte> oder auch <kon-
krete> und <gegenstandlose> Kunst nennt. Zwei Antriebe leiteten
ihn: der Drang nach hieroglyphischer Verschleierung und das
Streben, die mystischen Weltkräfte, die er für Gott hielt, in einer
abstrakten Signatur erscheinen zu lassen. Das versucht er erst mit
einer Geheimschrift, mit Piktogrammen. Später, in seinen eigen-
tümlichen Labyrinthstudien, beginnt er mit einem folgenschweren
Experiment, mit einem abstrakten Spiel von Flechtwerkkanstruk-
tionen. Hier wendet sich der große Realist - anscheinend - von der
Natur ab. Der Geist selbst, die fantaisie pure, geht eigene Wege, um
innersten Bewegungsrhythmen jener Weltkraft auf die Spur zu
kommen, welche die Essenz aller Natur ausmacht: ihr arkanisches
Pneuma. Dürer, der in manchem Leonardo verwandt ist, hat sich
an ähnlichen <Konstruktionen> versucht.
Nur sechs Flechtwerkzeichnungen Leonardos (nach Dürer) sind
erhalten sowie ein entsprechendes Decken-Fresko im Sforza-Ka-
stell zu Mailand. Gerade sie brachten ihm den Ruf eines Magiers,
eines Zauberers ein, der mit dem Teufel im Bunde stehe. Man hat
vielfach den Eindruck gehabt, Leonardo habe in diesen <Konstruk-
tionen>, in diesen Gebilden, die zum Teil vom Zufall der frei sich
"entwickelnden Linie und von der berechnenden Kontrolle des In-
tellekts beherrscht sind, versucht, die Einheit einer sich auflosen-
den Welt in abstrakten Gebilden wiederherzustellen. Tatsache ist,
daß alle diese ineinander verschlungenen Linien wie echte myt 1
sehe Labyrinthe auf einen Kernraum, auf eine <erlösende> Urzeile,
im Falle Leonardos wohl auf das eigene kontemplierende Ich als
Weltzentrum führen. Bei Leonardo bleibt dieses geistesgeschicht-
lich damals einzigartige Experiment kühler, verhaltener als im ur-
namentstich des 17. Jahrhunderts. Man kann es heute mit Klees
und auch mit Mondrians Bemühungen vergleichen, nicht mitKan-
dinsky oder Boccioni, in denen ein expressionistischer Trieb star-
ker ist. Bei Leonardo handelt es sich um eine abstrakte, rationale
Symbolik der Unendlichkeit mit den in ihr wirkenden <wirbelnden>
(konvulsivischen) und doch geheimnisvoll geordneten Kräften. In
ihrer Mitte steht das <Rätsel>-Wesen Mensch handelnd und den-
kend, in seinem So-Sein alle <konkreten> Phänomene transzendie-
rend, kalt und beherrscht wie ein Demiurg. Auch die sagenhafte,
achteckige Spiegelkammer, die Leonardo bauen wollte, das denk-
bar vollkommene Labyrinth in der Spiegelung herstellend, ent-
spricht einer ähnlichen Neigung: das <Rätsel> Mensch und seine
widerspruchsvolle Welt in einer anaturalistischen Perspektive ge-
radezu einzulangen. In solchen Gebilden soll — wie in den Bemü-
hungen der bedeutendsten Abstrakten des 20. Jahrhunderts — eine
überrelative Weltharmonie sichtbar werden. Geist des Menschen
und die <misteriosa energia spirituale> der Welt sollen als Einheit
in solchen abstrakten Rätselbildern, in Farben und Linien, Flä-
chen und Bewegungsformen zumindest <ahnend> gesehen werden.
Die Malerei strebt nach dem optischen concetto divino. Man erin-
nert sich, daß Leonardo seinen Schülern empfohlen hat, Farbflek-
ken und Figuren auf alten Mauern, in Bruchstücken von Steinen,
Dingfragmente aller Art zu beobachten, weil sie ihnen eine neue
Wirklichkeit offenbaren könnten. Die Inspiration sollte dadurch
angeregt, die Phantasie beflügelt, die Welt in ihren überwirklichen
Bezügen realistisch erfaßt werden. Man hat den Eindruck, daß die
schon genannten Stiche von Windsor, welche die Welt gleichzeitig
im Urzustand und in ihrer kataklysmischen Endzeit sinnbildlich
spiegeln, auf Grund solcher Visionen entstanden sind.
Es wäre müßig, spekulative Deutungen über diesen <Esoteris-
mus> im Werke Leonardos zu versuchen. Das ist zur Genüge ge-
schehen, und nicht immer überzeugend. Viel interessanter wird
das Thema, wenn man dieses, wie wir sehen werden, zentrale Mo-
tiv der manieristischen Kunst und Literatur gestern und heute, ein-
mal zu einem neuen Glied, und zwar zum Mittel-Glied in unserer
Motivkette macht, und wenn man sich dazu einige Einsichten
aus der wissenschaftlichen Erforschung des Labyrinthkults der
Menschheit holt, denn um einen solchen handelt es sich. Laby-
rinthzeichnungen sind uralt, man kennt sie aus der Steinzeit, findet
sie in ältesten Kulturen. Man trifft sie in den mittelalterlichen Ka-
thedralen als Urbild eines Erlösungswegs, denn die <Stadt Jeru Sa -
lem> (= Himmel) bildet darin den mühsam zugänglichen Kern-
raum. Dekorative puzzles findet man im Orient; sie werden dort
mandala genannt. Bei Leonardo aber kommt eine erste Wendung;
das abstrakte Flechtwerklabyrinth wird zu einer Landkarte des
Mysteriums, zu einem kryptographischen Symbol der uralten kos-
mologischen Vorstellung der <Welten-Verknotung>, ganz entspre-
chend Dantes Formel im 33. Gesang des Paradieses: <forma u n i .
versale di questo nodo>. Dies ist eine uralte gnostische Vorstellung
die später, durch den Neuplatonismus überliefert, auch in philoso-
phisch-metaphysischen Zusammenhängen um 1500 in riorenz
wieder auftaucht: Piatons <Goldene Schnur>, Homers <Goldene
Kette>. Marsilio Ficino nannte das Licht <vinculum universi>, das
Band des Universums. Der Kosmos ist, nach Hermes Trismegistos,
fast wie ein (abstraktes) Gewand gewoben: <quasi vestitum con-
texta>. Worte und Namen sind <Verknotungen>. Coomaraswamy,
dem wir hier folgen, weist vor allem auf indische Parallelen hin.
Indra, der indische Gott, hat <die Geheimnisse des rätselhaften
Knotens von Susna gelöst>. Das Geheimnis! Das Geheimnis hat
keinen <Körper> mehr, es kann mit matürlichem Attributen nie-
mals befriedigend bezeichnet werden. Nach Dante müßte das
Geheimnis, Gott, durch <nodi strani>, durch <seltsame Knotem, wir
dürfen wohl sagen, durch ineinandergewobene <gegenstandlose>
Lineaturen, symbolisiert werden, durch abstrakte, unentwirrbare
Figurationen. Eine einzige Linie (Linien-Technik) bildet das Bild
der besten Labyrinthe. Nun, in unserer Hoch-Zeit des Manieris-
mus, in der Zeit Shakespeares, Marinos, Göngoras entstand in
Spanien die bisher größte Sammlung von Flechtwerk- und Laby-
rinthzeichnungen Europas: die <Nueva Arte de Escrivir> von Pedro
Diaz Morantes in den Jahren 1616 bis 1631. Darin spielt die Spi-
rale (Vignolas Treppe) eine große Rolle. Der Kupferstecher Mellan
(1598-1668) bildet das Christusgesicht aus dem Sudarium mit ei-
ner einzigen Linie und bemerkt dazu: <Von Einem ist der Einzige
gebüdet> (<Formatur unicus una>). Für Tesauro sind Orakelsprü-
che <verknotete Schnüre>.
Aus diesen ersten Daten ergibt sich, daß für Dante, Leonardo,
Dürer, Morantes, aber auch für Greco und Göngora diese anschei-
nend nur dekorativ-abstrakten Motive noch einen konkreten gei-
stigen Sinn haben, nicht nur einen metaphysischen, sondern einen
unmittelbaren religiösen Sinn.
Wieder ein Beitrag zur Unterscheidung bestimmter Manierismen
in jeweils verschiedenen Epochen. Kunst und Religion, selbst Reli-
gion in einem vielfach durchaus gnostisch-häretischen Sinne, wa-
ren zwischen 1520 und 1660 noch nicht getrennt. Das ästhetische
Zeichen, der irreguläre Mythos der Idea, blieb immer ein Symbol.
Es kam also nie zu einer abstrakt-dekorativen, geradezu säkulari-
sierten Lineatur, einer bloßen <Komposition>. Kandinsky und Klee,
die ersten großen Abstrakten am Anfang unserer heutigen Mo-
derne, haben das noch erlebt und gewußt. Welche ergreifende
Reinheit Klees! Viele seiner Bilder wirken wie abstrakte Beschwö-
rungsformeln, wie kryptographische Gebete. Die <Nachahmer> der
Abstrakten haben vielfach nur die <Methode> übernommen. Gele-
gentlich sollen zwar abstrakte <Kompositionen> das unfaßbar
Uberreale symbolisieren, aber die Kompositionselemente entspre-
chen nicht mehr (unmittelbar symbolisch) einer traditionellen
Gnosis, sie werden so oft zu grausig geschichtslosen <Dekoratio-
nen> in einer <modernen> Stahlmöbel-Umwelt, <Signaturen> für
den Snobismus neuer Sachlichkeit, nicht einmal mehr Ausdruck
der historisch so gebundenen atomaren Technik. Die abstrakte
Kunst ist einwandfrei legitim, nirgendwo wird die <Dekadenz> der
<modernen> Kunst jedoch deutlicher sichtbar als dort, wo nichts
mehr anderes getan wird, als die <gnostisch> erschütterte Subjekti-
vität der großen abstrakten Meister nachzuahmen, wo also nur
noch <abstrakt> <komponiert> wird. Solche <Künstler> (und auch
d3ichter>) können in der großen manieristischen Tradition nur
eine <Analogie> beanspruchen: die Lemuren auf den Bildern
Boschs.
Umwege führen zum Mittelpunkt
K e h r e n wir zu u n s e r e m L a b y r i n t h - M o t i v zurück. D e r durchaus re-
ligiös manieristische Kult, der die Welt als Labyrinth darstellt und
dessen Mystagogien, H i e r o g l y p h i s m e n u n d Esoterismen, dessen
Vorliebe für schwere Zugänglichkeit, Unverständlichkeit, für pa-
radoxe M e t a p h e r n u n d <Verdrehtheit), so auffallend ist, hat <pan-
sophische> U r s p r ü n g e . W i e aber k ö n n e n wir dieses Metakulturelle
besser begreifen als aus d e m s t ä n d i g e n <Widerstands-Erlebnis>mit
Geschichtlichem, mit Faktischem? D i e ältesten Labyrinthe, die in
der e u r o p ä i s c h e n L i t e r a t u r e r w ä h n t w e r d e n , sind Labyrinthe in
Ägypten u n d auf Kreta. W i e d e r ist es H e r o d o t , der uns eines der
1
Tesauro bezeichnet es als «Siebtes ältesten (ägyptischen) 1 beschreibt: es h a t t e 3000 R ä u m e , in der fast
u n a u f f i n d b a r e n H e r z k a m m e r l a g e n die Könige u n d heiligen Kro-
kodile b e g r a b e n . D a n n folgten P l u t a r c h s Berichte ü b e r die Taten
des Theseiis, ü b e r das geheimnisvollste aller L a b y r i n t h e , über das
m i n o i s c h e von Knossos auf Kreta. Dädalus ist sein genialer Archi-
tekt. ( D ä d a l u s heißt der H e l d i m <Jugendbildnis> J a m e s Joyces.) In
diesem kretischen Labyrinth aber lebt ein M o n s t r u m (!), der Mino-
taurus, h a l b M a n n , halb Stier (Vereinigung des Gegensätzlichen).
Die D ä d a l u s - L a b y r i n t h - L e g e n d e h a t sich wahrscheinlich aus reli-
giösen G r o t t e n k u l t e n der Steinzeit entwickelt. Von <Grotte> leitet
sich, wie bereits dargestellt, die <Groteske> ab, d e r e n labyrinthische
<Irrwege> wir in der E n g e l s b u r g zu erklären versucht h a b e n und die
i m <Ornament-Stil>, diesem Vorläufer der geistig verflachten a b -
straktem Kunst, in e i n e m n u r n o c h pseudospekulativen Teig ver-
sinken.
Was ist wesentlich das L a b y r i n t h in alten Kulturen? Eine <verei-
nigende> M e t a p h e r für das b e r e c h e n b a r e u n d unberechenbare
E l e m e n t in der Welt. D e r U m w e g führt z u m Mittelpunkt. Nur der
U m w e g führt zur Vollkommenheit. D a s F u n d a m e n t mancher
ägyptischer P y r a m i d e n ist labyrinthisch gebaut. Neuerdings hat
m a n entdeckt, d a ß die G r u n d r i s s e der Akropolis in Athen wie des
G r a b m a l s des Augustus in R o m labyrinthisch sind. Auf d e m Boden
der Orchestra des altgriechischen T h e a t e r s von A t h e n fand man
ein labyrinthisches Mosaik.
D a s Labyrinth-Motiv t a u c h t w i e d e r u m <explosionsartig< im 16.
2
Dazu aus der bildenden Kunst drei und 17. J a h r h u n d e r t sowie zwischen 1880 u n d 1950 auf.2 Hans
Beispiele: ein «klassisches. Laby- Vredeman de Vries zeichnete in seinem B u c h <Hortorum Virida-
rinth aus der Spätrenaissance: Holz-
decke im Palazzo Ducale von Man- riorum Formae> (Antwerpen 1583) erste z a u b e r n a r t e Garten-La-
tua. das «deformierte» Kreuz-Labv- byrinthe. Sie w e r d e n bald in g a n z E u r o p a M o d e , m i t d e n dazuge-
- " Fateteio Clericis «Minotauras h ö r e n d e n , halb versteckten <Monstren> aller Art. Kein Zweifel also:
klagt öffentlich seine Mutter an». w ü r d e m a n den G r u n d r i ß der Orsini-Villa in Bornarzo freilegen,
w ü r d e sich ein Labyrinth ergeben. Englisch maze (Labyrinth)
heißt auch <Erstaunen> = stupore, Verwirrtwerden i m Unverständ-
lichen. Die E n g l ä n d e r n e n n e n die b a r o c k e Prosa: dabyrinthische
Prosa>. D i e Welt als Labyrinth! A m besten b a u t m a n sie - aus
Kunst u n d Literatur - d u r c h <konkrete> F r a g m e n t e wieder auf. Pa-
racelsus schreibt einen <Labyrinthus m e d i c o r u r m , H e n r y King pu-
blizierte 1627 ein Gedicht, in d e m es heißt: <The crooked labyrinth
is life, it is a l t h o u g h sin.> D o c h wir n ä h e r n uns einer Klimax: 1631
veröffentlichte C o m e n i u s , d.i. J a n Arnos Komensky, ein in ganz
E u r o p a b e r ü h m t e r technischer Polyhistor ( 1 5 9 2 - 1 6 7 0 ) , ein Poem:
<Labyrinth der Welt u n d das P a r a d i e s des Herzens>. Dazu, so kurz
wie möglich, eine I n h a l t s a n g a b e : E i n j u n g e r M a n n u n t e r n i m m t
mit zwei Begleitern - einer h e i ß t <Ich w e i ß alles>, der a n d e r e <Täu-
schung> (also das B e r e c h e n b a r e u n d U n b e r e c h e n b a r e ) - eine Reise
128 u m die Welt. D e r junge M a n n trägt eine Brille, d u r c h die er alles
Lelin Orsi: Kreuz-Labyrinth

<anders> s e h e n k a n n . D r e h t m a n jedoch diese Brille um, so sieht


man die <wahre> Welt. D a s Kleeblatt gelangt an einen Ort mit sechs
H a u p t s t r a ß e n . Alle führen auf ein rätselhaftes Schloß, ein Schloß
des <letzten> W i s s e n s . A b e r noch ein zweites Schloß gibt es, das
<Schloß des Glückes>. D e r <junge Mann> durchwandert alle <laby-
rinthischen> Situationen, a b e r alles <verkehrt>. Schließlich wirft er
die v e r - k e h r e n d e Brille fort u n d kniet nieder vor Gott: dem absolut
Un-verkehrten. 3 1
Deutsche Aufgabe Jena 10. •
auch Hans Kunkel, \)m Labyrinth
Wir w e r d e n später n o c h e i n m a l Gelegenheit haben, wenn wir iirr Welt. l)<-r Roman de« ( omenius
das P r a g Rudolfs IL u n d Arcimboldis schildern, an Kafka zu den- Göttingen 1956
ken, an seine R o m a n e , a n diese unergründlichen und letztlich nie
<klar u n d deutlich) zu <definierenden> E p e n des Labyrinthischen.
Und n u n ein a n d e r e r Kronzeuge dieser damaligen Epoche, der
Spanier Baltasar G r a c i a n . E r verfaßte einen allegorischen Roman,
<Criticön> oder <Über die allgemeinen Laster der Menschern, er-
schienen zuerst 1651 bis 1652. Der Held kommt in eine große
Stadt, sicherlich M a d r i d , d a m a l s schon untergehende Metropole
eines Weltstaats. G r a c i ä n schildert also seine eigene Umwelt,
wenn er schreibt: <Es w a r ein musterhaftes Labyrinth und eine 129
wahre Stätte des Minotaurus. Der große Platz war — geräumig —
ohne Perspektive und Ebenmaß. Alle seine Tore waren falsch, und
keines stand offen; Türme in Menge, mehr als in Babel, und sehr
dem Winde ausgesetzte - <Ein Babel an Wirrwarr, eine Lutetia,
d.h. Paris, an Schmutz, ein Born, was die Veränderungen, ein Pa-
lermo, was die Vulkane, ein Konstantinopel, was die Geistesum-
nachtung, ein London, was die Pestilenzen, und ein Algier, was die
Gefangenschaften angeht.> — <Verwirren wir uns nicht in diesem
höfischen Labyrinth. Nichts sollst du glauben, was immer man dir
sagt, nichts zugestehen, was immer man von dir fordert, nichts tun,
was immer man dir gebietet. > — <Glaub mir, da ist kein Wolf, kein
Löwe, kein Tiger, kein Basilisk, der es dem Menschen gleich täte.>
— <Das ganze Weltall setzt sich aus Widersprüchen zusammen, und
seine Übereinstimmung besteht aus Unstimmigkeiten.) — <Die ei-
nen Zeiten stehen gegen die anderen, selbst die Gestirne führen
Krieg unter sich und besiegen einander. > <Die Dinge der Welt muß
man sämtlich verkehrt herum betrachten, damit man sie richtig
sieht.> Dafür gibt es bei Parmigianino einen Konvexspiegel, bei
Comenius eine Brille, bei Graciän einen Wunderspiegel, der alles
anscheinend Natürliche in Chimären verwandelt. Es ist dies ein
Ent-täuschungsspiegel, da er die Kehrseite der täuschenden Na-
tur-Wirklichkeit zeigt, der Welt überhaupt, denn diese ist nichts
anderes als ein <Labyrinth der Bänke, Unwahrheiten und Chimä-
ren). In Nürnberg (nur zwei Beispiele aus dieser Zeit), der Heimat
des hochmanieristischen Pegnesischen Blumenordens und der
Wirkungsstätte des Marino-Schülers Harsdörffer, entstand 1676
ein berühmter <Irrgarten> bzw. <Irr-Hain>, auch Irrwald genannt -
wie Bomarzo. Daniel Caspar von Lohenstein aber, der Übersetzer
Marinos und Graciäns, dichtet eine <Aufschrift eines Labyrinths),
deren erste Verse lauten: <Wie irrt ihr Sterblichen, die ihr den Irr-
bau seht / Für einen Irrgang an, der euch nur soll verführen.) Und

Fabrizio Clerici: Minotaurus klagt


seine Mutter öffentlich an
(1. Fassung 1949)
er gibt einen typisch manieristischen guten Rat: <Wer aber durch
den Bau vernünftig irre geht, wird seines Heiles Weg, der Wahrheit
Richtschnur finden.> N o c h <labyrinthischer> die beiden folgenden
Verse: <Denn u n s e r toter Geist wird lebhaft und erhöht / Zu Gott
erst, wenn er sieht sein scheinbar Nichts verschwinden^ Was aber ist
Gott? <Ein Wesen s o n d e r Ende.>
Schließlich n o c h einige Beispiele aus der modernen Literatur.
Der spanische Dichter J u a n R a m ö n Jimenez veröffentlichte 1910
eine G e d i c h t s a m m l u n g mit dem Titel: <Labirinto>. In einem Ge-
dicht Garcia Lorcas h e i ß t es: <Konfuses Labyrinth / Schwarzer
Sterne / M e i n e Illusion bricht entzwei / Fast wie Verfaultest Von
Jorge Luis Borges erschienen (in französischer Übersetzung) <La-
byrinthes>, E r z ä h l u n g e n , die sich technisch höchst labyrinthisch
entwickeln. D a r i n h e i ß t es: <Unerträglich träume ich von einem
sauberen, k l e i n e n L a b y r i n t h , in dessen Mittelpunkt eine Amphora
stand, die m e i n e H ä n d e fast berührten, die meine Augen sahen,
aber die U m w e g e w a r e n so kompliziert, so verwirrend, daß mir klar
wurde: eher w ü r d e ich sterben, als je dorthin gelangen.) Der <Held>
steht vor e i n e m L a b y r i n t h : <Ich weiß nicht, u m wieviel Zimmer es
sich handelt; m e i n U n g l ü c k u n d meine Angst vervielfältigen sie
dauernd.> In der H e i m a t des in geistiger Verstörtheit endenden
Göngora m u ß t e das Labyrinth-Motiv so halluzinatorisch) bleiben.
Doch auch i m H e i m a t l a n d der <Preziösen>, in Frankreich, finden
wir damals wie h e u t e das Motiv ebensooft. Nur wenige Beispiele,
zuerst ein <kurioses>. D i e Preziösen umschrieben das Verbum
<kämmen> m i t der H y p e r b e l : <delabyrinthiser les cheveux>. In ei-
nem Gedicht P a u l E l u a r d s , dieses <preziösesten> unter allen fran-
zösischen Surrealisten, finden wir: <Schwarzes Licht (Garcias
<schwarze Sterne> u n d G o n g o r a s <roter Schnee>) alter Brand / Mit
den in e i n e m L a b y r i n t h verlorenen Haaren>, während Henry Mi-
chaux (geb. 1899), der Verfasser eines langen Gedichts <Enigmes>,
überzeugt ist, m a n w e r d e <im Labyrinth den geraden Weg finden>.
Und u n m i t t e l b a r b e z o g e n auf das Baum-Flechtwerk-Labyrinth
Leonardos der Vers in d e m Gedicht Jean Cocteaus, <Plain Chant>:
<Unser U i e b e s - F l e c h t - W e r k gleicht Zeilen, die sich auf einem
Baume überkreuzen.> E i n n e u e r deutscher Lyriker, Johannes Poe-
then, stellt in seinen G e d i c h t e n <Risse des Himmels> fest: <Jenseits
der Sandlabyrinthe / W i r s t D u mit Krügen schlafen / In denen nicht
Asche nistet.> R e n e G h a r aber meint in seinen <Blättern des Hyp-
nos>: <Der M e n s c h l e h n t sich dagegen auf, seine Labyrinthe zu ver-
lassen. D e r vieltausendjährige Mythos zwingt ihn zum Bleiben.>
Echt visionär, in e i n e m genialen Beziehungswahn, hämmert gera-
dezu, in e i n e m F i g u r e n - G e d i c h t (graphische Umrisse einer Stand-
uhr), Dylan T h o m a s B e z ü g e der manieristischen <Welt des Laby-
rinths) fest, u n d m a n b r a u c h t diesen Text n u n nicht zu übersetzen:

And we have come


to know all
Places
Ways
Mazes
Passages
Q u a r t e r s a n d graves
Of t h e endless fall
14. A B S T R A K T E
METAPHORIK

Zeichen für unirdisches Sein


Abstrakte Kunst oder auch <konkrete>, <gegenstandlose> Kunst, die
selbst das <Labyrinth>, das Berechenbare im Unberechenbaren,
nicht mehr erkennen läßt, ist sie eine Entdeckung des 20. Jahrhun-
derts? Das wird zwar gelegentlich behauptet. Künstler und Kriti-
ker, die sich in der Menschheitsgeschichte umgesehen haben, las-
sen aber diese begeisterte Inaugurations-Emphase neuer Gruppen
oder Schulen, die vor 30, 40 Jahren so typisch war, längst nicht
mehr gelten. Wie viele <Arten> von <gegenstandloser> Kunst (wir
wollen bei diesem Ausdruck bleiben) es gibt, darüber kann man
sich heute leicht informieren. Mit Literatur darüber kann man eine
stattliche Bücherwand füllen. Wir wollen hier nur feststellen, was
wir unter <gegenstandloser> Kunst verstehen. Sie läßt keinerlei Ge-
genstände, Gestalten oder gar geometrisch oder organisch noch
identifizierbare Lineaturen erkennen, sie gehört also nicht zur
<pseudo>-gegenstandlosen Kunst, welche noch erkennbare Natur-
bilder (wie auch immer) nur deformiert oder stilisiert. Im folgen-
den soll aber wenigstens dargelegt werden, daß die <gegenstand-
lose> Malerei zu einer <Konstanten> der Menschheit gehört und
daß diese immer nur in den Epochen zu beobachten ist, die Euge-
nio d'Ors als <barock> bezeichnet, die wir aber auf Grund der vorge-
schlagenen Abgrenzungen <manieristisch> nennen. Daß <gegen-
standlose> Kunst im Ornament-Stil, im Dekorativen, in der alten
und neuen Kunst aller Weltkulturen zu finden ist, darf heute schon
als ein Gemeinplatz gelten. Was aber, wenn es sich um gegen-
standlose Kunst handelt, die nicht nur dekorativ sein will, die also
etwas bedeuten will, die Teil einer Chiffre-Sprache sein möchte,
eine farbige Signatur für etwas... was auch immer, jedenfalls für
Transzendentes?
Aus Selbstdeutungen vieler Künstler der Gegenwart weiß man,
daß ihre gegenstandlosen Bilder keineswegs nur dekorativ gewer-
tet werden sollen, und es besteht bei den <echten> Meistern nicht
der mindeste Grund, ihnen keinen Glauben zu schenken. Dan
man mit Farben, Flächen, Linien, mit Proportionen und Nuancen
Rhythmen des Kosmos etwa wiedergeben möchte und könnte, dab
man mit einer <geometrischen> Farben- und Raummusik die lm-
materialität der absoluten Weltsubstanz — wie in bestimmten for-
men des mystischen Erlebens — ahnen lassen möchte, das alles er-
scheint ebenso selbstverständlich wie die kaum noch ernsthaft ab-
zustreitende Tatsache, daß große Meister auf diese Weise auch
schöne Kunstwerke geschaffen haben. Die <evokative Macht> von
Farbe und Komposition ergibt natürlich auch andere Wirkungen.
Sie löst im Betrachter mit rein ästhetischen Mitteln Empfindungen
aus, Gefühle und gedankliche Assoziationen. Die Malerei will hier
mit den Mitteln der Musik oder der Lyrik wirken. Darüber hinaus
sollen aber diese <Klangkörper von Färbern bei einigen Meistern
auch <Ideogramme> sein (Baumeister). Für den zeitgenössischen
französischen Maler Alfred Manessier sollen sie sogar religiöse
Zusammenhänge - im Gefühl - erschließen, <das ganze System
unserer Teilempfindungen auflösen, ein unirdisches Sein zeigen,
das hinter allem wohnt> (Franz Marc). Wir <intellektualisieren>
also das Problem nicht, wenn wir feststellen: <Gegenstandlose> Bil-
der der wichtigsten Meister wollen - über ihre ästhetisch <evoka-
tive> (musikalisch-lyrische) Suggestionskraft hinaus - etwas bedeu-
y ^ ten. Doch wollen wir darauf achten, daß wir es für unseriTFräge-
"stellung auch mit wirklich völlig <gegenstandlosen> Bildern zu tun
haben, mit solchen also, in denen auch kein Rest von <Natur> (im
gestalthaften Sinne) zu finden ist.
Bewegungsformen des Anorganischen und Organischen etwa
lassen sich immer noch auf Urstrukturen der Natur zurückführen.
Man weiß, daß vergrößerte Aufnahmen von geschliffenem Granit-
stein z.B. überraschende <abstrakte> Effekte ergeben und ebenso
Bilder von <Kristallgemeinschaften>, z.B. Vergrößerungen von Vit-
amin C-Kristallen. Auch geometrische Formen <liegen> noch in
Niceron: Perepektivutitche
der Natur. Allein die Radiolarien, die winzigsten Strahlentiere des
Konstruktion
Meeres, zeigen einen unendlichen Formenreichtum; Haeckel hat
4000 Arten davon beschrieben.
Für diese noch <geometrisch> strukturierte <Gegenstandlosig-
keit> gibt es genügend historische Füiationen, so z.B.: anorgani-
sche Formen in Leonardos Polyhedron (Codex Atlanticus). Ferner
läßt sich eine perspektivistische Studie von Niceron (1638) mit
Tchelitchews <Mandel> (1954) vergleichen. Auch zeitgenössische
Phantasie-Organismen, gewisse noch <verschleiert> gegenstand-
lose <Ready-made>-Gebilde, kann man als <verwandt> empfinden,
wenn man ihre Umrisse mit solchen in halbabstrakten Phantas-
men der Vergangenheit vergleicht. Hier liegen mehr als Zufälle
vor; und das leuchtet gewiß ein, wenn man etwa Yves Tanguys <Ge-
bilde> mit einem Studienblatt Boschs zum Triptychon <Das Tau-
sendjährige Reich> vergleicht.
Nun taucht aber die Frage auf, ob eine <absolute> Art zeitgenös-
sisch-moderner gegenstandloser Kunst, nämlich diejenige der
<Farbfleck>-Kompositionen (Tachismus) ohne irgendeinen Bezug YvesTanguy: Komposition
(links)

Hieronymus Bosch:
Studienblau zum Triptychon
<Das Tausendjährige Reich»
auf erkennbare <Urformen> der N a t u r , ebenfalls von der <manieri-
stischem Konstante a b h ä n g e . D a s ist z u n ä c h s t nicht einfach zu be-
antworten, weder in einem positiven noch in einem negativen
« Sinne. Der Ansatz <Einfluß> ist ü b e r h a u p t bedenklich. E r verführt
zur Oberflächlichkeit, gerade in geschichtlichen Darstellungen.
Würde m a n also, besser gesagt, in einer M o t o - F o r s c h u n g der ge-
genstandlosen Kunst mit der ü b e r z e u g e n d e n Kraft der Evidenz
Brücken von der G e g e n w a r t in die Vergangenheit schlagen kön-
nen? Das erscheint noch unsinniger; d e n n was h e i ß t angesichts der
meisten gegenstandlosen Bilder der G e g e n w a r t . . . Motiv? Vor al-
lem, w e n n m a n sich durch die meist u n g l ü c k l i c h e n Titel dieser Bil-
der nicht verführen lassen will. M a n w ü r d e bald in ein <Motiv-
Chaos> geraten. D e n n o c h b r a u c h e n wir ü b e r z e u g e n d e Kategorien,
wollen wir, gerade in e i n e m a u c h geistig genealogischen Sinne,
nicht n u r die e n t s p r e c h e n d e absolute Legitimität der gegenstand-
losen Kunst, sondern auch ihren Z u s a m m e n h a n g mit einer der
<Urgebärden> der M e n s c h h e i t beweisen. W i e finden wir diese Ka-
tegorien? Wir g l a u b e n , d e m Bildbegriff von Gottfried Benn auch
hier treu bleiben zu k ö n n e n , i n d e m wir von e i n e m a u c h hier histo-
risch vererbten <Ausdruckszwang> sprechen.
Von der antinaturalistischen T e n d e n z in der manieristischen
, <Idea>-Kunst ist schon die R e d e gewesen, von der auch weiterhin
\gegenstandauflosenden W i r k u n g wird in a n d e r e n Kapiteln noch
| die Rede sein. D o c h n u n zur g e g e n s t a n d l o s e n Kunst im heutigen
Sinne, sofern sie nicht bloße dekorative Kunst sein will u n d sofern
sie keinerlei faßbare symbolische Bezüge m e h r hat, auch keine
geometrisch-konstruktivistischen m e h r herstellt, wo es sich also
anscheinend n u r n o c h u m <Farbkleckse> h a n d e l t , da werden wir
feststellen müssen, d a ß es schwer sein dürfte, für diese mit anschei-
n e n d improvisierten Mitteln reproduzierten Intuitionen in der Ge-
schichte Parallelen zu finden (vgl. z.B. Nicolas de Stael: <Komposi-
tion in Weiß>, 1951). E m a n u e l e Tesauro schreibt in seinen scharf-
sinnigen Stilvorschriften für manieristische Concettisten (1654)
auch ü b e r Concettisten u n t e r d e n b i l d e n d e n Künstlern. E r behan-
delt ausdrücklich a u c h <gegenstandlose> Kunst: <Die einfache, sehr
scharfsinnige u n d geistvolle M a n i e r , Symbole zu m a l e n , besteht
darin, n u r Farben zu n e h m e n , also keine m e n s c h l i c h e Figur.>
<Diese alte und sehr edle Art w u r d e jedoch n u r in der Wappenkunst
für v o r n e h m e Familien angewandt, d. h. für F a h n e n , Schilde usw.>
Die <sieben Färbern (Gelb, Weiß, Blau, G r ü n , Rot, P u r p u r und
Schwarz) hatten dabei also - jede für sich— eine streng symbolische
Bedeutung, so etwa: Gelb = Sonne, W e i ß = M o n d , Blau = Jupiter,
G r ü n = Venus, Rot = M a r s , P u r p u r oder Violett = Merkur,
Schwarz = Saturn. D a r a u s : Weiß = M o n d = Unschuld; Blau =
Jupiter = Gedankentiefe; G r ü n = Venus = Glück usw. Von einem
<Tachismus> im heutigen Sinne k a n n also bei dieser <maniera dei
semplici colori> keine R e d e sein. W i r stehen also wieder vor einer
deutlichen Abgrenzung u n d U n t e r s c h e i d u n g von <manierismen>in
verschiedenen E p o c h e n , wobei M a n i e r i s m e n als Ausdruck der
I d e a - L e h r e u n d diese wieder als <Ausdruckszwang> eines be-
stimmten Menschentypus in einer b e s t i m m t e n sozialen L a g e ver-
standen werden sollen. Verfrüht w ä r e es jedoch, d a m i t die Waffen
strecken zu wollen. Im Gegenteil: das Kampffeld wird jetzt erst
übersichtlicher.

!34
Sein u n d Sosein ist zweierlei
Wir müssen von der psychischen Ursache des Ausdruckszwangs
ausgehen. Wir w e r d e n d a n n i m m e r wieder, wie zur Genüge belegt
und erklärt w u r d e , auf die manieristische Tendenz der Verbildli-
chung der Welt stoßen, auf das magische Analogie-Streben, auf
die Metaphorik, auf d e n M e t a p h o r i s m u s , der, wie in der späteren
mystischen L i t e r a t u r des 17. J a h r h u n d e r t s , allmählich zu einem
universalen M e t a m o r p h i s m u s wird. Alles kann mit allem vergli-
chen werden, alles k a n n sich in alles verwandeln. In diesem Sinne
ist die <abstrakte> g e g e n s t a n d l o s e Kunst von heute, als Wesenszug
in einem A u s d r u c k s z w a n g , eine abstrakte Metaphorik. Wenn sie —
wie diejenige der b e d e u t e n d s t e n u n t e r den zeitgenössischen <Ge-
genstandlosen> — d o c h etwas <bedeuten> soll, und zwar was auch
immer an <metaphysischem>, <existentiellem> oder an sonstigem
<unerklärbarem> E r f a h r e n , so wird dieser <gegenstandlose> Gehalt
durch die M e t a p h e r n der F a r b e n , Linien u n d Flächen usw. ausge-
drückt, durch das irrationale E i g e n d a s e i n der gesamten Bildober-
fläche. Das <Gemalte>, wie a u c h i m m e r es <aussieht>, ist (so wird es
immer wieder gesagt) ein Ausdruck <für etwas>. Also ist es in die-
sem Falle eine <alogische> M e t a p h e r , sofern menschliches und ent-
sprechend künstlerisches Verhalten, auch antilogisches, noch in
seiner ontoiogischen Intention u n d Erfahrung, also nicht nur in
seiner ontisch-psychologischen Bedingtheit, verstehbar sein soll.
Die gegenslandlose Kunst — i m Werke ihrer ernsthaften Vertreter
natürlich— scheint u n s die a m wenigsten un-sinnige Kunst im okzi-
dentalen M a n i e r i s m u s zu sein. Gibt es für echte ontologische Er-
fahrung ü b e r h a u p t Kategorien, eine logische Sprache? Der Exi-
stentialismus H e i d e g g e r s u n d die Logistik Wittgensteins haben
uns in dieser H i n s i c h t äüf eine doppelte Grenze aufmerksam ge-
macht: auf eine erkenntnistheoretische u n d auf eine sprachliche.
Wir werden aber a u c h a n P i a t o n erinnert, nach dem die w a h r e
Vorstellung) von <Erkenntnis u n d Geist> <nicht in Lauten oder kör-
perlichen Gebilden, s o n d e r n i n Seelen steckt>. U n d <deswegen wird
keiner, der Geist hat, sich jemals erdreisten, das vom Geist Erfaßte
in der Sprache n i e d e r z u l e g e n , oder gar noch in das Unabänderli-
che, was da doch d a s L e i d der Buchstabenschrift ist>. Und noch
einige diesbezügliche <Schemata> (Concetti) aus Piaton: <Nichts
hindert, das jetzt k r u m m G e n a n n t e gerade zu n e n n e n und das Ge-
rade d a n n krumm.> <Das Sein u n d das Sosein (ist) zweierlei.) Das
Unsagbare, m a n w e i ß es a u c h von Bergson, dem philosophischen
Anreger Marcel P r o u s t s , entzieht sich dem Begriff, aber nicht dem
Bild, und das u r s p r ü n g l i c h e bilderzeugende, poetische Mittel der
Menschheit ist die M e t a p h e r . Die jüngere deutsche Philosophie
nach Scheler u n d H e i d e g g e r g e h t noch weiter. Wilhelm Weische-
del schreibt i n e i n e m n e u e n <Entwurf einer Metaphysik der Kunst>:
In der abstrakten Kunst <kann a m E n d e noch unmittelbarer als an
den gemalten W e l t d i n g e n die Tiefe erscheinen). In seinem Buch
über <Die U r s p r ü n g e der Metapher> bei den Primitiven spricht
Heinz W e r n e r von der M e t a p h e r a u s . . . <Abstraktionsnot>. >Die
Metapher aus Abstraktionsnot ist als primäre Wurzel des metapho-
rischen D e n k e n s zu betrachten.)
Wir w e r d e n später von G i u s e p p e Arcirnboldi sprechen. Hier nur
ein unentbehrlicher Vorgriff: er setzt Menschenköpfe aus Blumen,
aus Tieren, W e r k z e u g e n usw. z u s a m m e n . E r ist also alles andere
als ein <Gegenstandloser> - a b e r er überträgt. (Metapher heißt in
der antiken R h e t o r i k <Übertragung), lateinisch = translatio.) Und
dafür gibt es viele M ö g l i c h k e i t e n . M a n k a n n es in jeder Rhetorik
nachlesen: Ü b e r t r a g u n g von Belebtem auf Belebtes, von Leblosem
auf Belebtes, von Belebtem auf Lebloses. (Übertriebene Meta-
phern heißen Katachresen, so etwa einst: die A r m e eines Sessels
bis <Armsessel> so geläufig wurde, d a ß k a u m n o c h jemand an den
metaphorischen H i n t e r g r u n d denkt.) Diese <übertriebene> Rheto-
rik, die dazu führt, d a ß m a n in der manieristischen Literatur des
16. und 17. J a h r h u n d e r t s i m m e r wieder auf m e t a p h o r i s c h e <Ab-
strusitäten> stößt, wie etwa <roter Schnee>, oder auf heutige <mo-
derne> wie <schwarze Milch> (Celan), bildet eine Para-Rhetorik aus.
Athanasius Kircher spricht anläßlich seiner W u n d e r m a s c h i n e n ,
wie schon erwähnt, von einer Para-Statik. W a r u m sollte m a n füg-
lich nicht — angesichts der gegenstandlosen M a l e r e i - von einer
jPara-Pittura> im Sinne der <Idea>-Lehre sprechen, von einer alo-
gischen, <abstrakten> Metaphorik in der M a l e r e i , von Metaphorik
als <Abstraktionsnot>, ganz i m S i n n e des manieristischen Meta-
phorismus von 1550 bis 1650? U n d so dürfen wir logischerweise
doch von e i n e m traditionellen Z u s a m m e n h a n g in e i n e m geistig-
phänomenologischen Bezug sprechen. Somit ist es d u r c h a u s mög-
lich, g e g e n s t a n d u n g e b u n d e n e Farben, F l ä c h e n , L i n i e n auf einen,
wie auch i m m e r gearteten, t r a n s z e n d e n t a l e n Z u s a m m e n h a n g zu
übertragen, da m a n schon in der klassischen Rhetorik, von der My-
stik ganz zu schweigen, <Belebtes auf Belebtes> ü b e r t r a g e n durfte.
G e g e n s t a n d heißt griechisch <chrema> (xnfpo:). Gegenstandlos
d e m n a c h <parachrematisch>. M a n verzeihe das W o r t m o n s t r u m (es
gibt in der antiken Rhetorik viel schlimmere): gegenstandlose Ma-
lerei ist im Z u s a m m e n h a n g mit e l e m e n t a r e m Formstreben des eu-
ropäischen Geistes insofern nichts <Abenteuerliches>, kein gespen-
stisches <Novum> entwurzelter <Scharlatane>. E s h a n d e l t sich,
w e n n wir uns diese rhetorische W o r t n e u s c h ö p f u n g erlauben dür-
fen, u m eine parachrematische Metaphorik.
Doch wird m a n konkrete Belege w ü n s c h e n , k o n k r e t e Entspre-
c h u n g e n . Wir k e h r e n z u m A u s g a n g s p u n k t dieses Abschnitts
zurück. Wir halten es trotz aller e n t s p r e c h e n d e n Versuche für
unmöglich, für die (metaphysisch intentionierende) parachrema-
tische M e t a p h o r i k in der Malerei u n s e r e r Tage, sofern sie <Klecks>-
C h a r a k t e r hat, i m S i n n e einer <Bild-Ganzheit> ü b e r z e u g e n d e Vor-
bilder in der Vergangenheit zu finden. M a r c e l Brion hat sich die
M ü h e gemacht, u n d er beruft sich dabei oft auf die bahnbrechen-
den Werke von Worringer, in der M e n s c h h e i t s g e s c h i c h t e dafür
historische Vorläufer zu suchen. D a b e i stößt er auf <Urmotive>:
Flechtwerk, Labyrinthe, Spiralen, G r a n u l a t i o n , R a d e n , Filigran,
Treppen usw. D a s alles wird unserer zeitgenössischen gegenstand-
losen Kunst I m p u l s e gegeben h a b e n , a b e r wir h a b e n es hier noch
immer, wie sogar b e i m Labyrinth, m i t r e d u z i e r t e n <konkreten>
Strukturen zu tun, vor allem doch wohl oft m i t m e h r dekorativen
Manifestationen. Meist handelt es sich hier u m b e r e c h n e t e oder
vorgegebene Formen.

Fragmentarismus
Wer fühlte also vor den so vielen gegenstandlosen <Fleck>-Bildern,
wenn sie nicht <konstruktivistisch> sind (darüber später), auch nur
den Ansporn, in solchen, auf ein bildhaftes Nichts reduzierten
Strukturen mit d e n <Augen> noch <konkrete> L i n e a t u r e n zu su-
chen? Selbst mit d e m größten Aufgebot kulturgeschichtlicher
Kenntnisse halten wir es für aussichtslos, auch für u n s e r e <extremi-
stischem <Gegenstandlosen>, für solche <Klecks-Gebilde> nicht
mehr reduzierbarer p a r a c h r e m a t i s c h e r Metaphorik, Beispiele in
der Vergangenheit zu finden, sofern eben hier irgend etwas Über-
trägen > werden soll. U n d doch m ü s s e n wir gerade hier wieder eine
für unser T h e m a vielleicht e n t s c h e i d e n d e Einschränkung (im an-
deren Sinne) m a c h e n . <Farb-Klecks-Metaphern> — in der ganzen
Bedeutung des Wortes — finden wir in den <Manierismen> der Ver-
gangenheit als für sich g e l t e n d e <ganze> Kunstwerke nicht, und wir
lassen uns g e r n b e l e h r e n , w e n n wir irren. Auf gegenstandlose
<Kompositionen> i n n e r h a l b eines <umfassenden> Kunstwerks sto-
ßen wir h i n g e g e n in der manieristischen Malerei von Greco bis
Delacroix so oft, wie wir n u r Gelegenheit haben, Bildern aus dieser
Zeit zu begegnen. N u r sind diese gegenstandlosen, diese a b s t r a k -
tem E l e m e n t e i m m e r n u r Teil eines Ganzen, vor allem Teil eines
Bildhintergrunds, eingeordnete Fragmente, Fragmente also, die
von einer Tendenz zu n e u e m , formalem Experimentieren künden;
sie bezeugen aber k e i n Bestreben, etwa solche isolierten abstrak-
tem Fragmente zu <verabsolutieren>, sie aus dem größeren Bildzu-
sammenhang a u s z u s c h n e i d e n u n d sie sodann in dieser fragmenta-
rischen Isolation als E m b l e m für <Metaphysisches< zu verkünden.
Mit anderen W o r t e n : es w ä r e ein amüsantes Experiment, zu dem
wir uns nicht h e r g e b e n wollen, kleine <Detail>-Farb-Photos von
<gegenstandlosen> m a n i e r i s t i s c h e n Bildhintergründen aus der Zeit
von 1550 bis 1650 zu m a c h e n , sie zu vergrößern und sie als <gegen-
standlose Malerei> vielleicht sogar als parachrematische Meta-
phern im n e u e n S i n n e zu deklarieren. Die Wirkung wäre nur ver-
blüffend.
Was ergibt sich d a r a u s ? I m m e r wieder dies: der <Fragmentaris-
mus> in Kunst u n d D i c h t u n g u n s e r e r Zeit erscheint vielfach, be-
sonders in u n s e r e r <modernen> gegenstandlosen Kunst, als eine Art
von Spiegelung von F r a g m e n t e n aus der damaligen manieristi-
schen Zeit, d.h. der Zeit von 1550 bis 1650, die wir demzufolge als
einen noch <humanistischen> M a n i e r i s m u s zu bezeichnen ange-
regt sein k ö n n t e n . D i e <Atomisierung>, die Auf- u n d Zersplitterung
unserer gesellschaftlichen Verhältnisse, die viel totalere Katastro-
phenstimmung, die n o c h g r ö ß e r e Skepsis gegenüber traditionellen
Erlösungslehren, die soziale Isolierung des Künstlers in unserer
Massengesellschaft, sein demzufolge i m m e r m e h r vereinsamendes
Monologisieren — h i e r h a b e n wir die G r ü n d e für eine unausweich-
bare U n t e r s c h e i d u n g . E s w ä r e ein Irrtum, deswegen im zeitgenös-
sisch <Modernen> eine <Verflachung> oder tödliche <Aufspaltung>
zu sehen. Die Intensität des Bezugs auf das Ontologische wird
heute sogar geistig viel intensiver, soziologisch sicherlich weniger
konformistisch e r s c h e i n e n . D i e jetzt allmählich frenetische Ten-
denz, alte F o r m e n (wie es früher n o c h vorsichtiger geschah) <total>
zu zerbrechen, u m ü r g e n d e i n Absolutes>, ein unaussprechbar Ab-
solutes nicht sichtbar, nicht e r k e n n b a r , aber ahn-bar werden zu
lassen, entspricht sicherlich einer echten Erschütterung, welche
nur die H ü t e r verschiedenartigster erbaulicher Weltanschauungs-
und Trostsysteme <geschminkt m i t leeren Sprüchen> (Piaton, Brief
VII) nicht gelten lassen wollen. W i r sollten keinen Grund haben,
das <Wunder> E u r o p a s u n d seiner Geschichte aus den Augen ver-
lierend, dazu n u r n e i n zu sagen. Z u einem apodiktischen Urteil
werden u n s e r e N a c h f a h r e n das Recht haben.
15. K U B I S T I S C H E
V O R - UND N A C H F A H R E N
Netze geometrischer Formen
Wie kann man die Antinomie des Berechenbaren und Unbere-
chenbaren, die Welt als Labyrinth oder gar als völlig gegenstand-
lose Figuration, in eine Form bannen, in eine ästhetisch abge-
grenzte Formel geradezu? Die Begegnung mit der rational-irratio-
nalen Beziehung der Welt, in dem Sinne auch, daß man damals in
Italien z.B. auch anfing, Gleichungen dritten und vierten Grades
mit imaginären Wurzeln zu lösen, wird schon früh von einigen
Künstlern der Spätrenaissance als beängstigend empfunden. Das
Übergewicht des Irrationalen in der Magie und in der späteren
<Idea>-Philosophie erscheint als Gefahr; denn man erkennt, daß
nun auch die Form selbst sich aufzulösen beginnt. Die labyrin-
thisch verwirrte oder <gegenstandlos> gewordene Erscheinungs-
welt muß wieder gleichsam aufgefangen werden. So entsteht eine
erste nationalistische) Beaktion auf den <irrationalistischen> Ma-
nierismus, und zwar eine ebenso <manierierte>, d.h. also antina-
turalistische. Gegen die magische Verflüchtigung der Ding- und
Gestaltumrisse (das Unberechenbare) setzt man eine überbetonte,
pointierte Bekräftigung der Umrisse. Man fängt die sich ins Unge-
genständliche verflüchtigenden Bildinhalte mit Netzen geometri-
scher Form wieder ein. Theodor Heuss spricht daher mit Recht von
einer <akzentuierten Geometrik> als <Rettung aus dem Chaos der
Zeit>.
Damit ergibt sich eine der ersten typischen rnanieristischen Re-
aktionen auf Manierismen, die so bezeichnend für unsere Gegen-
wart, für unsere verschiedenen <Schulen> und <Gruppen> sind, für
ihre leidenschaftlichen Rivalitäten; einig sind sie nur in ihrem
ebenso passionierten Anti-Klassizismus und Anti-Naturalismus.
Schon im 16.Jahrhundert soll die labyrinthische <Welt sonder
Ende> wieder begrenzt werden, durch eine brutale Hervorhebung
elementarer geometrischer Formstrukturen im Räume, in den
Dingen, in der menschlichen Gestalt. Im 16. Jahrhundert wird der
, Kubismus geboren.

Experiment
allmählich Selbstzweck
Die Anwendung geometrischer Figuren auf Grund eines mathe-
matischen Kalküls in der Kunst ist uralt. Aber sie bleibt in der Klas-
sik untergeordnet dem Endzweck: dem <Gebilde> am Ende einer
künstlerischen Bemühung, dem schönen Erscheinungsbild einer
idealisierten Natur, dem die Spuren eines handwerklichen Kalküls
in keiner Weise mehr anzusehen sind. Im Gegenteil: jede sichtbare
Spur eines Werkstatt-Geheimnisses wäre klassischen Künstlern
als Sakrileg gegenüber dem Idealbild des Schönen erschienen, als
gefährliche Indiskretion geradezu, mit welcher man das liturgische
Illusionsbild der absoluten, kosmische Gesetze im rein sinnlichen
Bild spiegelnden Schönheit hätte verflachen, vernichten können.
Insofern kann man von einer Keuschheit großer Klassik sprechen,
138 von einer exhibitionistischen Tendenz aber der Manieristen gerade
dann, wenn sie sich Auflösungstendenzen entgegenzustellen
scheinen. Ihr <Wollen> wird auch d a n n sichtbar. Ihre Tendenz, die
Form zu retten, führt d a h e r doch a u c h wieder zu einer neuen <De-
formation>, zur kubistischen! Tatsache ist, daß der Kubismus von
damals wie von h e u t e nicht eine <abstrakte> Kunst ist, sondern eine
polemische Reaktion auf sie. <Ein kubistisches Bild soll wie ein ar-
chitektonisches G e b i l d e der Malerei beurteilt werden, und es kann
Kunst sein oder a u c h nicht, je n a c h der individuellen Beschaffen-
heit des Künstlers.
Der Kubismus (des 20. J a h r h u n d e r t s ) wurde erfunden, um neue
Elemente der m a l e r i s c h e n Struktur zu entdecken.) <Der Kubis-
mus ... war der letzte Versuch der figurativen Kunst, nicht der Ge-
stalt auszuweichen, s o n d e r n ihr n e u e Ausdrucksmittel zu verlei-
hen.) <Daraus resultiert die i n n e r e unauflösbare Spannung des
Manierismus: auf d e r e i n e n Seite strebt er nach dem Dogma der Albrecht Dürer:
Figuren-Schema
,Systematisierbarkeit alles künstlerischen Schaffens', ähnlich wie
heute die F o r m t h e o r e t i k e r des Mondrian-Kreises; auf der anderen
Seite proklamiert er die u n u m s c h r ä n k t e , schöpferische Freiheit
des Individuums) (W. H o f m a n n ) .
Das gleiche gilt für die ersten kubistischen Experimente des
16.Jahrhunderts, die ihre A n r e g u n g e n aus den Werkstattexperi-
menten L e o n a r d o s u n d Albrecht Dürers bezogen. 4 Dürers be- Näheret über die Kunsttheorien
Dürers und ihre historischen I Unter-
rühmtes F i g u r e n s c h e m a aus d e m Dresdener Skizzenbuch bietet gründe: Panofsky, Die Perspektive
dafür ein Beispiel, ein Beispiel zu seiner <Unterweisung der Mes- als symbolische Form. Vorträge
sung) (1525); d.h. das t e c h n i s c h e , das vorkünstlerische Anliegen, Warburg. Berlin 1 <).>-.

die Vorbereitung auf das Eigentliche, ist hier leicht zu erkennen.


Anders sieht das schon aus, w e n n wir uns Zeichnungen seines
Schülers E h a r d S c h ö n a n s e h e n , die in der <anamorphotischen
Kunst) eine Vorläuferrolle spielen. D i e erste Zeichnung (1543) be-
weist, daß hier F o r m e x p e r i m e n t e bereits zu einem Selbstzweck
werden. Die <kubistischen> F i g u r e n verteilen sich in diesem per-
spektivisch b e s c h l e u n i g t e n R a u m ) 5 schon in einer ästhetischen 1
Kr konnte ebensowohl Borromini
Disposition, sie g e b ä r d e n sich individuell, trotz ihres wehleidigen zu seiner (ialerie im Palazzo Spada
angeregt haben, wie Beminis <S< da
Roboter-Charakters. Studie? G e w i ß , aber m a n merkt dieser <Stu- Regia> im Vatikan von det Spada-
die> an, daß sie u n t e r der H a n d des Künstlers autonomes Leben zu <Meravigli;i- abhängen mag.
gewinnen beginnt, d a ß das vorbereitende Experiment, bevor es
zum <Endergebnis) wird, z u m alles Experimentieren verbergenden
vollendeten Kunstwerk, zu e i n e m manieristischen verabsolutierten

Ehard Schön: Kiguren-Srhemen


" . \lil ilicsem Komplex hängt wieder Eigen-Wert wird.(> Alles erscheint hier <gefangen> in Form und
die Betonung des Gestaltungspro-
zesses zusammen, der mit dem Ma- R a u m , dämonisch-intelligent eingegrenzt. D a s m u ß E h a r d Schön
nierismus immer mehr in den Vor- veranlaßt h a b e n , diesem Versuch m e h r B e d e u t u n g zuzumessen als
dergrund tritt und schließlich auto-
nom, das heilSt: zum Selbstzweck einem <Brouillon> in der Abgeschlossenheit der Werkstatt. Man
wird. Erstmals werden im Manieris- sieht es noch deutlicher auf einer zweiten Z e i c h n u n g Schöns. Das
mus Etappen der Verwirklichung ei-
ner künstlerischen Konzeption un-
< Verspielte--, das keineswegs skizzenhaft Improvisierte, wird hier so
terschieden, wird die .Idee' von der deutlich, auch in der Komposition dieser Z e i c h n u n g , daß kaum
Ausführung getrennt und für selb-
noch Zweifel bestehen k a n n : dieser <erste> K u b i s m u s ist schon zum
ständig erklärt.» (VV. Hofmann, o.e.)
künstlerischen Selbstzweck geworden, allerdings m i t einer rühren-
den Schalkhaftigkeit. M a n m a g dies a u c h als <private Kunst> ge-
wertet haben, d a m a l s aber ganz gewiß nicht als eine <aügemein>
gültige Kunst oder sogar als absolute, letzte oder sonstwie <eschato-
logische> Kunst.
Ist E h a r d Schön ein Einzelgänger? E r w ü r d e — in dieser <kubisti-
schen> Beziehung — k a u m als etwas m e h r gelten k ö n n e n , denn als
ein <Kuriosum>, w e n n er nicht Nachfolger hätte. I m m e r wieder
müssen wir uns d a r ü b e r klarwerden, d a ß m a n c h e manieristische
<Manifestationen> u n s eher als geistesgeschichtliche <Curiosa>, als
m e h r oder weniger reizvolle kulturgeschichtliche D o k u m e n t e be-
gegnen, d e n n als Kunstwerke. D a hier jedoch nicht n u r Beiträge
zur <Kunstgeschichte> gegeben w e r d e n sollen, sondern vielmehr
phänomenologische U n t e r s u c h u n g e n zur <Problematik des mo-
dernen M e n s c h e r n u n d seiner g e r a d e jetzt höchst gefährdeten
<Stellung im Kosmos>, finden wir in diesen D o k u m e n t e n , in ähnli-
cher Weise, wie u n s e r e hoffentlich glücklicheren Nachfahren es
mit zeitgenössischen <Dokumenten> ähnlicher Art erleben mögen,
vielleicht doch <geladenere> E l e m e n t e als in klassizistischen Mu-
sterwerken treuester <kanonischer> H e r k u n f t . E h a r d Schön hätte,
ganz abgesehen von seiner B e d e u t u n g für die später zu erörternde
<konstruktivistische> a n a m o r p h o t i s c h e Kunst, h i e r weniger Baum
b e a n s p r u c h e n k ö n n e n , w e n n er nicht als Vorläufer eines der - in
dieser <kubistischen> Beziehung — b e m e r k e n s w e r t e s t e n europäi-
schen Künstler u m 1550 gelten k ö n n t e , als Vorläufer des bisher zur
Ikonographie der Kunst der <Neuzeit> zu w e n i g b e a c h t e t e n G e n u e -
ser Malers L u c a C a m b i a s o , eines Vorläufers nicht n u r von Georges
de la Tour, sondern vor allem B e m b r a n d t s , des letzten Exponenten
u n d zugleich, aus tiefsten m e n s c h l i c h e n E r s c h ü t t e r u n g e n , ersten
Überwinders des d a m a l i g e n M a n i e r i s m u s .

Luca Cambiaso
M a n weiß, d a ß B e m b r a n d t W e r k e C a m b i a s o s eifrig gesammelt
hat. Cambiaso w u r d e 1527 in Moneglia (Ligurien) geboren. Seine
<Nocturnae>, effektvolle H e l l - D u n k e l - S z e n e n i n der Beleuchtung
von Kerzen, Öllampen, Fackeln usw., w a r e n schon im 16. J a h r h u n -
dert sehr geschätzt. E i n e n kraftvollen e i g e n e n Stil entwickelt er erst
in der Spätzeit Michelangelos n a c h 1550, m e h r jedoch in seinen
für uns Heutige faszinierenden Z e i c h n u n g e n als mit seinen sonsti-
gen Werken. Seine <kubistischen> Z e i c h n u n g e n w u r d e n damals so
rasch und so eindringlich w e l t b e r ü h m t wie Picassos erstes kubisti-
sches G e m ä l d e : <Les Demoiselles d'Avignon> (1907). E i n e m m o -
dernen Kritiker galt C a m b i a s o schon als Prototyp des europäischen
Avantgardismus, u n d es wird a u c h d a r a u f h i n g e w i e s e n , wie Künst-
ler dieser Art d a m a l s <ausgelacht> w u r d e n . Ü b e r L u c a Cambiaso
u n d über sein Schicksal, über die B e d e u t u n g eines vergessenen
140 großen Meisters, erhielt m a n jedoch erst d u r c h die verdienstvolle
Ausstellung in G e n u a im J a h r e 1956 zum ersten Mal genauere
Kenntnisse. G e b e n wir e i n e m m o d e r n e n Kritiker das Wort, um ei-
nen ersten E i n d r u c k zu belegen: <Man steht plötzlich vor Bildern,
deren Modernität g e r a d e z u bestürzt, die vorweggenommene
Werke von Caravaggio, von G e o r g e s de la Tour, von Zurbarän oder
auch fast von einigen h e u t i g e n M a l e r n sein könnten, deren Licht-
reflexe und d e r e n oft g e o m e t r i s c h gegliederte Schattenwirkungen
im ganzen C i n q u e c e n t o nicht ihresgleichen haben.> <Und
wenn er (Cambiaso) seine Z e i c h n u n g e n geometrisch stilisierte,
wenn er dort die m e n s c h l i c h e n Körper und Gesichter zu kubisti-
schen Robotern w a n d e l t e , so n a h m er Möglichkeiten des moder-
nen Kubismus vorweg, u n d F e r n a n d Leger hat mitunter bewußt
Anregungen, die C a m b i a s o i h m gab, weiter verwendete Man darf
diese Sätze eines A u g e n z e u g e n anführen, u m — gerade in diesem
Zusammenhang — d e m Verdacht zu entgehen, daß man einem
(vom T h e m a her) b e e i n f l u ß t e n Analogie-Wahn verfallen sei. Man
kann — und nicht n u r zur E n t l a s t u n g — also feststellen, daß man in
der europäischen Publizistik der letzten J a h r e häufig auf solche
von Fall zu Fall a n g e d e u t e t e n B e z i e h u n g e n zwischen der damali-
gen und der h e u t i g e n <Moderne> stößt. Unserer <Gegenwart> ge-
hen buchstäblich für < Vergangenheit) in einem ganz neuen Sinne
die Augen auf. W i r b e f i n d e n u n s m i t u n s e r e m Versuch, über (Aper-
e r e hinaus ein <System> n e u e r Traditionen anzuregen, jedenfalls
was einzelne E r k e n n t n i s s e a n g e h t , nicht allein auf dieser so bunten
manieristischen Flur; i m Gegenteil, wir h a b e n m a n c h e n einzelnen
Einsichten gelegentlich a n g e n e h m e Wegweisung zu verdanken.
Wir n e h m e n an, d a ß wir d a m i t in e i n e m guten kairos, in einem
günstigen, schicksalhaften Augenblick, stehen, können aber nicht
hoffen, dieses P r o b l e m des <Traditionalismus des Antiklassischem
erschöpfen zu k ö n n e n , z u m a l bei der Brisanz dieser Problematik
uns andere Arbeiten (von d e n e n wir ohnehin vor Drucklegung eine
Reihe von n e u e s t e n zitieren) trotz aller Aufmerksamkeit entgan-
gen sein könnten. E s b e d e u t e t für jeden, dervor der Kontinuität der
menschlichen G e s c h i c h t e eine g r ö ß e r e Freude empfindet als vor
ihrer dramatischen Zerfetzung, eine G e n u g t u u n g zu beobachten,
wie im sog. t e c h n i s c h e n Zeitalter, von allen Ecken her zu einem
Kristall h e r a n s c h i e ß e n d , so etwas wie ein modernistischer Tradi-
tionalismus entsteht. W i r befinden u n s , w ä h r e n d wir schreiben,
mitten in seinem g l ü h e n d e n W e r d e p r o z e ß , auch in der zeitgenössi-
schen Philosophie, die m e h r von d e n Vorsokratikern als von den
großen rationalistischen S y s t e m e n ausgeht. Es wäre aber banal zu
sagen, unser T h e m a liege <in der Luft>. Vielfach befinden sich viel-
mehr heutige E n t w i c k l u n g e n in einer Sackgasse. Sie sind außer-
dem verdeckt von d e n R u m m e l p l a k a t e n einer hybrid gewordenen
Massengesellschaft. K ö n n e n m a n c h e von diesen <Entwicklungen>
in so ungünstiger A t m o s p h ä r e d u r c h eine n e u e Konfrontierung mit
Geschichtlichem n i c h t n e u e Kraft gewinnen?
Die bereits g e n a n n t e Z e i c h n u n g Cambiasos führt uns sicherlich
einen Schritt ü b e r die E x p e r i m e n t e , auch über die selbstgefälligen
Ehard Schöns h i n a u s . 7 D i e <saturnische> oder aber die <elegante> 'Andere fttttmg im Städebdten
Expressivität der F l o r e n t i n e r , die Phantastik Roms mit ihren viel-
fach <faulenden F o r m e r n , die E x u b e r a n z Tintorettos und anderer
in Venedig w e r d e n von d i e s e m so gewaltsam-manieristischen
Kunstgriff, d e m C h a r a k t e r eines (konstruktivem Ligurers entspre-
chend, verdrängt. Nichts scheint d e m Zufall überlassen. Wenige
Striche g e n ü g e n : das D a s e i n wird m i t einem M i n i m u m von geo-
metrisch stilisierten F l ä c h e n eingefangen und gebändigt. Mit
Recht erklärt d a h e r C. M a r c e n a r o in der Einleitung zum Genueser 141
Katalog: <Diese Werke bilden die Einleitung zu einer neuen Ästhe-
tik. > Es wird ferner die Fähigkeit sichtbar, <kubische> Formen mit
einer illustrativen Thematik, vor allem mit mächtigen Bewe-
gungsrhythmen zu verbinden. Um den kubischen Christus-Kopf -
der so an Zeichnungen von Matisse erinnert- und um den entspre-
chenden Rumpf fluktuiert der <kubistisch> aufgegliederte Raum.
Hier steht Cambiaso, in neuer Originalität, zwischen Pontormo
und Tintoretto. Seine Zeichnungen gehören wie diejenigen Pon-
tormos und Tintorettos nicht nur zu den interessantesten, sondern
auch zu den schönsten des damaligen Manierismus.
Es soll nicht übersehen werden, daß Cambiaso von 1583 bis zu
seinem Tode (1585) wie Federico Zuccari am Hofe Philipps II. in
Madrid gearbeitet hat. 1582 war in Madrid die <Academia de Ma-
tematicas> gegründet worden. Ihr Direktor, der berühmte manieri-
stische Poet Juan de Herera, hat einen <Traktat über kubische Kör-
pen geschrieben. Den Traktatisten des Manierismus, G. R Lo-
mazzo und G. B. Armenini, ist Cambiaso bekannt. Giambattista
Marino widmet ihm in seiner <Galleria> ein Sonett. Enthusiastisch
lobt er Cambiasos Gemälde <Die büßende Magdalena), und wir
wissen, wie sehr diese Figur bei den Manieristen beliebt war. Cam-
biasos Gemälde zeigt eine kunstvolle Verschmelzung von Gestalt
und Raum durch abstrakte Hell-Dunkel-Effekte. Hier Marinos
Vierzeiler, den wir, frei im Sinne marinistischer Concetti, zu über-
tragen versuchen wollen: <Künstlich also soll sie sein? Wer sollte je
glauben / Daß Farbe belebt und Leinwand beseelt sein mag? /
Künstlich gewiß ist sie! Aber dank so seltener Kunst / Daß Sein
durch Schein ganz überscheint erscheint.) Der französische Ma-
nierist Georges de la Tour (1593—1652) malte um 1640 ebenfalls
eine <Büßende Magdalena) ganz im Hell-Dunkel-Stil der Noctur-

Luca Cambiaso: Kalvarium


Bracelli: Die Schauspiel« [Kn
und Die Soldaten (recht* l

nen Cambiasos. Einer der nur schwer zugänglichen Hermetiker


der modernen französischen Literatur, Rene Char, schrieb vor kur-
zem: <Heute nachmittag habe ich meine wachende ,Magdalena
Ks handelt sich um ein < ieda
mit der Kerze' beendet, inspiriert von einem Bilde von Georges de gleichen Titels von io,sS. et I
laTour, dessen Sprache so zeitgemäß ist.>8 turhand.

Bracellis Roboter
Der<Kub ismus> von Schön bis zu Cambiaso führt in der Malerei zu
einer immer individuelleren Gestaltung der zwar antinaturalisti-
sehen, aber strenger geformten einzelnen Flächen. Caravaggio
und Zurbarän sowie ihre zahllosen Nachahmer weisen wichtige
Elemente dieser <neuen Ästhetik> auf. Cezanne greift diese histori-
schen Elemente in neuer, neomoderner Radikalität auf. Sein Werk
und sein programmatisches Wort: <In der N^tur geht alles auf den
Kreis und auf den Kubus zurück) leitet den zeitgenössischen Ku-
Hsrnus Picassos, vorldlem Legers ein. Doch müssen wir uns b~e-
wußt bleib en, daß dieses alte und neue strengere Formstreben
nicht nur antinaturalistisch war und ist. Es ist in einer anderen Be-
ziehung <manieristisch>. Auch der Kubismus projiziert <Idea> in die
Materie. Wir finden dazu ein lehrreiches Wort bei Gino Severini,
in seinem Buch: <Du Cubisme au Classicisme> (1921): <Es fällt uns
schwer, Formen wahrzunehmen, wie wir sie sehen. Wir werden
ihnen Formen unterlegen, wie wir sie uns vorstellen.) Also anders-
artige Weiterwirkung der Idea-Ästhetik.
"Vir müssen uns aber daran erinnern, daß Federico Zuccari in
Einern ausführlich behandelten Traktat drei Stufen oder Arten der
concettistischen Idea-Kunst unterscheidet: 1. den <Disegno na-
turale), 2 . den <Disegno artificiale>, und 3. den <Disegno fanta-
stico). Wenn wir Pontormos Zeichnungen noch zur ersten Gruppe,
diejenigen Cambiasos zur zweiten Gruppe rechnen können, so
müssen wir uns fragen, ob wir im Rahmen der <kubistischen Idea>
n
°ch eine dritte entdecken können. Wir finden sie in einem der
merkwürdigsten Werke aus der Zeit Göngoras und Marinos, in
j-mer Sammlung von 48 Stichen, die der toskanische Kupferstecher
[ r c e l l i ^ Jahre ,624 dem Herzog Piero de'Medici widmete.
Ier
aus einige Beispiele: <Die Schauspieler) erinnern in der kubi-
1Schen
!! Struktur der Gestalten noch an Schön, in der Rhythmik an
. ja mbiaso. Die <Soldaten) befinden sich hingegen schon durchaus
01 Um
kreis des <Disegno fantastico). Hier ist eben auch das skepti- H3
sehe Kriterium eines vorkünstlerischen Charakters der bloßen Stu-
die nicht anwendbar. Wir stehen hier vor einem Endergebnis, vor
der Konstruktion phantastischer Figuren aus geometrischen For-
men. Aber sie sind noch starr, roboterartig. Ebenso irreale wie dy-
namische, bewegte Groteske von verabsolutierten formalen Prinzi-
pien bietet das <Tänzerpaar> dar. E s erinnert an die phantastischen
Drahtgeflechte, Blechkonstruktionen u n d Metallaufbauten vieler
Zeitgenossen, vor allem einiger E n g l ä n d e r , wie Butler, Armitage,
Clark, M e a d o w u n d des A m e r i k a n e r s Alexander Calder.
Die S a m m l u n g Bragellis trägt d e n Titel <Bizzarrie>. Das Wort ist
uns oft begegnet. W i r wissen, d a ß es sich nicht n u r u m ein Spiel,
eine Spielerei oder u m eine Kuriosität h a n d e l t , w e n n auch Figura-
tionen dieser Art im 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t m e h r als Stücke für
<Wunder- u n d Raritätenkabinette> beliebt w a r e n als für Kunst-
s a m m l u n g e n (so z.B. Bracellis <Doppelmensch>). Z u r Unterschei-
d u n g dieser d a m a l i g e n P r o d u k t e des <Disegno fantastico> von heu-
tigen m u ß m a n sich allerdings k l a r m a c h e n , d a ß , w e n n vielleicht
eine so heitere und poetische N a t u r wie C a l d e r n o c h <spielt>, wenn
auch sehr hintergründig, so doch viele u n s e r e r a n d e r e n Eisen-,
Bracelli: Doppelmensch Blech- u n d D r a h t k o n s t r u k t e u r e etwas <Tieferes> ausdrücken wol-
len. Bracelli u n d Calder: meist (wahrscheinlich) spielende For-
mengeometrie im R a u m , kuriose Poesie, abstruse Lyrik. Der
andere heutige Zweig bringt d e n <gefährdeten>, <unbehausten>
M e n s c h e n im Zeitalter der Kernphysik z u m Ausdruck. Aus einer
lyrischen F o r m e n g e o m e t r i e wird eine G e o m e t r i e der Angst. Die
Künstler erfinden sich eigene plastische F o r m e n , nicht nur um
neue Effekte im R ä u m e zu erzielen, nicht aus e i n e m hypersensi-
blen Beziehungswahn u n d einer verschmitzten L i e b e z u m non-
sense. Diese heutigen reduzierten oder a u f g e s c h w e m m t e n Gebilde,
die an Insekten, an phantastische M a s c h i n e n , a n abstrakte Chimä-
ren, aber auch an organische Urformen e r i n n e r n , sind Ausdruck
der «entseeltem Welt des <Hollow-Man> u n d des <Waste Land> von
T. S. Eliot geworden. <Unsere ausgetrockneten S t i m m e n sind,
wenn wir uns etwas zuflüstern, still u n d sinnlos wie W i n d i m Gras,
oder wie das G e r ä u s c h von Rattenfüßen ü b e r Glassplittern in unse-
rer ausgedörrten Zelle> (Eliot). D a s soll u n t e r s c h i e d e n werden, wie
m a n die M e t a p h o r i k Eliots von der <barocken> u n t e r s c h e i d e n muß-
Aber hat nicht Eliot die metaphysicalpoets des englischen 17. Jahr-
hunderts mit ihrer <Weltangst> für die m o d e r n e englische Lyrik
geradezu n e u entdeckt? Reduzierte oder aufgeschwemmte Ge-
bilde — fanden wir sie u. a. nicht bei L e o n a r d o u n d in den römi-
schen Grotesken? Gibt es bei Bosch u . a . nicht g e n ü g e n d insek-
tenartige U n g e h e u e r , was sie auch i m m e r symbolisch bedeuten
mögen! Phantastische M a s c h i n e n ? W i r w e r d e n n o c h davon zu
sprechen h a b e n , ebenso a u c h von abstrakten C h i m ä r e n . «Gleiche
Ausdruckszwänge) in verschiedenen J a h r h u n d e r t e n liegen nie so
parallel n e b e n e i n a n d e r wie a n a t o m i s c h e Schnittflächen. Über die
Differenzierungen gleicher Ausdruckszwänge w e r d e n Anhänger
der absoluten Individualität jeweils historischer E p o c h e n endlos
diskutieren wollen. Wer von einer m e t a p h y s i s c h e n Einheit des
Menschengeschlechts überzeugt ist, wird es vorziehen, zunächst
einmal <über-historisch> weiterwirkende Phänomene zu verzeich-
nen und zu deuten. Vielleicht gelingt es, auf diese Weise einige Ur-
<Ausdruckszwänge> der M e n s c h h e i t in ihrer E i n h e i t zu begreifen,
wobei wir i m m e r vor einer Plurivalenz stehen w e r d e n . Insofern ist
der M e n s c h der höchste Ausdruck d e r Welt als Labyrinth. E r ent-
zieht sich d a h e r in jeder Weise der Vereinfachung.
144 Bracellis <Geheimnis> wird schwer zu lösen sein, w e n n wir aul
ihn <existentialistische> S c h e m a t a a n w e n d e n wollen, zumal von
seinem L e b e n u n d v o n s e i n e m sonstigen Werk wenig bekannt ist.
Die <Erscheinungen in seinen Bizzarrie> werden indes immer kom-
plizierter, so die <Ballspieler>, in d e n e n n u n <Sphären> und <Kuben>
kombiniert w e r d e n . D e r <Ball> als Mittel des Spiels wird Bestand-
teil der abstrusen a n a t o m i s c h e n Beschaffenheit dieser Spieler, eine
Transposition des S i c h - E r e i g n e n d e n in denjenigen, der die Hand-
lung vollzieht, die aus so vielen surrealistischen Bildern bekannt
ist. Der Kopf der Tennisspielerin von Carrä <Die Tochter des We- siehe Farbabbildung 17
stens> hat die F o r m des Schlägers. Die manichini de Chiricos (Hek-
tar und A n d r o r n a c h e , 1917) b r i n g e n eine andere <Transposition> sieheFaibabbildung 18
zum Ausdruck. D i e <Geometrisierung> dieser so beliebten Maler-
Gliederpuppen, d e r e n H e r k u n f t u n d Geschichte in der bildenden
Kunst aufzuzeichnen eine interessante Arbeit wäre, wird dem Ge-
genständlichen wie eine ä u ß e r e Etikettierung (durch geometrische
Zeichnungen) angeheftet, nicht n u r damit m a n weiß, worum es
sich handelt, s o n d e r n d a m i t I n n e n u n d Außen, wie bei den Mani-
c/u'm-Ballspielern Bracellis, relativiert werden. Einfall oder Be-
rechnung in b e i d e n , in allen Fällen? Mit der Antwort wird man
nicht zögern k ö n n e n . Schöpferische manieristische Kunst ist —wie
jede b e d e u t e n d e K u n s t — eine Kunst der Inspiration und der Ratio,
des Gefühls und des Intellekts, des Erlebens und der Phantasie.
Nur m a n weiß: die M a n i e r i s t e n erstreben die Vereinigung des Ge-
gensätzlichen, aber die G e g e n s ä t z e sollen und dürfen in ihrer Ei-
genart zugunsten einer h a r m o n i s i e r e n d e n Idealvorstellung im
klassischen S i n n e nicht verschwinden, genauso wie in der Meta-
pher der m a n i e r i s t i s c h e n Lyrik. Discordia Concors also und gerade
im <Disegno fantastico> kubistischer P r ä g u n g , der schließlich im
20. J a h r h u n d e r t i m m e r abstrakter wird, so in Legers <Die Treppe>,
einem Bild, das sich von C a m b i a s o s und Bracellis Kuben-Figuren
außerdem n o c h d u r c h ein arg mystifizierendes Element unter-
scheidet: d u r c h d e n p a r a d o x e n Titel <Die Treppe>.
<Kubistische> F i g u r e n , t a n z e n d e , spielende, liebende, rasende,
weinende, verzweifelte, geängstigte und heitere Roboter, mani-
chini, abstraktere u n d k o n k r e t e r e irreale Wesen, halb Maschine,
halb Mensch, A u t o m a t e n also, sind sie in der Kulturgeschichte der 145
Menschheit wie <Abstraktionen> in der Malerei und Skulptur? Be-
lebte Figuren, Automaten und Roboter gab es im antiken Orient
und Griechenland. Arabische Roboter waren in Alexandrien große
Mode. Leonardo hat sich jahrelang damit geplagt, einen Maschi-
nen-Menschen zu bauen. Der Maschinen-Mensch, die Maschi-
nen, welche die Funktion der einzelnen menschlichen Sinne über-
nehmen sollen— davon werden wir noch hören. Curiositä heißt
nicht nur <Kuriosität>. Es heißt auch Neugier. Die Neugier ist einer
der mächtigsten Antriebe aller Manieristen. Die <klassischen> Wei-
sen verachteten sie. Sie lobten die <Adiaphora>, das <Ununterschie-
dene>, alles da, was einen, im Gegensatz zum Absoluten, nicht
mehr berühren, aufregen, entsetzen kann, was es einem verbietet,
neugierig zu sein — und modern.

146
16. B I L D E R - M A S C H I N E N

Instrumente
des extrem Künstlichen
Daß die Maschine eine Art Prothese des Menschen ist, daß sich aus
dieser menschlichen Fähigkeit, Prothesen-Maschinen zu erzeu-
gen, nicht nur Wunderbarkeit (meraviglia), hübsche und nützliche
Ergebnisse sowie Belustigungen durch das Anti-Naturalistische
des <Ingeniösen> ergeben können, sondern daß auch eine <neue>
selbständige Welt der Maschinen zu entstehen droht, eine <artifi-
zielle> Welt der Technik zwischen Mensch und Natur, das hat man
schon im 16. Jahrhundert, wenn auch in <magischen> Verträumt-
heiten befangen, zumindest geahnt. Die ersten <Maschinen> dieser
Zeit, die nicht unmittelbar in die jeweilige Umwelt bestimmter
Handwerke gehören (vor allem Bau- und Kriegswesen), sind aller-
dings noch <nutzlose> Produkte der <Imitazione fantastica>. Die
kunstvollsten technischen Empfindungen der Menschheit in den
Zeitaltern vor Anwendung der Dampf-, Elektrizitäts- und Atom-
kraft wirkten als Bilder einer faszinierenden <automatischen>, an-
organischen Welt des extrem Künstlichen. Eine weltberühmte
<Bentresch-Statue> aus der Zeit Bamses XII. konnte selbständig
gehen und mit dem Kopf nicken. Im delphischen Tempel gab es
Mädchengestalten, Heliaden, künstliche goldene Statuen, die sich
singend bewegen konnten. Aristoteles beschreibt eine automati-
sche Venus>. Leonardo baute zu Ehren Ludwigs XII. einen Löwen,
der den König, 1509, bei seinem Einzug in Mailand wie ein leben-
diges Tier entgegen schritt und vor ihm stehenblieb. Der artifizielle
Löwe öffnete sich dann mit einer Tatze die Brust, um auf ein Wap-
pen mit drei Lilien hinzudeuten. Künstliche Menschen, Androi-
den, haben Ägypten und Hellas begeistert. Ihr berühmtester Nach-
iahre ist der Golem aus dem Prager Ghetto, der dreizehn Jahre
<gelebt> haben soll und der, um dies wieder vorwegzunehmen,
Giuseppe Arcimboldi beeinflußt haben mag, denn dieser Golem-
Automat <starb> 1593, im gleichen Jahre wie Arcimboldi. Gerade
die Neuplatoniker, die geistigen Urheber der manieristischen
Idea-Ästhetik, sollen sich der Überlieferung nach künstliche
männliche und weibliche Diener geschaffen haben. Fabriziert wa-
ren sie aus Holz und Metall, aus Wachs, Glas und Leder. Schon
Albertus Ma gnus soll eine derartig gespenstisch-artifizielle Die-
nerschaft gehabt haben. Thomas von Aquin hat Gebilde dieser Art
angeblich zerschlagen, weil er sie für Teufelswerk hielt. Es gab
sprechende, singende, tanzende, rechnende Maschinen, reizvolle,
naive Vorläufer unserer <Kybernetik>. Eine wissenschaftliche Kul-
turgeschichte des <manieristischen> Maschinenkults der Vorzeit
fehlt uns noch.

<Maschinen> - sie sind am Anfang der Neuzeit Beweise dafür,


daß es eine <autonome> geistige Welt gibt, die sogar in bewegter,
<lebender> Gestalt dieser so unzulänglichen Natur entgegentreten
kann, die enthusiastisch entdeckte Evidenz, daß <Idea-Produkte>
also leben können, ja daß sie viel gescheiter sind als die so wider-
spruchsvollen bloßen <Natur>-Erscheinungen. Der intellektualisti-
sche Manierismus feiert vor den ersten <Maschinen> Triumphe. Es
entsteht eine bezeichnende Maschinen-Hymnik, längst vor der
Aufklärungszeit, als man in allen guten Häusern physikalische Ex- 147
perimente machte, als man <Magnetismus> oder <Optik>, <Chemie>
oder <Mechanik>, <Astronomie> und was auch immer studierte und
diskutierte. Doch im 18. Jahrhundert wird die <Maschine> zum My-
thos des Fortschritts, zum Sinnbild einer zumindest nur noch dei-
stischen Religiosität.
Solche <Anwendungen> sind dem Manierismus des 16. und
17. Jahrhunderts noch fremd. Über eines ist sich die europäische
Literaturgeschichte einig: die Euphuisten, Marinisten, Gongori-
sten, die Concettisten und Preziösen waren weder politische Legi-
timisten noch religiöse Konformisten (wenn sie sich manchmal
auch so anstellten), noch Anhänger irgendwelcher ethischer Nütz-
lichkeitstheorien, und gerade das hat die <idealistische> Ge-
schichtsschreibung des 19. Jahrhunderts zur Verzweiflung ge-
bracht. Man sah in diesem mangelhaften Einsatz für <Religion,
Menschheit, Vaterland, Sitte und Familie> eine verdammenswerte
strukturelle Schwäche. Man übersah das Poetische in solchen
<Künsteleien>. Man übersah, daß es sich mehr um eine vielleicht
<verdorbene> Kindheit handelte, als um einen korrupten, überrei-
fen, dekadenten <Intellekt>. Die patriotisch-wissenschaftliche Rhe-
torik unserer idealistischen Vorfahren hat den <Infantilismus>, den
<abstrusen> Spieltrieb dieser so <geschmacklosen> und <haltlosen>
Manieristen-Generation nicht erkennen können. Es ist ein ver-
hängnisvolles Mißverständnis der <Rildung> in den Gründerjah-
ren, daß sie gewisse mehr oder weniger <imperiale> Tendenzen,
sich auf das <Anwendbare> zu konzentrieren, für die Voraussetzung
einer Klassik schlechthin hielten. Die höchste <Klassik>, d.h. die
sublimste Kunst, Dichtung und Musik der Menschheit, ist durch-
aus, und zwar in einem geradezu dämonischen Sinne, antikonfor-
mistisch. Niemand hat mit den Göttern weniger Mitleid gehabt als
Homer, niemand mit der Kurie als Dante, niemand mit politischen
Figuren (Roms und seiner Zeit) als Racine, niemand mit dem
<Dreck> der zeitgenössischen Gesellschaft als die reinste Figur der
abendländischen Klassik, als Mozart, der fast so <elend> starb wie
der <böse> Greis Michelangelo. Dennoch kann es, was den <Aus-
druckszwang> angeht, keine Mißverständnisse geben. Ein bewußt
intellektuell groteskes Madrigal von Claudio Monteverdi läßt sich
mit herausfordernden <Nuancierungen> in den <modernsten>
Schöpfungen Mozarts nur <technisch>, jedoch niemals im Sinne
gleicher <Intentionen> vergleichen, ein Gedicht Marinos oder Gön-
goras nicht mit einer Fabel Lafontaines, ein Jesuitentraktat über
den Probabilismus nicht mit dem Rigorismus von Port-Royal.
Ebensowenig kann man die aufklärerische Experimentierfreude
des 18. Jahrhunderts mit der Maschinen-Poesie des 16. und
17. Jahrhunderts in Reziehung setzen. Der Manierismus spielt ge-
rade dann, wenn es ihm verzweifelt ernst zumute ist, der Klassiker
wird ernst, wenn er spielen möchte. <Klassik> heißt Mißtrauen ge-
genüber Gefühl und Intellekt, in der Hoffnung, beide verbinden zu
können. Manierismus heißt Verliebtheit in den <ingeniösen> Intel-
lekt und oft lasterhafte Nachgiebigkeit gegenüber dem Gefühl. Der
Manierismus ist <autistisch> infantil, die <Klassik> in einem eroti-
schen Sinne <reif>, sie bleibt in der <Ausdrucksgebärde> stets auf
einen Partner, auf ein <Du> bezogen.
Agosüno Remelli: Lesemaschine
(links) und Blumenorgel (rechts)

<Das Antlitz des M e n s c h e n


entstellen>
Wir können u n s jedoch d e n reizvollen u n d <prämodernem Werken
des <infantilen> M a n i e r i s m u s i m 16. u n d 17. Jahrhundert, gerade
was den <Masehinenkult> angeht, nicht verschließen. Vielleicht
tritt uns dort (zwischen 1520 u n d 1660) ein ironisch-geistiges, ein
romantisches E l e m e n t des M a n i e r i s m u s entgegen. Ein gewisser
Capitano Agostino Remelli (1531—1600) schrieb ein heute seltenes
Buch: <Le diverse et artificiose Macchine>, wohlgemerkt also zur
Zeit Göngoras, S h a k e s p e a r e s , Grecos, Marinos usw. Sehen wir uns
seine <Lesemaschine> an. E i n e Mode-Welt steht vor uns: der <Cul-
tismo> u n d <Conceptualismo> d e r E p o c h e , die bildungseifrige Pre-
ziosität, die E l e g a n z , der Perspektivismus, aber auch die Labyrin-
thik (das R ä d e r w e r k u n t e r e E c k e rechts), das <Verschlüsselte> (Tür
im Hintergrund), das <Synkretistische> (Bücherwand), das Gro-
teske (Figuren an der r e c h t e n Seitenwand der Lesemaschine), das
Dekorativ-Phantastische (Aufbau der Maschine), die Isolierungim
Wahn-Sinn des W i s s e n s , das geistige Dasein in einer mit drei
schweren Riegeln verschlossenen Gefängniswelt, womit wir wohl
einem n e u e n , <technisierten> Symbol Saturns begegnen, aber auch
einem E m b l e m der hoffnungslosen Neu-Gier. Wer noch daran
zweifeln k ö n n t e , es h i e r m i t einer rationalistischen Poesie von ei-
nem gewissen R a n g zu tun zu h a b e n , sollte sich die Raumstruktur
und die Verteilung d e r F i g u r e n u n d der beiden Wandbilder auf
einem a n d e r e n Stich Remellis a n s e h e n . Die groteske Anrichte mit
der halbmenschlichen Fratze trägt eine <Blumenorgel>, d.h. ein
metaphorisches G e b i l d e . D a n k e i n e m ingeniösen System wird es
möglich, d e m tafelnden P a a r aus einem hyperbolischen Blu-
menschmuck Vogelgezwitscher zu G e h ö r zu bringen; Vogelsang,
den ein Diener, in ein R o h r s y s t e m blasend (aus einem angedeute- 1
ten Nebenraum), kraft seiner Lungen erzeugt. Das Sur-reale eines
solchen <Disegno fantastico> kann von heutigen surrealistischen
Bildern kaum übertroffen werden.
Mehr als eine Generation später begegnen wir, in der Endphase
des Manierismus, Dutzende Werke und Hunderte Illustrationen
dieser Art überspringend, den <seltsamen> Maschinen Athanasius
Kirchers. Drei bedeutende Jesuiten-Traktatisten Europas: ein
Deutscher, Athanasius Kircher (1601—1680), ein Italiener, Eraa-
nuele Tesauro (1591-1660), und ein Spanier, Baltasar Gracian
(1601-1658), spiegeln in ihrem weitverzweigten Werk zahlreiche
Aspekte der <Problematik des heutigen Menschen) so scharf wider
wie möglich. Ihre Werke sind für eine traditionalistische Deutung
des heutigen Manierismus unerschöpflich. Wir werden von ihnen
immer wieder hören, besonders in der späteren Darstellung über
die manieristische Literatur. Zu unserem jetzigen Thema — Begeg-
nung mit der Technik - zunächst nur einige Illustrationen aus ver-
schiedenen Werken Kirchers. Die noch <magische> Bindung des
neuen experimentellen Maschinenkults wird in einer Illustration
zu akustischen Phänomenen aus der <Musurgia Universalis) in
hübscher Weise vorgeführt. Ein <Spionage-Ohr> in drei Formen
wird entworfen: Links unten begrüßen sich Höflinge in einem cor-
tile, der in <beschleunigter> Perspektive eine typische <Raum-
Fluchb erzeugt. In der ersten Etage des Gebäudes haben sich im
Hintergrund schattenartige Wesen zu einer Besprechung versam-
melt. Die Hofintrige wird mit den knappsten Mitteln einer moder-
nen Bühne angedeutet. Der vorbeugende Tyrann aber kann sich
nach dem Entwurf Kirchers drei Spion-Ohren in seinen Palast ein-
bauen lassen; eines führt labyrinthisch nach oben: eine Statue
fängt alle Worte der möglicherweise intrigierenden Hofleute auf.
Möglich ist eine noch viel <diskretere> Form: ein zweites Ohrlaby-
rinth nimmt in einem gefängnis artigen Raum, dessen Decke, wie

Athhanasius Kircher: Spionage-Ohr


Max Ernst:
Das geöffnete Ohr

man an einem S t r a h l e n s c h e m a e r k e n n t , wie ein Klangkörper ge-


bautist, die Worte, die ebenfalls aus d e m M u n d e einer Statue kom-
men, in sinnvoller Weise verstärkt auf. Rechts die dritte Möglich-
keit: das akustische R i e s e n l a b y r i n t h , denunzierend in den Torso
hinein, von d e m der T y r a n n selbst seine neuesten Informationen
hört. Wir werden, was diese akustische Spionage-Struktur angeht,
an das sog. <Ohr des Dionysos> in Syrakus erinnert. Aber wie hat
sich die <Mentalität> v e r ä n d e r t ! In Syrakus bediente sich Dionysos
(angeblich) einer N a t u r e r s c h e i n u n g , d. h. eines geologischen Phä-
nomens. Hier ist alles k o n s t r u i e r t , e r d a c h t , u n d zwar gleich auf drei
Ebenen. E r n e u t k ö n n e n wir u n s der Formel bedienen: Angst und
Neugier. Beide führen z u r Skepsis. Diese Illustration Kirchers ist -
wieder - ein E m b l e m für manieristi sehe Skepsis, für das stets helle,
intellektuelle M i ß t r a u e n der ganz u n d gar Un-Naiven von Mon-
taigne bis Graciän. <Nicht leicht g l a u b e n u n d nicht leicht liebem,
empfiehlt Graciän, i m g l e i c h e n J a h r e geboren wie Kircher, im
<Handorakel>. U n d etwas weiter schreibt er, u n d wir haben Grund,
angesichts dieser Illustration Kirchers zu erschauern: <Das Ge-
heimnisvollste h a t e i n e n gewissen göttlichen Anstrich. Wer im
Sprechen leichtfertig ist, wird bald überwunden oder überführt wer-
den^
Kircher ist in Geisa ( T h ü r i n g e n ) geboren, Graciän in Belmonte
(Provinz Saragossa), T e s a u r o in Turin (Piemont). M a n könnte
keine <Stammeskunde> des M a n i e r i s m u s schreiben. Er war viel-
mehr von der ersten S t u n d e a n europäisch u n d blieb es, bis die
europäischen N a t i o n a l s t a a t e n u n d d a m i t allmählich auch die Vor-
stellung der <Nationalliteraturen> entstanden: ein geistesge-
schichtliches Verhängnis. K o n t i n u i t ä t e n w u r d e n damit zerschla-
gen. Vorstellungen, die einst g e m e i n e u r o p ä i s c h waren, führen im
heutigen M a n i e r i s m u s ein fragmentarisches Dasein, man könnte
sagen: im luftleeren R a u m , w e n n m a n sich das romantisch-sur-
reale <Geöffnete Ohr> von M a x E r n s t ansieht. M a n operiert mit
literarischen <Ur>-Erinnerungen. Fehlt leider das geistige Band
Nur das? Auch der soziale <Boden>, der gesellschaftliche, und wenn
es ein noch so <fauler>, so <verdorbener> ist wie derjenige, der sich in l
5i
der verschmitzten Moralistik Graciäns u n d in den kosmologischen
<Concetti> Tesauros u n d Kirchers in so schaurig-graziöser Weise
offenbart.
Doch: wir sind noch nicht tief g e n u g in die abstrus-intellektuelle
Welt der <technischen> <Concetti> Kirchers e i n g e d r u n g e n . M a n be-
greift, was er selbst will, w e n n m a n die zahllosen kommentierten
<Experimente> nachliest, die er in seiner <Physiologia> (1624) den
damaligen Höfen u n d Salons empfiehlt. Was will er vorführen?
<Künstlichkeiten> aller Art, alle e r d e n k l i c h e n <Wunderbarkeiten>,
<Spectacula paradoxa rerum>, eine W e l t b ü h n e der Paradoxien.
<Maschinen> sind <paradoxale> Bilder, eine discordia Concors von
N a t u r u n d Idea, alogische M e t a p h e r n . E s ist ganz konsequent, daß
er demzufolge eine Metaphern-Maschine erfindet. Dafür gibt es in
der <Physiologia> drei Entwürfe: eine Spiegelmaschine, eine Ma-
schine <zur E r z e u g u n g von phantastischen Bildern in einem dunk-
len Baum> u n d eine regelrechte <Metaphern>-erzeugende <Stu-
pore>-Maschine, die gleichzeitig eine M e t a m o r p h o s e - M a s c h i n e
ist. Die E r k l ä r u n g ist ebenso verblüffend wie einfach. Irgendein
Gast betritt diese Bilder-Fabrik. Versteckt in e i n e m kastenartigen
M ö b e l (zum Z u s c h a u e r hin geöffnet, u m die A p p a r a t u r didaktisch
sichtbar w e r d e n zu lassen) befindet sich eine Walze mit verschiede-
n e n Bildern u n t e r e i n e m Spiegel. Betrachtet sich dieser Zuschauer
n u n in d e m über d e m M ö b e l h ä n g e n d e n Spiegel, so erscheint er (in
d e m Spiegel) als alles mögliche: als S o n n e , Tier, Skelett, Pflanze,
Gestein. Alles ist mit allem vergleichbar. D e r M e t a p h o r i s m u s er-
scheint in der B i l d e r - M a s c h i n e Kirchers technisiert, im Werke Ar-
cimboldis, der zwei J a h r e vor Kirchers G e b u r t starb, industrialisiert.
<Aus dem Nichts>, ko2iimentiert Kircher seine M e t a p h e r n - M a -
schine, <soll das v o l l k o m m e n e Bild entstehen.> Also Zauberei! Die
erste B e g e g n u n g mit der Technik führt im M a n i e r i s m u s zu einer
pseudoempirischen <Naturwissenschaft> der Z a u b e r e i . Die Magie
wird technisiert. D e r M e n s c h soll d u r c h die Technik (abgesehen
von ihrer praktischen Bedeutung) nicht n u r u n t e r h a l t e n , sondern
auch erschüttert, aus d e m Bereich seiner Selbstzufriedenheit her-
ausgerissen werden. E x p e r i m e n t e dieser Art n e n n t Kircher <Expe-
rimenta metamoseon>. Die <Translatio> (Übertragung) der Meta-
pher m a c h t alles möglich, vor allem dies: <Faciem hominis mille
modis deformare>, das Antlitz des M e n s c h e n auf tausendfache
Weise entstellen. O d e r auch: <Duobus speculis planis faciem homi-
nis variam ostendere>, das Gesicht des M e n s c h e n m i t zwei flachen
Spiegeln als ein wechselndes zeigen. Alles das n e n n t Kircher <Ars
m a g n a lucis et umbrae>, die <Große Kunst der Lichter u n d Schat-
^ ten>. D a z u erklärt er, diese <große> Kunst k ö n n e <deformieren>,
\ transformieren> u n d <reformieren>. E s h a n d l e sich dabei u m eine
lobenswerte Magie: sie mische das Nützliche m i t d e m Angeneh-
m e n , sie schließe spielend das wahre <Gesicht> des M e n s c h e n auf.
D u r c h deformierende Bilder! Kircher h a t t e b a l d die A u t o m a t e n der
Antike vergessen. Nicht künstliche M e n s c h e n will er schaffen. Er
will <technisch> künstliche Bilder erzeugen. I m 20. J a h r h u n d e r t
werden diese Bilder-Maschinen in d e n T r a u m - F a b r i k e n des Films
- wie so vieles a n d e r e - <säkularisiert>, in n e u e r Weise transfor-
miert) u n d <deformiert>, zu W e r k z e u g e n , die d e r Herstellung von
pseudoromantischen Unterhaltungstiteln für die g r o ß - u n d klein-
städtischen M a s s e n dienen. E i n n e u e r Beitrag für unsere Unter-
scheidungen. E i n e gleiche U r g e b ä r d e der M e n s c h h e i t h a t den
gleichen Impuls, eine sehr ähnliche R h y t h m i k , u n d doch k a n n sie,
mitten in i h r e m D u k t u s - auf sehr andersartige Weise erstarren,
152 tödlich e r l a h m e n .
Athanasius Kircher:
Metaphern-Maschine

Maschine zur Erzeugung von


Bildern, aus Athanasius Kirchers
<Physiologia>
17. K O N S T R U K T I V I S M U S
E I N S T UND J E T Z T
Die Kunst des Auswechslerischen
Im 17. Jahrhundert wird di^<Anamorphose>)Mode. Es handelt sich
um eine methodische Fortsetzung des Selbstporträts von Parmi-
gianino im Konvexspiegel zu Beginn des <Concettismus>. Das
genialische, verspielte, meist hintergründige Spiel mit der Per-
spektive beginnt, die Verneinung der normalen Gestalt, ihre Ver-
zerrung in optischen Absurditäten, die freilich insofern <abstrakt>
bleiben, als sie nicht, wie bei den expressiven Manieristen, von der
Phantasie, sondern nun ausschließlich vom physikalischen Kalkül
bestimmt sind. Man erlebt in solchen Experimenten die Poesie des
-geometrisch Abstrakten. Auch hier handelt es sich um Meraviglia-
Produkte, um Erzeugnisse, die, wie bei den heutigen Surrealisten,
Schockwirkungen hervorrufen sollen. Gesichter erscheinen pro-
portional durch perspektivische Verlängerungen so verzerrt, daß
sie <Ready-made>-Gebilden von heute ähnlich werden, und Land-
schaften werden derartig zerdreht, daß sie in manchen Fällen von
<halben> Abstraktionen in der heutigen Kunst nur wenig zu unter-
scheiden sind. Max Ernst und Fabrizio Clerici haben solche <Per-
spektivbücher> studiert. Sie sind inzwischen Mode geworden. Im
Jahre 1955 verschickte ein amerikanischer Schriftsteller Weih-
nachtskarten, auf denen man die <Muschel-und-Stern>-Komposi-
tion aus den <Perspectiva literaria> von Hans Leucker (Zeichnung
von Mathias Zundt, Nürnberg 1567) sehen konnte. Die Perspek-
tive gehörte damals, vor allem ihre wohlüberlegte <Verzerrung>, zur
Technik der Faszination, wie die Hyperbel beliebtester Kunstgriff
der Lyriker war. Man gewinnt aus diesen Darstellungen auch wert-
volle Einsichten für die Kenntnis der Architektur des Manierismus.
Das läßt sich hier nur andeuten. Wichtig ist, daß die <prospettiva
accelerata> oder die <prospettiva rallentata> mit ihren vielfältigen
Möglichkeiten einer irrealen Raumgestaltung entgegenkam. Man
begegnet solchen <Geheimbildern> in ganz Europa aus nun schon
bekannten <vexierenden> architektonischen Gebilden, darunter
genialen, wie im Treppenhaus Vignolas des Palazzo Farnese zu
Caprarola, in Borrominis fiktiver Säulenhalle des Palazzo Spada zu
Rom und vor allem im <Heiligen Wald> von Bomarzo. Bringt man
ihn mit dem zweifachen <operativen> Deformationsverfahren der
Anamorphose in Verbindung, so kann man seine Rätsel jetzt lösen.
Der Bosco Sacro ist ein in die Natur geschriebenes Perspektivbuch,
das mit der terribilitä, mit dem Dioskurenpaar <Schönheit und
Grauem Michelangelos, illustriert wurde. Man erinnert sich, dali
der Theoretiker des literarischen Manierismus, Tesauro, die Säu-
lenhalle des Palazzo Spada als Vorbild für ästhetische Wirkungen
mit paralogischen Mitteln empfohlen hatte. Gepriesen wird vor al-
lem die <prospettiva segreta> und die <Magia Anamorphotica> (Kir-
cher). Aus antinaturalistischen Perspektivstudien entstanden ja
auch die <Automaten>, die <bizarren> Roboter Dürers, Ehard
Schöns, vor allem Bracellis, jene manichini, die zu Anfang des
20. Jahrhunderts so beliebt waren. Die antinaturalistische, anti-
klassische Tradition Europas bildet — in ihrem Glanz und Elend -
über die Jahrhunderte hinweg eine antiklassizistische Körper-
schaft. Sie ist deswegen nicht weniger konsistent und auch nicht
154 viel weniger <akademisch> als die oppositionelle klassizistische hu-
manistische Körperschaft. D u r c h diese polemische Relation erhält
der europäische Geist e i n e n seiner stärksten vitalen Antriebe.
Die A n a m o r p h o s e ist e i n m a l eine paradoxal deformierende
<konstruktivistische> Reaktion auf die Form-Auflösung, auf die
<faulenden> F o r m e n , wie sie uns vor allem in der Engelsburg be-
kannt geworden sind. Etwas a n d e r e s tritt noch hinzu. Was heißt
<Anamorphose>? I m B r o c k h a u s liest m a n : <Eine gesetzmäßig ver-
zerrt gezeichnete Darstellung einer Vorlage, die entweder mit Hilfe
geschliffener Gläser, kegelförmiger oder zylindrischer Spiegel
oder auch n u r durch Sichtwinkelveränderung unverzerrt erscheint^
Wenn wir die in Kursiv g e d r u c k t e n Teile des Satzes nehmen, ha-
ben wir schon eine b r a u c h b a r e Definition. Doch sie reicht nicht
aus. Griechisch <ana> ergibt in der Z u s a m m e n s e t z u n g mit einem
Verbum auch die B e d e u t u n g <um> (wie z.B. <umstürzen>). Der Be-
griff A n a m o r p h o s e g e h t also auf ein Verbum <anamorphoo> zu-
rück, aus d e m das Verbalsubstantiv <anamorphosis> entsteht, mit
der Bedeutung <Umformung> oder auch <Umkrempeln> einer
Form. Aus d e m ersten u m f a s s e n d e n u n d gescheiten Werk des
Kunsthistorikers Jurgis Baltrusaitis zitieren wir: <,Anamorphose',
das Wort taucht i m 17. J a h r h u n d e r t auf, doch in Beziehung auf
bereits vorher b e k a n n t e Z u s a m m e n h ä n g e . Anamorphose stürzt
Elemente und Gestalten um. Anstatt einer Reduktion von Formen
auf ihre sichtbaren G r e n z e n h a n d e l t es sich u m eine Projektion der
Formen außerhalb ihrer selbst, in der Art, daß sie auferstehen, wenn
man sie von einem bestimmten Punkt aus sieht. Es handelt sich um
eine technische Kuriosität, aber z u m Teil auch u m eine Poetik der
Absta ' u m e i n e n m ä c h t i g e n Mechanismus der optischen Il-
lusion, u m eine P h i l o s o p h i e der t ä u s c h e n d e n (im Sinne Descartes')
Wirklichkeit. > D u r c h die kursiv gedruckten Stellen erhalten wir
neue wertvolle E l e m e n t e , aber es fehlt die Antwort auf die Frage,
wieso dieses m e r k w ü r d i g e Wort gerade im 17. Jahrhundert auf-
taucht und was es — im Z u s a m m e n h a n g mit anderen Manifestatio-
nen der Zeit — b e d e u t e n k ö n n t e . W i r wollen uns mit Hilfe dieser
ersten definitorisehen E r g e b n i s s e damit begnügen, das Wort selbst
zu interpretieren, u n d a u c h d a n n müssen wir uns auf das für unser
Thema Wesentliche b e s c h r ä n k e n . Geht m a n von der griechischen
Bedeutung des Präfixes u n d des Substantivs aus, so bedeutet ein
ana-morphotisches Bild: 1. A u s d r u c k des anderen <Wesens>. 2. Es
kann <zugleich> eine E r - s c h e i n u n g s f o r m des Scheins sein, je nach-
dem nämlich, wie m a n es <zugleich>, je nach der <Sichtwinkelver-
änderung> betrachtet. Alles E r s c h e i n e n d e kann also, je nach dem
jeweiligen S t a n d p u n k t , in seinem So-Sein (unmittelbar) und in
seinem D a - S e i n (mittelbar, i n d e m m a n nämlich diese Zeichnun-
gen oder Bilder v o n e i n e m a n d e r e n <Sichtwinkel> ansieht) gesehen
werden. Jedes <Phänomen> k a n n demzufolge auf doppelte Weise
w a h r g e n o m m e n w e r d e n , ja es muß in dieser doppelten <Perspek-
tive> betrachtet w e r d e n , in d e r <natürlichen> u n d <gegen-natürli-
chen>. VgL die Brillen und Spiegel wj
Comeiiiiis und Graciän.
Es wäre n u n <normal>, a n z u n e h m e n , m a n müsse sich die Dinge
zunächst in i h r e r «natürlichem Erscheinungsweise ansehen, sie
aber dann u m d r e h e n u n d d a d u r c h ihre <wahre Bedeutung> erken-
nen. Das alles w ä r e philosophisch nicht allzu aufregend, wenn die
zahllosen A n a m o r p h o t i k e r n a c h E h a r d Schön nicht - umgekehrt
vorgehen würden. D i e A n a m o r p h o t i k e r nämlich, d.h. diejenigen
Hypermanieristen, die der Auflösung der Welt in der <Idea> durch
eine neue «konstruktivistische) A n s t r e n g u n g entgegentreten wol-
len, zeigen die E r s c h e i n u n g e n zuerst in ihrem nicht «naturalisti-
schere So-Sein u n d v e r a n l a s s e n den verblüfften Zuschauer sodann l 55
erst, das optisch wahrgenommene <hieroglyphische> Bild, dieses
trügende, Raum und Zeit vernichtende, ana-morphotische Bild
umzudrehen, damit man dann erst aus dieser Idea-Konstruktion
wieder die Natur, Gesichter bestimmter Menschen, Dinge, Land-
schaften usw., mit einem Wort: das Da-Sein der Welt wiederer-
kenne. Der hamletische Charakter der Anamorphose wird damit
deutlich, die Umkehrung aller Dinge. Aber was will man errei-
chen? Im <Hamlet>, dritter Aufzug, zweite Szene, fragt der König
den immer <seltsamer erscheinendem Prinzen: <Wie nennt man
das Stück?> Hamlet antwortet: <Die Mausefalle. Und wie das? Me-
taphorisch.) Der König fragt ferner den Neffen: <Wie lebt unser
Neffe Hamlet?> Der Prinz antwortet: <Vortrefflich, mein Treu: von
dem Chamäleonsgericht.> Keats nennt den Dichter <chamäleon-
tisch>. Also wieder: alles läßt sich in alles verwandeln. In einer Stu-
die über <Hamlet> weist Alfred Mohrhenn auf das <Sphinxhafte>
und <Mona-Lisa-Gesichtige> Hamlets hin. Im <Hamlet> werde das
Gegen-Sinnige geradezu inthronisiert. Die <Halterungen> werden
<austauschbar>. Überall begegnet man einem <auswechslerischen
Unwesen>, einem ununterbrochenen Sein- und Scheintausch.

<Anamorphose> als M o d e
Es wird Zeit, sich die <metaphorische Mausefalle> einer optischen
Doppelbülme in der Kunst einmal <mit Augen> anzusehen. Eines
der frühesten ist das sog. <Vexierbild> von Ehard Schön (etwa
1535). Man steht zunächst vor einer Wirr- und Wildnis. Die Trick-
Vorschrift heißt: Man sehe sich das Bild vom linken Bildrand her
genau an, indem man es umkippt und in Augenhöhe hält. Mit Ge-
duld, guten Augen und mit jenem Leonardo-Blick für die in <Flek-
ken>, <Wolken> usw. verborgenen Gestalten müßte ein Zeitgenosse
Schöns vier der berühmtesten Staatsoberhäupter und Kirchenfür-
Ehard Schön: Vexierbild mit sten dieser ersten manieristischen Epoche erkannt haben, denn
tr- J Mr *•*

Leonardo da Vinci:
Anamorphotische Zeichnung
(links) und
Projektions-Zeichnuiip (rechti)
dinandl., 3. Paul III., 4. Franz I. Wir sehen, mit einiger Mühe,
durchaus vier Gesichter, erkennen aber kaum noch Porträts dieser
als Herrscher wie als Menschen sicherlich problematischem Figu-
ren. Wir erkennen aber eins: die Klassik will die <Idea> in der Natur
erscheinen, der <konstruktivistische> Manierismus will die Natur in
der <Idea> durchscheinen lassen.
Auch das geht auf den <Ur>-Erfinder am Anfang der Neuzeit zu-
rück, auf Leonardo da Vinci. Dazu eine genial <abstrakte> Zeich-
nung aus dem Kodex Atlanticus. Man sieht — aus der <Normal>-
Perspektive — acht Linien. <Anamorphotisch> aber (vom linken
Bildrand in Augenhöhe) das Gesicht eines ziemlich mürrischen
Säuglings. Auf manchen Studienblättern Leonardos begegnet
man perspektivistischen Studien von ingeniösem, konstruktivisti-
schem) Zauber. Es sind dies sicherlich keine Kunstwerke. Sie sind
aber (wie wir sehen werden) für den zeitgenössischen Manierismus
zu Mustern für Gebilde geworden, konstruktivistisch traumhafter)
Art, welche als <Kunstwerke> betrachtet werden wollen.
Doch vorher noch einiges (mit Beispielen) aus der Geschichte
der Anamorphose, die uns jetzt als ein Abkömmling der manieristi-
schen <Idea>-Lehre, des Concettismus (im Sinne Zuccaris) vertrau-
ter geworden ist. Über die Nachfolger Schöns unterrichtet Baltru-
saitis. Wir entnehmen für uns daraus zwei wichtige Belege: in einer
<Pratica di Perspettiva> nennt Daniele Barbaro (155g) die Technik
der Anamorphose eine <prospettiva segreta> womit wir wieder auf
die Sucht nach Verschleierung, Geheimnis, Schwerverständlich-
keit, Unergründlichkeit stoßen. In seinem Traktat über die Malerei
spricht Lomazzo von der <maniera di fare la prospettiva universale).
Von 1600 bis 1660 vollends, am Höhepunkt des damaligen Ma-
nierismus, wird die Anamni^hose ebenso g^oße_Mj)de_wie_der____
Konzep^alismjjs in der Dichtung^wie_dexvielschichtige Madriga-
lismus mit seiner herausfordernden Chromatik und mit seinen
Dissonanzen in der Musik, wie der nun systematische Zweifel an
der Wirklichkeit der Erscheinungswelt (Cartesianismus). Nur
einige bezeichende Titel: 1614 schreibt Salomon de Caus eine
Perspektive avec la raison des ombres et des miroirs> und 1638
rrancois Niceron eine <Perspective curieuse>, die er <Künstliche
Magie wunderbarer Wirkungen) nennt. 1642 erscheint in Bologna
eine <Apiaria> von Mario Bettini. Bologna! Wir erinnern uns, daß
Dürer in einem Brief aus Venedig an Pirkheimer schon 1506 ge-
schrieben hatte, er werde nach Bologna reisen, um dort die <Kunst
ln
gehaimner Perspektive) zu lernen. 164g erscheint Du Breuils
^abinet des anamorphoses coniques>. Darin werden große ana-
m
orphotische Fresk en im Kloster des Bettlerordens der Minimen
*57
Athanasius Kircher:
China. 1667

Abraham Bosse:
Die Zuschauer

158
auf dem römischen Pincio geschildert, die heute nicht mehr exi-
stieren. Nun weiß man, daß das Kloster der Minimen in Paris zwi-
schen 1620 und 1640 ein Zentrum anamorphotischer Experi-
mente war und daß Descartes sich dort mehrere Male aufhielt
(1622 -1623, 1625, 1628 -1629). Wir befinden uns im glanzvoll-
sten Jahrzehnt des europäischen Manierismus! Die Minimen-Pa-
tres Mersenne, Niceron, Maignan entwerfen ganze Serien von
anamorphotischen Bildern wie die Jesuiten Graciän und Tesauro
Concetti. Für Baltrusaitis steht es fest, daß für Descartes die <Ana-
morphose> zu einem Beweismittel für das <Trügerische> {Inganno!)
der Erscheinungswelt und der Sinneswahrnehmung geworden sei.
Bilder dieser Art werden zu Automaten des Zweifels, der Mensch
mit seinen <trügenden> Sinnen zu einer bloßen <Maschine>.10 An- ifi.jft erschien <)»* erweiterte Pas-
dere bekannte, besonders scharfsinnige Anamorphotiker: Desar- sung des berühmten Traktate übet
den Coneedttnuu von Gracün. An
gues (von A. Bosse 1648 [!] herausgegeben), Gregoire Huret, Cas- Graciins MoraUehre (Handorakel)
par Schott und natürlich auch Athanasius Kircher. Dieser entwirft lobte Nietzsche die •listige Wi-stel-
li(ng>.
vollends Apparate zur Erzeugung von Anamorphose, die er <Magia
Anamorphotica> nennt. Alles im Leben wird schließlich zum
<Schein> der Erscheinung, zu einer unendlichen Bilderserie von
auswechselbaren Phantomen.
Dazu einige Beispiele: Auf einer Zeichnung mit dem bezeich-
nenden Titel <Maniere Universelle> von Bosse und Desargues
(1648) sehen wir drei äußerst beschäftigte Eheleute. Sie halten in
Augenhöhe ihre eigenen <visuellen> Strahlen wie Fäden, die sich
jenseits ihrer konstruktivistischen Funktion arabeskenhaft-lustig
im Räume verschnörkeln, um von jeweils verschiedenen Stand-
punkten aus die <relativen> Erscheinungsformen von Quadraten zu
studieren. Der bereits genannte Mario Bettini, (auch) ein Jesuit aus
Bologna, Dichter, Dramenschreiber und Mathematiker, führt uns
ein schon viel komplizierteres Anamorphose-Concetto im Rebus-

VBettini: (Jurten milden


Werkzeugen der Passion
Stil vor. Es handelt sich um einen Garten mit den Symbolen der
Passion Christi. Von rechts nach links, in Augenhöhe gesehen, er-
kennt man das Kreuz mit zwei Lanzen; die Blumen verwandeln
sich (Metaphorismus wird Metamorphismus) in Nägel, die Sechs-
eck-Figur in ein Grab, die Geißelungs-Säule scheint sich aufzu-
richten. Die großen Symbole des Christentums werden also auf
eine andere Ebene projiziert, mittels <Konstruktionen> aus Pappe
(rechte Bildhälfte). Etwas <Manieristischeres> als diesen theolo-
gisch-anamorphotischen Trickfilm kann man sich schwer vorstel-
len. Man begreift, daß die religiöse Entwicklung Europas durch
solche intellektuellen Spiele nicht beeinflußt werden konnte, wohl
aber etwas anderes, nämlich die Theaterbühne. Die großen Mei-
ster der früh- und spätmanieristischen Theaterdekoration wie Ser-
lio (1545) und Sabbatini (1637) bis zum hochbarocken Bühnenbau
von Troili (1672) haben in diesen Zeichnungen sicherlich mehr
Anregungen gefunden als die Gläubigen, die sich während der Re-
ligionskriege Gebete wünschten, über deren Wortlaut oder Gültig-
keit man sich nun endlich nicht mehr totschlagen sollte.
Nicht nur Theaterarchitekten, Bühnenbildner, Choreographen,
nicht nur die hochbegabten <Versteller> und Effekt-Meister unter
den Regisseuren für Massenumzüge, Triumphempfange usw. ha-
ben daraus gelernt, also alle Trick-Virtuosen, sondern auch die
Park-Erbauer. Gerade diese kleine Zeichnung von Mario Bettini
lenkt uns wieder auf den am Anfang dieses Abschnitts noch einmal
näher definierten <Heiligen Wald> von Bomarzo zurück. Er ist we-
nteer ein <heiliger> als ein <anamorphotischer> Wald, und eine nä-
here Nachforschung in den zahllosen <labyrinthischen> Parks und
Gärten Europas im 16. und 1 7. Jahrhundert müßte dafür noch
zahlreiche Beweise erbringen. Bomarzo ist deswegen für das Ver-
ständnis des geradezu hemmungslosen concettistischen Abenteu-
ers in Europa so faszinierend: dort wird ja nicht dem Papier oder
der Leinwand, sondern unmittelbar der Natur selbst eine anamor-
photische Zwangsjacke angelegt oder aus ihr - durch zerebrale
Konstruktion-, wie die Zeichnung zu Echo-Studien aus A. Kir-
chers <Musurgia universalis) reizvoll zeigt, werden buchstäblich
<neue Töne> hervorgelockt.

Grenzen des Verstandes


Wir erwähnten schon anläßlich einer Studie von Leonardo den
<Zauber>, den schon die damaligen Manieristen-Generationen an-
gesichts solcher <änigmatischer> Konstruktionen empfanden. Ein
anamorphotisches Studienblatt von Gregoire Huret (1670) macht
uns die immer <abstraktere> konstruktivistische Um- und Überset-
zung deutlich. Man kann die systematische Auflösung einer <Sub-
stanz> (die <ideal> schöne Frauenfigur im unteren Bildteil) beob-
achten, als handle es sich um einen chemischen Prozeß. Es ist, als
wolle der Zeichner ein <konstruktives> Gerippe der Dinge auslau-
gen, eine meta-anamorphotische Welt — faustisch - aus den Retor-
ten seines Gehirns und aus der Traumbedrängnis seines Herzens
herausdestillieren. Das ist den damaligen Manieristen nicht gelun-
gen, hingegen mit visionärer neuer <Alchimie> durchaus einem
zeitgenössischen Meister wie Paul Klee in einem seiner schönsten
Werke, in seinem Bild, betitelt <Grenzen des Verstandes). Schon
mit diesem Titel geht er über den <Cartesianismus> der damaligen
Anamorphose hinaus: nicht nur die Sinne, auch der Verstand trü-
gen. Einer unserer wiederholt genannten zeitgenössischen Kron-
zeugen für das historische Faktum einer <Tradition> der Moderne,
Fabrizio Clerici, veröffentlichte 1954 einen Essay über die wichtig-
sten <Trompe l'ceih-Techniken des europäischen Manierismus un-
ter dem Titel: <Die große Illusiom. Antinaturalistische Kunst wird,
wie Kahn weder in seinem Kubismus-Buch schreibt, <Aufzeigung
des Dreidimensionalen auf der Fläche>. In den Programmen dieser
Kunstbewegung, die für die moderne Architektur so entscheidend
gewesen ist, finden wir Ausdrücke wie <Rayonismus> (Michael La-
nonoff, 1881—1964), mit der Tendenz <mit reinen farbigen Strah-
lenbündeln abstrakte Gebilde> zu <bauen>. Larionoff hat das Sze-
narium für die Choreographie Diaghilews angeregt. Haftmann
spricht in seinen Deutungen dieser russischen <Schule> von <halb
geometrischer, halb illusionistischer Bildräumlichkeit>; und diese
Formel paßt für Studienblätter Leonardos im Kodex Huyghens
und vor allem für die Zeichnungen der französischen und italieni-
schen Anamorphotiker im 17. Jahrhundert.
Um 1920 <verfällt> ein Teil der Künstlergeneration Europas der
Ästhetik der Geometrie. Die <De Styb-Bewegung in Holland, in
einem Lande, das zeitweise im 17. Jahrhundert zu einem Eldorado 161
für Manieristen ganz Europas geworden war, wird mit Mondrian
noch entschiedener - in diesem Sinne - antinaturalistisch <revolu-
tionär>. Architektur wird: <Gegen-Natur> (Haftmann). Holland ist
- auch in der Literatur - eine Schatzkammer für einen puritani-
schem Manierismus nordischer Art, der die philosophische Formel
der romanischen Arabeske vorzieht. Eine solche Formel von Theo
vanDoesburg (1883—1931) macht es aber immer wieder offenbar,
bei allen Unterscheidungen, daß wir einer denkwürdigen coinci-
dentia oppositorum begegnen, wenn wir den europäischen Manie-
rismus dieser beiden Epochen näher prüfen: <Durch Zerstörung
der Proportionen der Natur bringt der Künstler die elementaren
bildnerischen Proportionen hervor.> Auch das ist ein anamorphoti-
sches Prinzip par excellence. Doesburg bezeichnet diesen <Stil> als
den <Stil des vollkommenen Menschern — <bei dem die großen Ge-
gensätze im Ausgleich sind. Alles, was wir mit Magie, Geist, Liebe
usw. bezeichnet haben, wird durch ihn wirklich erfüllt.) Mondrian
charakterisiert diesen Vorgang: es wird <das Ding aus der bildneri-
schen Darstellung entfernt>.
Die <Magia Anamorphotica> des 16. und 1/.Jahrhunderts wirkt
jedoch auch in einer mehr <romantischen>, in einer gelegentlich
zarten und in einer manchmal aufdringlich <gekünstelten>, also
nicht positiv künstlichen <Weise> nach. Die Manieristen bewegen
sich immer auf des Messers Schneide. Während 90 Prozent der
Klassizisten noch der nächsten Generation als Künstler gelten mö-
gen, überleben höchstens zehn Prozent der manieristischen Künst-
ler in ihrem Ruhm sich selbst. Der Ruhm der Manieristen stirbt
rascher als derjenige der Klassizisten. Das gehört zu ihrem saturni-
schen Schicksal. Man wird daher die Erzeugnisse aus zeitgenös-
Max Ernst, aus: Le> Malheur* de«
Immorteis

Max Ernst, aus: Les Mallicui


Immorlels
sisch manieristischen Werkstätten zur Zeit der Joyce, Eliot, Eluard
und Beim kaum anders werten können als die <raumzerstörenden>
entsprechenden Experimente der Minimen-Patres zur Zeit Gön-
goras, Marinos und Donnes. Was sie gemeinsam haben, ist jenseits
aller ästhetischen Kategorien der Zauber des Antinomischen, das
immer wieder in die Zwangsjacke des gewaltsam <Bindenden>, der
discordia Concors gesteckt wird. Dafür ist die bittere Romantik in
der Zeichnung von Max Ernst aus den <Malheurs des Immorteis>
ein ebenso beängstigendes Beispiel wie eine noch aufschluß-
reichere Darstellung aus dem gleichen Werk, denn wir finden
darin noch zwei weitere manieristische Motive: das Anatomie-Bild
und die spiegelnde Kugel. Zur Kombination <Seltsame Mythen>
und <Anamorphose> erscheint als Kulturdokument besonders reiz-
voll die <Figur> aus den <Paramyths> von Max Ernst mit dem Non-
\Y. Bergmann: Werbeplakat sense-Titel aus Edgar Lears freundlich situierten Abstrusitäten:
<Once upon a time there was a mouse in Milo>. Romantisch im
Sinne deutscher romantischer Malerei ist hingegen eine <Traum-
landschafb von Max Ernst, dieses geradezu hellsichtigen Künstlers
im zeitgenössischen Manierismus, in dessen Werk fast alle Ströme
der manieristischen Tradition zu münden scheinen. Rechts ist Bet-
tinis anamorphotisch projizierende Pappwand zu finden, links die
Maschinen-Phantastik Remellis, alles in einer <magischen> Land-
schaft, gut geborgen, überhöht von einem <metaphorischen> Mond
(er gleicht dem Vogel, der unten <hypnotisierend> ruht, dem Urbild
"Vgl. das Gedicht: «Mein Vogel> des Geistes, dem Uhu). 11 Doch wird dieses historisch nun so leicht
von Ingeborg Bachmann in: < Anru- aufzulösende zeitgenössische <Emblem> noch ergänzt durch die
fung des Großen Biiren>. München
1956. <abstrusen> algebraischen Zeichen, z.B. durch den <unüberwindli-
chen Begriff), die Wurzel aus einer negativen Zahl: i = V—1, je-
doch im Sinne rheinischer Heine-Geistigkeit, durch ein darin ein-
gefügtes und vergnügt strahlendes Herz, das Herz des rheinischen

Salvador Dali: Zeichnung


Pablo Picasso: Das Studio

1
1

12
Karnevals.12 Mehr an Kirchers <anamorphotische> Maschinen Eugenio d'On (o.< i -n-lii im
Folklore- und im Kamevab-Riiui
erinnern hingegen Dalis <retrospektive> Konstruktion und <Har- zwei Abarten de« <Barock>.
monische Komposition).
Eine Kulmination in der Motiv-Reihe <Einzelnes Auge> plus
<anamorphotische> Konstruktion plus <Zerstörung> (vgl. zerbro-
chene Glasscheibe) ist Duchamps <Konstruktion> als <Ready-
made> mit dem nun schon vierdimensionalen Titel (zu diesem Mo-
tiv <Einzelnes Auge>): <Mit einem Auge zu betrachten, auch dies
geschlossen, etwa eine Stunde lang.> Auge = Raum-Erfassung, und
<eine Stunde lang> = Zeit werden hier angesichts eines völlig mutz-
losem, gegenstandlosen anamorphotischen Gebildes unerheblich.
Die <Kunst> ist so weit geraten, daß sie empfiehlt, man möge sie von
gar keinem Standpunkt mehr und <ohne Augen> betrachten. Damit
ist ein Gefrierpunkt des Manierismus erreicht. Das ist keine Kunst!
Aber es ist ein bemerkenswertes Kunst-Stück. Es hat nur doku-
mentarischen Wert, doch kann bei bedeutenden modernen Maler-
Poeten, wie wir meinen, dieses traditionelle Motiv auch zu einem
ästhetisch angenehmen Raum-Zeit-Puzzle-Spiel führen, so etwa
in Picassos <Studio>. Diese <Rationalisierung> des Blicks wird man
in Europa schwerlich vergessen können. Sie geistert höchst irratio-
nal in unserem Alltag herum. Wir begegnen ihr, wenn wir Zeitun-
Salvador Dali: Zeichnung
gen und Zeitschriften von heute aufschlagen, wenn uns Reklamen
für Zahnpasta und Hühneraugen, für Schreibmaschinen und '
Kunstausstellungen begegnen. Unser <modernes> Folkore: die
<Pubhcity> wird so manieristisch, daß wir uns kaum noch dazu ent-
schließen können, die durch sie angepriesenen Produkte zu kau-
ten. Unsere Sehnsucht nach einfachem, <gegenständlichem> Brot
und Wein wird zu einer Gier. Wir tun gut daran, zu erkennen, daß
beide. Sehnsucht und Gier, im Europa des Euratoms nur noch in
einem kaum erreichbaren klösterlich privaten Bereich zu erfüllen,
zu stillen sind. Glücklich sind wir nur noch in entlegenen Randbe-
zirken unseres Daseins. Aus den verspielten <Maschinen> und
<Anamorphosen> von einst stammen auch mittelbar die kyberneti-
schen Automaten der amerikanisch-europäisch-russischen Zivili-
sation von heute. Auch sie erhalten seltsame <Stupore>-Titel. So
heißen neue Büro-Roboter in den USA: <Auge>, <Choosey>,
<Henne>, <Tabby>. Eine hochgezüchtete Denkmaschine mit Elek-
tronengehirn heißt: <Charactron>, eine riesige Rechenmaschine
iür kernphysikalische Experimente gar: <Maniac>. Marcel Duchamp; R
MWnaklion
18. K R E I S ODER E L L I P S E

Über m a n i e r i s t i s c h e <Ordnung>
Doch in der <Gefahr> wächst das <Rettende>, u n d wir wollen nicht
übersehen, daß d a m a l s wie h e u t e g e r a d e d u r c h <konstruktivisti-
sche> B e m ü h u n g e n aller Art der Geist allmählich dilettantisch
w e r d e n d e Irrationalismen zu ü b e r w i n d e n versucht. J e a n Bodin,
der unerbittliche Bekämpfer von H e x e n u n d D ä m o n e n , eine der
zwiespältigen F i g u r e n dieser Zeit, entwickelt sich allmählich zu
e i n e m Verteidiger der Toleranz. I n d e n konstruktivistischen <An-
strengungen> des A n a m o r p h i s m u s k ö n n e n wir a u c h eine rein ra-
tionalistische R e a k t i o n auf die angeblich bloße Alogizität der Welt
e r k e n n e n , erste Einflüsse der n u n b a l d nicht m e h r <magischen>,
sondern empirisch-experimentellen Naturwissenschaft. Diese ma-
nieristisch-konstruktivistische A n a m o r p h o s e bereitet ferner das so
fiktive Gleichgewicht von R a u m u n d B e w e g u n g , die so <kalte> ba-
rocke <Dynamik>, die sich in e i n e m stets w o h l b e r e c h n e t e n eingren-
zenden repräsentativen R a u m entfaltet, ebenso vor wie die Propor-
tionslehre der n e u e n Klassik n a c h 1660. <Anamorphose> <defor-
miert> ja auch, wie wir wissen, u m Gestalt u n d D i n g wieder in den
R a u m einzugliedern, w e n auch in abstruser Weise. Der Intellekt
reagiert auf den a l l g e m a c h auflösenden Kult der Inspiration. Des-
cartes wehrt sich - gegen G i o r d a n o B r u n o . M a n beginnt, dem
M a n g e l an A n s t r e n g u n g zu m i ß t r a u e n . M a n k ö n n t e sagen, daß
auch der preziöse ästhetische Begriff der rigueur im Sinne Paul
Valerys seinen U r s p r u n g in der A n a m o r p h o s e hat. M a n fängt an,
sich buchstäblich vor d e m allzu <Expressiven< oder allzu <Phanta-
stischem zu fürchten. M a n sehnt sich w i e d e r n a c h O r d n u n g , Form,
Gleichgewicht, aber eben in <manieristischer> Weise. Nicht aus ei-
ner Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t der Welt>, die n a c h J e a n P a u l <Glück>
ist, s o n d e r n aus e i n e m dialektischen Verhältnis zur Welt versucht
m a n , der <Auflösung> entgegenzuwirken. A u c h ein Teil der Manie-
risten sehnt sich d u r c h a u s ebenfalls n a c h einer überrelativen Ord-
n u n g . M a n e r t r ä u m t e sie sich jedoch n i c h t als eine <Mitte> in einem
<Kreis> etwa. W i e w ä r e das a u c h u m 1600 möglich gewesen, als
auch die d a m a l s so p o p u l ä r e A s t r o n o m i e die alte L e h r e vom Kreis-
lauf der Sonne preisgegeben hatte u n d ihre elliptische Bahn nach-

wies
Ab 1580 etwa b e g i n n e n die n e u e n W i s s e n s e l e m e n t e der entste-
h e n d e n empirischen Naturwissenschaft die so vieldeutige Vorstel-
lungswelt der magia naturalis zu v e r d r ä n g e n , w e n n auch beides,
experimentelle naturwissenschaftliche Kenntnisse u n d magisch-
naturphilosophische Vorstellungen n o c h lange, bis weit über 1660
Über diese Zusammenhänge in hinaus, ständig interferieren. 1 5 E s ist dies vor allem z u m besseren
ihrer Beziehung ziu' bildenden
Kunst hat O. Benesch im Sinne der
Verständnis für das Werk der g r ö ß t e n M a l e r des Manierismus
Kunstgeschichte als Geistesge- wichtig, für das Tintorettos (1518—1594) u n d G r e c o s (1541—1614).
schichte> Dvoräks aufschlußreiches
\ H i e r sei jedoch z u n ä c h s t wiederholt, d a ß wir h i e r keine a u c h nur
Material geboten. <The Renaissance
in Northern Europe>. Cambridge, a n n ä h e r n d vollständige <Kunstgeschichte> des M a n i e r i s m u s etwa
Harvard 1947. auch als <Geistesgeschichte> schreiben wollen, sondern uns an ei-
ner P h ä n o m e n o l o g i e manieristischer E l e m e n t e zur <Problematik
des m o ernen M e n s c h e r n versuchen, an H a n d einer Reihe von
Motiven>, die in d e n jeweiligen einzelnen Abschnitten behandelt
wer3enT D e r Stoff selbst ist, allein in kunstgeschichtlichen Bezü-
gen, so umfassend, d a ß wir gerade hier auf diese Selbsteinschrän-
k u n g hinweisen m ü s s e n . Wer historische Vollständigkeit bean-
sprucht, m u ß die einschlägige L i t e r a t u r zu Rate ziehen. Besonders
über die Ausbreitung m a n i e r i s t i s c h e r Kunstprinzipien in Nord-
europa geben die e n t s p r e c h e n d e n Darstellungen im genannten
Werk von Benesch u n d ferner die entsprechenden ausgezeichne-
ten Arbeiten von F r i e d l ä n d e r Auskunft.
Es war zunächst e i n m a l b e h a u p t e t worden, daß auch manche
Manieristen, i n s b e s o n d e r e diejenigen größeren schöpferischen Fi-
guren, die sich e i n e m fast t y r a n n i s c h e n Modezwang entziehen
konnten, sich d u r c h a u s a u c h n a c h einer überrelativen Ordnung
sehnten, daß für sie a b e r d u r c h starke <Umwelt>-Einflüsse, insbe-
sondere aus der n u n n e u e n empirischen Naturwissenschaft, die
alte klassische Vorstellung der Vollendung im Bilde einer <Mitte>
im <Kreis> schon allein d e s w e g e n nicht m e h r wichtig erschien, ganz
abgesehen von der <antiklassischen> Einstellung, weil sie neuen
kosmologischen E i n s i c h t e n nicht m e h r entsprach. M a n hat solche
Beziehungen von Kunst u n d wissenschaftlichen oder philoso-
phischen E r k e n n t n i s s e n aller Art gelegentlich als fragwürdig be-
zeichnet. Schon allein ein H i n w e i s auf Leonardo und Michel-
angelo würde diesen E i n w a n d widerlegen. Die meisten Künstler
zwischen 1550 u n d 1650 w a r e n hochgebildet. Sie führten einen
Briefwechsel mit d e n h e r v o r r a g e n d s t e n geistigen Persönlichkeiten
ihrer Zeit u n d sie lebten keineswegs in einem nur <ästhetischen>
elfenbeinernen T u r m . Sie w a r e n vielfach intellektuelle und gesell-
schaftliche G r a n d s e i g n e u r s , ja sie arbeiteten zeitweise technisch-
experimentell m i t d e n Naturwissenschaftlern, so etwa am Hofe
Rudolfs II. in P r a g . D i e s e n P r a g e r Hof werden wir später als einzi-
ges Beispiel für d e n M a n i e r i s m u s in Mitteleuropa schildern, um
unser T h e m a in der g e b o t e n e n t h e m a t i s c h e n und auch r ä u m l i -
chem Grenze zu h a l t e n . Was die Beziehung der Künstler zu geisti-
gen Erscheinungen i h r e r Zeit a n g e h t , so läßt sich das gleiche für
die m a ß g e b e n d e n G e s t a l t e n u n s e r e r zeitgenössischen <Moderne>
feststellen. Ihre Briefe u n d Schriften bieten zahllose Beispiele für
diesen D r a n g n a c h Vertrautheit m i t d e m jeweils ganz <aktuell> er-
scheinenden Zeit-Geist, für das Bestreben, das Kunstwerk auch
zum Ausdruck sozusagen der jeweiligen E t a p p e zu machen, die der
Weltgeist in seiner Selbstentfaltung erreicht hat.
Heute also wie d a m a l s . 1543 h a t t e Kopernikus sein wichtigstes
Buch veröffentlicht: <De Revolutionibus Orbium Celestium libri
VI>; und wir h a b e n schon e r w ä h n t , welche Erschütterung dadurch
erzeugt wurde: die E r d e w a r n i c h t m e h r Mittel-Punkt der Welt.
Das ist auch in a n d e r e r H i n s i c h t weitgehend bekannt. Benesch ist
aber die Einsicht zu v e r d a n k e n , d a ß auch wichtige künstlerische
Formen der m a n i e r i s t i s c h e n K u n s t d u r c h diese zwischen 1550 und
1614 ( H ö h e p u n k t e d e r Schaffensjahre Tintorettos und Grecos)
aufeinanderfolgenden n e u e n kosmologischen Erkenntnisse ange-
regt werden. 1584 gab G i o r d a n o Bruno, ein Anhänger des Koper-
nikanischen Systems u n d ein <antiklassischer> Theoretiker ä la
lettre, eine Schrift h e r a u s , die b a l d in ganz E u r o p a b e r ü h m t werden
sollte: <Dell' I m m e n s o e degli innumerevoli, ossia den' Universo e
dei M o n d ü . Drei J a h r e später m a l t Tintoretto seine <Gloria del Pa-
radiso> im D o g e n p a l a s t zu Venedig. Auf unserer Teilaufnahme be-
wegen sich in drei elliptischen K r ä n z e n zahllose Figuren in einem
Raum, der sich i m U n e n d l i c h e n verliert. Schon Giordano Bruno
hatte behauptet, alle B e w e g u n g m ü s s e auf die D a u e r die Kreisform
verlassen. In Tintorettos Bild schwingt das endlos Erscheinende in
elliptischer F o r m i m u n e n d l i c h e n R a u m aus - wie in so vielen Bil-
dern Grecos. N a c h d e m Tode Tintorettos allerdings (aber vor dem
Ableben Grecos!), erschien die <Astronomia Nova> Keplers
Tintoretto: Detail aus der
<Gloria del Paradiso>

(1571 —1650), in welcher die Lehre formuliert wurde, die Planeten-


bahnen bildeten nicht Kreise, sondern Ellipsen. Wir dürfen aber
annehmen, daß diese Gedanken Keplers schon vor 1609 bekannt
waren, so daß auch Tintoretto schon davon gewußt haben kann.
Die <Ellipse> gegen den selbstzufriedenen Kreis> wird — wie ihr
Gegenbild, die Parabel, ja mehr noch die Hyperbel - in der Kunst
zu einer nianieristischen Grundform, auch in der Literatur bzw. in
der nianieristischen Para-Rhetorik, wo die entsprechenden Be-
griffe (Ellipse und Hyperbel) mit den astronomischen Keplers in
Ellipse in der Rlielorik = Weglas- Verbindung gebracht werden können. 14 Ellipse und Parabel bzw.
sen eines Wortes, das aus dem Zu-
sammenhang ergänzt werden muß
Hyperbel also schwingen im unendlichen Raum: im Unfaßbaren,
(«Ende gut. alles gut>). Hyperbel = um Un-Sagbaren aus. Die <Alogizität> findet eine neue, eine ratio-
Übertreibung, in etwa: (Understate- nale Bestätigung in der nun und diesmal empirischen Naturwis-
ment» und «Overstatemenb. Die
meisten Concetti der manieristi- senschaft. Was die erste Manieristen-Generation aus der <Magie>
schen Literatur sind entweder ellip- geahnt hatte, findet die zweite Generation durch die <exakte> Na-
tisch oder hyperbolisch im Sinne der
antiken Rhetorik. Dort aber, wie z.B. turbeobachtung bestätigt. <Ellipse> und <Hyperbel> bedeuten neue
bei Aristoteles, galten sie als Fehler, Bestätigung für das nicht Abgrenzbare, Abschließbare der Phäno-
als antiharmonisch dem <Kreis> des
Verständlichen nicht entsprechend, mene, für einen jetzt rationalisierten Serpentinata-Stil. Auch die
wenigstens \yas die praktische Rhe- <Relativität> des Standorts findet eine neue Legitimierung. Keplers
torik angeht. In der Dichtung ließ
Aristoteles allerdings solche <Fehlen zweites Gesetz besagt, daß die Planeten in Sonnennähe rascher
gelten. Die rnanieristische Para- kreisen. Auf Bildern Grecos beobachtet man, daß Bewegungen in
Rhetorik wird bewußt auf den als
< Fehler > bezeichneten Elementen
der Nähe der Sonne rascher werden (Benesch). Die großen Werke
der klassischen Rhetorik des Aristo- Tintorettos, vor allem diejenigen in der Scuola di San Rocco in
teles aulgebaut. Dies hier nur in aller
Kürze. Näheres darüber und Bei-
Venedig (1567-1587), sind in ihrer dynamischen Erscheinungs-
spiele aus der damaligen und jetzi- form mehr Ausdruck von magnetischen als von organischen Bewe-
gen nianieristischen Epoche im Li- gungen. Über die <Ars Magnetica> hat Kircher viel phantasiert. Mit
teralurband.
Recht bezeichnet ein italienischer Gelehrter unserer Zeit (G. De-
logu) Tintoretto als einen der größten Vorläufer der modernen Ma-
lerei.

M anier un d M ante
Auf die entsprechende Bedeutung Grecos, dessen Werk hier schon
häufiger gewürdigt wurde, braucht man bei der auch hier überrei-
chen Literatur nur hinzuweisen. Zu unserem Thema ein Zitat aus
168 dem meisterhaften Abschnitt von Dvorak: <Greco und der Manie-
rismus>. <Es ist alles wie aus d e m L o t geraten, und an Stelle der
tektonischen R h y t h m i k trat eine anderem D u r c h Benesch wissen
wir nun, welcher Art sie war. Greco war von Michelangelos Alters-
werk beeinflußt, vor allem v o m J ü n g s t e n Gerichb. Dvorak spricht
von Gestalten, die <eine a m o r p h e Masse> bilden. G e n a u das gleiche
gilt für die letzten Bilder Tintorettos in der Scuola di San Rocco. Zu
Tintoretto stellt Dvorak weiter fest: ein <Kolorit>, eine <Aschermitt-
woch-Farbe>, aus der n u r einzelne T ö n e wie <feurige Blumen> her-
vorleuchten. Die Farbe wird ein Widerspiel subjektiver Seelenzu-
stände. Von M i c h e l a n g e l o ü b e r n a h m Greco <den Anti-Naturalis-
mus der Form>, von Tintoretto die <anaturalistische Farbe und
Komposition). D e r W a h n - S i n n i m Grenzenlosen des jetzt rational
formulierten u n e n d l i c h e n R a u m s u n d der im Hypersubjektivismus
jetzt endgültig säkularisierten n e u p l a t o n i s c h e n <Idea>-Lehre wird,
trotz oder gerade wegen der jetzt z u m i n d e s t schon viel nationalisti-
scherem Naturwissenschaft, verstärkt, die Abneigung gegen
<Kreis> und <Mitte> der Pienaissance-Klassiker bestätigt. Dvorak
berichtet vom A u s s p r u c h eines Küsters, der Grecos Gemälde vom
Begräbnis des Grafen Orgaz in der Kirche des hl.Thomas von To-
ledo zeigte: <Er (Greco) w a r ein Verrückter (Ya era loco). Doch die-
ser Wahnsinn ist ein a n d e r e r als derjenige der Psychopathen. (Ma-
nier) und <Manie> v e r e i n e n sich i n höchster künstlerischer Form
bei Tintoretto u n d Greco wie bei G ö n g o r a (der allerdings in geisti-
ger U m n a c h t u n g starb) u n d J o h n D o n n e , den beiden größten
Dichtern in der d a m a l i g e n manieristischen L i t e r a t u r . " Eine schi- "Leonardo. Michelangelo. ja,
zothyme Welt oder eine p a r a n o i s c h e ? Was besagt das? Die meisten Keinhnmdt weiten starke <ma N-
stischo Elemente auf. Sie »w kten
Psychiater, die nicht n u r von i h r e m Fach, sondern auch von Kunst aber wie Calderön und Shakespeare,
und Literatur etwas verstehen, sind sich heute darüber einig (wie die ebenfalls (genialste* Züge dieser
<Art< zeigen, wen ober die <Bedingl'
bereits erwähnt), d a ß m a n in vielen künstlerischen <Manifestatio- heil» dieser <Gebärde> brnaus. Für
nen> traumatische E l e m e n t e sehr verschiedener Art finden kann, diese MenschheiUgipfel - da/u muß
man auch Racine und Goethe wäh-
daß psychoanalytische u n d individualpsychologische Instrumen- len — werden (Atttdrucksxwangei
tarien aller Art u n s z u m Verständnis gewisser einzelner Elemente seilen dominierend. Das Gesamt-
(Phänomen) der Gräfte entzieh*
eines Werkes (oder der <Psyche>) eines Künstlers verhelfen kön- sich, und darin liegt ihr Merkmal al-
nen, daß sie aber n i e m a l s a u s r e i c h e n d sind für die erschöpfende len bloß <klassizistischen> oder <ma-
nierisiiscben» Interpretationen. Die
Erklärung eines wie a u c h i m m e r <verschrobenen> Kunstwerks, so- «Leuchttürme der Mena hhesl
fern ein Kunstwerk n i c h t n u r n o c h eine <Spiegelung> <paranoi- (Baudelaire) vereinen -beide l rge-
bärden>. weil sie räch, in einer letzt-
scher> Bilder aus d e m U n t e r b e w u ß t s e i n werden soll. (Über die
lich wohl nur durch den Begrifl der
<Paranoia> der Surrealisten w e r d e n wir später hören.) Aber wir Gnade zu erklärenden Weise, von
müssen kurz erklären, wie dieses <Irre-Sein> sich im Manierismus dem einseitig AttocTOwttictCQ&ca
Zwang des einen oder des anderen
entwickelt, wie aus der Manier z u n ä c h s t eine Manie des Artifiziel- Ausdruckstriebs zu befielen pernio'
len wird. gen. (Dazu Teil V Kap. ji, uiiii yi 1

Die <manieristische> Ästhetik wird zu einer manischen Mäeutik


des Anomalen m i t intellektuellen Mitteln. E s ergibt sich eine Inter-
ferenz der Begriffe. <Maniera> k o m m t von <manus> (Hand), über-
tragen: <manu> von M e n s c h e n h a n d , <von der Hand>, <durch
Kunst>. Manie ist abgeleitet v o m griechischen <Mania>. <Wut>. <Ra-
serei>, womit eine F b r m von Geisteskrankheit bezeichnet wurde.
Der Begriff <Manie> entspricht d e m , was Giordano Bruno in sei-
nem antiklassizistischen D i a l o g <Degli Eroici furorb (1585) mit
<furore> meint; der w a h r e D i c h t e r verachtet die <Regeln>, er ist -In-
spiriert) wie H o m e r , er findet alles n u r in sich, w e n n seine Seele in
Raserei gerät, er singt von <Tod, Zypressen u n d Hölle>. Es geht dies
auch wieder auf d e n <Enthusiasmus> Piatons zurück und führt zu
einer Ablehnung der Aristotelischen Ästhetik, mit Ausnahme ihrer
praktischen, rhetorischen A n w e i s u n g e n . Paolo Beni (1552-1625),
ein Kollege Galileis a n der Universität P a d u a , <modernisiert> Ari-
stoteles. Die manieristische K u n s t wird - schon vor Tesauro - theo-
retisch definiert. Galilei, der die Lyrik Marinos liebte, schreibt 169
einen kritischen Aristoteles-Kommentar. Aus dem Anti-Aristote-
lismus wird ein «progressiven Antitraditionalismus, und aus dieser
Aristoteles-Kritik ergeben sich Auftakte zum «Aufgang der Neu-
zeit^ In Kunst und Literatur bedeutet dies, daß man von Aristoteles
die rhetorischen Figuren als Mittel zu scharfsinnigen Concetti bei-
behält, sie jedoch mit der Lehre Piatons unter der Platane am Ilis-
sos über den <Wahnsinn> ergänzt. Der Interferenz von Manier und
Manie entspricht also eine Interferenz von Aristotelismus und Pla-
tonismus. Ab 1600 beginnt die Manie zu dominieren, wenn auch
die <Kälte> des aristotelischen <Machens>, des <fabbricare>, fast im-
mer spürbar bleibt. Der <Wahnbilder> bedient man sich daher auf
Grund einer intellektuellen <mäeutischen> Methode.
Greco ist in dieser Hinsicht, auch wenn er nicht Spanier war, ein
Bruder Göngoras. Aber sein Werk steht durchaus (braucht man es
überhaupt zu sagen?) im Gegensatz zur <Malerei> der Geisteskran-
ken oder Infantilen. Begriffe wie <Ekstatik>, <Hysterie>, <Willkür>,
El Greco:
Selbstbildnis (?). um 160g
<Verrücktheit> oder gar die einmal allen Ernstes als <Ursache> für
die Deformierungen Grecos angenommene <Kurzsichtigkeit> (der
Augen wohlgemerkt) werden uns niemals erklären können, wie
auch immer man sie kombiniert und ergänzt, warum ein Bild wie
Grecos <Maria mit dem Jesusknaben> ganz einfach schön ist, auch
wenn es so überaus aklassisch sein mag. Wir werden gewiß zuge-
ben müssen, daß Greco — wie Leonardo, Michelangelo, Pontormo,
Rosso, Göngora, Donne, Crashaw, Rudolf II., Comenius und so
viele andere <Saturnier> des Manierismus — eine äußerst kompli-
zierte, sensible, in jedem Sinne <heimgesuchte> Persönlichkeit ge-
wesen ist. Ein <Selbstporträt> (soweit man weiß) Grecos von etwa
1605 hebt die Züge solcher «Heimgesuchtem hervor. Dennoch
sind wir gegenüber bloß psychologischen wie gegenüber bloß
psychiatrischen Erklärungen mißtrauisch geworden, wenn wir
künstlerische Größe «phänomenologisch) betrachten, ebenso miß-
trauisch wie gegenüber bloßen «historischen) Kategorien. Ohne ei-
nem in diesem Falle mindestens ebenso fragwürdigen «Historis-
mus) zu verfallen, wird man das Werk Grecos als die geniale
Schöpfung einer eben «unteilbaren) Individualität bezeichnen
müssen, die jedoch zumindest in einem außerordentlich span-
nungsreichen Verhältnis zur Zeit, zu ihrer Zeit stand. Das geht al-
lein schon aus dem berühmten Bericht von seinem Zeitgenossen
hervor, er solle — anläßlich eines Besuches in Rom (1569) - vorge-
schlagen haben, Michelangelos «Jüngstes Gericht) zu vernichten,
damit er es durch ein «moderneres) ersetzen könne. Es habe dar-
aufhin einen Skandal gegeben, er habe Rom verlassen und nach
Madrid abreisen müssen. Was lernen wir daraus? Greco stand
nicht nur in einem Spannungsverhältnis zu seiner <Zeit>, sondern
vor allem zur Kunst seiner Zeit. Für ihn war «Kunst), im Sinne Zuc-
caris, die «Mutter) der Kunst, d.h. die Kunst entwickelt sich für ihn
aus der Auseinandersetzung mit Kunst, nicht mit der Natur. Das
ist, glauben wir, nicht nur für Greco, sondern für ein neues und
(angesichts des Werkes Grecos) entscheidend neues Element zum
Verständnis des Manierismus überaus wichtig. Wir deuteten es be-
reits an: «Manien und <Manie> vereinen sich, und hier steht aller-
dings Greco in einem Spannungsfeld seiner Zeit im Werke seiner
Zeitgenossen.

170
Das mythische Ei
Weltharmonie im Kreis? Wahrheit in der <Mitte>? Selbstzufrieden-
heit in der <goldnen> mediocritas? Konformistischer Idealismus?
Spannungen dieser Art machen weder menschlich noch künstle-
risch eine <Synthese> möglich, weder in einem banausischen (ba-
nalen) Sinne noch in demjenigen Sinne, der sicherlich zur höch-
sten Perfektion im Menschlichen und im Künstlerischen gehört, zu
einer <Perfektion>, die immer wenige Jahre dauert, so etwa in der
Kunst des Perikleischen Zeitalters oder in der Musik des reifen
Mozart. Dennoch schließen solche Spannungen keineswegs ein
<geheimes>, vielfach geradezu schüchternes, rührendes, ergreifen-
des Streben nach <kosmischer Ordnung) aus. Im Gegenteil.
Der Manierismus, sofern er nicht nur <modern> sein will, ist ja,
wie wir von Eugenio d'Ors wissen, immer eine <Sehnsucht nach
dem verlorenen Paradies>, nie aber eine Gewißheit — in diesem
<Jammertal> bereits des Paradieses teilhaftig zu sein. Wie ein
unendlicher Kontrastpunkt schwingt in der A-Rhythmik und Anti-
Melodik des Manierismus ein Leitmotiv durch: die esoterisch-py-
thagoreische Vorstellung der trotz ihrer Gegensätze <übereinstim-
menden> Welten, der <Harmonici Mundi>, Keplers. Licht und
Lorenz Stoer: Holzschnitt

Farbe, Linienspiele und Musik sind für die <Manieristen> Europas,


wie für Plato, der, wie man immer deutlicher erkennt, pythagorei-
sche Mysterien in dialektisch-neuer Form interpretiert, letzthin die
real, <gegenständlich> nicht faßbaren Medien für Urrhythmen ei-
nes ontisch zwar erlebbaren, aber ontologisch nicht faßbaren Abso-
luten, jener <Idea>, die <säkularisiert>, aber doch noch immer die
<Idea> Gottes oder des Göttlichen, des Ur-Mysteriums bleibt.
Mitten im Taumel der wie auch immer zu interpretierenden
Irr- und Wahn-Sinn-Erscheinungen erhebt sich in einem Teil
äi<pS«f}anäBft(Kl'
=\\m des Triptychons <Zum Tausendjährigen Reich> von Bosch
(1450—1516) das mythische Klang-Instrument. Es ist kein harmo-
nisches Gebilde, es hat alles andere als Kreis-Form. Dennoch wirkt
es in der absurden Dämonologie seiner Umwelt wie ein mythischer
Ruhepunkt. Wirr erscheint uns selbst in seiner konstruktivisti-
Titelblatt eines Musterbuchs von
Lorenz Stoer. 1617
schem Vereinfachung (gegenüber Bosch) das abstrus-geometri-
sche Panorama Lorenz Stoers in einem seiner Holzschnitte aus der
<Geometria et Perspectiva>, aber wir erkennen darin das Streben
nach einer Ordnung, die wir eine phantastische Ordnung> nennen
möchten. Fast im Mittelpunkt hängt die Kugel, Sinnbild des Voll-
kommenen, aber eben nur fast in der Mitte, und sie ist mit Dornen
bewehrt wie ein Mordinstrument.
Das Mittelalter schuf eine Reihe besonders schöner <kreis>-run-
172 der <Ordo>-Bilder, so z.B. die Weltall-Darstellung aus dem <Buch
der göttlichen Werke> der hl. Hildegard von Bingen. Für Leo-
nardo, der in so mannigfaltiger Weise schon <ausbricht>, bleibt der
Mensch noch in einem klaren Welt-Kreis. Auf einer Illustration in
einem der schon zitierten Werke Kirchers finden wir einen Men-
schen, genannt <Typus Sympathicus Microcosmi Megacosmb.
Dieser innerlich entblößte Edelmann steht und bewegt sich nicht
mehr einem Kreis, er ist in einem elliptischen System zugeordnet.
Der uns bekannte Pater Mersenne aus dem anamorphotisclien
Kreis der Pariser Minimen, Freund Descartes', entwirft die große
<Leier des Universums>. Sehen wir uns dieses Emblem einer (uni-
versalen Harmonie> an: alles schwingt <elliptisch> und (hyperbo-
lisch in einem eiförmigen Instrument, in welches das Göttliche,
durch eine Hand symbolisiert (Isolierung anatomischer Frag-
mente), Pneuma hineinbläst. Die Eiform wird im 17. Jahrhundert
zu einer (mythischem Form. Das lebenerzeugende Ei wird zum
formalen Vor-bild des metaphysisch leben-bindenden Urprinzips.
Das ist gar nichts (Verstiegenes>. Das Ei, bzw. die Eiform, aus
P. Mersenne: Die große l.<*ii-t
Gold, Edelsteinen hergestellte künstliche Eier, dienen in der my- de> Universum«
thischen Symbolik vieler Völker als eine (Signatur) der Schöpfung
und des Lebens, im Christentum auch der Auferstehung. Für diese
elliptische (Urform> gibt es auch in der Gegenwart zahllose Bei-

Hildegard ran Bingen:


Makrokosmos und Mikrokosmos

Leonardo da Vinci: Zeichnung

173
spiele. Pablo Picassos <Geige>, die anamorphotische Einordnung
einer Welt-Dissonanz in einen elliptischen Rahmen, führt die Tra-
siehe Farbabbildung 19 dition folgerichtig weiter. Fabrizio Clerici zeigt, wie <Strauße>, im
<manieristischen> Verhalten den Affen ahnlich, die im geometri-
schen Raum vorgezeichnete <Urform> des Eis preziös ausbrüten.

Nullpunkt-Situation im Übergang?
Fabrizio Clerici hat uns bestätigt, daß er jahrelang maßgebende
Literatur über Eier-Mythen in allen Weltkulturen gelesen hat.
Manche seiner Zeichnungen zeigen auch ganz <reale> Eier, aber
auch <Eierköpfe>, so z.B. ein ganzes Regal von <Eierkopf-Büsten>.
Fabrizio spielt und philosophiert. Auf einer anderen Zeichnung,
siehe Farbabbildung ao betitelt <Mesmer-Phänomen> scheint er uns zur Hoffnung anzure-
gen, daß der Mensch trotz seiner erschreckenden Gebrochenheit
zwischen <Oben> und <Unten>, über einem phantastischen Magnet-
feld experimentierend (wie Remelli und Kircher), noch immer die
Möglichkeit haben könnte, aus einem seltsamen Zwittergebilde
von Kreis und Ei etwas zu erzeugen. Was ist dieses <Etwas>? In der
Biologie wird die Eiform als <Dauerform> bezeichnet, als Form der
1 74 mehrzelligen Blastula. Sie aber stellt sich dar als eine <Annähe-
rung> an die Daseinsform der kugelförmigen, homaxoncn Mone-
ren, an die <Sonnentierchen>, die <Heliozoa>, die in primitivster Ge-
staltung im All schweben, das sich wieder in ihnen spiegelt wie in
einem Tropfen Tau. In d e m Zwittergebilde Clericis ist der Kreis
kein <absoluter> Wert, aber die elliptische Form scheint sich - wie
die Blastula d e m Heliozoon — der Kreisform anzunähern, sie also
noch nicht erreicht zu h a b e n . Irrationalismus und Rationalismus
stehen in einer <Nullpunkt>-Situation des Übergangs. Damit kön-
nen wir bei u n s e r e m D e u t u n g s v e r s u c h den biologischen Bereich
verlassen und u n s , u m weitere Vergleichsmöglichkeiten zu finden,
in den philosophisch-literarischen Bezirk begeben.
Was ist eine geistige <Nullpunkt>-Situation? M a n kann darüber
in einem Essay H a n s E g o n H o l t h u s e n s nicht nur Aufschlußreiches
Atlianasius Kirrher.
lesen, man k a n n die <Nullpunkt-Situation> dort ebensowohl in ih- Typus Sympatliii us
rem Kontrast z u m <Kreis> des rational-pragmatischen Denkens de-
finiert finden, wie als A u s d r u c k e i n e r elliptischen <Philosophie des
offenen Horizonts>. D e n k e n in d e r Nullpunkt-Situation geht von
der Überzeugung aus, <die W a h r h e i b sei <nur darum das endgül-
tige Objekt, weil sie in m e n s c h l i c h e n Begriffen (im Kreis) niemals
endgültig objektiviert w e r d e n kann>. <Es gibt verschiedene Wahr-
heitsebenen.> W i r schrieben: <Überzeugung>. Woher kommt diese
<Überzeugung> in e i n e m Teil der so oder so zu verstehenden exi-
stentialistischen P h i l o s o p h i e u n d Literatur, wenn sie schon nicht
begrifflich-rationaler E r k e n n t n i s e n t s t a m m e n kann? Auch hier
haben wir es mit der m a n i e r i s t i s c h e n Urgebärde zu tun, ihr «Aus-
druckszwang> widerstrebt g e s c h l o s s e n e m , <endgültigen> Vorstel-
lungen, r u h e n d e n H a r m o n i e n . D o c h m a n hört und liest auch, daß
der Nullpunkt a l l m ä h l i c h <überschritten> werde, daß irrationales
Denken, Blastula-Form, sich d e m rationalen Denken, Heliozoon-
Form, annähert.
Ernst J ü n g e r schreibt in s e i n e m Essay <Uber die Linie>: <Die
Überquerung der L i n i e , die P a s s a g e des Nullpunkts teilt das
Schauspiel; es d e u t e t die Mitte, doch nicht das E n d e an. Die Si-
cherheit ist n o c h sehr fern. Dafür wird Hoffnung möglich sein.>
<Das Haupt ist jenseits der L i n i e . Indessen steigert sich der niedere
Dynamismus weiter u n d d r ä n g t zur Explosion. Wir wohnen dem
schauerlichen H o r t e n von Geschossen bei, die auf unterschieds-
lose Vernichtung g r o ß e r Teile des Menschengeschlechts berechnet
sind.> Bei Jaspers lesen wir: <Der Sturz aus den Festigkeiten, die
doch trügerisch w a r e n , wird Schweben-Können, — was Abgrund
schien, wird R a u m der Freiheit, — das scheinbare Nichts verwan-
delt sich in das, w o r a u s das eigentliche Sein zu uns spricht.> Und
Heidegger fast zwanzig J a h r e vorher: Die <Neue Zeit>, die «dürftige
Zeit> steht <in e i n e m d o p p e l t e n M a n g e l u n d Nicht: im Nichtmehr
der entflohenen Götter u n d im Nochnicht des Kommenden).
Unter dem p h a n t a s t i s c h e n <Magnetfeld> in der Zeichnung Cleri-
cis liegt das Vlies eines Fuchses, <SinnbiId> der List, der List der
Geschichte, vor allem dieser Clerici-Geschichte? Erscheint hier
nicht der M e n s c h e r b a r m u n g s l o s zweigeteilt, erinnernd an die so
grausigen H i n r i c h t u n g s s z e n e n von Märtyrern in S.Stefano Ro-
tondo zu R o m ? 1 6 Versinnbildlicht d a s von diesem «gespaltenem Fresken von l'omaranrio und
Tempesti.
Menschen mit der G e b ä r d e eines Magiers über dem <Magnetfeld>
gehaltene Zwittergebilde, d a ß dieser M e n s c h in einer <abstrusen>
Ubergangsphase von Kreis u n d Ellipse steht? Wer die auch literari-
schen Aus sagen Clericis k e n n t , wird nicht daran zweifeln können.
Wir haben nichts <hinein-geheimnißt>. Wir interpretieren ein
<Emblem> im S i n n e des Künstlers selbst. «Näherungswerte^ «ap-
proximative B ü s c h e b , «statistische Summanden>, so sagt die m o -
175
derne Wissenschaft, und zwar die Biologie wie die Mathematik-
<Das sind die Werte der Wirklichkeit, also auch die der Organis-
men und des Kosmos.) Vielleicht steht hier ein Teil der zeitgenössi-
schen Philosophie also vor einem ihrer möglichen neomameristi-
schen Embleme. Formengeschichtlich und ikonographisch haben
wir es hier nämlich geradezu mit einem mustergültigen Emblem
zu tun. Dieses Rätselbild ist nicht schwerer aufzulösen als die Tau-
sende von Emblemen um 1600. Man muß nur die Symbole ken-
nen. Daher der Nutzen von <Kunstgeschichte> als <Geistesge-
schichte>.
Schließlich zum Problem <Kreis oder Ellipse> noch eines der ei-
genartigsten Kunstwerke des 1/.Jahrhunderts: die konstruktivi-
stische) Decke Borrominis in S. Carlo alle Quattro Fontane zu
Rom. Kreise, Ellipsen und <irreguläre> Fünfecke fügen sich zu ei-
nem Labyrinth von <Grundformen> — im Übergang. Sie berühren
sich, scheinen sich aber auch gegenseitig zu verwerfen, als stritten
sie allesamt um den Sieg. Doch behält das <magischste> Zeichen,
das Zeichen des Kreuzes, hier noch seine erlösende, seine bindende
Kraft.
Auch Salvador Dali gab bekanntlich in den letzten Jahren seinen
Bildern eine <religiöse> Wendung. Er legte Pius XII. in einer Pri-
vataudienz den Entwurf zu seiner nahezu drei Meter hohen <Ma-
donna von Port Lligat> vor. Auch h i e r <schwebt> alles, nicht nur die
einzelnen Stücke des B a l d a c h i n - T h r o n e s , auch die Madonna und
das Kind selbst. U n t e r d e n verstreuten anderen <Symbolen> finden
wir auch das mit einer S c h n u r an einer Muschel befestigte Weltci,
genau über d e m H a u p t e der M a d o n n a hängend. Über der rechten
Hand des J e s u s - K n a b e n schwebt allerdings eine Kugel, in der lin-
ken Hand hält er das Kreuz. Auf seinem rechten Schenkel vereinen
sich beide, Kugel u n d Kreuz, in e i n e m Schattenspiel. Also Ei (El-
lipse), Kreis (Kugel) u n d M u s c h e l (das I r r e g u l ä r e ) - a l l e s ist wie bei
Borromini in einer <Ubergangssituation> vereint. Der historische
Manierismus wird auf diesem Bilde <ingeniös> angewendet, doch
leidet es an der typischen Eiseskälte, welche gerade Dalis religiöse
Werke kennzeichnet. M a n h a t d a h e r den Verdacht, daß uralte
Symbole hier o h n e e n t s p r e c h e n d e Voraussetzungen in einem ech-
ten mystischen Gefühl bloß als <neue>, <verblüffende> Requisiten
benutzt werden. Auch die u n m i t t e l b a r e N a c h a h m u n g ist bezeich-
nend. Das Motiv des ü b e r der M a d o n n a herabhängenden und an
einer Muschel befestigten <Welteis> h a t Dali von der <Madonna
dell'uovo> von Piero della Francesca ü b e r n o m m e n , jenes <großen
Konstrukteurs) des Q u a t t r o c e n t o , der, wie schon erwähnt, m i t U c -
cello, Masaccio u n d M a n t e g n a einen so starken Einfluß auf die
zeitgenössische surrealistische Malerei ausgeübt hat. Wie ein
Senkblei schwebt, d u r c h a u s preziös an einer Muschel hängend, das
<Weltei> über d e m H a u p t e der M a d o n n a . Da die Muschel in oft
phantastischer Weise das <Irreguläre> zur Form werden läßt, ge-
hört sie bekanntlich a u c h zu e i n e m Lieblingsmotiv der späteren
Manieristen. E i n e M u s c h e l gebiert jene <irreguläre> schiefe Perle
<Barocco>, welche angeblich d e m <Barock> den N a m e n gegeben
hat. Der manieristische <barocke> Spätstil <Rokoko> bezieht seinen
Namen vom französischen Wort <Rocaille> = Muschelwerk. Ellip-
tik (Ei), <Irregularität> (Muschel) sind auf d e m Bilde Piero della
Francescas vereint wie in e i n e m E m b l e m , das höchst geheimnis-
voll auf Zukunftsformen hinweist. E m b l e m a t i k also auch im Quat-
trocento, E m b l e m a t i k wie bei Dali, a b e r w e i c h e Innigkeit bei Piero
della Francesca, w e l c h e feierliche D e m u t im Antlitz der Figuren,
die die M a d o n n a u m g e b e n ! H i e r h a t m a n den Eindruck, einer ech-
ten mystischen Situation b e i z u w o h n e n , die alles erfüllt: die Augen
der Menschen u n d die wundervolle Ausgewogenheit des majestä-
tisch schirmenden R a u m e s . Kein Schwebespiel des Kalküls mehr.
Hier ruht das Heilige in der Geborgenheit des Herzens.
VIERTER TEIL

Traumstädte
Europas

19. D A S R U D O L F I N I S C H E
PRAG

Der Problematiker
auf dem Kaiserthron
m Jahre 1576 wird ein typischer <Saturniker> im Sinne Marsi-
lio Ficinos Deutscher Kaiser; Rudolf II. (1552-1612). Als er
/ die Herrschaft über das schon schwankende Imperium antrat,
war er vierundzwanzig Jahre alt, ein sensibler, begabter und hoch-
gebildeter <Romantiker>, eine <problematische> Jünglings-Figur
aus der Porträt-Galerie Pontormos. Schon unter Maximilian IL
war Prag zu einer Drehscheibe europäischer <Extravaganzen> und
<Modernismen> geworden, zum <manieristischen> Mittelpunkt des
grämten transalpinischen Europa. Rudolf, der wie so manche sei-
ner vielen Künstlerfreunde unverheiratet blieb, herrschte lange: 56
Jahre. In dieser Zeit, bevor er allmählich in geistiger Umnachtung
seelisch und körperlich verfiel, machte er mit dem <Rudolfinischen
Kreis> aus Prag eine intellektuelle <Welt>-Stadt ganz besonderer
Art. Für den Geschmack, für den Stil der höfischen und großbür-
gerlichen Kultur in Wien, Dresden, Augsburg, Nürnberg, Mün-
chen, in Antwerpen, Haarlem usw. bildete sie gleichsam die mittel-
europäische Brücke zwischen Süden und Norden, zwischen Mit-
telmeer und Atlantik. Dieses Prag hat der sonderlinghafteste
Habsburger, und das will etwas heißen, bewußt im Hinblick auf
das Alexandrien des Kallimachos und auf das Rom Hadrians mit
zahlreichen europäischen Künstlern zu einem der interessantesten
Knstallisationspunkte des abendländischen Manierismus ge-
macht; durch seine persönliche Eigenart, durch seinen Geschmack
der genauso o b s t r u s grandseigneurab u n d unsicher-<verängsti°-t>
genauso <verstiegen> und <synkretistisch> war — in der weltenverei-
nenden Gebärde - wie derjenige H a d r i a n s . W e n n es je in Europa
eine enzyklopädische Umwelt des M a n i e r i s m u s , von nationalen
und regionalen Eigentümlichkeiten geradezu chemisch gereini<n,
gegeben hat: so in diesem Rudolfinischen Prag. H a d r i a n erstrebte
in Rom, insbesondere in seiner Villa bei Tivoli, eine discordia Con-
cors der damaligen imperialen Welt, einen <Zusammenfall> aller
Gegensätze durch einen funkelnden Synkretismus. Ähnliches hat
Rudolf II. gewollt: eine geistig-politische Vereinigung des <Dispa-
ratem in seinem bedrohten Reich, ein im Geiste vereintes Europa,
ein Europa, das zwar pluralistisch ist in bezug auf Nationen, Regio-
nen, Konfessionen, S t ä m m e usw., aber eine überrelative Einheit
findet in der intellektuellen Vereinigung aller Gegensätze; u n d es
ist interessant, daß Rudolf II. nicht v o m Bilde des Perikleischen
Athen oder des Augusteischen Rom, Vorbild aller Klassik, auch in
potiticis, fasziniert war, sondern von Alexandrien zur Zeit des <Mu-
seion>, dieser damaligen Gelehrtengemeinschaft auf Staatskosten,
sowie vom Hadrianischen Rom, in w e l c h e m das P a n t h e o n ent-
stand, Symbol des Synkretismus.
Eine derartige politische <Idea>-Konzeption, einmalig in ihrer
Art, mußte scheitern. Die <Zeit>, die <Völker>, die <Dynastien>, die
<Erkenntnisse> waren nicht reif genug, die wirtschaftlichen <Real-
faktoren> noch nicht genügend ausgeglichen. Seine Verwandten
stießen ihn, wie in einem zeitgenössischen Shakespeare-Drama,
vom Thron. Dennoch ging gerade von P r a g eine Kraft aus, ein Stre-
ben nach europäischer Einigung im Geiste, das in einem (vielfach
allerdings allzu preziösen) Lyriker wie Rjlke u n d in einem so änig-
matischen Dichter wie Kafka, von vielen a n d e r n zu schweigen, sich
später immer wieder regte. Der Verlust dieser Stadt für dasjenige
Europa, das weder einem ökonomischen noch e i n e m biologischen
Materialismus verfallen will, wird i m m e r spürbarer. <West>- und
<Ost>-Europa sind, getrennt, auf die D a u e r zu schweren geistigen
Funktionsstörungen verurteilt. Der europäische Geist läßt sich
nicht auf <Westen>, <Süden>, <Nordern oder <Osten> lokalisieren. Er
ist auch nie bloß <dialektisch> gewesen, im S i n n e einer Relation
von jeweils nur zwei <Windrichtungen>. E r war in seinen schöplen-
schen Zeiten weder monologisch n o c h dialogisch. E r war Aus-
druck eines starken Pluralismus von Werten, in voller Freiheit des
Wählens und Entscheidens, und w e n n es - in Schöpfungen und
gesellschaftlichen Gruppierungen - bisher i m m e r n u r kurz echten,
eindeutigen europäischen Geist gegeben hat, d a n n i m m e r nur
dann, wenn die Ausstrahlungskraft aller geistigen Konzentrations-
punkte Europas, ob sie n u n Florenz, R o m , M a d r i d , L o n d o n , Paris,
München, Nürnberg, Wien, Brüssel, Antwerpen, H a a r l e m , Prag.
Warschau. Moskau usw. hießen - zahlreiche <Strahlen> also - , zu
einem Kristall mit hundertfachem Feuer z u s a m m e n s c h o ß .
Wir müssen uns i m m e r wieder vor A u g e n halten, wollen wir
Rudolfinische P r a g richtig verstehen, d a ß die Herrschaftszeit Ru-
dolfs II. (1576-1612) zu den geistig fruchtbarsten E u r o p a s gehört.
Erst aus dieser damaligen gesamten europäischen Umwelt
m a n ermessen, was der <Rudolfinische Kreis>, sein Stil u n d se
Weiterwirkung bedeuten, bevor viel später Paris m i t n e u e r <
sik> und mit e i n e r n e u e n politischen Systematik des Absolutisniu.
ganz Europa auf einen einzigen, auf einen Stil von Versal
durchaus zu <verengen> suchte, im Sinne eines Stils also, der
180 tionab war, aber <universale> Gültigkeit b e a n s p r u c h t e . N u n einig
zur geistigen europäischen Umwelt des Rudolfinischen Prags: zwi- 'James Joyce 1882, TS. Hlii.i 1888,
Erza Pound 18K.-,. Marinetti 1878,
schen 1580 und 1610 entstehen die Meisterwerke Tintorettos, Gre- Apollinaire 1880. Andre Derain
eos Göngoras, Lope de Vegas, Marinos, Shakespeares, Donnes. 1880, Ernst Ludwig Kirchner 1880.
Geboren 1881: Feiice Carena. Juan
1612, im Todesjahr des entthronten, im Irrsinn sterbenden Kaisers, Ramön Jimenez. I 8 8 J : l tnberto
beendet Jakob Böhme seine <Aurora>. Es handelt sich hier um ein Boccioni. 188^: Kran/ Kafka, Walter
zeitliches Konzentrat schöpferischer Manifestationen, um vorerst Grupius, Erich Heikel. 1884: Mai
Beckmann. 1885: Robert DelaUIU)
nur auf die <Gipfel> zu zeigen, wie man es in dieser raschen Folge 188b: FeAice Casorati, Foujila, Gott-
und in einem <manieristischen> Stil, in einem kombinierten Stil fried Beim. Hans Arp. 188-: Georg
Hevm. Georg Trakt, Paul Klee, »an
von Kalkül und Wahn, nur noch in der Generation findet, die zwi- Dongen, Marcel Duchamp, Kaoul
schen 1880 und 1890 geboren ist.1 Diif'y. Juan (jris. 1888: Giorgio de
Chirico, Ungaretti. i88u,: Willi Bau-
Schon früh hatte der <römische Kaiser> Rudolf IL die Gruppe von meister. Marc Chagall. i8(|<>: Vve«
Gelehrten, Künstlern und Schriftstellern, die er am väterlichen Hof Tanguy, Naurn Gabb. 1891: Max
Ernst, usw. Die gleiche zeitliche
vorfand, erweitert. Um 1580, als er die Schlankheit seiner Jugend Dichtigkeit in diesen Jahren ergibt
verloren hatte und nachdem er einen der skurrilsten Maler Euro- sich für die europäische Literatur.
Die Biologen müssen hier voi einem
pas, seinen Porträtisten und Hofmaler, Giuseppe Arcimboldi (gest. Rätsel stehen, seihst bei Annahme
1593), zum Reichsgrafen ernannt hatte, konnte sein Hof sich an eines alternierenden Auftretens von
Internationahtät, Intensität und Phantasiereichtum des geistigen -starken, und 'Schwachen) Genen in
jeweiligen Epochen.
Lebens mit der Museion-Zeit Alexandriens, mit der <Akademie> in
Hadrians Villa zu Tivoli, aber auch mit dem Hofe des Hohenstau-
fen Friedrichs IL in Palermo vergleichen. Auf einer Büste Adriaen
de Vries', eines seiner Hofkünstler, sehen wir sein typisches Habs-
burger-Gesicht heroisch-idealisiert, aber die Reliefs auf seinem
Panzer verraten seinen unkriegerischen Sinn. Ganz anders tritt er
K siehe Farbabbildung 21
uns auf einem Porträt Arcimboldis entgegen, das man bisher für
2
die ultramanieristische Darstellung eines <Gärtners> gehalten hat." cf. Näheres darüber bei B.Geiget
o.e. Es gibt ein Gedicht des Traktati-
Wir haben es formal mit einer manieristischen, metaphorischen sten Cornaron) (cf. Kapitel li. um
Malerei zu tun (über Arcimboldi selbst Näheres im nächsten Ab- Geiger zitier!, aus dem einwandfrei
hervorgeht, daß es sich um ein .iinig-
schnitt), aber auch dieser <Gärtner> ist kein simpler <Gärtner>. Der
matisches) Porträt Rudolfs II. han-
Kaiser wird von Arcimboldi als Gott Vertumnus dargestellt, der sei- delt, um ein <Rätselbild>. In der-arte
nerseits viel mehr repräsentiert als etwa den <Herbst>. Wir machen nova>. schreibt Comanini. offenbare
sich ein <secreto>. Das Geheimnis ist
keinen kunstgeschichtlichen Exkurs, sondern wir nähern uns dem in diesem Fall der Kaiser, denn: re-
Sinn dieses Porträts und damit einem von Rudolf IL gehuldigten gia imago nascondo.. <ein königlich
Bild ist in mir verborgen».
geistigen Prinzip, wenn wir uns fragen, was diese mythische Figur
<Vertumnus> bedeutet. Es handelt sich sehr wahrscheinlich um
eine von den Römern übernommene etruskische Gottheit. Die
etruskische Bedeutung ist unbekannt. Für die Römer wurde <Ver-
tumnus>, doch wohl aus etruskischem Nachwirken, der Gott des
<Wechsels>, der <Verwandlungen>, der <Maske>, also zu einem ma-
nieristischen Symbol wie diejenigen der Circe, des Proteus und des
Pfaus. Schon Hadrian hatte seinen Liebling Antinous als Vertum-
nus darstellen lassen. Wie auf den Rühnen zwischen 1600 und
1610 bedeutet das <Sich-verwandeln-Können> auch erotische Am-
bivalenz, Vertauschbarkeit sozusagen der Geschlechtsmerkmale,
Homoerotik beider Art. Natürlich liefert Ovid auch dazu die litera-
rische~FoEe: Vertumnus macht der Gartennymphe Pomona den
Hof, und er übertrifft alle Jüngeren an Leidenschaft. Um sich die-
ser scheuen Nymphe nähern zu können, verkleidet er sich als
Landmann zur Weizenernte, die Stirn mit Halmen geschmückt
Us
w., und dann verwandelt er sich, um besser zu wirken, in einen
Soldaten, einen Fischer, ja sogar in eine alte Frau, und als solche,
als Matrone, gelingt es ihm, die scheue Pomona zu küssen, worauf
er
sich enthüllt und sich mit beredt-verführerischen Worten als
<Jung> und <schön> preist. Ovid schreibt: <Er ist jung, schön und
kann, wenn es sein muß, alle Formen annehmend Wie Hamlet! Wie
di
e Gestalten auf Rildern Arcimboldis, wie die Figuren in den zahl-
losen Balletten und Musikdramen der Zeit. Adrian de Vries: Rudolf IL
Macht und Anti-Macht
Dieser Herrscher, Rudolf II., hatte also nicht n u r I l u m o r und Sinn
für Mystifikationen. Das geistige Spiel wird zu einem Merkmal
echter Souveränität, die europäische Welt soll im Spiel geeint wer-
den, das ja als besonders starke g r u p p e n b i l d e n d e Kraft eines der
wesentlichen kulturformenden E l e m e n t e ist. M a n verzeihe die
Peinlichkeit, aber m a n kann sich, m i t t e n in u n s e r e m heutigen Ma-
nierismus, keine staatlich konzessionierten Porträts dieser Art von
Churchill, Roosevelt, Daladier, u n d erst recht nicht solche Porträts
von Hitler, Stalin u n d Mussolini vorstellen. D a s Arcimboldi-Por-
trät Rudolfs II. ist in P r a g entstanden, als ganz E u r o p a durch politi-
sche und religiöse Konflikte schwer erschüttert w u r d e . Es scheint,
als sei die <Macht> im 20. J a h r h u n d e r t gänzlich h u m o r - und phan-
tasielos geworden. Die Macht, welche Selbstpersiflage verträgt, ist
<manieristisch>, d.h. auf Neutralisierung der M a c h t , also zuinnerst
auf Ausgleich bedacht. Die Macht, die sich selbst nicht ironisieren
kann, verharrt im <Unheil>. In m e n s c h l i c h e r E r s t a r r u n g brechen
die Dämonen m e u t e r n d hervor, im vertraulich-spielerischen Um-
gang mit ihnen werden sie gezähmt. F ü r die <Manieristen> des
20. Jahrhunderts, u n d das k a n n m a n aus europäischer Literatur
hundertfach belegen, ist die Figur des <Staatsmanns> der bisheri-
gen europäischen Geschichte zu e i n e m Symbol des menschlichen
Scheiterns in der Geschichte geworden, sofern in der Geschichte
wirkende <absolute> Werte (im platonischen Sinne) des Guten,
Wahren und Schönen oder (im christlichen Sinne) der Liebe aner-
»Die .Mächligen» bei Shakespeare: kannt werden. 5 Politik ist für Baltasar G r a c i a n ein <Chaos aus
eine r^mdgrubezur Problematik der Staatsräson», u n d <die S t a a t s m ä n n e r treiben es heutzutage anders
Macht. . . . , ••
herum ais andere Leute>. E r meint terner, es sei <em ganz unerhör-
ter Unsinn, daß ein Blinder auf jede Weise d a n a c h trachtet, die zu
führen, die sehend sind>. <Politiker>, schreibt er, <wiü sagen At-
heist». <Die Mächtigen begünstigen d e n I g n o r a t e n , belohnen den
Schmeichler, unterstützen den Betrüger; d e n Würdigsten gilt kein
Gedanke, geschweige d e n n eine R e g u n g des Wohlwollens.»
<Wenn die Macht wechselt, so wechselt die Zeit n u r ihre Taschen
aus.» Auch die Heerführer finden bei i h m k e i n e n Gefallen: <Die
mit den Kriegen ein E n d e m a c h e n sollten, ziehen sie in die Länge;
ihr Amt ist kämpfen, denn sonst h a b e n sie ja w e d e r Pension noch
Rente; und da sie nach b e e n d i g t e m Kriege o h n e Dienst oder
Pfründe dastehen würden, hätscheln sie den Feind, weil sie sich an
ihm mästen.» Zweifellos ein A r g u m e n t , das sich auch bei unseren
heutigen Pazifisten findet. Unsere Kultur ist a u c h deswegen ge-
fährdet, weil die meisten H e r r s c h e r E u r o p a s u n d die revolutionä-
ren Ideologien nach 1600 von einer m i ß v e r s t a n d e n e n <Würde-An-
üke> ausgehen. Unter L u d w i g XIV., a m E n d e des damaligen Ma-
nierismus, wird —zumindest als Fassade — eine kalte Macht-Antike
wieder zum Ereignis, ebenso u n t e r d e r Französischen Revolution.
Wir haben nachgewiesen, d a ß die <Göttin der Vernunft» der Revo-
lution, die am 1 o. N o v e m b e r 1 70,3 feierlich in N o t r e - D a m e einge-
weiht» wurde, nichts anderes ist als e i n e politische Säkularisierung
im banalsten rationalistischen S i n n e jener <Aeneadum genetrix>
des Lukrez, der weltenzeugenden Venus; u n d es w a r dies die Idee
eines einzelnen Literaten, M a r i e Joseph C h e n i e r . Die lebenzeu-
gende Venus wird bald zur m e n s c h e n f r e s s e n d e n <Deesse de la Kai-
sern. Die Diktaturen des 20. J a h r h u n d e r t s , Faschismus, National-
sozialismus, Bolschewismus, sie alle suchen repräsentative Wurde
in entsetzlich banausischen Klassizismen. D e r M a n i e r i s m u s ist lh-
182 nen so verhaßt, d a ß unter ihnen (auch in Italien n a c h einer anfäng-
liehen Anerkennung des Futurismus) alles Nicht-<Klassische>, so-
fern es nicht biedermännisch realistisch ist, verboten wird. Die
<Klassik> wird zum Symbol errungener Macht-Größe, der Manie-
rismus zum Schlagwort für Ohn-Macht, ja zum Schlagwort für ei-
nen angeblich unterweltlichen antifatalistischen Nihilismus. Das
hat sich insbesondere in der idealistischen Ästhetik des 19. Jahr-
hunderts ergeben. Klassik = Ordnung, Würde, Macht. Manieris-
mus = Unordnung, Würdelosigkeit, Zerfall. Dieser Antagonismus
ist heute, selbst in Amerika, so verhängnisvoll geworden, daß ein
<Klassiker> als <konformistisch> gelten kann, ein Manierist als sub-
versiv. Solche Leistungen der <terribles simplificateurs> sind be-
ängstigend, weil dieser zweifellos bestehende Gegensatz nicht aus-
geglichen, vielmehr im Gegenteil verstärkt wird, statt daß versucht
wird, die Zugeordnetheit dieser beiden Urgebärden der Mensch-
heit zu erkennen und sie, wenn auch nicht zu <harmonisieren>, so
doch zumindest zu versöhnen. Im Zeitalter der Massen sind wir
von solchen Möglichkeiten weiter entfernt denn je.
Gewiß, <Fehler> im Charakter und in der <Regierung> Rudolfs II.
wird man sicherlich ebenso finden wie in der so eigenartigen Per-
sönlichkeit Ludwigs IL von Bayern. Aberglaube, Prachtliebe, Ei-
genbrötelei, Schwärmerei, <freie> Moral, aber man kann all dies
durch Gegenpole ersetzen. Liebe zur Wissenschaft: vom Belvedere
des Hradschin beobachtete Rudolf IL oft mit Kepler oder Tycho
Brahe, die er an seinen Hof geholt hatte, nicht nur <astrologisch>
die Sterne. Rudolf IL liebte Hadrian, aber er hielt sich für den di-
rekten Nachfolger des Augustus. Er begeisterte sich für alle Abnor-
mitäten der Welt, und sein <Wunderkabinett> wurde rasch in ganz
Europa berühmt, aber er liebte auch die Geometrie, die Physik, die
Naturwissenschaft, die Literatur. Sein erotisches Leben war
ebenso zweideutig-eindeutig wie dasjenige Hadrians, aber der
Sinn für Schönheit setzte dem bloß orgiastischen im banalen Sinne
eine Grenze. Immer wieder stehen wir vor der elementaren manie-
ristischen Tendenz: Vereinigung der Extreme. Schon der <Rudolfi-
nische Kreis > war in ausreichend abenteuerlicher Weise zusam-
mengesetzt. Wir finden in der Gesellschaft des <manieristischen
Kaisem, der einen Teil seiner Jugend am Hofe Philipps IL in Ma-
^HrTverbracht hatte, außer Arcimboldi: Giovanni da Bologna,
J^rzehJannützer, Bartholomäus Spranger, Hans und Philipp de
MoBttQffimeifcte Vries, Hans van Aachen, der eine Tochter Or-
lando di Lassos heiratete, Christoph Schwarz aus München, Kep-
ler, Brahe, zahllose berühmte Kunsthandwerker, Münzenstecher
wie Antonio Abondo, den Porträtisten Nicolas de Neuchätel, die
Sammler Giulio Lincio und Jacopo Strada. den Schweizer Joseph
Hemtz, die Gebrüder Bassano und viele andere: eine kosmopoliti-
sche Gesellschaft. Johannes Kepler hat Rudolf H. allein schon da-
durch unsterblich gemacht, daß er einem seiner in Prag geschrie-
benen Werke den Titel gab: <Tabulae Rudolphinae>. Im Jahre 1596
Schien Keplers Werk mit dem bezeichnenden Titel: <Mysterium
Losmographicurm, in welchem das <Irrationale> mit dem Natio-
nalem verschmolzen werden sollte. Und dies ist das Prinzip: alles
sammeln, darstellen in <Kunst- und Wunderkammerm, was den
Zwiespalt der Phänomene in der Welt erkennen lassen könnte, um
Jn Sinne dieser anderen symbolischen Gestalt im Manierismus
es N
°rdens, des Doktor Faust, selbst auf <abenteuerliche> Weise
jenes vereinigende Bild wahrer, großer, überrelativer Einheit zu
»nden: <das verlorene Paradies>. Kein Wunder, daß das Volk von
ra
g bald flüsterte, Rudolf II. stehe mit dem Teufel im Bunde, wie
ln
den Faust-Legenden der Spätrenaissance, wie in Goethes Faust, 183
wie im <Faustus> Thomas M a n n s , der n u r n a c h e i n e m Alles-Wis-
sen die neue, die letzte, die rettende Welt-Formel u n d -Form zu
finden hofft, nachdem er in Palestrina dem Leibhaftigen begegnet
war.

20. A R C I M B O L D I U N D DIE
ARCIMBOLDESKEN

Der <seltsame> Reichsgraf


Giuseppe Arcimboldi, der Hofmaler u n d Reichsgraf Rudolfs IL,
gehört zumindest zu den auffallendsten Vorläufern heutiger (mo-
derner) Kunst. Wenn wir uns seinen <Bibliothekar> ansehen, ste-
siehe Farbabbilduiig 2^ hen wir vor einer einfachen Übertragung: ein <Bibliothekar> ist eine
«Summe von Büchern>. M a n m u ß zugeben, d a ß diese <Translatio>
malerisch ebenso geistvoll wie elegant g e m a c h t ist, vor allem, was
den Vorhang angeht, der sich diesem so fleischlosen u n d frieren-
den M a n n (Illustration zu einer der zahllosen B u c h - M e t a p h e r n der
Epoche) liebevoll u m die linke Schulter legt. Komplizierter wird
diese <Metaphorik> schon bei Max E r n s t (warum, werden wir hö-
ren), aber das Prinzip ist in seinem <Euklid>, d e n wir n e b e n den
<Bibliothekar> stellen müssen, das gleiche. D a s wird noch überzeu-
gender, wenn wir den unteren Teil des Bildes von Ernst ansehen
und ihn mit <Porträts aus Tieren zusammengesetzt) von Arcim-
boldi vergleichen.
Doch bevor wir versuchen, tiefer in Arcimboldis Werk einzu-
dringen, wollen wir etwas über seine Persönlichkeit u n d sein Le-
ben erfahren. Arcimboldi ist erst vor kurzem n e u entdeckt worden
und inzwischen zum <prämodernen> Ereignis in den zeitgenössi-
schen Luxus-Galerien Europas geworden. F ü r seine Bilder wer-
den heute phantastische Preise gezahlt. Die ersten Kritiker Arcim-
boldis. die mit großer M ü h e auch d e m Schicksal seines verstreuten
Werkes nachgegangen sind, w e r d e n sich allerdings über seine
wahren Intentionen nicht ganz einig. Sicher ist, d a ß er zu den <ou-
-triertesten> Malern der Spätrenaissance gehört. Unbestreitbar er-
scheint uns, daß wir es mit <Concetti> im Sinne des <Disegno meta-
forico fantastico> von F. Zuccari zu t u n h a b e n , ja geradezu mit Mu-
sterbeispielen für diese Art, w e n n a u c h mit relativ einfachen, da die
<Symbolik> meist vordergründig ist. Die L ö s u n g dürfte, n a c h unse-
ren Vorberichten, einfach sein. Arcimboldi m a l t keine manieristi-
Max Ernst: Euklid schen Embleme, sondern ziemlich simple manieristische Allego-
rien. Es wäre daher verfehlt, in seinem Werk m e h r zu <suchen>,
genauso wie m a n meist in Picassos W e r k e viel zuviel hineingedeu-
tet hat. Picasso ist ein vordergründiger Maler. M a x E r n s t und Fa-
brizio Clerici <spiegeln> verborgene Perspektiven. Insofern kann
man Picasso mit Arcimboldi eher vergleichen als mit irgendwel-
chen anderen Malern unserer Zeit. Beide zeigen die gleiche ele-
mentare Lust an der Malerei, wobei sie eine verschmitzte Freude
an verschrobenen Bildinhalten h a b e n . Zweifellos ist Picasso je-
doch - als Maler und als <Erfinder> - der g r ö ß e r e Meister. Arcim-
84 boldi und Picasso sind <IUusionisten>, keine <Hieroglyphiker>.
Giuseppe Arcimboldi wurde 1527 in Mailand geboren, wahr-
scheinlich aus ursprünglich deutscher Familie. Er heiratete eine
Deutsche, eine gewisse Ottilia Stummer. Seine Herkunft leitete er
selbst auf einen Siegfried Arcimboldi zurück, der angeblich an der
Elbe ansässig war und im Dienste Karls des Großen stand. Aus
dem deutschen Kupferstich von 1400 bis 1500 hat er mindestens
ebenso viel gelernt wie aus den uns bekannten Zeichnungen und
Karikaturen Leonardos. Als Künstler wird er zum ersten Mal im
Zusammenhang mit den Glasmalereien im Dom von Mailand ge-
nannt (1549), a n denen er mit seinem Vater Biagio arbeitete. Im
Jahre 1562 steht Arcimboldi - 35 Jahre a l t - im Dienste des Kaisers
Ferdinand I. (1505—1564). 26 Jahre blieb er in Prag, also auch
unter Maximilian II. (1564—1576) und vor allem-elf Jahre lang -
unter Rudolf IL Dieser überhäufte ihn mit Ehren und Gold. Ar-
cimboldi hat durch Aufkauf von Sammlungen aller Art entschei- Arcimboldi: Selbslbi
dend zum Entstehen der Kunst- und Wunderkammern des Kaisers
beigetragen. Rudolf II. sammelte ja (wie bereits erwähnt) Wun-
derwesen aller Art: Riesenwürmer, Zwerge, Riesen, Skorpione,
siamesische Zwillinge, Zaubersteine, magische Geräte, Laby-
rinthe, Musikautomaten, Uhren, versteinerte Pflanzen und Tiere,
optische Instrumente, Spiegel aller Art, Kuriositäten aus Indien,
China und Peru. Wieder werden wir daran erinnert, wie sehr Franz
Kafka vor diesem <abstrusen> Hintergrund gesehen werden kann.

MVMANI VICTVS I N S T R V M E NTA


Giuseppe Arcimboldi:
Der Geist der Küche

.8*
Giuseppe Vmmbiildi: Figur aus
l öpfen gebildet

Christoph Jamnitzer Gratesken


Giuseppe Arcimboldi: Figur auc
Tieren gebildet

Zeitgenossen charakterisierten sein Werk mit den uns nun geläufi-


gen Ausdrücken: dngegnose bizzarrio, <meraviglie>, <invenzioni di
stupore>. Er wurde berühmt - wie Lomazzo berichtet - durch Por-
trats, die aus Früchten und Gemüse, aus Töpfen, Tellern und Kü-
chengerät, aus Tieren zusammengesetzt waren. Lomazzo urteilt
darüber wie der Humanist Caro über den Wunderpark von Bo-
rnarzo: <ein Wunder> (nicht das Wunderbare, sondern <le merveil-
eux> im Sinne Bretons), <anzusehen>. Ein Werk Jamnitzers zeigt
uns, wie sich das noch <allegorische> Prinzip Arcimboldis immer
rnehr verflüchtigt, wie es sich vom <Gegenständlichen> entfernt.
» haben damit die Mittelphase des Manierismus, der Arcim-
o di noch angehört, hinter uns und stehen nunmehr am Beginn
« Spatphase. Diese Spätphase aber, und das ist für unsere Kon-
«ntierung entscheidend, bewegt sich, auch im deformierend Ab-
^rusen von dem doch noch immer so <Konkreten> im Werk Arcim-
° ^ f o r t D l e Darstellungen werden auch damals immer <ab-
J rakt er> . Der gleiche Prozeß führt uns heute von Picasso zu Afro,
gr>oulag e s , z u Vedova und zu Nay. Eine zeitgenössisch-moderne Carlo Carrä: Penelope
er
gangsstufe vom <Disegno metaforico fantastico> Arcimboldis
^ ° f <abst rakten> Figürlich-Phantastischen findet man in der be-
zaubernden <Penelope> von Carlo Carrä. Es lohnt sich auch, die
^Umgestaltung, die beschleunigte Perspektive> in diesem Werk
1 e
produktionen von Gravüren in den Werken Athanasius Kir-
che
* zu vergleichen. l87
Wir nehmen aber an, daß das Auge des Betrachters nun schon so
geschult ist, daß er sich jetzt die <Arcimboldesken> des 19. und
20.Jahrhunderts ohne Kommentare ansehen kann, wobei im
Sinne der unentbehrlichen Unterscheidungen immer eines zu be-
achten ist: die Methode des Zusammenfügens ist die gleiche, die
seelischen und geistigen Gehalte können sehr verschieden sein.
Sie können wie in Odilon Bedons <Chimäre> romantisch-phanta-
stisch sein, wie bei Savinio intellektuell-satirisch-psychoanaly-
siehe Farbabbildung24 tisch, wie in Sirio Mussos <Der Frauendieb> (einzelnes Auge!) ly-
risch-sentimental. Derselbe Maler komponiert in seinem Bild
<Don Quijote und Dulcinea> seine Figuren aus Blumen und Blät-
tern, ein Arcimboldi-Ballett. Wir übersehen auch nicht, daß Rosi-
narüe unmittelbar Bracellis <Bizzarrien> entstiegen sein könnte.
Fabrizio Clericis Illustration zur <Pariser Beise> (1615) G.B. Mari-
nos, des Schulhaupts der Marinisten, genannt <Ambulante Musi-
ken, nimmt diese historischen Bezüge bewußt auf. Er historisiert
siehe Farbabbildung 25 mit romanischem Esprit. In Max Ernsts <Vater Rhein> hausen zahl-
reiche stilisierte Wesen aller Art. Einen Gipfel erreichen wir mit
siehe Farbabbildung 26 Picassos <Frau mit Blumen>. Der Kopf dieser Dame ist aus einer
durchschnittenen Schote, Leib und Glieder sind aus <stilisierten>
Blättern und Früchten gebildet. Ein Arcimboldi sozusagen <halb>-
abstrakt! Man weiß schließlich, daß Arcimboldi Masken für Ko-
stümfeste und Theaterspiele, für gesellschaftliche Festlichkeiten
aller Art machte. Sein Ubertragungsstil wurde auch im Kunstge-

Siiio Musso:
Der Frauendieb

l88
Fabrizio Clerici: Ambulante
Musiker

werbe, in der <Mode> Mode. Diesem gesellschaftlich <Arcimbol-


desken> begegnet man auch heute bei vermeintlich <hyper>-raffi-
nierten festlichen Veranstaltungen unserer upper ten, und zwar
keineswegs nur bei Karnevalsbällen. In Paris und New York gehö-
ren solche <Masken> zum guten Ton bei <normalen> Festen.
Aber wird hier eine <arkane> Tradition aufgedeckt, eine versun-
kene Welt <archäologisch> ausgegraben, werden Beziehungen her-
gestellt, die zwar einleuchtend erscheinen, von denen unsere
Künstler aber <bewußt> nichts wissen könnten? Wer so fragt, unter-
schätzt die mittels Tausender, vielfach unterirdischer Kanäle wei-
terwirkende Kraft iener <Idea>-Tradition, vor allem aber die Wach-
neit unserer zeitgenössischen Künstler. Wer so fragt, ahnt nicht,
wie die Kräfte der Tradition <bildend> (im Sinne Nietzsches) wir-
ken, wenn Bildungswerte gelegentlich auch im Kurswert sinken
mögen. Wir können die bewußte Rezeption der arcimboldesken
hadition des <Disegno fantastico> nicht besser belegen als mit der
Reproduktion eines Gemäldes des jungen Malers Heinrich von
Jessen aus dem Jahre 1956. Das Werk heißt <Omaggio a Arcim-
ooldh (Arcimboldi gewidmet). Unterscheidungen? Durchaus. Sie
Uhren uns aber diesmal nicht ins zeitgenössisch <Autonome> -
sondern noch weiter zurück in das Geschichtete des menschlichen
enkens und Fühlens: in die römische, in die michelangeleske 18g
Landschaft von Grauen, Tod, U n t e r g a n g . J e u n a b s e h b a r e r das wa-
ste land unserer zeitgenössischen Massengesellschaft wird, desto
stärker scheinen die Saugkräfte der großen geistvollen Toten zu
werden. Man ist geneigt, dem Pessimismus eines Erzmanieristen
wie B.Graciän recht zu geben, w e n n er (im <Criticön>) schreibt:
<Das gleiche, das gewesen ist, das ist u n d wird sein, ohne Abwei-
chung auch nur u m ein Atom. Was vor z w e i h u n d e r t J a h r e n gesche-
hen ist, eben dasselbe sehen wir auch jetzt.> D e n n o c h k ö n n e n wir
und wollen wir nicht auf unsere U n t e r s c h e i d u n g e n verzichten,
wenn sie auch gelegentlich ein philologisches Ultra-Mikroskop er-
fordern.

Uneinigkeit des Einigen


Arcimboldi war auch Ingenieur, M a s c h i n e n b a u e r , Masken- und
Kostümzeichner. Seine <phantastischen> Kostümskizzen wurden
tausendfach kopiert. Sie beeinflußten die barocke Theaterdekora-
tion. Wegen seiner Vielseitigkeit galt Arcimboldi deswegen bei sei-
nen Zeitgenossen als <acutissimo ingegno> von <universale lettura>,
und er wurde in dieser Hinsicht mit L e o n a r d o verglichen. Dessen
<animalucci>, diese <lusus naturae>, aus verschiedenen Tieren zu-
sammengesetzte Monstren, m u ß Arcimboldi ebenso gekannt ha-
ben wie Bilder Boschs, die Rudolf JJ. s a m m e l t e . D o c h ein Mann
von derart <universaler> Bildung greift tiefer u n d weiter aus. Sel-
tene mittelalterliche Handschriften mit i h r e m unerschöpflichen
Reichtum an Miniaturen w u r d e n d a m a l s ebenso gesammelt, wie
man wieder mittellateinische A u t o r e n las. D e r <Technik> der zu-
sammengesetzten B i l d e r - als R ä t s e l b i l d e r u n d A l l e g o r i e n - b e g e g -
net m a n in der mittellateinischen M i n i a t u r e n m a l e r e i wie in der
Literatur zahllose Male. Nach Stryzgowski g ä b e es eine unmittel-
bare Beziehung der z u s a m m e n g e s e t z t e m Bilder Arcimboldis zu
den buddhistischen Miniaturen Indiens. I n d i e n - F a h r e r brachten
zahlreiche Reiseerinnerungen mannigfaltigster Art mit. Die
Sammlungen Rudolfs II. enthielten G e g e n s t ä n d e aus Indien. Von
der Bedeutung der Reiseliteratur ü b e r I n d i e n , speziell spanischer
und italienischer, h a b e n wir bereits gesprochen. D i e indischen Mi-
niaturen, welche Arcimboldi g e k a n n t h a b e n m a g , sind ebenfalls
mehr allegorischer als symbolischer N a t u r . Sie fassen, im Sinne
der Karma-Vorstellung, die verschiedenen Inkarnationsstufen -
von einer Einheits-Vorstellung aus - z u s a m m e n , also diesmal dis-
cordia Concors.
Mit diesem Begriff wird m a n der künstlerischen Absicht Arcim-
boldis gerechter. W e n n sein <AUegorismus> g e g e n ü b e r d e m <Sym-
bolismus) der <Hieroglyphiker> flacher, vordergründiger, ja kälter
erscheint, so liegt dies daran, d a ß seine <Manier> von derjenigen
der meisten R e f o r m i e r e n d e m Manieristen verschieden ist, und
zwar aus einem ganz bestimmten G r u n d . A u c h er malt anaturali-
stische Bilder, aber sie bleiben nicht n u r <gegenständlich>. Die je-
weiligen Dingfragmente, die ein Bild ergeben, sind <einheitlich>.
d. h. Fische oder Säugetiere oder G e r ä t e usw. W ä h r e n d die Anhän-
ger der concordia discors (Einheit des U n e i n i g e n ) wie z.B. Marino
eine Vereinheitlichung des Disparaten erstreben, des <abstrus> Ge-
trennten, so sucht Arcimboldi die discordia Concors, d. h. die U n e i -
nigkeit des Einigem. Das ist weder Wortspielerei noch Haarspal-
terei. Das Streben nach concordia discors ist von der magischen
90 Naturphilosophie u n d von m a g i s c h e r Astrologie beeinflußt, die
discordia Concors vom esoterischen Pythagoreismus, der, wie in an-
deren Fällen (F. Zuccari), mit Neuplatonismus und auch (wie wir
noch sehen werden) mit Aristotelismus verschmolzen wird. Einmal
sucht man also eine «geheimnisvolle) Einheit der Welt aufzuzei-
gen, indem man die disparatesten Seinsfragmente miteinander
kombiniert: concordia discors. Im anderen Falle will man im Prin-
zip das gleiche, aber mit ganz anderer Methode (Arte novo), indem
man nachweist, daß das Eine, das Einigende sich in sehr verschie-
denartiger Weise aufspalten läßt, wobei jeder einzelne Teil stets
immer das <Ganze>, die <unsagbare> Weltharmonie der Mysterien
widerspiegelt.4 Also: der <Jäger> ist eine Summe von Tieren, das 4
Über den Pythagoreismus in Ita-
lien und seine Bedeutung für die eu-
<Wasser> eine Summe von Fischen, der <Koch> eine Summe von ropäische Esoterik cf. Guttat Rene
Geräten, der <Kaiser> eine Summe von Vertumnus-Attributen usw. Hocke. Das verschwundene Gesicht.
In einem Gedicht Comaninis über das Kaiserporträt Arcimboldis, Leipzig 1959.

welches (das Porträt) sich selbst erklärt, heißt es: <E pur si vario un
solo sono> (<So verschiedenartig ich erscheine, ein Einziger bin
ich>).
In der genannten neuen Literatur über Arcimboldi wird ein Be-
richt des Traktatisten Comanini, eines Freundes von Arcimboldi
übrigens, zitiert, wonach Arcimboldi als erster Europäer so etwas
wie ein Farbenklavier gebaut habe, eine sog. <Perspektiv-Laute>.
Der Name dieses für den Pythagoreismus Arcimboldis wie Keplers
und Brahes aufschlußreichen Apparats ist bezeichnend genug. Er
weist auf die konstruktivistischem Tendenzen hin, über die wir
bereits berichtet haben. Arcimboldis Bilder sind nur Pseudo-Defor-
mationen der Wirklichkeit, und dieses Farbenklavier hilft uns,
jeder willkürlichen Deutung seines Werkes auszuweichen.0 Mit
1
Darüber Näheres von Lionello
Levi in B.Geiger o.e. Dort auch ein
dieser <Maschine> habe, so berichtet Comanini, Arcimboldi <alle Aufsatz von Oskar Kokoschka übel
Töne und Halbtöne, alle anderen musikalischen Konsonanzen in- Arcimboldi. Kr wird von O.K. als
<Surrealist> untellektuaiitüschea
nerhalb der Farben gefunden, und zwar auf Grund jener Methode, und lantünagischen Charakters be-
mit welcher Pythagoras die gleichen harmonischen Proportionen zeichnet. An den «Surrealisten.
glauben wir nicht. Richtig ist der
erfand). Wenn man somit das <Eine> (Ton, Farbe usw.) aufteilt, so Hinweis O. K.s. dal) Arcimboldi mit
ergeben sich zwar Verschiedenheiten, aber sie klingen alle wieder den (technischen» Tendenzen der
zu <Einem> zusammen. Es bleiben, bricht man das <Eine> ausein- Zeit zusammenhänge, eine «natürli-
che> Well durch eine •mechanische»
ander, ewige <Correspondances> bestehen, ja sie werden auf diese zu ersetzen. Wir können, nach unse-
Weise überhaupt erst sichtbar, die gleichen <Correspondances>, ren bisherigen Untersuchungen, al-
lerdings nicht mit 0. K. übereinstim-
welche Baudelaire zwischen Tönen, Gerüchen und Farben fand, in men, Arcimboldi habe als certtei
seinem berühmten gleichnamigen Gedicht: <Die Natur>. Das und «ohne Vorläufer» das Verhältnis
<Ursache und Wirkung, umgestürzt
<Eine> ist ein <Wald> von Symbolen; in einer <dunklen> und <tiefen>
<Einheit> <vermischen sich die Klänge des Echos^, <die Düfte, die
Farben, die Klänge entsprechen einander>. Solche <Correspondan-
ces> entdeckten die Manieristen der anders verfahrenden concor-
dia discors nicht etwa, indem sie von einem allegorisch <Einen> aus-
gingen, sondern in den <disparaten Wunderm der Magie und vor
allem in ihren <Zeichen>, auch in einem neuen Chiffresystem der
Sprache. Die getrennten <Künste>: Dichtung, bildende Kunst, Mu-
sik sind - dieser Farbton-Maschine Arcimboldis entsprechend -
ursprünglich <ein Eines> gewesen. In seinen Studien zum Pythago-
reismus spricht Hans Kayser, angeregt von Albert von Thimus, von
«harmonikaler Perspektive). Wir dürfen den Ausdruck etwas ver-
ändert auf das Werk von Arcimboldi übertragen: harmonikaler
Perspektivismus.

!9 J
Allegorische Metaphorik
<Harmonik> ist eine <Grenzwissensehaft>. Von ihr sagte Max
Planck einmal, d a ß gerade sie allein befähigt sein solle, ganz neue
Gesichtspunkte zu eröffnen. Arcimboldis Kunst ist eine manieristi-
sche <Grenz>-Kunst. Auch sie sucht n a c h d e m <verlorenen Para-
diese Wir glauben aber nicht, d a ß sich aus seiner <Kunst> neue
Gesichtspunkte ergeben können, e b e n weil sie <allegorisch> und
nicht <emblematisch> ist. Die Gestalt Arcimboldis aber, sein histo-
risch <erstaunliches> Werk, die Z u s a m m e n h ä n g e , in denen erlebte
und wirkte, all dies <vereint> sich zu m e h r als zu einer n u r doku-
mentarischen Bedeutung. D e r I d e a - U r s p r u n g der zeitgenössi-
schen Kunst findet einen weiteren A h n e n , w e n n auch einen, der in
einem historischen E n g p a ß geendet ist. W i e a u c h i m m e r die <Me-
thode> der einzelnen Manieristen oder M a n i e r i s t e n - S c h u l e n ist, sie
alle wurzeln in der <Idea>-Ästhetik, sie sind alle durch die katego-
rialen Bestimmungen Federico Zuccaris <wesentlich> zu begreifen.
Für Arcimboldi gilt Zuccaris Begriff des <Disegno artificalo, ge-
nauso wie der des <Disegno f a n t a s t i c o u n d der des <Disegno meta-
forico>.
Rudolf II. hat sich im Adelsbrief, d u r c h den Arcimboldi 1592 die
Palatinatswürde verliehen wurde, a u c h weise beschieden. Er lobte
ihn wegen seines <Ingenium> in <picturis artificiosis>. Über seine
Beziehungen zum Pythagoreismus wissen wir, a u c h über seine ent-
sprechende n e u e M e t h o d e der concordia discors. Aber diese Art von
Allegorik ist d e m technischen Kunstgriff n a c h , w e n n wir unsere
historischen Z u s a m m e n h ä n g e überblicken, keineswegs so absolut
neu, wie Kokoschka meint. W i r wollen uns g e r a d e angesichts sol-
cher <Stupore>-Bilder nicht von S p e k u l a t i o n e n verführen lassen.
Im dritten Teil (Abschnitt <Abstrakte Metaphorik>) wurde Näheres
über die M e t a p h e r n l e h r e in der antiken Rhetorik mitgeteilt. Wir
erinnern uns an die verschiedenen Möglichkeiten einer <Ubertra-
gung>. Eine Form ist: <Übertragung von Belebtem auf Belebtes>
(<Wolf> = <Schlauer Mensch)). S e h e n wir uns die Bilder an, die aus
Tieren oder B l u m e n usw. M e n s c h e n bilden. E i n e weitere Form:
Übertragung von L e b l o s e m auf Belebtes: <Steinernes Herz>: Kü-
chengeräte ergeben einen Koch. Gibt es bei Arcimboldi auch eine
Übertragung von Belebtem auf Lebloses? (Etwa: <Gesicht> der
h
rf. Heinrich Lausberg, Elemente <Landschaft>.6) W i r w e r d e n i m n ä c h s t e n Abschnitt davon hören.
der literarischen Rhetorik, München
1949, und Heinz Werner o.e.. zur
Wenn wir die Kunst von Arcimboldi in e i n e m geistigen Zusam-
Übertragung von Leblosem auf Be- m e n h a n g mit europäischen Traditionen als e i n e n <harmonikalen
lebtes: Der Bantu-Stamm Bolokis
bezeichnet einen Regenschirm als
Perspektivismus> bezeichnet h a b e n , so dürfen wir sie in einem
«Fledermaus). Metaphorismus ist technisch-formalen (manieristischen) Z u s a m m e n h a n g als allego-
Ausdruck - nach Werner — «ma- rische Metaphorik bezeichnen im S i n n e einer Para-Rhetorik (be-
gisch-primitiven' Denkens, aber
auch — dementsprechend - «Folge wußte künstlerische Legitimierung alles dessen, was Aristoteles -
einer schwachen Erfindungskraft'. insbesondere im Buch V seiner <Rhetorik> — als <Fehler> für die
Rhetorik bezeichnete). Diese P a r a - R h e t o r i k w u r d e vom E n d e des
14. Jahrhunderts an auch für die europäische Literatur zu einem
höchst widerspruchsvollen Schicksal. Z u m N e u p l a t o n i s m u s und
Pythagoreismus gesellen sich also die aristotelischen Bildungsele-
mente, auf die wir schon so oft gestoßen sind.
Leider geht das rhetorische Wissen, das W i s s e n u m Urformen
der <Aussage>, also diese Aristoteles-Tradition, im zeitgenössi-
schen Europa i m m e r m e h r verloren. W i r vergessen deswegen
nicht, daß die elementare Bildung der J u g e n d i m 16. u n d 17. Jahr-
hundert, wie in der Antike u n d im Mittelalter, eine <rhetorische>
Bildung war. W i e ein Musiker die H a r m o n i e l e h r e beherrschen
192 m u ß , so erinnert uns E. R. Curtius, m u ß t e d a m a l s der Dichter und
der Schriftsteller die Kunst der Rhetorik in Fleisch und Blut haben.
Arcimboldi, dem man <universales literarisches) Wissen nach-
sagte war kein <Einsamer in seiner Zeit> (Kokoschka), er war ein
voll ausgetragenes Kind der damaligen manieristischen Epoche,
und dies vermindert wohl nicht die starke Eigenart seiner persönli-
chen Entfaltung zu einer der zumindest interessantesten Künstler-
gestalten Europas in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.

21. A N T H R O P O M O R P H E
LANDSCHAFT
UND D O P P E L G E S I C H T

Die umgekehrte Welt


Der <surrealistische> Photograph Man Ray ist stolz darauf, einen
Arcimboldi zu besitzen. Marcel Duchamp erfand 1912 den mani-
chino, das <Leblose>, das in <belebter Umwelt) so <traumhaft> wirkt.
Dazu schreibt Haftmann: <Eine imaginäre Welt aus mechanischen
Dingen tritt als eine Art neuer Mythologie zum persönlichen Ge-
brauch in beunruhigende Erscheinung.) Mit dieser Formel könnte
man die <Verwandtschaft> Arcimboldis mit denjenigen entspre-
chenden zeitgenössischen Künstlern erklären, die nicht nur - wie
die von uns eingeführten — unmittelbar <arcimboldesk> sind. Wir
müssen auch diesmal klar unterscheiden: Das Einzelding, aus dem
Arcimboldi Gebilde macht, wird nicht <denaturiert>, es fügt sich
vielmehr zusammen zum Umriß eines Menschlichen, sogar zum
Porträt des Kaisers. Beim <Ready-made> der Dadaisten und Sur-
realisten ist das Ding nicht mehr oder kaum noch Gerät, Frucht,
Blume, sondern Bruchstück, Teil, Fetzen eines mechanischen
Objekts, ein <mechanomorphes> Gebilde, und es wird addiert, Zu-
lallsinspirationen folgend, zu einem <Traumgegenstand>. Der
menschliche Umriß verliert sich hoffnungslos. Es zeigt sich- wie in
der Literatur (Fragmentarismus) — die Analogie der künstlerischen
Tendenzen, der formalen Bestrebungen, der Unterschied aller-
dings auch einer ethischen und sozialen Situation. Dennoch be-
rühren sich diese Extreme wie alle Urtriebe der menschlichen Na-
tur in der Geschichte. Frazer hat in seinem <Goldenen Zweig), an-
läßlich seiner Untersuchungen über Gebräuche der Primitiven,
von einer <Magic of similarity> und Leopold Ziegler von einer m a -
gischen Transformation) gesprochen.
Das einfache Verwandlungsprinzip der <Arcimboldesken>
macht, wie bereits angedeutet, in Theater, Ballett, Karneval und
Mode ab 1600 Schule. In einem Hofballett, das im Jahre 1600 in
Bologna aufgeführt wurde und den Titel <Der Berg der Circe> hat,
verwandeln sich die Kavaliere in Tiere und umgekehrt. Etwas an-
deres kommt hinzu. Das Leblose beginnt sich zu beleben. Anläß-
lich des Karnevals von 1627 läßt der Herzog von Savoyen ein Bal-
lett aufführen, in welchem zwölf Felsen zu Lebewesen werden und
Zl
» tanzen beginnen. Die Welt wird <reversibel>, die hochmanieri-
stische Circe kann nicht nur Menschen in Tiere, sondern alles in
alles verwandeln. In Neapel sieht man auf der Bühne, wie Berge zu 193
Kntree des sirenes dans le ballet
COmique de la reine

tanzenden Giganten werden: Werke der Z a u b e r e i , der Verwand-


lungskunst. T ü r m e verwandeln sich in N y m p h e n , aus Windmüh-
len werden Najaden. Die T h e a t e r b ü h n e löst sich in einem <Feuer-
werk> von Verwandlungen auf. Ovids <Metamorphosen> scheinen
in dieser Welt der Ver-Wandlungen politischer, wirtschaftlicher
und sozialer Art halluzinatorisch gewirkt zu h a b e n . Circe und Pro-
teus werden zu weiteren Lieblingsmythen der E p o c h e . In seinem
Roman <I1 Criticön> (1651) schildert Graciän, wie seine beiden
Helden auf einer einsamen Insel einer irren Welt der Metamor-
phosen begegnen. Es k o m m t i h n e n e n t g e g e n ein Wagen, von
Schlangen und Füchsen gezogen. D r i n n e n sitzen Ungeheuer, die
sich ständig verwandeln: einmal sind sie riesig, d a n n winzig; sie
wechseln dauernd die Farbe, das Geschlecht. Critilo erkennt in ih-
n e n . . . Proteus. Ein Pariser Ballett heißt: <Le M o n d e renverse>
(1625). Darin heißt es: <Hier ist die u m g e k e h r t e Welt, innerhalb
welcher jeder figuriert.> M e n s c h e n mit doppelten Gesichtern gehö-
ren dazu. Zu Circe und Proteus gesellt sich Janus.
Janus-Kostüm Wir vermißten bei Arcimboldi n o c h die A n w e n d u n g eines drit-
für das lud. Ballett
ten metaphorischen Kunstgriffs. D o c h wir finden ihn in diesem
Circe-Proteus-Janus-Taumel zwischen 1600 u n d 1620: die Über-
tragung von Leblosem auf Belebtes oder — (<reversibel>) umge-
kehrt. So haben wir jetzt n u r zu ergänzen, d a ß Arcimboldi der
maßgebende Anreger dieser Verwandlungskunst wird, die sogar
aus Bergen Giganten und aus Giganten Berge m a c h t . Gibt es dafür
auch heute Beispiele?
Arcimboldi hat sog. <anthropomorphe> Landschaften gemalt,
Daß diese von Arcimboldi stam- d.h. Landschaften, die zu M e n s c h e n g e s i c h t e r n werden. 7 Auf ei-
inen. hat B.Geiger o.e. nachgewie-
sen. Das Prinzip ist schon aus der nem dieser Bilder sieht m a n eine Landschaft mit einer Brücke im
Vn.iriiorpliose. bekannt. Mittelpunkt, dahinter einen bewaldeten Berg, der das Gesicht ei-
\ d. Teil III
nes Riesen hat. Ein Turm bildet die Nase, architektonische Ge-
bilde Augen und Ohren. In dem W a l d - H a a r b u s c h erlegt ein Jäger
gerade einen Hirsch. Auf einem S p r u c h b a n d ü b e r d e m Giganten-
Kopf heißt es: <Homo omnis creatura>. D e r M e n s c h (das Eine) be-
steht aus allem Geschaffenen. D a s ist ein ( ü b e r t r a g e n e n , typisch
pythagoreischer Satz. M a n weiß, d a ß laut esoterischer Tradition
194 Pythagoras an die Reinkarnationslehre glaubte. D a ß der Mensch
aus vielerlei E i n z e l e l e m e n t e n ein <Ganzes> bilde, haben auch die
Neuplatoniker, so vor allem Pico della Mirandola, gelehrt. Dem-
nach sei der M e n s c h ein <animal variae et multiformis et dissoluto-
riae naturae>. D a z u der <metaphorische> Kunstgriff im Sinne der
aristotelischen Rhetorik: Ü b e r t r a g u n g von Leblosem auf Beleb-
tes). Wir haben es hier w i e d e r m i t e i n e m intellektuellen Kalkül zu
tun. Man könnte sagen, <Mode>-Philosophien der Zeit werden
kombiniert, so etwa wie in d e n T h e a t e r s t ü c k e n Sartres, und eine
modische <Technik> wird dazu verwendet, nämlich Formen der
Para-Rhetorik, so wie h e u t e zahllose R o m a n a u t o r e n den <Inneren
Monolog> von J a m e s Joyce a n w e n d e n . D e r zeitgenössische italie-
nische Maler Macciotta m a l t ein Bild mit dem Titel <Hicchia>, das
dieses Motiv in e i n e m n u n s u r r e a l i s t i s c h e m Sinne aufgreift. Wir
finden Kalkül u n d Prinzip, a n d e r s kombiniert, in einer anderen
<anthropomorphen> L a n d s c h a f t Arcimboldis. Sieht m a n das Bild siehe FarbabbiWung 27
in seiner natürlichen L a g e , vor allem aus einiger Entfernung, er-
kennt man ein riesiges, groteskes Fabelwesen. Kippt m a n das Bild
nach rechts u m , bis es w a a g e r e c h t liegt, ergibt sich eine Hügelland-
schaft, innerhalb d e r e n m a n , vor allem aus einiger Entfernung
(und <wenn m a n nichts weiß>) das Fabelwesen nicht vermuten
würde. Reversibilität! E s ist wie bei e i n e m i m m e r komplizierteren,
aber nie unverständlichen Schachspiel: die Züge werden sorgfältig
überlegt, und es e r g e b e n sich dabei die schwierigsten Kombinatio-
nen. So auch bei e i n e m so stark seiner Zeit verhafteten <Spieler>
wie Arcimboldi, u n d leider m ü s s e n wir uns wieder zu einer grausi-
gen, aber historisch-logischen Wortkombination entschließen: wir
haben es hier m i t a n a m o r p h o t i s c h e n anthropomorphen Land-

GiacomoTorelli:
Bühnenbild
\tluumsius Kircher:
Anthropomorphe Landschaft

scharten zu tun, u n d es ist ein solches Wortgebilde n u n einmal so


<abstrus> wie dieses manieristische Verfahren, m i t dem wir es zu
tun haben.
Auch das w u r d e zur <Mode>. Wir h a b e n schon einige Beispiele
aus der Theaterliteratur u m 1600 zitiert. Die <reversible> Land-
schaft Arcimboldis findet m a n im 17. J a h r h u n d e r t oft, so auch in
den uns bekannten <Bizzarrie> Bracellis, in der flämischen Schule,
in der <Ars Magna> Kirchers usw. D e r neupythagoreische Esoteris-
mus wirkt in der Kunst weiter bis etwa 1660, d a n n verschwindet er
in den Clans der G e h e i m b ü n d e . Erst i m 20. J a h r h u n d e r t entdeckt -
natürlich - Salvador Dali das (angeblich) <Paranoische> des Ver-
fahrens und wendet es auch rasch an, so in seinen <Paranoic Faces>
bzw. paranoischen Häusern. E i n g e b o r e n e h o c k e n vor einer Hütte,
ein etwas mageres Bild, doch sicher nicht o h n e S t i m m u n g . Kippt
man es nach rechts u m , bis es in vertikale L a g e k o m m t , starrt einen
das <paranoische Gesichb an, die <Nadja> Bretons. M a n wird zuge-
ben müssen, daß das Verfahren bei Dali Fortschritte gemacht hat.
Die <Ubertragung> ist viel differenzierter, viel verborgener>. Arti-
stisch vollkommener ist also der rhetorische M e c h a n i s m u s , und
ahnlich unterscheidet sich die paralogische M e t a p h o r i k eines Paul
Eluard von derjenigen Göngoras oder gar von derjenigen Marinos.
Daß Dali a u ß e r d e m erkannt hat, wie sehr dieser Kunstgriff <Stim-
mung> einer romantisch-poetischen Landschaft erzeugen kann,
beweisen Zeichnungen in seiner Autobiographie.

J a n u s und die <Doppelgänger>


Der <Doppellandschaft> entspricht das <Doppelgesicht>. Wie
könnte eine Zeit, die das Doppeldeutige liebte, die m e h r von Pro-
teus als von Apoll, die m e h r von <Kasuistik> als von <Absolutem>
196 sprach, für die alles und jedes <reversibel> war, a u c h die Sünde, für
Marc Chagall:
Cellospieler. ly^y

Fabrizio Clerici:
Vater und Sohn

197
die alles (mindestens) einen doppelten Aspekt hatte, wie könnte
also eine solche Zeit das ganz konkrete Bild des altrömischen Tür-
gottes Janus übersehen haben, des Gottes <des Anfangs> auch, des-
sen Ursitz sich auf dem Mons Janiculus befand. Dieser Doppelkopf-
Gott wird schon in römischer Zeit zu e i n e m preziösen Dekorations-
motiv. Die H e r m e n an den b e r ü h m t e n neronischen Schiffen von
Nemi, die am E n d e des Zweiten Weltkriegs verbrannt wurden, be-
weisen, daß diese Stupore-Schönheit, in einer mythisch schon ver-
armtem Zeit also, bereits gefiel. L e o n a r d o h a t in den zeichne-
rischen Experimenten des Codex Atlanticus das Gesicht bereits
zerbrochen und verdoppelt, u n d auch das h a t Dali schleunigst
nachgeahmt, so z.B. in Z e i c h n u n g e n zu seiner Autobiographie.
Als Kunstmittel — über das Experimentieren h i n a u s — hat er den
<Trick>, denn das ist und wird es n u n , in seinem Porträt Sir Lau-
rence Oliviers als Richard HI. angewandt. Fabrizio Clerici verdop-
pelt) das <Doppelgesicht> gar in e i n e m Porträt von <Vater und
Sohn>. Chagall benutzt ihn in seinem <Dorfmärchen> in einem
ebenfalls <doppelten> Sinn, denn nicht n u r das Gesicht des <Cello-
spielers> (Titel des Bildes), sondern auch sein Körper wird zu dem,
<was er spielt>, wie ein Arcirnboldi-Jäger zu d e m wird, was er erlegt,
nämlich zu einem Reigen von Tieren. <Transponiert> in eine Kom-
position <halb> abstrakter Art findet m a n den römischen Janiculus-
Gott schließlich im Frauenantlitz eines Bildes von Picasso, das er
diskret <Der rote Sesseh nennt. Verschiedene Stufen der <Transpo-
sition> oder <Abstraktion> oder <Stilisierung>, aber uraltes <Prinzip>
oder <Motiv>. Es hat sicherlich nicht n u r einen europäischen Ur-
sprung, denn das Doppel- oder sogar das <Trias>-Gesicht findet
man in Indien oft, wie die <Trimurti> von Elefanta beweist. Auch im
<Gemachten> schaut uns somit noch mythische Urzeit, manieristi-
sche <Urgebärde> an.
Das <Doppelte>, das <Doppelwesen>, das Zwei- bzw. Vieldeutige:
der Wunsch wird wach nach psychologischen E r k l ä r u n g e n . Wir
werden es im letzten Kapitel dieses Buches versuchen. M a n sollte
jedoch schon hier davon überzeugt sein, d a ß wir es in solchen Fäl-
len nicht mit <isolierten> E x p e r i m e n t e n von <Narren> zu tun haben.
Die manieristische Literatur w i m m e l t von <Doppelgesichtern>. In
einem Theaterstück von Botrou, <Les Sosies> (1638), heißt es, alles
sei doppelt [double). Zwei M e n s c h e n w e r d e n zu <deux doubles>,
und <man verliert) sich (in dieser Konfusion), <man verdoppelt
sich>. In vielen Theaterstücken dieser Zeit spielt ein H e l d gleich-
zeitig zwei Rollen, er ist sein eigenes Doppelbild. E r ist zwar ein
<Einziger>, erscheint aber als ein <Doppelter>. Auf einer höheren
dramatischen E b e n e verwischt sich ü b e r h a u p t alles, fast jeder hat
ein <Doppelgesicht>, so in d e m - n e b e n <Hamlet> — großartigsten
literarischen Kunstwerk des M a n i e r i s m u s , in <Maß für Maß>.
Weltangst und Intellektualismus - d u r c h a u s echte <Sorge> im Da-
sein und eine spielerisch-verzweifelte oder verzweifelt-spielerische
Tendenz, diese <Angoscia> zu ü b e r w i n d e n - , sie beide führen zur
Gefahr einer Bewußtseinsspaltung.
Der Ausdruck <Intellektualismus> wird hier keineswegs in einem
polemischen Sinne gebraucht. Es soll jedoch hervorgehoben wer-
den, d a ß die Überbetonung intellektueller Kräfte, jede zerebrale
Hybris, die den Intellekt verabsolutiert, d. h. jede Gewohnheit, wel-
che die nur funktionelle B e d e u t u n g des Intellekts (im Sinne Berg-
sons) <hypostasiert> u n d den Geist d a m i t metaphysischen, mythi-
schen oder religiösen Bindungen entreißt, zu e i n e m Verlust h u m a -
ner Breite, menschlicher Ganzheit führt. Schon d a m a l s wird <Inge-
nium> mit Intellekt verwechselt. In der <Idea> b e g i n n t der Mensch,
nur noch sich selbst anzuschauen. Er sieht sich als <Wesen> in sei-
ner <Idea>, im Bewußtsein. Gleichzeitig schaut er sich - außerhalb
seiner selbst - in der Natur an. Der manieristische Mensch ent-
deckt damit, daß er einen Doppelgänger hat. Seinem <Idea>-Ich
tritt ein <Natur>-Ich gegenüber. Das führt - auf der Bühne - zu
tollen Identifikations-Rätseln. Pirandello und viele andere <Mo-
derne> haben dieses Spiel eines Rebus der Identifikation aufgegrif-
fen. Eines der Rätsel Kafkas: das Suchen nach der eigenen Identi-
tät.
Der moderne Kriminalroman verwandelt dieses einst durchaus
geistige, vor allem sinnbil dliche < S chach> - Spiel zu einem <krimino -
logischem Mensch-ärger-Dich-nicht-Rebus. Die genialen Identi-
täts-Metamorphosen des manieristischen Theaters, der manieri-
stischen Literatur und Kunst werden zum populären Rätselspiel
des <Enthüllens> von Doppelgesichtern in der Kriminalliteratur
unserer Tage. Bei besten Autoren ist dabei durchaus scharfsinniges
(acuto) <Ingenium> zu bewundern. In den gelungensten Kriminal-
romanen der letzten zwanzig Jahre ist die Poesie des Sinnlosen oft
<erstaunlich>, eine meraviglia für den Intellekt, ein Mittel des Er-
schauerns für das Gefühl, eine Landschaft von <Monstren> für die
Phantasie, ein inganno (Täuschung) für den Verstand. Insofern
entsprechen erstrangige Kriminalromane nach 1930 (Wallace ist
demgegenüber ein Biedermann) der manieristischen Theaterlite-
ratur von etwa 1600 bis 1630. Sie bilden also eine neue manieristi-
sche Gattung par excellence. Nur eines darf zur <Unterscheidung>
auch hier nicht übersehen werden: das <Doppelgesicht> unserer
Vorfahren hatte noch einen Rest <mythischen> Hintergrunds; zu-
mindest war es noch <Emblem> für ein <Zerbrechen> der Zeit, für
eine Ubergangssituation zwischen <Gestern und Heute>. Ähnliche
<Bindungen> wird man nur in ganz wenigen Kriminalromanen un-
serer Zeit finden. Hingegen ist das Doppelgesichtige, das Identi-
tätsproblem zu einem der wichtigsten Themata der europäischen
Lyrik und Problemliteratur geworden, so z.B. in Paul Valerys
<CycleTeste>.

22. D I E W E L T DES
TRAUMES

N e u e W a n d l u n g der <Idea>
'93° in Paris. Die Surrealisten wollten die Welt <schlafend> im
Traum erfahren, weil sie nur so <wahre> Bilder des Absoluten fin-
den zu können glaubten, Bilder, die jeder bloßen Zweckhaftigkeit,
jeder Verfälschung durch den Willen zu irgendeiner Tat, entzogen
waren. Auf einem Photo der Zeitschrift <La Revolution Surreali-
s t sehen wir die wichtigsten, damals noch geeinten französi- * i-yiWmber . 92q .
sc
hen Surrealisten, unter ihnen auch M.Ernst und S.Dali mit ge-
schlossenen Augen. Wenn es sich bei dieser Photomontage auch
n
"r um ein surrealistisches Gesellschaftsspiel handelt, so sind die
schlafendem Gesichter für den äußerst intensiven Traumkult be-
l e h n e n d genug, der damals von Dichtern, Schriftstellern und
Künstlern der europäischen Avantgarde gepflegt wurde. Bretons igg
<Nadja>, das Meisterwerk des Surrealismus, will beweisen, daß
diese durchaus romantische Heldin echter Wirklichkeit - träu-
m e n d und Wahnbildern folgend - in e i n e m ganz anderen Maße
teilhaftig wird wie die zu m e c h a n i s c h e m , <normalem> Verhalten
Das Phänomen der «Arbeitstei- gezwungenen Menschen unserer Zeit der Arbeitsteilung. 9 Die
lung« in unserer heutigen Zivilisa-
tion ist zu einen wichtigen wissens- Schriften Sigmund Freuds gaben den <Schlafenden> allerdings
soziologischen Begriff geworden. Schlüssel in die Hand, u m ihre T r ä u m e in e i n e m vorwiegend sexu-
Uer «Fragmentarinnu» in unterer
hetrugen Kultur ist durch die fort-
ell-symbolischen Sinne zu deuten, aber gerade das entspricht jeder
schreitende VrbertsteUung sicher zu Art von Manierismus. Der Manierismus ist in e i n e m entscheiden-
einem Teil zu erklären. Vgl. dazu den Sinne <Ausdruckszwang> eines pansexuellen Lebensgefühls.
Mai Si heier. Die VVissensformen
und die Gesellschaft. Leipzig 11)26. Die Manieristen zwischen 1520 und 1660 sind von sexuellen Pro-
blemen ebenso besessen gewesen wie u n s e r e h e u t i g e n Manieristen
— mit oder ohne Freud. Wenn wir h e u t e u n s e r e D . H . Lawrence
und Henry Miller haben, so verfügte das d a m a l i g e E u r o p a über
den <Pansexualismus> Aretinos u n d M a r i n o s .
Es ist für uns zunächst wichtig, noch nicht darauf zu achten, wie
Träume gedeutet werden, sondern darauf, daß sie ein weiteres Ele-
ment der <Idea>-Lehre sind. Von metaphysischer Bindung der
<Idea> (im Sinne Piatons u n d Plotins) ist allerdings n u n wirklich
keine Rede mehr. Das Ich n i m m t die <Idea>, d e n <Disegno Interno>
nun nicht m e h r wach, sondern schlafend auf. U m den <Disegno
fantastico metaforico> richtig zu erfassen, m u ß m a n sein Bewußt-
sein auslöschen. Die Natur ist jetzt vollends d e m inneren Blickfeld
entrückt. Natur u n d Bewußtsein gelten als für die Kunst geradezu
schädlich. Wer gut schreiben will, m u ß <automatisch> schreiben,
einer phantastischen Bilder-Maschine Kirchers entsprechend.
Wer gut malen will, m u ß Spiegelungen des T r a u m e s aufzeichnen,
Bilder des Unterbewußtseins, was in der M e t h o d e den Spiegclma-
schinen Kirchers ebenfalls entspricht. U n d sind die Träume nicht
geradezu <ungeheure> Landschaften von Chiffren, von Signaturen,
von E m b l e m e n für Geheimnisse, u n d w e n n es n u r in einem sehr
vereinfachten Sinne sexuelle <Geheimnisse> w ä r e n , wie das <Verti-
kale> als Symbol für den Phallus u n d alles <Runde> für die Va-
'" r'iir Tesauro schon sind Träume gina!11'
scharfsinnige Metapherin.
Der manieristische Urtrieb, die Welt in Bildern zu erfassen, die
man zwar in ihrer Zusammenhanglosigkeit erlebt, aber zu hiero-
glyphischen E m b l e m e n zusammenfassen k a n n , erhielt ab 1920
durch die Schriften Freuds einen n e u e n I m p u l s . Freud, der wie
Ficino erneut uralte orientalische Weisheiten in einem allerdings
oft merkwürdig rationalisierten Sinne d e m bürgerlichen Europa
vermittelte, hat als orientalischer Magier, wenigstens für eine Zeit-
lang, die Schaum-Schlösser des spätbürgerlichen Idealismus zer-
stört. Aber nicht n u r das. Sein größeres Verdienst liegt darin, den
<Traum>, diese unmittelbarste Manifestation des U n b e w u ß t e n , als
befreiendes Gegenbild dem <idealistischen> Bationalismus seiner
Zeit entgegengesetzt zu haben. Ein E i n w a n d gegen viele seiner
Nachfolger und vor allem gegen die g e s a m t e n <Anti-Bürger> der
späteren Zeit: sie n a h m e n sich bis zur totalen V e r g r ä m u n g zu ernst
in ihrer angeblich historischen Einzigartigkeit. E s k a m unter den
Hierarchien dieser Avantgarden zu entsetzlichen Konflikten. Das
spätere <ästhetische> Philosophieren wird zu e i n e m lasterhaften
Geschwätz. Es leidet an schriftstellerischen E r b s ü n d e n : Lang-
weiligkeit, Konfusion, historischer Unwissenheit u n d an einem
avantgardistischen Zopfstil. Sein M e r k m a l : pseudoesoterische
Arabeske. Wir wollen uns daher z u m T r a u m - M o t i v mit wenigen
Beispielen begnügen u n d für weitere F o r s c h u n g auf die ausge-
zeichnete Bibliographie von Maurice N a d e a u hinweisen.

200 Daraus zitieren wir: <Eine Schlaf-Epidemie befiel die Surreali-


sten>. <Sie sprechen ohne Bewußtsein> (Aragon). Der Dichter Ro-
bert Desnos wird als ein <gewaltiger Schläfen bezeichnet (Breton),
der <magische> Welten enthüllt (im Schlaf). Im <Delirium> könne er
werden ein <Religionsstifter, ein Städtegründer, ein Volkstribun>.
Seine <Träume> haben <genialen> Charakter. Aragon schreibt eine
<Vague de reves> (1924). Traumerzählungen schließen den Surrea-
listen in den Cafes Montmartres, am <Nabel der Welt>, an der
Kreuzung der <Coupole> in Montparnasse, den archimedischen
Punkt auf, in dem alle Gegensätze zusammenfallen.
Es war also eine <groteske> Zeit; aber wer sie, diese Jahre um
1930, miterlebt hat, wird diese Mischung von Phantastik, auch von
ehrlichem Wollen in einem antikonformistischen Sinne gegen die
<terribles simplificateurs> jeder Art, von verzweifelter Selbstbe-
hauptung gegen den aufkommenden neuen Krieg als personifi-
zierte Erscheinungsform der verbrecherischen Dummheit (nach-
dem der erste Krieg kaum vorbei war) als unvergeßlich bezeichnen
müssen. Wenn auch Berge surrealistischer Literatur jetzt schon im
Orkus verschwunden sind, das Werk eines Paul Eluard werden un-
sere Nachfahren sicherlich als etwas anderes werten müssen denn
als bloße Dokumente. Seine Epigonen aber? Die so vieldeutige
<Urgebärde> <manieristisch> hat einen ebenso vieldeutigen Namen
erhalten. Wie könnte es auch anders sein? Manierismus nämlich.
Manieristen galten, wie wir uns erinnern, lange Zeit bloß als
<Nachahmer>. Das stimmt keineswegs, wie wir jetzt wissen. Die
Epigonen der Manieristen aber sind besonders sklavische Nachah-
mer. Sie ahmen nicht nur die Natur nach, sie kopieren Subjektives,
sie <äffen> also persönlichstes Eigentum nach.
Dieser Exkurs, der in einen erlebten Mittelpunkt der Manieris-
mus-Probleme als Adäquate zur <Problematik der modernen Men-
schern geführt hat, war unerläßlich, weil er uns ein weiteres Ele-
ment der Unterscheidung an die Hand gibt. Der Manierismus von
1880 bis 1950 war ahistorisch, wenn nicht antihistorisch. Der Ma-
nierismus um 1600 hatte nicht nur (wie fragwürdig auch immer
dies geworden war) seine religiösen Bindungen nicht aufgegeben.
Er entwickelte sich stes auf entsprechende Aussagen der Vergan-
genheit bezogen, sei es auf Alexandrien, auf das Hadrianische
Rom, auf die manieristische Literatur des Mittelalters. Es gehört
nun zu den merkwürdigsten Erscheinungen der Zeit nach 1950,
daß die heutige <Moderne>, nachdem sie zu bemerken beginnt, daß
sie an einen Engpaß bloßer Gegenwärtigkeit geraten könnte, in
einem zweifellos schöpferisch anregenden Sinne allerorts <Urah-
nen> entdeckt. Diesen Vorfahren aus gar nicht so grauer Vorzeit
«erden jetzt in den besten Galerien Europas Altäre aufgerichtet.

Desiderio Monsüs Geheimnis


D»e vielleicht bedeutendste Entdeckung der letzten Jahre, der sur-
realistische Vorfahr par excellence, der <rätselhafteste> Maler Euro-
Pas zwischen 1600 und 1650, heißt: Desiderio Monsü. Bevor die
sc
hwer zu lüftende Identität dieses Malers von Träumen an Hand
v
'°n Forschungen aus allerletzter Zeit etwas gelüftet wird, müssen
W1
r uns etwas von seinem Werk ansehen, von einem Werk, das
tischen 1620 und 1630 entstanden ist, in einer Epoche, die für
de
n Manierismus zwischen Spätrenaissance und Barock also einen
Höhepunkt bedeutet. Das Gemälde, das wir <Apoll und der Klee- 201
blatt-Moncb nennen wollen, n i m m t die Romantik und den Surrea-
lismus vorweg, d.h. die elegische R u i n e n r o m a n t i k als Traumland-
schaft und die Überschneidung von Bildern im Traum, im surreali-
stischen Sinne. Der Mond umfaßt ein fünfblättriges Kleeblatt, und
das könnte ein Einfall (im Schlafe) von <Nadja> sein. Die Figure n
auf diesem Bild vereinen sich (in ihrer Transparenz) mit den Un-
tergangsrequisiten. Rechts oben, über einem mächtigen Kubus
thront so etwas wie eine Glaskugel, in welcher die <Signatur> eines
menschlich-übermenschlichen Antlitzes sichtbar wird. Schemen-
Plastiken kleben an den S c h e m e n - S ä u l e n wie Grotesken im Vati-
kan und in der Engelsburg an M a u e r n , K a m i n e c k e n , Türen und
Fenstern. Beschwörende, unendlich zarte Gesten der Figuren! Sie
scheinen sich zuzuflüstern: Stört diese Stille nicht! Laßt uns diesen
Traum nicht unterbrechen! Knappe, <abstrakte> malerische Mittel
Farben, die allen weisen Farbkompositionen der beila pittura wi-
dersprechen, eine meisterhafte N u a n c i e r u n g zwischen Schwarz
und Weiß, eine geradezu geniale <Vereinigung> von elementaren
Farb-<Kontrasten>.
Wer ist dieser in Europa jetzt schon sagenhaft w e r d e n d e Deside-
rio Monsü? Neuere Forschungen h a b e n ergeben, d a ß er etwa 159?
in Metz geboren wurde, schon 1612 in R o m auftauchte u n d 1620
nach Neapel reiste, wo er, in der H e i m a t s t a d t Marinos, bis zu sei-
nem (zeitlich unbekannten) L e b e n s e n d e wirkte. M a n n e n n t ihn
einen Maler p h a n t a s t i s c h e r Architekturen>, einen Maler von <Ka-
tastrophem. Das ist richtig, aber m e h r als m i t dem üblichen
granum salis. Wie auch i m m e r die <Katastrophik> in solchen Bil-
dern erregen mag, sie hat wenig mit der konkreten Endzeit-Vorstel-
lung der Dürer, Leonardo usw. zu t u n . Sie sind Abbilder von hallu-
zinatorischen Traumkatastrophen, von e i n e m fast schizothymen
träumerischen Alpdruck. Sie sind also sehr wahrscheinlich nicht

Desiclerio Monsü: Explodierende


Kirche
Desiderio Monsü:
San Giovanni

<Embleme> für die politisch-soziale Vertracktheit einer Epoche,


sondern für die ganze spezifische psychologische Situation einer
Ausweglosigkeit, für einen persönlichen Alpdruck, genauer für ei-
nen Künstler, der den phantastischen (<Disegno fantastico>) Deli-
rium-Charakter von Träumen (im surrealistischen Sinne) entdeckt
hat, wobei es ihm, jenem Desiderio Monsü, sehr wahrscheinlich
ziemlich gleichgültig war, wer gegen wen gerade Krieg führte.
Wenn wir uns die Größten und auch die nur Abseitigen unseres
Berichts noch einmal vergegenwärtigen: Pontormo, Parmigianino,
Rosso, Beccafumi, Lucio Luzzi, Schön, Greco, Tintoretto, Cam-
biaso, Arcimboldi, u m nur einige zu nennen, so wissen wir: jeder
einzelne steht im <manieristischen> Gesetz auf unverwechselbare
persönliche Weise. Genau das gleiche gilt für Monsü. Er ist <Ma-
nierisb in jeder Hinsicht: Farbgebung von Cambiaso beeinflußt,
hieroglyphische Landschaft, magische Räume, Traumvisonen
usw. Aber Monsü stellt auf seine Weise, innerhalb dieser Tradi-
tion, etwas Neues dar: Er entdeckt die Landschaft der Träume,
jenseits ihres <emblematischen> Charakters, er schildert Träume
<schlechthin>, in ihrer puren Alogizität, und zwar meist halluzina-
tonsche Träume, Elemente der von Dali allzu programmatisch for-
cierten <paranoischen> Welt.
Ein Blick in eine <Explodierende Kirche> erschließt dem vorbe-
reiteten Leser auch andere <manieristische> Elemente: Synkretis-
mus (der architektonischen Stile), beschleunigte Perspektive,
* rauen> in der <Schönheit>, Raumflucht, Pyrotechnik als <Ars pa-
r
aoohca> usw. Doch alles dies sind eben nur Elemente im Sinne
? l n e s m a nieristischen Abc. Unverwechselbar ist die Hypnose-
| andschaft des Traums, die Wahrnehmung der Welt im (er-
ehe Farbabbildung ag
u n d r 0 C k e n e n ) S c h l a f - Dazu zwei Bilder: die <Zerstörung Sodomas>
<S Gi
d" - ovanni>, ein in der plötzlich eintretenden Ruhe beson-
h e i m l i c h e s Werk
unrJ ^ > das nun schon die Grenze von <Traum>
n
<Wahnsinm verwischt. Dann die wirklich <irre> <Zusammen-
Gonf 6 K i r c h e > ' i n welcher sich nicht nur die klassische Ruine mit
eine T ^ " ^ r o m a n i s c h e Arkaden mit indischem Filigran ver-
nnS FigUren recken sich
zent" 1 " allerorten, und mitten in der
ral geborstenen
auf e i n e m Kirche, die den Himmel freigibt, erkennen wir
Ruinenrest römisch-antiken Flachziegels beängsti- 203
Desiderio Monsü:
Ruinen und Arkaden

gende L e m u r e n , Illustrationen geradezu jener d n n e r e n S t i m m o ,


welche die Schizophrenen d a u e r n d zu h ö r e n a n g e b e n .
Dagegen gibt es bei M o n s ü a u c h <lustvoll>-beseligt-klare
Traumgebilde, so etwa das juwelenhaft-preziöse Schloßgebilde im
<Garten Armidas>, eine Märchenwelt erotischer Lüsternheit ä la
Marino und eine Stadtansicht, die wie eine M u s i k - M a s c h i n e um
1600 aussieht. M a n hört Musik einer Spieluhr, u n d alle Dinge, die
phantastische Architektur, die Skulptur-Reigen, die Säulen, die
Wolken, drehen sich nach einer Melodie, die n i e m a n d außer dem
Künstler hört, nach schwermütig-süßen choreographischen
Traumvorschriften. Die Farben: dunkles B r a u n , entschlossenes
Schwarz, beinernes Weiß, morbides Gold. Die Technik: eine Akri-
bie des <Irregulären), eine M i s c h u n g v o n überscharfer Genauigkeit
und großzügig mißachteten Umrissen.
Hält dieser <Surrealist> zur Zeit Shakespeares heutigen Entdek-
kern der Welt des Traumes stand? D a s ist eine untergeordnete
Frage. Für alle Liebhaber der bildenden Kunst, welche das <Poe-
tische> in der Kunst suchen, sei es in e i n e m Genrebild oder in
einem Stilleben, wird M o n s ü als ein M a l e r von h o h e m Rang gel-
ten. Die etwa 80 Bilder, die m a n von i h m (oder aus seiner Werk-
statt) inzwischen entdeckt hat, sind a u c h im Preis <phantastisch>
gestiegen. Wenn die europäischen B ö r s e n n o t i e r u n g e n so weiter-
gehen, wird m a n für einen M o n s ü in Paris, R o m , L o n d o n und New
York wahrscheinlich bald m e h r zahlen als für e i n e n durchschnittli-
chen Rubens.
Wer ist also dieser inzwischen sagenhaft g e w o r d e n e M o n s ü De-
siderio, der buchstäblich jetzt preis-gekrönte U r a h n e unseres heu-
204 tigen <Traum>-Surrealismus? M o n s ü w a r Lothringer. E r gehört zu
den großen Malern aus dieser Landschaft, die germanische Ex-
pressionskraft mit französischer Preziosität verbinden. Und nun
begegnet uns allerdings eine biographische meraviglia: dieser
<Monsieur> (Monsü = neapolitanische Verballhornung des franzö-
sischen Worts) hat keine rechte <Identität>. Desiderio heißt franzö-
sisch Didier, aber es hat offenbar in Neapel (um 1620) eine <Werk-
statt> gegeben, heute würden wir sagen: eine Avantgarde, die min-
destens drei Künstler vereinte. Die meisten Bilder von <Monsü>,
wer hat sie gemalt? Desiderio Monsü, Francois Nome, Didier
Barra? Man hat sich in den letzten (zwei) Jahren Mühe gegeben,
das zu unterscheiden. 11 Der Darsteller der <Welt des Traums>, ct. Katalog der 1 Hin Wllltflllllll
17.Jahrhundert 0 < Ue» I. Rom-
ohne symbolischen, emblematischen, allegorischen oder meta- dahl, Notes im \liiiisu Dettderio,
phorischen Sinn, hat keine genau umrissene Persönlichkeit. Was Göteborg 1944. PeJü Sluyt, Moruu
werden unsere Nachfahren um 2000 sagen, wenn sie, sagen wir, Desiderio, l'eintle de i'lneel l..i \ K
Medicale o.e. Giovanni I III.IIM 1111
einhundert Gedichtbände <automatischer> Traumlyrik unserer AuHtellungckataloa, dei iGaUeru
epigonalen Surrealisten nach 1930 lesen werden? deH'Olielisc Ol o . I he I .iiil.islii
Visions (lf MullMi Desiderio' The
Wenn sie also nur aus diesen <Assoziationsketten> <alogischer> John and Mahle R i n r f n g Mufti Hin
Metaphern eine Persönlichkeit zu rekonstruieren hätten? Wer also of Art Sarasota, Florida. 1950 K..
lalog).
ist Desiderio Monsü? Er hat viele Namen! Sicher ist: der <Meister>
dieser mysteriösen Avantgarde um 1620 kam aus Metz. Er ist der
letzte <große> Manierist in der europäischen Malerei nach Tinto-
retto und Greco. Er hieß wahrscheinlich Francois de Nome, aber er
lebt weiter unter dem Namen Desiderio Monsü.

Der <Andrang> des U n b e w u ß t e n


Für unsere phänomenologische Untersuchung ist jedoch folgen-
des interessanter: Als Kunstkritiker Europas vor kurzem Bilder
Monsüs begegneten, schrieben sie einmütig von <delirierenden
Träumen>. Man verglich ihn mit Odilon Redon (geb. 1840), der
von sich sagte: <Meine Intuition ist der... Wahnsinn» und olles
gelingt, wenn man sich gehorsam dem Andrang des Unbewußten
hingibt). Wir stehen - wieder - vor einer Grenzsituation: Traum-
Welt und Irr-Sinns-Landschaft interferieren, die Tendenz zur

A.Beloborodnfh
See im Forum

205
alogischen Metapher kennt keine G r e n z e n m e h r . M o n s ü ist - zu
seiner Zeit - in dieser Beziehung a u c h kein <Einsamer>, wie man
einer für uns n u n nicht m e h r allzu e i g e n a r t i g e m Darstellung des
Globe-Theaters, des Shakespeare-Theaters, in L o n d o n entneh-
men kann, das nach dem Brand von 1613 in achteckiger Form wie-
deraufgebaut und 1644 abgerissen w u r d e . Diese Gravüre stammt
also aus der Schaffenszeit Monsüs. Sie erinnert u n s a n ein zeitge-
nössisches Bild, an die <Kirche> Carlo Carräs. Die architektoni-
schen Formen bilden Gesichter. <Magische> Architekturlandschaf-
ten findet m a n in der zeitgenössischen Kunst E u r o p a s u n d Ame-
rikas häufig. Von dem in Rom l e b e n d e n M a l e r u n d Architekten
Andrea Beloborodoff, der für Paul Valery Illustrationen geschaf-
fen hat, gibt es eine ganze Serie derartiger Bilder, so z.B. <See im
Forum>. Wird hier eine Ruinenlandschaft (ohne Zeugen) <kata-
siehe Farbabbildung 30 strophisch> überflutet? Auf Fabrizio Clericis Bild <Venedig ohne
Wasser> findet das Umgekehrte statt: ein gespenstisches Ruinen-
Venedig trocknet über der versandenden L a g u n e aus.
Die <Magie> der Architektur war a u c h d e m Mittelalter gerade in
seiner <manieristischen> Zeit bekannt. Wieweit die eigenartigen
Häufungen von Figuren in den architektonischen Gebilden auch
Monsüs von damaligen Vorstellungen über Indien beeinflußt sein
mögen, kann m a n n u r vermuten, zumal uns n o c h n ä h e r e Einzel-
siehe Farbabbildimg 31 heiten über das L e b e n Monsüs u n d seiner Werkstatt fehlen. Daß
aber einer der bedeutendsten Darsteller solcher <abstrusen> Archi-
tekturlandschaften von Erlebnissen u n d E r f a h r u n g e n im Orient
beeinflußt ist, kann m a n beweisen. Fabrizio Clerici hat nach einer
Reise im Orient ein illustriertes <orientalisches> Tagebuch ge-

Kabrizio Clerici: Vision einer


orientalischen Stadt
schrieben bzw. gezeichnet. Man findet darin <hybride> Formen
orientalischer Architektur <halb-abstrakt> stilisiert, schließlich
aber als weiteres <Dokument>: eine Skizze des <Großen Ei-Tem- sielie Karhabhildung ja
pels> in Anatolien, die Clerici während der dortigen italienischen
Ausgrabungen im Jahre 1953 machte. Die <Traum>-Architektur-
landschaft wird zu einem Gleichnis für das <Labyrinthische> der Welt,
in dessen Kernraum verborgen liegt das <Ei>, Symbol des Lebens
und seiner ständigen Erneuerung... in <geprägter> Form, die <le-
bend> sich <erneuert>.

23. Z I E R S E U C H E

Kosmopolitismus
Die manieristische Kunst überschreitet in der Geschichte die
Grenzen von Raum und Zeit. <Nicht nur die Grenzen zwischen den
Ländern, Völkern und Sprachen werden überwunden, sondern
auch die Widerstände des Geistes und der Materie.) <Niemals war
die gegenseitige Beeinflussung größer, die ungehemmte Entfal-
tung der Ideen so allgemein, die Zusammenarbeit zwischen den
schöpferischen Städten Europas so eng und unauflösbar.) Die ma-
niera, von der nun so vielfältig erlebten und gedeuteten <Idea> an-
geregt, bildet in bestimmter Weise in allen Städten Europas, zwi-
schen 1550 und 1650 wie zwischen 1890 und 1950, auch die For-
men zu neuem Schmuck um, auch die Möbel, Gewänder, Geräte,
das Geschirr und die Bestecke, die Keramik. Das gesamte Kunstge-
werbe in diesen beiden Epochen wird manieristisch. Bruno Tho-
mas führt dazu folgende Merkmale an: Seltsamkeit, Seltenheit,
Extravaganz, das Außergewöhnliche, das Erstaunliche, Grausige,
das Ausgesuchte und Monströse, das Widerliche und Seltsame. Zu
den Formen: sie sind <gewunden, gebogen, willkürlich und sogar
gewaltsam verändert). Wir begegnen also einer universalen Aus-
breitung jenes <Mythos des Irregulären), von dem wir im dritten
Teil unserer Darstellung berichteten, gestern wie heute. Wie aber
war - damals - die relativ rasche Ausbreitung eines gemeineuro-
u
Über die damalige Bedeutung des
päischen Stils möglich? Wir haben es im Abschnitt über Parmigia- Ornament-Stichs als Aa< lm< hti-u-
nino bereits angedeutet: durch den Kupferstich, insbesondere mittel> (das damalige -Photo.!: Der
durch den <Ornament-Stich> als Vorlage für kunstgewerbliche in Prag unter Rudolf II. wütende
B. Spranger L B. kopierte um i >j8^
Schöpfungen. Der <Ornament-Stich> des 16. und 17. Jahrhunderts Stiche nach l'armigianimi und sol-
ist nun in einer doppeTteh"Weise~für uns interessant. Er führt die che von Floris. Die Gebrüder Sade-
lerz.B.. die fruchtbarsten kupferste-
ornamentakGroteske, die uns in den <faulen> Formen der Engels- cher um 1600. wirkten in JJHM? Eu-
burg begegnete, in extremer, geradezu <verrückter> Weise fort, und ropa. Johann ist 1 550 in Brüssel ge-
boren und stirbt 1600 in Vndig.
diese damaligen manieristischen Ornament-Stich-Blätter oder Raffael. 1561 in Antwerpen gebo-
-Bücher haben manche zeitgenössische Künstler zu neuen (irregu- ren, stirbt 1628 in München; Gilles
(geb. 1560 Antwerpen) arbeitet n,
lären) Formen angeregt. 12 Italien und Prag, wo er 1609 (ein Le-
ben beschließt. Die •l'bermitthuig
Doch wir können durch einen kurzen Einblick speziell in den der Formen >. die man jetzt erst zu
damaligen Ornament-Stich, wie gesagt, auch mehr verstehen als beobachten und zu verstehen be-
die Ursache für die damals schon so rasche gegenseitige Anregung ginnt, ist damals also durchaus
verkehrstechnisch gesichert. Gei-
«nd für die Internationalität des Manierismus (beide bedingen sich stesgeschichtlich ist es ja gewiß, daß
gegenseitig). Wir wissen ja bereits, daß der Manierismus nach <of- - wie schon Vasari berichtete - Pbn-
nen> tormo seine mamera änderte, als er
Politischen Systemen strebt, wie der Klassizismus nach (ge- Stiche von Dürer gesehen hatte
schlossenen). Die aristokratische Kultur Europas um 1600 war viel (Vgl. J.Adhemar. Amsterdamer Ka-
talog o.e.)
osmopolitischer als diejenige des frühen Liberalismus zur Zeit
Voltaires, des <mittleren> Liberalismus zwischen 1870 und 1914
und des zwischen <Links> u n d <Rechts> s c h w a n k e n d e n Liberalis-
mus nach 1950. Die m e h r ideologische Internationalität des Sozia-
lismus ist fast zu einer Fiktion geworden. D e r heutige Kommunis-
mus ist n u r noch insofern <international>, als er seine Slogans aus
Arsenalen Moskaus bezieht. Es gibt d a h e r im heutigen Europa,
außer der katholischen Weltkirche, wohl n u r n o c h einen geistigen
Kosmopolitismus neben demjenigen des a k a d e m i s c h e n Humanis-
mus: den <manieristischen> Esoterismus.

Epilepsie des Formsinns


Doch wir wollten eine weitere <outrierte> E n t w i c k l u n g des Manie-
rismus im Ornament-Stich zwischen 1550 u n d 1650 wenigstens
kurz kennzeichnen, weil diese d a m a l i g e n O r n a m e n t - S t i c h e unsere
zeitgenössische Kunst wie unser heutiges Kunstgewerbe seit den
<neobarocken> Bestrebungen u m 1890 angeregt h a b e n . Gleichzei-
tig führen uns gewisse extreme O r n a m e n t - S t i c h e u m 1600 in eine
der gefährlichsten geistigen <Sackgassen>, die d e n Manierismus al-
ler Zeiten bedrohen. Eine <Ziersejiche> entsteht, ein <wahnsinni-
ges> Nur-noch-Spielen mit Form-losigkeit, ein gelegentlich durch-
aus lustvolles Eindringen in Bezirke des P a r a n o i s c h e n . In diesem
Manierismus u m seiner selbst willen k ü n d i g t sich seine eigene
Agonie an. Die Zierseuche in gewissen Ornament-Stich-Büchern
entartet zu einer Epilepsie des Formsinns. W i r h a b e n es, wie wir
sehen werden, d a n n mit der k r a n k h a f t e n Reproduktion einer
Pseudo-Traumwelt zu tun. Wie im T r a u m die Bilder ineinander-
fließen, so im grotesken O r n a m e n t - S t i c h , dessen erste <faule>
Form wir u. a. in der Engelsburg k e n n e n l e r n t e n . Die Welt der <In-
halte> und der <Formen> h a t jetzt ü b e r h a u p t keinen Charakter
mehr. Nicht n u r <jeder> k a n n sein eigener <Doppelgänger> sein,
nicht nur <jedes> läßt sich mit allem vergleichen, die elementarsten
Formen, die wir bisher noch t r e n n e n u n d d a n n unterscheiden
konnten, lösen sich auf in d e m <Warzen-, Brei- u n d Quallenwesem
der manieristischen Zierseuche. Sie verliert jedoch, u n d das ist das
Entscheidende, ihre kunstgewerbliche Zweckgebundenheit: sie
regt nun Maler u n d sogar Bildhauer an. M e t a p h o r i s m u s und Me-
tamorphismus des Manierismus entarten in einen manieristischen
<Altersstil>, in die paranoische Agonie des nur noch programmati-
schen A-Morphismus.
Einer der <Herolde> dieser D e k a d e n z des M a n i e r i s m u s regt sich
schon relativ früh: der 1550 in S t r a ß b u r g g e b o r e n e Wendel Diet-
terlin. Die Überfülle von <alogischen> Zieraten veranlaßt dazu, von
einem <Knorpelornament> zu sprechen. Die entfesselte Lust an ei-
nem nun schon weder logischen n o c h a u c h n u r <metaphorischen>
Fabulieren, von Symbolik ganz zu schweigen, veranlaßt gerade in
Nordeuropa zu tollkühnen P h a n t a s t e r e i e n , a u c h im Kreise der
Punzenstecher, Schreiner u n d Juweliere. Aus d e m Knorpelorna-
ment wird das <Nagelneue seltsame G r e m p e h Christoph Jamnit-
zers, aus diesem die völlig u n g e h e m m t e Z i e r s e u c h e der Flindt und
Genossen. Eine M i s c h u n g entsteht aus Schnörkeln, Schnecken-
hüllen, Knorpelquellungen u n d Körpergliedern. 1611 gibt Paul
Flindt seine <i2 Schtucklein etlicher S c h n a w l w a i d t (Schlauheit)
mit 4 Fandast-(Phantast-)Köpfen> h e r a u s . G e r ä t e u n d Geschirr
verwandeln sich in Fratzen wie bei Arcimboldi - umgekehrt. Aber
es bedeutet dies wirklich n u n gar nichts m e h r . D a s <Material> der
Handwerker verflüchtigt sich, es wird nicht nur breiig oder teigig;
es w i r d - flüssig, wie die T ö n e in Arcimholdis <Perspektiv-Laute>
zu Farben werden. Die A g g r e g a t z u s t ä n d e werden aufgelöst. Der
Ursumpf scheint die <letzte> (höchst anrüchige) Metapher zu wer-
den. Erinnern wir u n s a n d e n verzweifelten Ausruf des alten Mi-
chelangelo, n a c h d e m er < s oviel P u p p e n > gemacht hatte: <Was
hilft's..., wenn m a n so e n d e t wie der, Welcher den Ozean überque-
ren wollte und im Sumpf absackt?!> U n d was brachte ihn dorthin?
<Die wohlgelobte Kunst. > W i e dozierte Federico Zuccari? <Die
Kunst entwickelt sich aus der Kunst> Die <autistische> Selbsterfül-
lung der Kunst aus d e m B e g e g n e n m i t N u r - n o c h - K u n s t oder mit
Nur-noch-Literatur führt zur Selbstauflösung. Der Manierist, der
den <Natur>-Partner g a n z aufgibt, wird selbst zu einem <Quallen-
wesem. Die extreme Identifikation mit der <Idea>, das Abhängig-
Sein von nur noch autistischen Vorstellungen fordert die Rache der
<Natur> heraus. Sie überwältigt die hybrid gewordene Imagina-
tionskraft gleichsam mit vorgeschichtlichem. Urschlamm: mit dem
<Teig> eines sinnlos g e w o r d e n e n Spiels. D a s echte Spiel aber ist
immer eine m e h r oder w e n i g e r sublime Form von (zumindest) ego-
isme ä deux, von O r d n u n g u n d Zufall, vori Gesetz und Willkür, von
Ratio und Alogik, v o n . . . M a n n Und Weib-
Zuccari verlangte n o c h an e i n e m H ö h e p u n k t des europäischen
Manierismus, m a n sollte die <Natur> doch nicht ganz aus den <Au-
gen> verlieren. D e r <Manierist> wird u n d ist nur aus der Spannung
fruchtbar. Es lohnt sich, dazu F. von G u g e l s <Vog e l-Phantasie> zu
betrachten. Die Tendenz zur Verwischung der <Aggregatzustände>
ist sichtbar, aber eine <zentrale Naturfbrrm herrscht noch, schafft
<Spannung>, u n d w e n n es — höchst neuromantisch — nur eine
Blume ist. W e n n der M a n i e r i s t dieses Spannungsverhältnis zur
Natur verliert (ohne sie d a m i t n a t ü r l i c h im mindesten kopieren zu
wollen), hat seine T o d e s s t u n d e b e g o n n e n - Uns scheint, daß vor al-
lem in extremen M a n i f e s t a t i o n e n d e r hypermodernen, d.h. fast
nicht mehr kontrollierbaren Musik, die Eigenart des <Quallenwe-
sens> der damaligen Ornament-Stich-Zierseuche sich wiederholt.
Die manieristische Musik u m 1600 hatte noch Strukturen. Die Ex-
tremisten in der sogenannten heutigen <modernen> Musik, mit
A u s n a h m e der großen Meister, h a b e n , wenigstens <fürs Ohr>,
keine mehr. Wir wollen damit k e i n e m Pessimismus verfallen. Im
Gegenteil: der Manierismus Europas n a c h 1950 zeigt, daß er wie-
der Breite, Fülle, Weltweite gewinnen will. Strebt er danach, der
Shakespeare-Zeit, wenigstens in dieser Hinsicht, ebenbürtig zu
werden? Sicher ist doch wohl dies: der heutigen Atom-Stahl-Pha-
lanx von hochaufgerüsteter M a s s e n d u m m h e i t k a n n m a n auf die
Dauer — gerade im geistigen und künstlerischem Sinne — mit Er-
13
<Daher scheint fast imaufhebbar folg nicht nur eines entgegenhalten: Teig, Brei u n d Schlamm. 1 3
die Grenze, wo in irgendeiner Form
wieder die Gewalt durchbricht. Die Einer der zeitgenössischen Künstler Italiens, L e o n e Minassian,
Frage kehrt wieder, ob Gott oder der zeigte auf der Biennale von Venedig (1956) eine Folge von <Grovi-
Teufel die Welt regieren (Karl Jas-
pers, Einführung in die Philosophie.
glio di Corpi>. <Positiv> gedeutet, k ö n n t e m a n m e i n e n , hier eine
München 1955) höchst eigenwillige, aber durchaus geistige Tendenz zu bemerken,
die dem bloß <Unberechenbaren> der Welt im manieristischen <Or-
nament>-Stich (von damals und heute) entrinnen will.
Wieder begegnen wir einem, allerdings <abstrakten> <Laby-
rinth>, d.h. einer Synthese von B e r e c h e n b a r e m u n d Unberechen-
barem. U n d was hindert uns, in diesem so m e r k w ü r d i g <isolierten>
Gebilde, jene <nodi strani>, jene <seltsamen Knoten> Dantes wie-
derzuentdecken, die <rätselhaften Knoten> des indischen Susna
auch, die <Welten-Verknotung> als das <Geheimnis> Gottes?
An H a n d solcher zeitgenössisch-moderner Gebilde mit ihrer
seltsamen <Anonymität> wird allerdings auch eine andere, eine ne-
gative D e u t u n g möglich, sofern m a n a n n e h m e n m ü ß t e , daß auch
hier mit <teigigen> Formen n u r <gespielt> werde: d a ß nämlich auch

Desiderio Monsü:
Der babylonische Turm

2 1 0
heute eine manieristischer Altersstil allmählich der Formlosigkeit
verfallen könnte. Gäbe es keine echte Verzweiflung mehr? Werden
die Beziehungen zur <saturnischen> Weisheit vergessen? Es würde
dies zu einer der wahrhaft <monströsesten>, <alogischen> <Koinzi-
denzien des Gegensätzlichem der Menschheitsgeschichte führen
können: der Wahn-Sinn der hybriden Macht würde mit dem Wahn-
Sinn der hybriden <Anti-Macht> zusammenfallen. Wenn derartige
Opponenten die gleiche Wahn-Sinns-Sprache reden, was wäre
dies anders als eine exakte Wiederholung der babylonischen
Sprachverwirrung, deren Symbol, den <Turm zu Babeb, uns
Monsü in einer sicherlich nicht beruhigenden <Traumlandschaft>
zeigt. Zwei Welten mögen sich in diesem Labyrinth einer doppel-
tem Hybris gegenüberstehen... Sie laufen ständig aneinander vor-
bei. Sie haben keine gemeinsame Sprache mehr. Beide Welten se-
hen sich nur noch mit den Augen des Wahnsinns an.

24. WAHNSINN

Agonie im Extremismus
Schon Pietro Aretino (1492-1556), Publizist, Skandalmacher,
<panerotischer> Pornograph, Kunstsammler und Verfasser religiö-
ser Abhandlungen, hatte geschrieben: <Göttlich ist der schöne
Wahnsinn (follia) der Inspiration.> Das ist noch platonisch, selbst
bei diesem ersten genialen <Background>-Journalisten Europas,
den weltliche und geistliche Herrscher fürchteten und verfolgten
oder benutzten und belohnten. Diese <Theia Mania> wurde von Fi-
cino interpretiert und empfohlen. Sie ist ein Merkmal aller <satur-
nischen Melancholiker). Am Ende des Manierismus wird auch
dieses eine Merkmal der schöpferischen Persönlichkeit verabsolu-
tiert und säkularisiert. Aus der <Manier> wird allmählich also nicht
nur <Manie>. Der Künstler gilt nun erst dann als wahrhaft produk-
tiv, wenn er manisch ist. Sein Werk ist nur dann künstlerisch echt,
wenn es <wahn-sinnig> ist. Der Wahn-Sinn wird damit zum extre-
men Ausdruck des Manieristischen. Der englische Lyriker Cra-
shaw schreibt von der <glorious madness of a Muse>, vom glorrei-
chen Wahnsinn einer Muse, <deren Füße über die Milchstraße
schreiten können>. Einen der ergiebigsten Traktatisten der manie-
nstischen Literatur um 1650, Emanuele Tesauro, haben wir auch
m dieser Beziehung schon zitiert: <Die Irren (i matti) sind besonders
dazu befähigt, in ihrer Phantasie schillernde Metaphern und
scharfsinnige Symbole zu schaffen. Genaugenommen ist der
Wahnsinn nichts anderes als ein Gleichnis für die Fähigkeit, eine
Sache in eine andere zu verwandeln.) Tesauro rekapituliert schon
ln
der Todesstunde des damaligen Manierismus.
Wie hatte dieser <Wahnsinn> z.B. auf der Bühne von etwa 1600
bl
s zum Erscheinen seines <Gannochiale Aristotelico (1654) aus-
gesehen, um hier nur einige wenige Beispiele zu geben? Alle Er-
scheinungen lösen sich auf, d. h. jeder kann jetzt, wie bereits darge-
stellt, irgend etwas sein oder werden. Rousset führt dafür aus buko-
When Bühnenstücken von 1594 bis 1653 eine ganze Reihe von
geradezu <paranoischen> Verwandlungs-Motiven an. So wird aus
Faust Nymphe, diese aber erscheint dann als Artemis doppelt. In
einem Hirtenstück von Troterel d'Aves (1610) verwandelt sich ein
«Monstrum> in einen Jüngling, dann in einen Felsen. 1624 schreibt
Hardy einen <Alphee>. Darin verwandeln sich M e n s c h e n erst in
Felsen, dann in Fontänen, weiter in B ä u m e u n d schließlich wieder
in sich selbst zurück. Tote Lebende u n d lebende Tote sind beliebt,
vor allem aber Wahnsinns-Szenen, u n d welche B e d e u t u n g all dies
im unerschöpflichen M e n s c h e n - P a n d ä m o n i u r n von Shakespeare
erhielt, wollen wir hier n u r kurz darlegen. <Am I myself?> fragt ei-
ner der beiden Dromion in der <Komödie der Irrungen> (Spiel von
zwei Zwillingspaaren). Und er fragt sich weiter, ob er auf der Erde,
im Himmel, in der Hölle, wachend oder schlafend, wahnsinnig
oder bei Vernunft sei. M a n hält das seltsame P a a r für verrückt, und
sie halten die ganze Welt für irrsinnig. (<And h e r e we wander in
illusions.>) Ophelia hält Hamlet für irrsinnig: <die edle hochgebie-
tende Vernunft mißtönend wie verstimmte Glocke jetzt>, u n d wird
es dann selbst. Der <cursed spite>, der «höllische Kram> der Welt,
das unfaßbare Unheimliche des Lebens findet im W a h n - S i n n und
im Walmsinns-Spiel seinen höchsten Ausdruck. D e r Geist «perver-
tiert) sich, alle Werte «pervertieren) sich. Aus dem M u n d e der Mac-
beth-Hexen bricht in schriller Dissonanz die paradoxe Weltformel
«Fair is foul, and foul is fair>. D e m M e n s c h e n m i t «schizophrener
Neurose> entspricht die «gespaltene Welt> im Übergang. Es ist, als
dominiere nachwirkend im Epilog des damaligen Manierismus
siehe Farbabbildung 55 R Bruegels d. A. «Tolle Griet>, als sei sie — in einer vollendeten Irr-
sinns-Landschaft—zur letzten u n d höchsten M u s e des Spätmanie-
" Die .Tolle C.riet. und ihre nächste rismus geworden. 1 1 In einem bukolischen Theaterstück von Du
Umgebim«* enthält viele Motive, so j-. , ~ , 1 ,0 T 1 •n • i • 1 1• • i- e-
z.B. «Isoliertes AnSe» in «Anthropo- Ryer (1624) heißt es: «ich weiß nicht, wer ich hm, m diesem fmstern
mo
rpher Landschaft,
Traum-Landschaft>, .Ruinen-
Dämonen usw Labyrinth von Leid und Widersinn.> Das «Erschröckliche>, «er-
schröckenliche Geschientem, das <Wunderseltzame> wird zu einer
halluzinatorischen Thematik des deutschen Holzschnitts zwischen
1570 und 1630. Da sieht m a n «drei Schreiber, die z u s a m m e n nur
zwei H ä n d e haben>, abscheuliche <Mißgeburten> u n d «Wundcrge-
burten>, einen <Knaben>, der «weißes Blut> schwitzt, allerlei «Meer-
und H i m m e l s w u n d e n , lauter «faszinierende) Ver-rücktheiten.

Die <paranoische> Ästhetik


und ihre Folgen
Der Surrealismus u m 1930 entwirft ein ganzes System «paranoi-
scher) Ästhetik. Im forcierten, b e w u ß t herbeigeführten Irre-Sein,
im künstlichen «Delirium) (ohne Rauschgifte) sollen sich die ver-
borgensten Bilder des Unterbewußtseins aufschließen, wie neue
<Blumen> der «Paranoia). Diese <Paranoia>, so schreibt Salvador
Dali in «La F e m m e Invisiblo, bedient sich der ä u ß e r e n Welt, um
die <Idee> zur G e l t u n g zu bringen, von welcher m a n besessen ist.
Die Realität der Außenwelt dient als Illustration u n d Beweis, sie
wird in den Dienst der Realität unseres Geistes gestellt. Andre Bre-
ton spricht von «delirierenden Ideen>, womit «delirierende) An-
schauungsbilder gemeint sind. A u c h die Paranoia-Ästhetik ist
nichts anderes als ein wieder verwandeltes Auferstehen der Idea-
Lehre Zuccaris. Die <Idee> wurde zunächst z u m <Bild> in der <Ima-
ginazione fantastica>, jetzt wird sie z u m Bild in der «Imagination
delirante>. Die Imagination wird n u r n o c h zu e i n e m Sammelbek-
ken von «delirierenden) Bildern aus d e m Unterbewußtsein, und
diese n i m m t der Künstler möglichst passiv, «schlafend), «automa-
212 tisch) auf, u m sie d a n n n u r zu reproduzieren. Im Pflanzenzustand
des Schlafs u n d der W a c h t r ä u m e b l ü h e n also die Blumen der Para-
noia. Breton empfiehlt — wie Tesauro - , nach Möglichkeit immer
zwei Bilder m i t e i n a n d e r zu verbinden, die «möglichst weit vonein-
ander entfernt sind>. R e n e Crevel schreibt ein Buch <Etes-vous
Fous?>, um in Alltagserfahrungen die so <offenbarende> Kraft der
Paranoia zu schildern.
Salvador Dali verfaßt e i n e n Traktat über die Malerei mit dem
bezeichnenden Titel: «50 Segretos Magicos para pintar>, in dem
sich zahlreiche m a n i e r i s t i s c h e E l e m e n t e einer ungenannten Tra-
dition wie in einer p a r a n o i s c h e n Vision mischen: der Ikosaeder und
die Animalucci L e o n a r d o s , die M a s c h i n e n Remellis und Kirchers,
die anamorphotischen E x p e r i m e n t e , das <Schweben>, die «Irregu-
larität), das <Weltei>, der Perspektivismus der Frührenaissance
und des Frühbarocks, die «seltsamem Mythen, die maßlose Prä-
tention vor allem. In d i e s e m W e r k eines solchen <Pseudo>-Pa-
ranoikers von h o h e r Intelligenz u n d Belesenheit wird der synkreti-
stische N e o - M a g i s m u s zu e i n e m manieristischen Pantheon der
Geschichte. Alles wird m ö g l i c h in diesen «50 Geheimnissen) Dalis,
aber es stimmt ü b e r h a u p t nichts m e h r . Dali «kann alles>, auch mit
Geschick und meist m i t g r o ß e m technischen Können, aber alles
entartet nun zu einer m a n i e r i s t i s c h e n Akrobatie, zum letztlich ste-
rilen Virtuosentum des p s e u d o m e t a p h y s i s c h e n Schnellzeichners
auf der Variete-Bühne.
Dieser Kult des W a h n - S i n n s u n d des Wahn-Sinnigen blieb nicht
darauf beschränkt, sich solche Seltsamkeits-Chroniken in Ruhe
beim Frühstück a n z u s e h e n . D i e Tortur- und Mordtechnik in den
Hexenverfolgungen u n d in den europäischen Religionskriegen be-
weist, daß diese Ü b e r w ä l t i g u n g der <Idea> durch die <Mania> von
der Wirklichkeit lernte, bzw. die Wirklichkeit zu beherrschen be-
gann. Die manische «Imaginazione fantastica> und damit der
machtfeindliche «Manierismus) wird in der extremen Verzweif-
lung sadistisch. Nicht die <Macht> wird in der Selbstaufgabe ver-
herrlicht, wohl aber die brutale, rücksichtslose Gewalt als (mani-
sche) Beaktion auf die M a c h t . I m zweiten Manifest des Surrealis-
mus findet m a n den a u f s c h l u ß r e i c h e n Satz, der Surrealismus sei
keine neue künstlerische Schule, er erstrebe vielmehr «den totalen
Ungehorsam, die regelrechte Sabotage und vor allem nichts ande-
res als die Geu>alt>. Weiter h e i ß t es bei Breton: «Alles m u ß gesche-
hen, um die Ideen der Familie, des Vaterlands u n d der Beligion zu
vernichten.) Das besorgten d a n n allerdings nicht die <Theoretiker>
der <manieristischen> G e w a l t ä tout prix und der literarischen Ver-
liebtheit in G r a u s a m k e i t e n u n d in mörderische «action gratuite> 13 15
cf. Andre Gide, Die Verliese de«
Vatikan, und für tahflote Beispiele
aller Art.
vor allem aus der franzosi« hen und
Haben die Befehlshaber u n d die H e n k e r s k n e c h t e der zeitgenös- englischen Literatur d a 19 Jahr-
hunderts Mario Praz. La Call
sischen Massengesellschaft in i h r e n «Revolutionen) jeder Farbe,
Motte ed il Diavolo. Rum 1948.
haben die Verkünder des «biologischen Materialismus), es sei der
Mensch ein so oder so geartetes <Rassetier>, haben die Fanatiker
des «ökonomischen M a t e r i a l i s m u s ) , es sei der Mensch, besser eine
Menschenklasse, ein so oder so geartetes «Produkt) von «Maschi-
nen) bzw. von e i n e m d u r c h Technik (Maschinen) jeweils wechseln-
den <Unterbau>, a u c h aus diesen «literarischen) <Mania>-Amoralis-
men der Surrealisten u n d Vorfahren eine Legitimation für ihren
systematischen E r w a c h s e n e n - u n d Kindermord bezogen? Man
wird es nicht o h n e weiteres b e h a u p t e n können, aber der «Manieris-
mus) verlor seine echte, n o c h religös g e b u n d e n e Oppositionskraft
zur hybriden M a c h t , als — wie wir schon darlegten - der «Wahn-
sinn) der hybriden M a c h t m i t d e m «Wahnsinn) der hybriden Anti-
Macht zusammenzufallen b e g a n n . Die zwei <Urgebärden> der 21
Arcimboldi-Schule: Herodes aus
Kinderleichen

Menschheit standen sich in <Opposition> gegenüber, aber sie be-


gannen—beide in der Verzweiflung des W a h n - S i n n s — plötzlich die
gleiche Sprache der <Gewalt> zu r e d e n . Diese gleiche Sprache aber
zweier absolut verschiedener Partner, dieser gespenstische Irr-
sinns-Dialog zweier in jeder Hinsicht unvereinbarer Menschheits-
typen hat wahrscheinlich schon einmal die <babylonische> Sprach-
verwirrung einer <Endzeit> erzeugt. Die Geschichte der europäi-
schen Menschheit wird <irr-sinnig>, wenn beide Opponenten,
<Klassizisten> und <Manieristen>, sich ebenso ent-menschlichen
wie ent-göttlichen.
Wie ein Symbol für den Gewalt-Wahnsinn in der Epoche der
Hexenverfolgungen u n d der Religionskriege blickt uns der Hem-
des an, den Geiger für ein Werk Arcimboldis hält; es ist vielleicht
das schaurigste Bild einer concordia discors (Ausgangsvorstellung
Macht u n d Gewalt), das die europäische Ikonographie des Manie-
rismus kennt. Wie harmlos erscheint d e m g e g e n ü b e r eine <Malerei
von Geistesgestörtem, eine sogenante <Meta-Psychologie der Sar-
gasses> (vom Kranken so genannt)! Die Grausamkeitselemente
bleiben ganz auf eine individuelle Situation bezogen. Dieser
Kranke könnte gewiß <morden>, sicherlich jedoch nicht <systema-
214 tisch> schlachten. Die Methode eines sachlichen u n d <systemati-
schen> Tötens ist den (anscheinend) <vernünftigen> Besitzern von
Macht oder Antreibern zur Gewalt vorbehalten. Der <Irr-Sinn> der
Macht bzw. der <Gewalt> stellt eine psychische Übergangssituation
dar, wie wir sie in der geistesgeschichtlichen Konfliktsituation zwi-
schen <Kreis und Ellipse> gezeigt haben. Wenn beide Positionen
<unsicher> werden, wenn das metaphysische <Binde-Mittel> fehlt
(wie im bereits genannten Deckengemälde von S. Carlo alle Quat-
tro Fontane, wenn das <Kreuz> der <Liebe> fehlt), so besteht die
Gefahr, daß die <Materie> selbst autonom wird und den derart ver-
rückten Geist in seinen beiden <Urgebärden> <atomar> neutrali-
siert, daß er diesem monströsesten <Zusammenfalb von Gegensät-
zen in einem Urfeuer aus den Eingeweiden der Erde Schweigen,
nachgeschichtliches Schweigen gebietet. Eine der großen Roboter-
Rechenmaschinen für kernphysikalische Forschungen in Amerika
erhielt, wir wiederholen es, den für uns jetzt nicht mehr <zufälligen>
Namen <Maniac>.
Symptome für Spiel mit dem Feuer? Wir haben genügend
Wafmsinns-Formen <mit Augen> gesehen. Lesen wir, was Andre
Breton in seinem schon zitierten <Zweiten Manifest des Surrealis-
mus) geschrieben hat: <Der einfachste surrealistische Akt besteht
darin, mit einem Revolver in der Hand auf die Straße zu gehen
und, soviel man kann, auf die Menge draufloszuschießen.> Das ist
zwar pure, verzweifelte, antibürgerliche <Literatur>, aber es erin-
nert dieses verzweifelte <manieristische> <Altersstib-Wort an einen
inzwischen weltberühmt gewordenen Ausspruch des ehemaligen
Chefs der nationalsozialistischen <Reichsschrifttumskammer>, des
einstigen Expressionisten Hanns Johst: wenn er das Wort <Kultur>
höre, so greife er zum Revolver. <Anti-Macht> und <Macht> ver-
einen sich in einer Wahnsinns-Gebärde. Es gehört zur <Magie> äu-
ßerst intensiv vorgetragener Gedanken, daß sie (die Gedanken) zu
Monstren werden können, sofern wir Goyas berühmtes Wort jetzt
einmal <anders herum> interpretieren dürfen: <Die schlafende Ver-
nunft gebiert Monstren.) Aus den <Blumen der Paranoia) werden
bald neue <Blumen des aggressiv Bösem.

Das <atomare> Gleichnis


Salvador Dali hingegen wendet seine <kritisch-paranoische Me-
thode) von Doppelbildern im nur handwerklich-technischen Sinne
am konsequentesten an. Alles kann alles <illustrieren>. Allmählich
entsteht die <mikrokorpuskulare Malerei). Gala, Dalis Frau, wel-
cher er den Beinamen der römischen Kaiserin Placidia gibt, er-
scheint in atomarer <Formation>. In einem <korpuskular>-atomi-
schen Gebilde mit dem Titel <Madonna mit Kind> geht allerdings
diese nukleare <Formation> höchst konkret in die Luft. Sakrileg?
Hurnour noir? Nur Spiel mit dem Wahnsinn, dekorative Verwen-
dung des Motivs <Grauen und Schönheit)? Die dekadente Art des
Manierismus endet im Schauer-Barock. Er hat keine <prophetische>
Kraft mehr wie nach 1660. Selbst die Atom-Sprengung spiegelt
sich nur noch in einer Fratze.
Haben wir Grund anzunehmen, daß <Manierismen> in jeweils
verschiedenen Epochen so enden müssen? Es gibt genügend Bei-
spiele einer weiterwirkenden manieristischen Kunst, die den Moti-
o n <Anmut und Geheimnis), <Schönheit und Grauem, <sublime
Abstraktion), geistvolle Konstruktion) usw. geist-, geschmack-
»nd würdevoll die Treue halten. Unabänderlich bleibt eine Tat-
sache: das <Outrierte> wird m a n auch in der Höchst-Form des
<Outrierten> und an seiner (absolut irrationalen u n d sicherlich ver-
werflichen) Weltresonanz werten m ü s s e n . Die italienische Staats-
druckerei hat außerordentlich teure Illustrationen Dalis zur <Di-
vina Commedia> finanziert, Dali w u r d e von Pius XII. empfangen,
seine Bilder haben nicht n u r in Amerika noch i m m e r hohen Kurs-
wert. Dieser <Welterfolg> ist doch wohl ein Symptom, ein Beweis
für Angesprochen-Sein, wie auch i m m e r m a n es beurteilt.
Wir glauben nicht, daß der zeitgenössische Manierismus als
Ausdruck der <Problematik des m o d e r n e n Menschern in eine
Sackgasse geraten ist. E r befindet sich aber n u n selbst in einer
mehr als <katastrophalen> <Übergangssituation>. Es m ü ß t e das
<Bild> in einem <konkreten>, keineswegs also <klassizistischen>
Sinne zurückgefunden werden, durch eine n e u e Selbstkonfrontie-
rung mit Natur u n d Geschichte, vor allem d u r c h eine neue Begeg-
nung mit dem mythisch-religiösen Urgrund der Schöpfung. Ein hi-
storisches Verdienst des Surrealismus war es, <die magisch-psychi-
schen Mechanismen befreit zu h a b e n , die auf der logischen Be-
wußtseinsstufe des abendländischen Geisteslebens ausgeschieden
wurden, aber als virtueller U n t e r g r u n d alles schöpferischen Ge-
staltens gegenwärtig blieben> (Jacques Maritain). Doch die Über-
wucherung des Logos durch endlose Assoziationsketten aus dem
Unterbewußtsein wird zum Laster krankhafter Selbstbefriedi-
gung. O h n e Gebet, ohne Bitte an den U r - S i n n , muß der Funke von
individuellem Irre-Sein auf die n e u e n Explosionskräfte der Mate-
rie überspringen. D e r E n t - M e n s c h l i c h u n g der Kunst m u ß eine
neue H u m a n i s i e r u n g im Gebet folgen. Wer k ö n n t e sich einen an-

Salvador Dali:
Gala Placidia

* \\ ^4ä •

216
deren <Ausweg> d e n k e n ? W e r k ö n n t e sich dieser ersten und höch-
sten Urgebärde, n e b e n den b e i d e n <ästhetischem Urgebärden der
Menschheit, entziehen, der d e m ü t i g e n Kraft gefalteter Hände?
Müssen wir n a c h der B e t r a c h t u n g u n d Lektüre so vieler Psycho-
gramme und I d e o g r a m m e der europäischen Geistesgeschichte
vom < Aufgang der Neuzeit> bis z u m <Atomzeitalter> also pessimi-
stisch sein? W e r d e n a u c h wir zu <intra-atomischen Maschinen)
(Titel einer Z e i c h n u n g von S. Dali)? M ü s s e n wir uns — im Geiste —
anschicken, von W a h n s i n n s - F i g u r e n u m g e b e n und mit atom-
staubsicheren M a s k e n versehen, <die Welt zu verlassem? Hoff-
nungslosigkeit g e h ö r t zu d e n <schweren) Sünden unserer Zeit.
Woraus aber k ö n n e n wir d e n n h e u t e n o c h Hoffnung schöpfen,
wenn wir dauernd mit u n s , mit der U m w e l t und Überwelt Kompro-
misse machen wollen, K o m p r o m i s s e , die uns den alltäglichen klei-
nen Lebensgenuß sichern? Alles w ü r d e sich verflüchtigen im Irr-
Sinn der manieristischen S p ä t p h a s e , genauso wie alles in jeder
klassizistischen S p ä t p h a s e zu unerträglicher Banalität zerfällt.
Manierismus b e d e u t e t magisches u n d auch mystisches Spiel mit
der Metapher, mit d e m Bild. Ist der M e n s c h selbst nicht gleichzei-
tig die <alogischste> u n d die <logischste> <Metapher> Gottes? Kann
sich der <Manierist> n o c h aus d e m dämonischen Trieb nach Über-
steigerung bis z u m W a h n s i n n retten, w e n n er sich einmal selbst im
Spiegel sieht, nicht i n d e m der Spiegel ihn in seiner Selbstgefällig-
keit (seiner E r b s ü n d e ) reproduziert, sondern indem er ihm sein un-
geschminktes Gesicht vorhält? W i r wollen in einem letzten Kapitel
den Versuch m a c h e n , d e n <manieristischen Menschentypus> — so-
fern er bei seiner Vieldeutigkeit ü b e r h a u p t genau abzugrenzen ist —
in einem dieser Spiegel zu sehen, die er in allen Zeiten seines kon-
zentrierten Auftretens so liebte. Begreifen wir wieder, daß der
Mensch die tiefste u n d in jeder Weise <änigmatischste> Metapher
ist? Ein E m b l e m sogar des ebenso u n e n d l i c h e n wie unberechen-
baren Gottes? D e r schöpferische <Manierist> hat es immer gewußt,
wenn das L e u c h t e n des Logos nicht gelöscht w u r d e . . . in seinen
ebenso rechnenden wie t r ä u m e n d e n Augen.
F Ü N F T E R TEIL

Eros v e r s u s Sexus

25. P A N S E X U A L I S M U S

<Terribile> u n d <Suave>

7~ on einem der f r ü h e n M a n i e r i s t e n , die von Florenz nach

P Rom w a n d e r t e n , Francesco Salviati (1510-1563), gibt es


einen Kupferstich: <Der T r i u m p h z u g des Priapus>. Schwär-
mende M ä n a d e n z i e h e n e i n e n (<ariatomisch-isolierten>) riesigen
Phallus, gereckt in e i n e m Prozessionswagen, im Umzug durch
eine imaginäre antike Landschaft. N o c h trauert m a n romantisch
derplatonisch-petrarkischen <Idea> der absoluten Liebe nach, aber
auch diese <Idea> wird a l l m ä h l i c h systematisch um-gekehrt. Aus
dem petrarkischen P i a t o n i s m u s wird allmählich ein manieristi-
scher Pansexualismus. A u c h die erotischen Anschauungsbilder
w e rden <phantastisch>: schlüpfrig, pervers, verspielt, vieldeutig,
autistisch u n d h o m o e r o t i s c h . M a n b e g e g n e t der Skala aller mög-
lichen Verhaltensweisen einer <Psychopathia Sexualis). 1 Für alle 1
In «Time of Sex> wird uns von Soro-
kin. einem USA-Russen, eine H-
diese Motive ist G. B. M a r i n o s <Adone> (1623) eine Fundgrube, wie pisch amerikanische Statistik gebo*
sC hon in der Kunst des 16. J a h r h u n d e r t s gewisse Werke von Giulio ten: Für das i (.. und i =,. Jahrhundert
ergibt sich an erotischen Sujet» in
Romano und P e t e r F l ö t n e r , wie in der Literatur des 16. Jahrhun- der L i t e r a t u r 0 , 4 % , für das i<>. Jahr-
derts u.a. Pietro Aretinos <Ragionamenti> und Pierre Brantomes hundert io,8%,fürdas 1 - J a h r h u n -
dert 2] . 5 % . für das i H.Jahrhundert
(1540—1614) <Vie des D a m e s Galantes). 3 6 . 4 % . für das i g . Jahrhundert
Wenn <Stürme heulen>, <Winde stöhnen>, <Wetter bersten>, so 25,1%, für das i n . Jahrhundert
40%.
j n d dies für M a r i n o <gemiti d'amor>, <moti amorosi>, Seufzer der
T iebe, Rhythmen der L i e b e . D i e g e s a m t e Natur ist nichts anderes
j s eine unendliche <Verknotung> 2 endloser sexueller Umarmun- Auch hier <manieristischer. Topos
gen (<Nodi d ' a m o r saldi c tenaci>). <Amano le acque stesse>, sogar
c e eii, Meere lieben sich. D i e sexuelle Liebe ist die wahre, höchste
n d potenteste B e h e r r s c h e r i n der Welt. Sie durchdringt alles, be-
lebt alles, zerstört alles, e r n e u e r t alles. Natur und Liebe sind eins.
Tn i h r e n frenetischen <Nodi>, Verknotungen, bilden sie ein panse-
ue lles Labyrinth. M e n s c h u n d N a t u r verschmelzen in der <Liebe>, 219
und so hat es — noch dezent-elegisch — B . S p r a n g e r z.B. in einer
manieristisehen <Adonis- u n d Venus>-Landschafl dargestellt.
Nicht nur die Pflanzen <küssen sich> laut M a r i n o , auch Stein und
Eisen begatten sich im Feuer elementarer U m a r m u n g . (Vgl. auch
Teil aus dem <Psyche>-Saal im Palazzo del Te in M a n t u a , <Jupiter
mit 01ympia>.) Die Liebe hat ein Doppelgesicht von Beglückung
und Grauen. Sie ist eine <Dienerin des Jrrsinns> u n d ein <Schmied
der Irrtümer>, ein <lästiger Wurm> u n d eine <Krankheit der Sinne>,
eine <Trunkenheit der Herzen> u n d ein «angeborener Betrug>, eine
<Mörderin der Vernunft>. Pansexuelle Magie u n d <ingeniöse> Por-
nographie mischen sich bei Marino in einer Weise, die Croce ver-
muten ließ, er h a b e n u r dann echte <Töne> gefunden, w e n n er sich
an erotischen Anschauungsbildern b e r a u s c h e n konnte, an seinem
wohl zentralen <Erlebnis> in der <Natur> wie in der <Idea>. In dieser
Beziehung erinnert Marino also d u r c h a u s ebenso an die <preziöse>
Sexualität von Giraudoux, an den vitalistischen Pansexualismus
von D . H . Lawrence wie an die mystifizierende Pan-Pornographie
von Henry Miller.
Vergessen wir nicht: Harsdörffer, der <Meister> des so hoch ehr-
baren Pegnesischen Blumenordens in N ü r n b e r g , hat Brantöme
übersetzt. Die <Spät>-Manieristen in der sog. deutschen <Barock>-
Literatur sind keineswegs prüder als ihr Vorbild Marino. Hof-
mannswaldau u n d Lohenstein (u. a.) h a b e n Gedichte geschrieben,
die man nicht anders als pornographisch n e n n e n kann. Sexuelle
Vulgarismen, Obszönitäten, ja Z o t e n , welche schon Leonardo so
gerne sammelte, tauchen damals ebenso auf wie in den zeitgenös-
sischen <Enthüllungen> ä la H e n r y Miller oder in den <Inneren
Monologen> von J a m e s Joyce. D o c h wird bei M a r i n o , nach allen
Vorfahren des 16.Jahrhunderts, der echte <Chef> dieses früheren
und späteren <Pansexualismus>, das <Prinzip> in einem geistigen
Sinne viel deutlicher. Wie ist diese M i s c h u n g von Mystik und Ob-
szönität, von concettistischer Kalligraphie u n d lasziver Pornogra-
pTüe zu erklären? Wir wollen uns vor eiligen Schlüssen hüten und
erst das <Phänomen> sichtbar w e r d e n lassen. Die pansexuelle Me-
taphorik (Marinos) ist zunächst b e z e i c h n e n d g e n u g : der Phallus ist
ein <verliebtes Panier> oder der <süße Pfeil der Liebe>. Die Brüste
werden zu <elfenbeinernen Alpen>, die Brustwarzen zu <Feuer-
strahlen im Schnee> usw. Das Liebesspiel ist ein retardierendes
Sterben>, u m <zwei Tote zu erzeugen>. D e r Liebesakt ist <die Blüte
allen Glücks>, der <atto gentib führt zur T r u n k e n h e i t des dasziven
Herzens>, zum <Piacer de'piacer ch'al m o n d o e solo>, z u m <Glück
des Glücks, das auf der Welt einzig ist>.
Im <Adone> wird - dieser Besessenheit entsprechend - alles ge-
schildert, was es in der Welt der M e n s c h e n , T i e r e , Pflanzen und
Steine an <pansexuellen> <Verknotungen> geben m a g . Es tauchen
auf Liebende aller <normalen> Art, d a n n aber a u c h homoerotische
Paare, männliche u n d weibliche; narzißtische <Autisten>, Herm-
aphroditen, Pervertierte . . . eine vollständige Galerie sexuellen
Verhaltens, in welcher m a n vergebens n a c h L i e b e suchen wird, so-
fern sie nicht <lasziv> ist. M a r i n o ist dafür n u r ein Beispiel, vor allem
der Vollständigkeit dieses a m o u r ö s e n Kuriositätenkabinetts we-
gen. Die Literatur der S h a k e s p e a r e - Z e i t w i m m e l t von solchen,
man m u ß schon sagen: halluzinatorischen sexuellen Sujets. Man
lese z.B. dazu gewisse Verführungsszenen in Marlowes <Hero und
Leander> oder auch die b e r ü h m t e e n t s p r e c h e n d e Szene im <Ri-
chard IIb. Shakespeares nach. Frauen, die lange u n b e r ü h r t blei-
ben, meint Marlowe, reagieren, wie Saiten, die lange nicht ge-
braucht worden sind, ü b e r h a u p t nicht m e h r . Kupfergefäße, die oft
gebraucht werden, erhalten den schönsten Glanz. Die Unschuld ist
<sinnlos>. Ehre? Ehrenhaft ist nur, das zu tun, was die Natur for-
dert. Hier wird also nicht nur die Platonische <Idee> der Liebe - im
Sinne des Reversibilitätsprinzips - <umgewendet>, sondern auch
die christliche Moraltheologie ad hoc völlig ins Gegenteil ver-
kehrt. (Schatten, Nacht und Finsternis) werden zur <wahren> Um-
welt der Liebe, darin kann sich jede und alle Lust in jedes und alles
verwandeln. Das Gesicht der oder des Geliebten ist weniger wichtig
als die Erregung in der Verborgenheit, die jede Ver-Stellung er-
möglicht. Der <barocke> Schlesier Eltester dichtet:
Bist du mir nun mein Licht, Demant und Sonnenschein,
So wird die Dämmerung selbst dein Verräter sein,
Und dich durch Schatten, Nacht und Finsternis zeigen.
Blasphemien vertiefen dieses pansexuelle <saturnische> Schaudern.
In einem Gedicht von Spenser, zur Zeit Elisabeths von England,
wird der Liebesakt mit dem Blutungsmysterium des christlichen
Sakraments verglichen. Marino ruftaus: <Genießenwiruns! Lieben
wir uns!> Dieser Pansexualismus ist aber mehr als einbloßer <Epiku-
reismus>, und wir finden immer mehr Anlaß, uns zu fragen, was
diese sich <frenetisch> deklarierende, aber in der künstlerisch-lite-
rarischen Form immer so <preziöse< <Liebe> bedeuten mag, welche
Leonardo <terribile e suave> nannte, <schrecklich und süß>.
Eine abenteuerliche Großliteraten-Figur wie Marino dürfte als
Kronzeuge vielleicht nicht überzeugend wirken, aber dieser <Fürst
der Laszivität> verhalf uns zumindest dazu, einige Symptome für
die - sagen wir vorerst — zumindest erotische Besessenheit zu er-
kennen, welche <manieristischem> Wirken Impulse bestimmter Art
gibt. Der <Leichtigkeit> und <Oberflächlichkeit) hingegen wird
man den uomo universale am Aufgang der Neuzeit, Leonardo da
Vinci, nicht verdächtigen können. Es gibt kaum einen Künstler je-
ner Epoche, dessen anregende Kraft heute so groß ist wie seine; in
dieser Beziehung - in bezug auf unerschöpfliche Größe - kann man
ihm nur Shakespeare an die Seite stellen. Eine der Grundlehren
Leonardos, dessen erotisches Leben außerordentlich verwickelt
ist, lautet: Der Mensch hat <desiderio>, Begierde, ja, er ist ein
<lnebwerk> von Begierden, ein ganz und gar sexuelles <Tier>, das
sich nicht immer beherrschen kann. In einer seiner vielen Bemer-
kungen zu Problemen des sexuellen Lebens findet man eine be-
sonders aufschlußreiche über die <Verga> (Membrwn virile). Es
heißt dort u.a., dieses Glied hänge zwar mit dem menschlichen
Willen zusammen, oft habe es aber einen <eigenen Willem. Es
onne ein ganz <eigenes Lebern führen, ob der Mann nun schlafe
oder wache. Oft <wolle> der Mann, dann wolle aber <dieser> nicht
und umgekehrt. Daher hat <dieses Tier> einen eigenen Geist und
«ne eigene, vom Menschen getrennte Seele. <Daher schämt sich
er Mann wohl seiner und hält es immer bedeckt.> Der Sexus hat
1 so
<anima e intelletto separate dall'uomm, er hat Eigenwesen, er
st a u t
°nom. Der Liebesakt wird zu einem Emblem für die <Natur>.
eonardo schreibt: <Wenn der Liebesakt auf beiden Seiten mitgro-
G un ro
Vfl ^S ßer Begierde vollzogen wird, so wird der Sohn von
Pipern, von geistvollem, lebhaftem und liebenswertem Intellekt
&Vu-S entstent in der
Flamme der sexuellen Liebe: <die Kunst, ' .Jeder große Erotiker ist ein Gerne
le
issenschaft - wie das Leben selbsb. 5 Für diesen pansexjieUen und alles Genie im Grunde erotisch.
auch wenn seine Liebe nun Weit,
^ " ^ e ü s r n u s gibt es in den Schriften Leonardos viele Beispiele. das ist zur Ewigkeit, zum MeltgBn-
a über den Sexus und Eros mit einer bemerkenswerten Vorur- zen. nicht in dem Körper eätei \\« i-
S 0si bes Platz findet.» (Otto Weininger.
m §keit und Offenheit geschrieben, ja bisweilen mit einer Geschlecht und Charakter. Wien
würdigen Neigung für pornographische Vulgarismen. 1907)
<Höllisches Paradies>
Wir wollen uns noch der D e u t u n g e n enthalten, aber ein erstes
müssen wir n u n doch hier schon akzentuieren: W e n n der Sexus die
stärkste Kraft der Natur ist und wenn die <Natur> dasjenige ist, dem
die Manieristen ausweichen wollen, wie werden u n d müssen dann
die <manieristischen> Reaktionen auf diese <Natur> sein? Es gibt
eine merkwürdige abstrakte Z e i c h n u n g von L e o n a r d o im Codex
Atlanticus. M a n hat sie <Liebesgespräch> genannt. Wir sehen darin
ein <Emblem> der erotischen Vieldeutigkeit. Vieldeutigkeit! Wenn
die <Vorstellung>, die <Idea> entscheidender für jegliches Verhalten
als die <Natur> selber wird, wie m a g d a n n die <sexuelle> Vorstel-
hmgswelt der Manieristen aussehen? Vor allem: Wie wesentlich
müssen der <Sexus> u n d seine Reaktion auf ihn z u m Verständnis des
<manieristischen> Menschentypus werden, w e n n er den <Sexus> als
dominierende <Gewalt> betrachtet, w e n n er demzufolge jede Ten-
denz zur <Macht> (als Herrschaft über Mensehen) nicht nur für
sieh, sondern ganz allgemein für alle, als höchst fragwürdigen <Ne-
bentrieb> wertet? Wir wollen uns wieder mit dieser Fragestellung
begnügen und n u r jetzt schon hinzufügen: auch für Leonardo führt
die <Macht> zum Krieg, den er <pazzia bestialissima> nennt, den
<tierischsten W a h n s i n n e Der Sexus ist zwar ebenfalls <schreck-
lich>, er ist aber auch <süß>, jedenfalls keineswegs der <tierischste>
Wahnsinn. Er ist letztlich der große <Motor> aller Phantasie, aller
Eilder im unerschöpflichen Z e n t r u m der <Tdea>.
M a n k a n n diese Verwandlung im <Adone> M a r i n o s expressis ver-
bis finden. Der idealistische Erotismus der Petrarca-Schule wird
sogar parodiert. Der Kult Beatrices u n d Lauras wird zu einer Trave-
stie, zu einem Gegenstand gelegentlich infamen Spotts. Die <Wirk-
lichkeit> des <Eros> wird enthüllt, der <Sexus> in seiner Allmacht
ohne Schamhaftigkeit entblößt, die <Liebe> in ihrer u n g e h e m m -
t e m Sinnlichkeit beschrieben, i m m e r wieder, mit stets n e u e n Mit-
teln. Marino lobt seine eigene daszive Feder>. D i e Liebe wird zum
<modernen Monstrum> (moderno mostro). Dieses M o n s t r u m der
<rnodernen Zeit> vereint alles Gegensätzliche, nicht n u r die Gegen-
satzpaare, die wir zur Organisierung unserer Motive benutzt ha-
ben, so u. a. <Anmut u n d Geheimnis>, <Schönheit u n d Grauem,
<Angst und Neugier>, <Traum u n d Wirklichkeit). L e o n a r d o hatte
die Liebe <schrecklich> u n d <süß> genannt, also durch ein Oxymo-
ron gekennzeichnet, durch die Vereinigung zweier einander wi-
dersprechender Begriffe, durch einen in der manieristischen Rhe-
torik beliebten Topos. Auf dem H ö h e p u n k t des Manierismus be-
schreibt Marino die Liebe mit e i n e m <wirbelnden> System von
Oxymora. In einem rhetorischen Furioso bildet er ganze Reigen
davon. Er berauscht sich an diesen in der Liebe offenbar werden-
den Gegensätzlichkeiten. Wir k ö n n e n sie nicht alle anführen, je-
doch zwei dieser Oktaven zumindest (ohne Reime) frei übersetzen,
Beispiele für <manische> Steigerung des concettistischen Stils.
Demzufolge ist die Liebe:

Blinder Luchs, v e r b u n d e n e r Argus,


säugender Greis u n d altes Kind,
gebildeter Ignorant, gepanzerter Nackter,
s t u m m e r Sprecher, reicher Bettler,
beglückender Irrtum, gesuchter Schmerz,
grausame W u n d e eines mitleidigen Freundes,
kriegerischer Friede u n d stürmische R u h e ;
es fühlt sie das Herz, und die Seele begreift sie nicht.
Willentlicher W a h n , vergnügliches Böses,
m ü d e R u h e , verderblicher Nutzen,
verzweifeltes Hoffen, lebendes Sterben,
k ü h n e Angst, gequältes Lachen,
unzerstörbares Glas, glühendes Eis:
ewiger A b g r u n d von discordie concordi,
höllisches P a r a d i e s , himmlische Hölle.

In der Liebe wirkt also u n v e r s ö h n t das Gegensätzliche, aber sie ist


auch die Verleugnerin der D i s h a r m o n i e n , die eben zitierte <discor-
die concordi> nämlich, j e n e concordia discors, von der wir schon als
<Stilbegriff> so viel gehört h a b e n . W e n n der Manierismus stets
nach Vereinigung des D i s p a r a t e n strebt, so empfindet er es (wie wir
wissen) als besonders <schön> bzw. <wirkungsvoll>, wenn die Ge-
gensätze, die zur K o n k o r d a n z g e b r a c h t werden sollen, unvereinbar
erscheinen. D a aber die L i e b e das Gegensätzliche in einem (an-
geblich) höchsten, vitalsten u n d urtümlichsten Sinne vereinen soll,
muß sie für alle M a n i e r i s t e n das Urerlebnis sein und bleiben. Das
gilt für die Zeit n a c h L e o n a r d o bis zu M a r i n o , für die französische
und englische R o m a n t i k u n d für die Zeit von Baudelaire bis James
Joyce. Diese E p o c h e n stellen sich als <Time of Sex> dar. Nicht das
<Heilige>, das <Heldische>, die <absolute Wahrheit), die <Güte>, das
in sich einheitlich <Schöne> w e r d e n erstrebt, nicht der <Eros>, son-
dern das im ganzen L e b e n , ja im g e s a m t e n Kosmos wirkende Ge-
gensätzliche, die a n t i n o m i s c h e S c h ö n h e i t in allen, besonders in ih-
4
ren sexuellen E r s c h e i n u n g s f o r m e n . * Dies gilt besonders für alle <l)ie .Schönheit' und det ,Reiz'
sind ursprünglich Eigen« haftendes
Epochen, in d e n e n die Freiheit b e d r o h t ist. Im <Sexuellen> findet Sexualobjeku.> cf. Sigmund Freud
man die <letzte> n o c h m ö g l i c h e Freiheit, in der <Deformation> des Abriß der Ptychoanalyte. Frankfurt
•955-
Sexuellen, wie wir später s e h e n w e r d e n , die höchste Freiheit in die-
ser letzten Freiheit des Verborgenen, Intimen, des für die Späher
der Macht u n z u g ä n g l i c h e n I n t i m e n . Demzufolge sucht man der
<Banalität> des ego'isme ä deux sogar in dieser Intimität zu entrin-
nen, indem m a n sich Freiheit sucht in einem sexuellen desespoir ä
deiix. Je starrer die O r g a n i s a t i o n e n der M a c h t werden, desto <ab-
struser> die Sexualität. D a ß <Manieriertheit> Ausdruck einer Reak-
tion auf soziale Unfreiheit ist, h a b e n Psychologie und Psychoana-
lyse nachgewiesen.

Mystik und Erotik


Selbst die christliche Mystik wird von Bildern, die nicht n u r der Ero-
tik, sondern der sexuellen S p h ä r e e n t n o m m e n sind, heimgesucht.
In einem <Bnßfertigen F r a u e n z i m m e r s Handbüchlein vor, in und
nach Genießung des hl. Abcndmahls> ( H a m b u r g 1668) liest man:
(0 Jesu, komm zu mir, ich will D i c h führen in die Kammer meines
Herzens; da will ich D i c h küssen, da will ich Dich herzen, da will
ich Dich in Liebe umfassen, k o m m , m e i n e Süßigkeit, und durch-
süße mich.> In Arnolds L i e d e r n d e r Jesus-Minne findet man:
<Komm, schwängere m i c h , L i e b e , durchfließe die Kräfte / und flöh
mir ein lieblich die göttlichen Säfte.> In der spanischen und italie-
nischen Mystik b e g e g n e t m a n Motiven dieser Art schon früher, so
u .a. bei der hl. T h e r e s a von Jesus ( 1 5 1 5 - 1 5 8 2 ) . Die hl. Theresa
schildert, wie ein E n g e l sie m i t e i n e m langen, goldenen Speer, des-
sen Spitze aus Feuer ist, m e h r e r e M a l <bis ins tiefste Innere durch-
cjringt>- <Als er ihn h e r a u s z o g , d a c h t e ich, er würde mein Einge-
weide mit h e r a u s r e i ß e n , u n d als er m i c h verlassen hatte, glühte ich 223
in heißem Liebesfeuer für Gott. Der Schmerz war so stark, daß ich
oft stöhnen m u ß t e , und so überaus groß war die S ü ß e dieses
Schmerzes, daß niemand wünschen k a n n , ihn je zu verlieren.> Ber-
nini hat in seiner Darstellung der hl. Theresa in S. Maria della Vit-
toria zu Rom diesen Augenblick einer schon m e h r sexuellen als
erotischen mystischen Gottdurchdrimgenheit dargestellt. Die
<Liebe> erscheint hier in einer der alogischsten M e t a p h e r n des an-
scheinend Unvereinbaren, als höchste discordia Concors. Das ist
kein Einzelfall. Selbst oder gerade im g e h e m m t e r e n Norden findet
man die gleiche vereinigende G e b ä r d e . E i n e r der persönlichsten
Dichter unter den englischen metaphysical poets, Richard Cra-
shaw. erlebt durch die Schriften der hl. T h e r e s a <ekstatische Anre-
gungen) für einen <mystischen Liebestod>. A u c h er dichtet und be-
tet: <I dy in love's delicious fire> (<Ich sterbe im süßen Feuer der
Liebe>). Er begreift und lobt, was die hl. Theresa den <himmlischen
Wahnsinn> der <Geistlichen Hochzeit) g e n a n n t hatte.
Die Liebe wird in der <Idea> zur kosmischen discordia Concors. Es
ist nur zu natürlich, daß sie keineswegs vorwiegend zur Vereini-
gung solcher Gegensätze führt wie Wollust u n d Gott. In der <Liebe>
bzw. in der manieristischen Reaktion auf sie — psychologische
G r ü n d e wollen wir später suchen — sind <disegni>, alle Formen
möglich. Besser gesagt: je abstruser die u n - n a t ü r l i c h e n Gegensätze
in dieser <schrecklich>-süßen discordia Concors erscheinen, desto
höher wird nicht n u r ihr höchster Sinn erfüllt, sondern auch ihr
tiefstes Geheimnis, ihre kosmische Hieroglyphik, ihr <Segreto>, ihr
<Arkanum>, ihre <Irregularität>, ihre beängstigende u n d beseli-
gende <Emblematik> offenbar. Die manieristischen Reaktionen
auf die <Liebe> führen d a h e r zu e i n e m (für uns jetzt) n e u e n Pandä-
monium, in dem sieh vereinen: die M o n s t r e n , der Tod, das Grauen,
die Folter, das Vieldeutige, der W a h n s i n n . N e b e n der mystischen
<Liebesekstase> wird <Amour damne>, die Liebe teuflischer Heillo-
sigkeit, die Sexualität zu einem der g r o ß e n manieristischen Mo-
tive. (Vgl. <Amore Venale> von Volterrano.) Der Pfeil im M u n d e der
Hetäre sieht anders aus als derjenige, welcher das Herz der hl. The-
resa trifft. Die <Schwarze Venus> Baudelaires ist hier antizipiert,
jene Berufshure, die Aretino in seinen <Ragionamenti> zum ersten
Mal — nach der Antike — mit h i n r e i ß e n d e m Naturalismus schil-
derte. Sie wird zum <Modernen Idol>, zu e i n e m festen Kurtisanen-
Typus, der die damalige wie die m o d e r n e Literatur zu einer ständig
1
Unerschöpfliches Material für die wiederholten <Apotheose der Dirne> veranlaßt. 3
Sehn» 1800 bis 1900 dazu in Ma- 7UY Z e i t Q e m e n s > v n . , als der erste römische Manierismus sich
rio l'raz, o. c.
voll entfaltete, wimmelte es in R o m von P u t t a n e n , Trojen, Corte-
gianen. M a n b e s a n g sie mit Attributen aus alexandrinischer und
hadrianischer Literatur. Sie gaben sich griechische N a m e n . Sie be-
herrschten als <oneste Signore> die Gesellschaft, sie standen den
Künstlern Modell. Raffael liebte eine solche Cortegiana, die For-
narina. Viele dieser D a m e n waren fromm, sie w u r d e n — w e n n sie
besonders beliebt u n d b e r ü h m t w a r e n — sogar in Kirchen beige-
setzt, wie die <Fiammetta>, die Geliebte Cesare Borgias. Paul IV.
sperrte 1 569 die Kurtisanen Roms, weil sie allmählich 6000 an der
Zahl geworden waren, in ein Ghetto ein.
Diese E p o c h e liebte das Gegensätzliche u n d d i e Gegensätze. Die
damalige christliche Mystik, deren geistige Tiefe u n d Kraft über
jeden Verdacht erhaben ist, bediente sich einer erotischen Meta-
phorik. Die ganz u n d gar p a g a n e n H e t ä r e n w u r d e n fromm. Sie
spiegelten sich fast alle im Mythos der hl. M a g d a l e n a . Zahllose
M a g d a l e n e n w u r d e n gemalt u n d beschrieben. Die größten <Sün-
224 der> u n t e r den Manieristen, wie Göngora, M a r i n o u n d Donne,
Gian Lorenzo Bernini:
Die heilige Therese

schrieben religiöse G e d i c h t e u n d verfaßten concettireiche Predig-


ten. Die Liebe w u r d e zu e i n e m unerschöpflichen T h e m a für mora-
lische Kasuistik. M a n wollte b e r e u e n u n d auch büßen —wie schon
Aretino —, u m der < schrecklichen Süße> intensiver wieder teilhaftig
zu werden. Die B u ß e w u r d e zu e i n e m Schauer-Erlebnis wie die
Sünde selbst, u n d wir finden die Verkörperung einer solchen
<Buße> in der Klosterkirche von Dillingen. M a n verherrlichte die
Sünde, aber m a n liebte d e n <Geruch der Heiligkeit^
Doch zwischen diesen G e g e n s ä t z e n von echter und falscher my-
stischer Schwärmerei u n d einem m u n t e r e n , aber relativ (norma-
len) Sündigen gibt es viele Zwischenstufen. Wer zwischen solchen
Extremen pendelt, b e r ü h r t viele Stationen. M a n begegnet dabei
nicht nur dem A b n o r m a l e n , d e m deformierten Sexus. M a n sucht
das Anormale nicht nur, m a n verherrlicht es. Wenn die Liebe ein
Paradigma des Gegensätzlichen schlechthin ist, warum wären in
ihr dann nicht a u c h (selbstverständliche) Auflösungen der <Oxy-
niora> möglich, das E n t s t e h e n von Tautologien also, welche die
Gegensätze im Sinne d e r concordia discors n u n aufheben, so etwa:
Mann und M a n n , Frau u n d Frau, vor allem die kosmische Urform
des verfeint Gegensätzlichen: der H e r m a p h r o d i t ? 225
26. I N V E R S I O N
UND D E F O R M A T I O N
<Erfüllung> in der
eigenen <Vorstellungskraft>
Leonardo da Vinci erhielt eine Gefängnisstrafe nicht nur, weil er
mit ebenso stadtbekannten wie berüchtigten <Epheben> verkehrte.
Einen von ihnen, Jacopo Saltarelli, n a h m er sogar einmal als Mo-
dell für die Darstellung eines Jesus-Knaben, u n d das war sogar
dem sonst gegenüber Künstlern ziemlich toleranten Amt der Uffi-
ziali di notte in Florenz zu viel. Die b e r ü h m t e n Freunde Leonar-
dos, Gian Giacomo, ein hübscher, eleganter u n d kostspieliger klei-
ner H a l u n k e , 28 J a h r e jünger als er, u n d der junge Mailänder
Aristokrat Giovanni Francesco, der sich später u m die reiche Ma-
nuskript-Hinterlassenschaft des Meisters, der ihn so geliebt hatte,
herzlich wenig k ü m m e r t e , spielen im L e b e n dieses abgründigen
M a n n e s nicht n u r die Rolle (übrigens im Gegensatz zu Freuds
Analysen, wie m a n heute weiß) d u r c h a u s passiver Liebhaber. Was
auch i m m e r die <unbewußten> G r ü n d e für die <Inversion> Leonar-
dos gewesen sein m ö g e n , ein Vater- oder Mutter-<Komplex>, für
Leonardo war sicher auch ein a n d e r e r <Komplex>, der mit Trieb-
strukturen z u s a m m e n h ä n g t , b e s t i m m e n d : jene urzeitliche Ge-
bärde des Gegensätze-vereinen-Wollens, d. h. im Eingeschlechti-
gem das zu haben, was <normalerweise> d e m Doppelgeschlechti-
gen vorbehalten ist. Es ist auffallend, wie der E p h e b e n k u l t des
<Platonismus>, des <Alexandrinismus> u n d der H a d r i a n - Z e i t nicht
n u r Ausdruck einer jeweils persönlichen, individuellen <Komplex-
Situation> ist, sondern auch Symptom einer <geheimen> Lebens-
lehre, d i e . . . zur M o d e wird. Der E p h e b e , dessen europäisches
Modell Antinous wird (Tempel w u r d e n i h m errichtet), i s t - die ter-
minologische W i e d e r h o l u n g zwingt sich auf — eine discordia Con-
cors, eine doppelgeschlechtige <Synthese>. (Vgl. <Amor> v o n P a r m i -
gianino.)
Es w ü r d e überflüssige M ü h e b e d e u t e n , die Biographien be-
rühmter Manieristen auf diese Z u s a m m e n h ä n g e zu prüfen, zumal
derartigen <Analysen> von <Berühmtheiten> eine Grenze des Takts
gezogen sein sollte. Wir unterliegen zwar in der Erörterung von
Z u s a m m e n h ä n g e n dieser Art, insbesondere seit unserer diesbe-
züglichen Bewußtseinserweiterung d u r c h die g r o ß e n Entdeckun-
gen Freuds, nicht m e h r der <Prüderie> u n s e r e r Großväter, wir
sollten jedoch nicht ins andere E x t r e m verfallen u n d n u n <unge-
hemmt> meist banale <Enthüllungspsychologie> treiben. Das mo-
ralische Problem - d e n n es bleibt auch ein solches, welches moral-
theologische Gewicht auch i m m e r es h a b e n m a g - hat sich jeden-
falls für die großen Invertierten immer gestellt, z. B. für Leonardo,
für Michelangelo u n d für Shakespeare. M a n wußte also, daß das
sozusagen bewußt antinatürliche Verhalten, die erotisch <antina-
turalistische> Praxis contra naturam, die Erotik, die sich n u n auch
von der dmaginazione fantastica> leiten ließ, d a ß die Inversion also
nicht so leicht erklärbar u n d <annehmbar> w a r wie der total anti-
naturalistische <Disegno f a n t a s t i c o in der Kunst oder das alogische
Concetto in der Literatur.
M a n stieß jetzt auf einen starken i n n e r e n W i d e r s t a n d nicht nur,
weil m a n sich in e i n e m doppelten Konflikt mit der Gesellschaft
fühlte, also einem persönlich-privaten u n d e i n e m künstlerischen
Leonardo da Vinci: Piacere e
>iacere *"-*—"
dispii (Oxford-Codex
'*-'—»I

(in bezug auf den klassizistischen Geschmack). Man erlebte diesen


Widerstand, weil man im Erotischen, wie <selbstverständlich) auch
immer man die <Inversion> gelten lassen mochte, doch eines nicht
übersehen konnte, daß nämlich die Natur <Paare> anatomisch nun
einmal eindeutig differenziert hatte, daß man also in einem nur
vital spannungsvollen Gegensatz zur <Natur> stand. Erst der extrem
antinaturalistische Manierismus nur vereinzelter und meist nur
unbedeutender <Meister> hält eben auch diese <Natur> für eine In-
famie und <korrigiert> sie bewußt, um eine letzte Autonomie zu
erhalten, eben gegenüber dieser jetzt geradezu verhaßten Natur.
Viel entscheidender als die <individualpsychologischen> und psy-
choanalytischem Probleme einiger Manieristen ist etwas anderes:
das Auftauchen von Inversions-Motiven in der manieristischen
Kunst und Literatur.
Doch bevor wir darauf näher eingehen, müssen wir dieses Wi-
derstands-Motiv noch einmal erläutern. Ein ursprünglicher Le-
bensanreiz, die sexuelle Libido, wird als sehr stark empfunden.
Was
v geschieht aber, wenn diese Libido aus mannigfachen Grün-
»as geschieht
•i aber, wenn
. . diese_ „Libido
T . . aus
T mannigi«-."-
-\HT », ionp« starken
den nicht erfüllt werden kann? Was ist das Wesen jenes starken
Reizes, der (normal) nicht befriedigt werden kann? Hier komm
«n ganz ursprüngliches Instinktbild zum Vorschein. Wenn es in
seiner normalerweise ganz individuell differenzierten Struktur
nicht mehr <anspricht> - was geschieht dann? Es wird hinter mm
das starre Schema vermutet, die ständige Wiederholung (des un
zulänglichen), das unangenehm harmonisch Typische Daher als
der Wunsch nach Zerreißung aller Teile, nach Vergrößerung oder
Verkleinerung, nach Transponierung vor allem? Daher die <detor-
mierende> Gebärde? Von Leonardo gibt es eine m e r k w " r d | e 227
Zeichnung, die zu seinen geheimnisvollsten Arbeiten geUort.
heißt <Piacere e D i s p i a c e r o , <Lust u n d Unlust>. L e o n a r d o schreibt
dazu u. a.: <Sie stehen Rücken an Rücken, sie widersprechen sich,
sie h a b e n den gleichen Wunsch, aber sie entsprechen sich nicht.
Beide Figuren leben in einer Illusion, auch w e n n sie vereint sind.
Sie suchen in der Vereinigung die Erfüllung, aber sie finden sie
doch n u r . . . in der eigenen Vorstellungskraft^ Dieser Satz ist für das
Verständnis für tiefere, strukturelle Antriebe zur manieristischen
Urgebärde von fundamentaler Bedeutung. Erfüllung wird also
<nur in der eigenen Vorstellungskraft) möglich sein. Auch daher
rührt also das Ausfüllen der <Idea> mit <invertierten> Bildern einer
paganen, einer mystischen, aber auch einer pervertierten Sexuali-
tät. Und daher findet sich auch, w e n n nicht in allen, so doch in
vielen Fällen die entsprechende künstlerische <Reproduktion> von
Bildern der Welt als <deformierte> Bilder. Eines m ü s s e n wir immer
wieder als entscheidend erkennen, w e n n wir d e n manieristischen
Ausdruckszwang in seinen tieferen Trieb strukturen begreifen wol-
len: das intensive Spannungsverhältnis zur Welt.

Epheben und Lesbos


N i e m a n d wird damit behaupten k ö n n e n , d a ß die Manieristen
demzufolge alle <Invertierte> seien. W i r h a b e n im ersten Abschnitt
dieses Teils klarzumachen versucht, d a ß dieser also so ursprüng-
lich empfundene Lebensanreiz, die sexuelle Libido, in <manieristi-
schen> Lebensentwicklungen sogar meist d u r c h a u s <normale>
<Verwirklichungen> erstrebt. Es ist aber für jede manieristische
Epoche bezeichnend, daß nicht n u r das Typische, Wiederholbare,
Regelmäßige, <Gesunde>, <Normale>, Geordnete, Gesetzhafte usw.
den unmittelbarsten Lebensanreiz bewirkt, sondern doch auffal-
lend oft auch vielfältigste Motive der <Inversion>: Homoerotik jeder
Art, Sodomie, Autismus und alle verwickeiteren <ausgleichenden>
Formen, die später mit den Begriffen Sadismus, Masochismus
" Der Marquis de Sade gehört zu den usw. bezeichnet wurden. 6 Erinnert sei an Oscar Wildes Wort:
<Heroen> der surrealistischen Ah- <Schlechte Poesie entspringt i m m e r echtem Gefühl.> Marcel
nentafel. Vgl. auch Baudelaires Ge-
dicht <Lesbos> in .Fleurs du Mal> so- Proust hat als einer der wenigen b e d e u t e n d e n Romanciers Euro-
wie Pierre Louys <Chansons de Bili- pas, in seinem Werk <A la Recherche d u Tcmps perdu>, formal eine
tis>.
schöpferische Gipfelleistung der <manieristischen> Literatur, zahl-
lose <Inversionen> dargestellt. So vor allem die Problematik des
<troisieme sexe>, die üntimite dangereuse>. Proust hat wiederholt
auf die Künstlichkeit der Sprache von Invertierten hingewiesen.
Auch bei ihm findet die Liebe höchste Erfüllung n u r <in der eige-
nen Vorstellungskraft). E r erklärt bündig: <Unser Vergnügen der
Vorstellungskraft berauben, heißt es auf Nichts reduzieren.> Goe-
thes Wort vom <Romantischen> als d e m <Kranken> (von seinem re-
lativ normalen Standpunkt aus) wird u n s d a m i t besser verständ-
lich. Wenn das <Klassische> in dieser Beziehung <gesund> ist, so
deshalb, weil es vom Sexus nicht so präokkupiert ist, weil es damit
<leichter> fertig wird als der M a n i e r i s m u s . Die Klassik k e n n t die
Tragik der Welt. Diese hat andere als triebpsychologische Quellen,
nämlich <objektive> Ursprünge. Der Manierist steht in der <Melan-
cholia> der Welt, weil er Subjektivist ist, weil er es sein k a n n . . . bis
zur <absurden> <erotischen> M a n i e , bis z u m <manischsten> Zusam-
menfall der Gegensätze in der <Idea>, in der <Imagination>: die
Welt der Bilder u n d die Bilder seiner erotischen Vorstellungen flie-
ßen - autistisch - ineinander. Die ihn h e i m s u c h e n d e n alogischen
Bilder - in jedem Sinne auf keine <Natur> bezogen - befriedigen
228
ihn in einem doppelten S i n n e , besser ausgedrückt: er befriedigt
sich an ihnen und d u r c h sie in einer allerdings ebenso wiederhol-
baren <Schwarzen Messe> der Welt als Selbstbefriedigung. <Wille>
und <Vorstellung> sind in einer monströsen discordia Concors ver-
eint. In diesem Prozeß kann die Welt n u r — deformiert erscheinen.
Wir n e h m e n nicht an, d a ß wir uns jetzt noch gegen den Vorwurf
einer auch n u r im geringsten <polemischen> Einstellung wehren
müßten. Nichts a n d e r e s wird hier versucht als eine Interpretation
von P h ä n o m e n e n . W i r sind allerdings, trotz allen irdischen
<Wahn-Sinns>, überzeugt von der göttlichen Logos-Struktur des
Kosmos und von der W a h r h e i t seiner <menschlichen> Metapher.
Demzufolge dürfen wir wohl a n n e h m e n , daß die manieristische
<Urgebärde> welthistorisch i m m e r die Funktion hat, eine jeweils
folgende klassische <Urgebärde> auszulösen, welche ihrerseits stets
die unmittelbarere B e z i e h u n g z u m schöpferischen Logos hat. Der
<Manierismus> hat, so k ö n n t e m a n m e i n e n , die Aufgabe, einmal
die Klassik vor Verflachung zu retten, d a n n aber der Klassik zu
intensiveren Ausdrucksmitteln zu verhelfen. Der mythische Urahn
des Manierismus ist Marsyas, der jetzt etwas langweilig gewordene,
wenn auch majestätisch-strahlende Urvater der Klassik: Apoll Das
Gesicht des M a n i e r i s m u s ist gezeichnet wie dasjenige Kalns. Kain
(Caliban) wird d e n apollinischen Abel (Ariel) immer totschlagen
wollen. Abel, der <in der G n a d e steht>, wird nach dem jeweiligen
<Mord> um so strahlender auferstehen.
Bilder! Sollte der <Manierismus> (der wie so viele Sorgenkinder
einen so unglücklichen N a m e n erhalten hat) wirklich in der Gna-
denlosigkeit stehen, d. h. z u m Geschlecht der maudits, der (saturni-
schen) Verdammten (im S i n n e Baudelaires) gehören, dann hat er
jedenfalls eine <magische> Kraft, Versperrungen, Erstarrungen,
Versteinerungen aufzureißen. D e r <problematische> Mensch (der Leonardo da Vinci: La (ii<" oadj
Ellipse, des M o n d e s ) ist eine u n e n t b e h r l i c h e Ergänzung zum h a r - (unten: moderne amerikanische
monischem M e n s c h e n (des Kreises, der Sonne). Der Manierismus Ubermalungi

ist <ewig-weiblich>, der Klassismus (nicht also der Klassizismus) ist


<ewig-männlich>. D e r M a n i e r i s m u s gebiert meist in invertierter
Urzeugung unaufhörlich Bilder, B i l d e r . . . jenseits aller Grenzen.
Jean Paul spricht anläßlich des M a n i e r i s m u s von <genialen Mann-
weibern, welche u n t e r d e m E m p f a n g e n zu zeugen glaubem. Der
Klassiker schafft S t r u k t u r e n , erobert d e n <Kern> der Welt. Er läßt
ihn nicht in seinem <Geheimnis> erscheinen, sondern in seinem
<Logos>.
Wenn wir auf Motive d e r <Inversion> hinweisen, u. a. im Zusam-
menhang mit L e o n a r d o , so w ä r e es also falsch, in entsprechend
<artifiziellem> (erotischem) Verhalten n u r Dekadenz, Auflösung,
Laster usw. zu sehen. E s w e r d e n zumindest auch ganz andere
Motive entscheidend: dieser d u r c h a u s manische Trieb nach Ver-
einheitlichung des D i s p a r a t e n wird i m m e r wieder — auch — durch
magisch-mystische E r l e b n i s s e geweckt. Eine individuelle Trieb-
aniage findet also i h r e n <Reflex> in e i n e m <demiurgischen> Streben
nach <abstruser> k o s m i s c h e r Synthese. Das läßt sich am besten wie-
der mit einem H i n w e i s auf d e n so spezifischen <Erotismus> von
Leonardo belegen. M a n h a t sich schon seit langem über die rätsel-
halte Doppeldeutigkeit m ä n n l i c h e r u n d weiblicher Figuren auf
Bildern Leonardos G e d a n k e n g e m a c h t . Marcel Brion hat den <an-
drogynen> C h a r a k t e r dieser E r s c h e i n u n g e n überzeugend defi-
niert. Wir wollen d a r a u f im L i t e r a t u r b a n d näher eingehen. Es
scheint jedenfalls h e u t e möglich, die <rätselhafte> <Gioconda>, die
so <mysteriöse> <Mona Lisa>, aus diesen Z u s a m m e n h ä n g e n zu er-
klären: die <Gioconda> w ä r e ein weiblich verkleideter Jüngling. 229
Amerikanischer <Kühnheit> bedurfte es, u m dieses, unserer Mei-
n u n g nach, doppelgeschlechtige <Weltemblem> zu rekonstruieren.
i .Juni 1953. Wir führen es als Kuriosität an. Die Zeitschrift <Sexology>7 hat die
<Gioconda> <rekonstruiert>, d.h. in J ü n g l i n g s g e w ä n d e r gesteckt. Es
tritt uns ein <Jünglingsporträt> entgegen, das mit dem vieler Pon-
tormo-Jünglinge eine auffallende Ähnlichkeit hat. Wir werden auf
die Bedeutung der <Androgynen> u n d der <Hermaphroditen> als
metaphysische <Embleme> des M a n i e r i s m u s - damals wie heute -
in einem besonderen Abschnitt z u r ü c k k o m m e n . Wir wollen n u r -
um pseudopsychologisch u n d pseudopsychoanalytischen Mißver-
ständnissen im vorhinein auszuweichen - betonen, daß für Leo-
nardo zumindest hier kein <poor monster> im Sinne Shakespeares
dargestellt ist, kein <seltsames> Zwittergebilde für Wunderkabi-
nette, sondern ein kosmisches Symbol: der Zusammenfall des
Männlichen und Weiblichen, jeder Polarität, in Gott.

27. E I N H Ö R N E R , L E D A
UND N A R Z I S S

Deformierte Mythen
Eine solche <erotische> coincidentia oppositorum — w a n n ergibt sie
sich? Auch die <Manieristen> k ö n n e n nicht in e i n e m sexuellen In-
ferno verharren, wie n i e m a n d auf die D a u e r , sofern er kein Psy-
chopath ist. Auch i h n e n sind Bilder d e r L ä u t e r u n g und des Erlöst-
seins nicht fremd, w e n n auch sehr eigene Bilder. Doch werden
diese nicht sichtbar, bevor die <Deformation> alle Möglichkeiten
erschöpft hat. W i r h a b e n uns wieder aus kunstgeschichtlichen Be-
zügen gelöst, wir erinnern aber wieder d a r a n , daß Dvorak eine
Kunstgeschichte als Geistesgeschichte forderte. Wilhelm Pinder
bezeichnete die Kunstgeschichte als nicht <sich allein gehörend),
^ Wilhelm Pinder, Zur Physiogno- sondern der <Kunde vom M e n s c h e n dienend). 8 W i r möchten mit
mik des Manierismus. Festschrift
für Ludwig klages. Leipzig 1932. unserem Versuch, wie wir i m m e r wieder betont h a b e n , der Erhel-
Biriswanger bezeichnet es daher als lung der <Problematik des m o d e r n e n M e n s c h e r n dienen, es jedoch
sein gutes Recht, in seinen Untersu-
chungen zum (daseinsanalytischen
immer wieder vermeiden, die G r e n z e n zwischen der <ästhetischen>
Verständnis der schizophrenen Da- und <klinischen> S p h ä r e zu verwischen. Kunst- oder Literaturge-
seinsformen und ihres Daseinsgan-
schichte k ö n n e n also Beiträge zur Geistesgeschichte u n d zur philo-
ges> auch manieristische Stilele-
mente als Material zu einem Ver- sophischen Anthropologie liefern, sie verraten aber ihre funda-
ständnis für schizophrene 'Manie- mental <ästhetische> Aufgabe, w e n n sie ihr Anschauungsmaterial
riertheit mitzubenutzen. Zu einigen
Schlüssen von Binswanger cf. über- aus den Augen verlieren, w e n n sie auf <Büdbeschreibung> oder
nächsten Abschnitt. <Textinterpretation> verzichten. Deswegen g l a u b e n wir, daß die
Konzeption von Peguy, Schlumberger, W a r b u r g , E . B . Curtius
u. a., in den konkreten Verzahnungen von <Motiven> die <Wirklich-
keit> des <Geistes> sichtbar zu m a c h e n , sinnvoller ist, als <Systeme>
zu entwerfen. Dies gilt besonders für eine Zeit, welche angeblich
gerade den <Nullpunkt> des <Nihilismus> zu überwinden beginnt.
Sie wird damit k a u m Erfolg h a b e n , w e n n sie Geschichtlichem
nicht mit n e u e n A u g e n in einer konkreten Weise begegnet. Der
Historismus ist tot. E i n e sokratische Geschichts-Erhellung als
Kunde des M e n s c h e n in seinem So-Sein u n d D a - S e i n beginnt be-
230 reits m a n c h e n Vertretern der mittleren u n d j ü n g e r e n Generation
Europas über diesen <Nullpunkt> hinwegzuhelfen, sofern <Weltpo-
litib nicht alle Ansätze dieser Art wieder vernichtet.
Hinsichtlich unserer bald folgenden <gewagten> Versuche müs-
sen wir also wieder auf <Konkretes> lenken, diesmal auf eines der
zauberhaftesten und gleichzeitig wieder vieldeutigsten Lieblings-
motive des Manierismus: auf das Einhorn. Das <Unicorne ma-
gique> ist ein Lieblingstier der Manierismus - im Sinne eines
deformierten Mythos. Wir haben es aber jetzt mit einem <manieri-
stisch-erotischen> Märchen zu tun; aber auch dies übernehmen die
Manieristen des 16. und 17. Jahrhunderts wie die unserer Gegen-
wart von ihren wahlverwandten Vorläufern. Es handelt sich um ein
abenteuerliches Märchen, und wir wollen es an Hand einer ausge-
zeichneten Monographie zu diesem Thema so kurz erzählen wie
möglich. In der indischen Legende gilt das Einhorn als seltenes,
scheues, geheimnisvolles Tier: sein Körper ist weiß, der Kopf rot,
die Augen blau, das Hörn ist gewunden, es mißt etwa eine Elle; an
der Stirne ist es weiß, in der Mitte schwarz, die Spitze leuchtet pur-
purrot. Das Hörn dieses Sagentieres verfügt über wunderbare
Kräfte, es neutralisiert Gifte. Dieses Tier, das Einsamkeit liebt und
wie ein Element der Vorzeit in unsere Tage hineinragt, ist unwi-
derstehlich. Man kann es nur mittels eines jungfräulichen Mäd-
chens fangen, denn von der Reinheit, von der Unberührtheit fühlt
sich dieses Wesen — eine Mischung von <Anmut und Geheimnis>,
von <Schönheit und Grauem — <magisch> angezogen. Um dieses
Einhorn fangen zu können, bringt man eine nackte Jungfrau in die
Nähe seiner Jagdgründe. Kaum wittert das Rätsel-Tier die Rein-
heit, springt es der Unberührten sofort auf den Schoß. Die Jäger,
die sich in der Nähe versteckt halten, haben ein leichtes Spiel. Sie
können das verzauberte Tier nun töten oder sogar fangen. Leo-
nardo bezeichnet das mythische Tier als <grausam und wild>.

Das Phallus-Symbol
Wir sagten es: zwischen 1520 und 1650 wird das Einhorn zu einem
der Lieblingsmythen des Manierismus, aber eben zu einem in be-
zeichnender Weise nun nicht nur <seltsamen>, sondern zu einem
typisch erotisch <deformierten) Mythos, wenn auch zu dieser <De-
tormation> Traditionen des Mittelalters Anregungen gegeben ha-
ben. Das <Einhorn> wird - schon in mittelalterlicher Überlieferung
-vom <Geruch> der Jungfrau angezogen. Sie <öffnet ihm ihre Brü-
ste und die Knie>. Dort wird das <wilde Tier> sanft, ruhig. Wir kön-
nen alle geradezu hyperphantastisch theologisch-symbolischen
Deutungen des Einhorn-Mythos (denn ein solcher wurde er in der
Patristik) nur andeuten: Symbol Christi (Gott unüberwindbar, als
Mensch von der Jungfrau gehalten usw.). Wir beschränken uns
also auf ein Element, das in erster Linie übernommen wurde: das
Emhorn als phallisches Symbol, als <Meraviglia>-Gestalt, als ma-
gisch-erotische Allegorie, als Hauptsymbol in pansexualistischen
" Die patristische Literatur als eine
mblemen. Schon bei den Kirchenvätern 9 heißt es (>manieristisch der unerschöpflichsten Schatzkam-
genug>): <In u terum Virginis singulare deposuit omnipotentiae mern Europas für <manieristis<)u--
cornu>. Wir werden an die erotischen Metaphern der Nonnen-My- Bilder ist in dieser Beziehung langst
nicht genug erforscht.
im 16. Jahrhundert erinnert. Viel wichtiger aber ist, daß das
orn im Laufe der Jahrhunderte zu einem der faszinierendsten
P Univalenten Symbole der europäischen Geistesgeschichte wird,
* l e er etruskisch-römische Gott Vertumnus. Das Einhorn symbo-
1S1Crt e i n m a
l Christus, dann den Teufel, auch die Heiden, die 231
Dame mit dem Einhorn (um 1500)
Tapisserie im Musee Clunv. Paris

Gottlosen, die Unkeuschen, die Juden (weil sie nur an ein Testa-
ment glaubten), den Hochmut, den Glauben auch an nur eine gött-
liche Person.
Wir müssen innehalten und uns fragen, was dieses mythische
Tier für die Manieristen bedeuten konnte! Aber müssen wir noch
fragen? Sehen wir uns zunächst einige Bilder an. Im Mittelalter
öffnet das <mystische Einhorm dem Papst noch als religiöses Sym-
bol die Augen (Miniatur aus den Papstprophezeiungen von Mon-
reale). Eine ähnliche (mystische), wenn auch schon typisch franzö-
sische, <preziöse> Bedeutung hat das <änigmatische> Tier noch in
einer Teppichfolge um 1500: <Die Dame mit dem sich spiegelnden
Einhorm (Musee Cluny in Paris). In einer Studie von Leonardo
verschwinden die theologischen Umrisse vollends. Man war ver-
sucht, in dieser ebenso nervösen wie entrückt-ruhigen Zeichnung
eine Metapher... für Sodomie zu sehen. Hier fängt eine weitere
manieristisch-deformierende Tendenz in bezug auf <Mythen> an,
sichtbar zu werden: das patristische religiöse Bild (Maria und Ein-
horn) beginnt sich mit einem der populärsten <invertierten> Motive
alexandrinischer (hellenistischer) Kunst zu begegnen, mit dem
Motiv: Leda mit dem Schwan.
Das mächtige, wilde, urtümliche, elementar starke <Einhorn>
wird für Manieristen, von denen Kenner dieses (erotischen) The-
mas, wie Eduard Fuchs, behaupten, sie hätten meist an einem be-
232 stimmten vitalen Minderwertigkeitskomplex gelitten, zu einem
entsprechenden kompensierendem, halluzinatorischen Bild. Ein-
deutig kann man diesen Reformiertem Mythos erkennen an dem
bisher noch nicht (in dieser <schwebenden> Allmacht eines indirek-
ten Phalluskults) beachteten Einhorn in den dekorativen Fresken
der Engelsburg. Wieder offenbart sich in der Umwelt dieses uner-
schöpflichen Kastells am Tiber etwas Neues: die Schwermut der
Männlichkeit, d.h. der erotisch unzulänglichen Männlichkeit,
auch wieder eines Leonardo-Themas, eines geheimnisvoll ver-
schleierten) Ur-Motivs der Manieristen. Über das Impotenz- und
Unzulänglichkeits-Motiv (in diesem spezifischen Sinne) könnte
man aus der manieristischen Literatur aller Zeiten mit Beispielen
allein ein ganzes Buch füllen. Zwischen 1550 und 1650 scheinen
die manieristischen Künstler (und ihre Auftraggeber) vom Thema Salvador I);(li: Einhorn

des <Einhorns> fasziniert gewesen zu sein. In der Engelsburg be-


gegnen uns (u.a.) zwei weitere, <erotisch> eindeutig deformierte
Formen: eine üppige Dame, welche das charakteristische Element
dieses Tieres mit auffallend zärtlicher Hand berührt, und schließ-
lich eine weitere Stufe einer keineswegs mehr mystischen Annähe-
rung: in einem ganz <materiellen Sinne> wird hier das patristische
Wort <deformiert>: <in uterum Virginis singulare deposuit omnipo-
tentiae cornu>. Man bedachte vor allem: die Partnerin des Ein-
horns ist jetzt nur noch eine anonyme Frauenfigur, ein Körper, eine
in Haltung und Herausforderung eindeutige, fast gesichtslose He-
täre.
Was das Einhorn-Symbol auszeichnet, ist in einem besonderen
Maße seine Vieldeutigkeit. Aus dem schottischen Wappen ist es
z.B. als Schildträger in das englische Wappen übergegangen. Seit-
dem suchen angeblich die Engländer dauernd nach dem Ursprung
dieses Symbols. In einem interessanten Essay definiert Peter de

Jungfrau mit dem Kinhom.


Engelsburg Rom
Mendelssohn - in hezug auf das englische W a p p e n : Löwe p l u s
Einhorn - , es sei der Löwe das Symbol für W ü r d e , M a ß , Gesetz,
Weisheit; das Einhorn hingegen dasjenige (auch) für Augenblicks-
Versessenheit, für Scherz, Ironie, Satire, Verrücktheit und Ver-
drehtheit, Schnörkel, düster-skurrile Spinnerei, Poesie, Narretei,
Trick und Taschenspielerei. Jean Cocteau schreibt ein Libretto für
'" W. B. Yeats ichrieb das Libretto zu e j n Ballett: <Die D a m e und das E i n h o r n ) . Von Dali gibt es eine
pe
nen> " hübsche <Serpentinata>-Zeichnung mit d e m Titel <Gala as a child
mounted on the unicorn of my fate>. W i r wollen uns psychoanalyti-
sche Deutungen (im Gegensatz zu d e n Surrealisten) dieses Titels
ersparen. Dafür ein Gedicht von Garcia Lorca über Einhörner:
<Durch das kleine Gäßchen k o m m e n / Sonderbare Einhörner. /
Welchen Feldes / Welchen Mythenwaldes sind sie? / N ä h e r - /
Scheinen sie gar Astronomen. / Höchst phantastische Merline, /
Ecce H o m o / D u r a n d a r t e auch, die frohe. / B o l a n d rasend.>
<Gar Astronomen>? In Persien soll das E i n h o r n das Sinnbild des
Mondes gewesen sein, der Löwe das Sinnbild der Sonne. Das Vita-
litätsproblem des <Manierismus> wird e r n e u t <mythisch> erhellt.
Melancholie = Mondlandschaft = vitale Schwäche. Klassik = Son-
nenkraft = natürliche Vitalität? W i r wollen n o c h keine Schlüsse
ziehen, obwohl wir uns dem E n d e der g e w u n d e n e n Wege unseres
<Mythenwalds> n u n i m m e r m e h r n ä h e r n .

Demaskierung
<Fernste Z u s a m m e n h ä n g e m i t e i n a n d e r verbinden), wir erinnern
uns, daß eine der wichtigsten concettistischen Vorschriften Tesau-
ros so lautete. G.B. della P o r t a verglich Tiergesichter mit
Menschenantlitzen, Pflanzenformen mit Tiergesichtern. Auch die
mythische !<Leda mit dem Schwäri) g e h ö r t zu e i n e m der n u n popu-
lärsten Motive des Manierismus. L e o n a r d o h a t sich wiederholt die-
ses T h e m a s bemächtigt und eine d u r c h a u s k e u s c h e heda gemalt,
allerdings von einer derart a n m u t i g e n Preziosität, daß sie nicht nur
Parmigianino, sondern die gesamte <Geziertheit> der Schule von
Fontainebleau vorwegzunehmen scheint (Teilaufnähme aus Leo-
nardos <Leda mit dem Schwan>). D o c h dieses T h e m a wird in viel
lasziverer Form auffallend oft bearbeitet. K a u m übertroffen wurde
diese <sodomistische> M e t a p h e r - w a s Laszivität a n g e h t - v o n einer
u m 1600 berühmten Skulptur, der r ö m i s c h e n Kopie eines helleni-
stischen Originals, das 1586 vom P a t r i a r c h e n G . G r i m a n i der Re-
publik Venedig geschenkt w u r d e . H i e r wird die <sodomisüsche>
Vereinigung des Unvereinbaren z u m <perversen> Ereignis. Man
vergleiche nun das <ekstatische> Gesicht L e d a s mit einem my-
stisch-lasziven Ereignis wie die Vereinigung des noch weniger zu
Vereinbarenden, des religiös-sexuellen, im raptus des Antlitzes der
hl.Theresa von Bernini. Hier <concordia discors> des Menschlichen
mit dem Göttlichen, dort <discordia concors> des Menschlichen mit
dem Tierischen. Mit Recht stellt a b e r G i u s e p p i n a Fumagalh fest:
<AIle diese Bilder sind nichts anderes als M y t h e n der Liebe, Urhe-
berin des Lebens u n d des Todes, der O r d n u n g u n d Unordnung,
der Verdammnis u n d E r h a l t u n g , des Verzichts u n d der zügellosen
Selbstaufgabe, der Gewalt u n d Auslöschung.)
Doch diese <invertierten> <Disegni metaforici> sind in der geisti-
gen, in der <Idea>-Vorstellung doch m e h r , w e n n wir uns an Zuccari
erinnern: immer wieder versucht m a n d e n <gewissen Punkt) (Rre-
234 ton) zu entdecken, <wo L e b e n u n d Tod, Wirkliches u n d Dargestell-
tes, Vergangenes u n d Zukünftiges, Mitteilbares und Unsagbares,
Oben und U n t e n nicht m e h r als Gegensätze wahrgenommen Wer-
dern. Doch wollen wir darin auch nicht nur <Metaphysisches> su-
chen. Die angeblich <schamlosen>, <lasziven>, jedenfalls höchst
realistischen D a r s t e l l u n g e n erotischer u n d sexueller Probleme von
Leonardo bis M a r i n o , von d e n französischen Spätromantikern bis
zu James Joyce (der <Innere Monolog> der D a m e Bloom, am Ende
des <Ulysses>, H ö h e p u n k t des manieristischen <Pansexualismus>),
sind auch gelegentlich d u r c h a u s listige und verschmitzte Folgen
eines Wunsches n a c h <Demaskierung>. N u r derjenige, der dau-
ernd eine <Maske> trägt u n d die <Maske> liebt, mui3 wissen, welche
ganz und gar unsexuelle <Wollust> es ist, endlich die <Maske> abzu-
legen, endlich e i n m a l <natürlich> zu sein (Otto Müller. <Paar in der
Kaschemme>). D e r oft so <schamlose> manieristische <Pansexualis-
mus>, hängt er nicht a u c h m i t einer uneingestandenen, aber um so
tieferen Sehnsucht n a c h <Natürlichkeit> zusammen, nach Einfach-
heit, nach N u r - n o c h - N a t u r ? W e r Labyrinthe erfindet und Laby-
rinthe liebt, wird sich i m m e r n a c h der <Lust> des Befreit-seins seh-
nen, also nach e i n e m i m G r u n d e doch <einfachen> Erlebnis: nach
klarer, eindeutiger Befreiung v o m Komplizierten, vom Irr-Sinn der
Irr-Wege. Die erotische Inversionstendenz des Manierismus hängt
also, was Triebstruktur u n d metaphysische Vorstellung angeht,
auch mit einer <Idea> der Welt als Labyrinth zusammen. Die so
sibyllinische M e l a n c h o l i e der m e i s t e n Manieristen ist existentiell 2
zu erklären durch den ihnen auferlegten <Zwang>, kompliziert zu
sein, sich aber i m m e r wieder n a c h <Einfachheit>, <Natürlichkeit>zu
sehnen. Sie suchen also doch - auf ihre Weise - die <Mitte>, den
Kernraum des Labyrinths, aber sie scheitern, a u c h wenn die Liebe
ihnen den roten Faden gibt, weil sie wohl die echtesten Kinder der
<unerlösten> E r b s ü n d e sind. F ü r sie gibt es k e i n e n <einfachen> Er-
lösungsweg und erst recht keinen Aus-Weg. Sie müssen die Bela-
stung Kains austragen. <Labyrinth> (Verwirrung) steht jetzt gegen
<Harmonie> (Ordnung).
Will m a n mit zwei N a m e n , damit die (Unvereinbarkeit) der zwei
<Ausdruckszwänge> noch deutlicher wird, zwei Antipoden? Hier
sind sie: L e o n a r d o u n d Bach. Die <Natur> rächt sich, da sie so ver-
nachlässigt wird, in eigenartiger Weise an d e n <Manieristen>. Sie,
welche die <Natur> <hassen>, erscheinen schon der nächsten Gene-
ration als <bloße> Interpreten der N a t u r . D i e großen <Klassiker>
hingegen (wohlgemerkt: nicht die Klassizistcn), welche nur die
<Natur> zu <idealisicren> scheinen, b e g e g n e n u n s i m m e r wieder als
die wirklich sublimen <Erfüller> der <Natur>. In diesem Sinne er-
scheint als das un-manieristischste, <keuscheste> Genie Europas,
trotz so vieler <manieristischer> E l e m e n t e in seinem Werk, über
Dante, über Shakespeare, R e m b r a n d t u n d selbst über Mozart und
Goethe hinaus, ein <Leuchtturm der Menschheit>: Johann Seba-
stian Bach, u n d zwar in zwei W e r k e n , welche die heilige Union des
Disparaten am großartigsten vollziehen: im Violin-Konzert in
E - D u r und in der M a t t h ä u s - P a s s i o n .

Sexuelle Ein-samkeit
Wir halten also zunächst fest: die zwei UrgebärdenJ_ejH\Iensch-
heit, die beiden, vor allem in Kunst, D i c h t u n g u n d Musik bestim-
m e n d e n <Ausdruckszwänge>, sind e i n m a l <natürlich> oder <künst-
lich>. <klassisch> oder <manieristisch>. Die klassische Gebärde
bezeugt Ungebrochenheit der Instinkte, die manieristische Gebro-
chenheit. Die Gebrochenheit entsteht i m manieristischen Urtrieb,
in der sexuellen Libido, nicht n u r in u n d durch die N a t u r Erfüllung
zu finden, sondern oft auch a u ß e r h a l b von ihr u n d sogar gegen sie.
Der Tendenz zur Artifizialität in Kunst u n d L i t e r a t u r entspricht die
Tendenz, den stärksten Erlebnis antrieb eben nicht in der <Natur>,
sondern in der <Idea>, in eigenen, <inneren> W a h r n e h m u n g s b u -
dern zu suchen. W i r erinnern uns a n das Wort Leonardos: <Sie
finden die Erfüllung n u r . . . in der eigenen Vorstellungskraft.)
Demzufolge herrscht eine <autistische> Introversion vor, wenn sie
auch sehr differenziert erscheint. Gelegentlich zeigt sich ein be-
stimmter Typus des Manieristen o h n e <Verkleidung). Er gibt nicht
nur zu, Erfüllung im Anblick selbstcrzeugter Bilder zu suchen. Die
<Träume des Verliebten) w e r d e n lasterhaft (cf. <Die Träume des
Verliebten). Bosch-Schule). D e r M a n i e r i s t k a n n sich sogar zum
<Autismus> gleichsam b e k e n n e n , als z u m antinaturalistischen La-
ster par excellence. L i e b e u n d L a s t e r k ö n n e n ebenfalls zu einer Ko-
inzidenz führen, zur Koinzidenz der damnes u n d maudits. (Der
<Autismus> bringt in der <Idea> deformierte B l u m e n des Bösen her-
vor. Vgl. <Die Liebe> von Alberto Martini.) E i n Bild Adrians van der
Werff (17. J a h r h u n d e r t ) zeigt eine n a c k t e Frau mit ekstatischem
Gesichtsausdruck vor einem in Wolken e r s c h e i n e n d e n <Traurn-
bild) des Geliebten. Das Bild h a t d e n Titel <Die Vorstellung ist
236 m e h r wert als die Wirklichkeit). I m preziös-verzärtelten, dekaden-
ten Manierismus des 18. J a h r h u n d e r t s , im Rokoko, wurden häufig
Mädchen in noch viel eindeutigeren, intimeren, <autistischen> Si-
tuationen dargestellt. M a n n a n n t e den Vorgang d'agreable Illu-
sion). Die Libertins, Freigeister, Avantgardisten sammelten gerade
dieses erotische Motiv in der Kunst mit verdächtigem Eifer. Das
Allerintimste sollte nicht n u r <entschleiert> werden. Bilder des <Au-
tismus> regten nicht n u r zur Schlüpfrigkeit an. M a n empfand den
<Autismus> als v o r n e h m e s , antibarbarisches, antianimalisches La-
ster. Man n a n n t e ihn: <Le r o m a n dangereux>, besonders dann,
wenn ältere Kavaliere aus i r g e n d e i n e m Versteck junge Damen da-
bei beobachteten.' l cf. Fuchs O.e. Im Rokoko wird au-
ßerdem die Technik der nisammen-
Dieser Verlust von N a t u r als Widerstand und als Anregung führt gesetzlen köpfe An imboldis m ei-
zu einem Persönlichkeitsschwund, k a n n zu einem Versagen in der nem Ereignis. Man setzt Kopfe ron
berühmten Zeitgenossen - aus sati-
Umwelt führen, z u m Verlust jeglicher Du-Beziehung, sei sie reli-
rischen Gründen - aus Phallen zu-
giöser, metaphysischer, politischer, sozialer oder erotischer Art, zu sammen. (Phallische Porträts- ^ibi
einem Verzicht a u c h auf u n m i t t e l b a r e <klare> Kommunikation, auf es u.a. von Rousseau und Miralieao
Erst im 20. Jahrhundert tauchen
ein <verstehendes> P u b l i k u m . Die <Hieroglyphik> ist in diesem Elemente dieser Art in den psycho-
Sinne auch Ausdruck eines Mit-sich-selbst-zufrieden-Seins, einer analytischen Emblemen der Surrea-
listen wieder auf.
Verachtung von a u c h intellektueller Partnerschaft.
Doch selbst dieser <artifizielle> Typus steht noch immer, wenig-
stens in der <Idea>, m i t p h a n t o m i s c h e n Partnern, mit selbsterzeug-
ten Du-Bildern in Verbindung. D e r extreme, gleichsam der <ab-
strakte> Typus der autistischen Verhaltensweise wäre demzufolge
der Narziß, der M e n s c h , der in sein eigenes <Spiegel>-Bild verliebt
ist, der sich nicht snobistisch vor einen Spiegel stellt, u m <zu schla-
fen) (Baudelaire), s o n d e r n u m - sich selbst zu lieben, sich im ver-
liebten Anblick seiner selbst Befriedigung zu s c h e n k e n . u Hier wird dieses Typus bei Kraffl-Ebing, Psy-
wieder ein < Gefrierpunkt) des M a n i e r i s m u s erreicht: der bilderer- chopathie Sexualis. Zürich np>~

Bosch-Schule: Die Träume des


Verliebten
zeugende Spiegel, Sinnbild der <Idea>, löst vollends die Objekt-
Subjekt-Situation von Gespiegeltem u n d d e m Sich-Spiegelnden
auf. Auch der Narziß-Spiegel ist ein E m b l e m der abstrakten Meta-
phorik. Alle Natur wird gleichgültig, sogar die <Natur> in der eige-
nen Idee, sofern sie nicht n u r noch das <Ich> ist, das — in dieser
<Intimität> — in keiner Weise m e h r konkret mit-<teilbare> Ich. Die
saturnische Melancholie solcher Kunst ist demzufolge gelegentlich
nur Ausdruck eines schlechten <Natur>-Gewissens. Kann man
auch daher die Sucht nach Verschleierung, n a c h Metaphorik und
Metamorphose, n a c h Hieroglyphik u n d M e t a m o r p h o s e erklären?
Wir dürfen es a n n e h m e n , aber nicht in einem absolut determinie-
renden Sinne. Determinationslehren verfallen leicht dem Irrtum
der Verabsolutierung. Der menschliche Kosmos entzieht sich ein-
fachen Gleichungen. Aber wir k ö n n e n e r k e n n e n , daß <Autismus>
und <Narzißmus> elementar a n r e g e n d e M o m e n t e für die Artifi-
zialität der manieristischen U r g e b ä r d e sind, aber n u r für einen
extremen Duktus. F ü r die notwendigen Differenzierungen einer
<Gebärden>-Psychologie als Ausdruck bestimmter <Instinkt-Situa-
tionen) fehlen uns noch spezielle Forschung u n d passende Termi-
1
' Ausgezeichnetes Material und in- nologie. 1 3
teressante Deutungen im Zusam-
menhang mit Erkenntnissen aus der Dafür fehlt es uns allerdings nicht an konkreten Beispielen. Wir
zeitgenössischen Psychotherapie haben bereits bestimmte Werke der b i l d e n d e n Kunst, soweit es
findet man im Werk von Ludwig
Binsvvanger, Drei Formen miß- sich u m solche handelt, die zur Kategorie des <Disegno fantastico
glückten Daseins. Verstiegenheit. Zuccaris gehören, angeführt. Zahlreiche <eindeutig> erotische
Verschrobenheit. Manieriertheit.
Tübingen 1956. Dabei unterschei- Kunstwerke sind bekanntlich vor allem im 1 g. J a h r h u n d e r t mit ver-
det Binsvvanger mit Recht ausdrück- dächtiger Prüderie zerstört worden. I n der Literatur, welche <Be-
lich die <psychologische> Manie-
riertheit von <Manierismus> in kenntnisse> a u ß e r d e m leichter ermöglicht, wird das schon anders.
Kunst. Literatur. Musik, da dieser Das soll gesondert dargestellt werden; aber hier wenigstens einige
durch nur psychologische oder gar
nur psychiatrische Einsichten nie-
Beispiele: Ein italienischer Marinist des 17. J a h r h u n d e r t s , Salo-
mals erschöpfend zu erklären wäre. moni, stellt sich nachts die Geliebte vor u n d schildert, wie er <unru-
hig in seinen nächtlichen Kissen> zu e i n e m <glücklichen>, <völlig
beseligten Geliebtem wird. Aber er sagt (sich selbst) sogleich:
<Bremse, törichte Seele, die k ü h n e u n d lockere Zunge.> <Kehre im
Schweigen der Nacht zu Deinen Vorstellungen zurück.> Hier bleibt
ein autistischer Trieb u n g e h e m m t , der Mitteilungstrieb (verständ-
licherweise) gehemmt. Diese M i t t e i l u n g s h e m m u n g , in einer derart
eindeutigen Situation, führt entweder (wie in diesem Falle) zum
Verschweigen oder zum Verhüllen, zur <hieroglyphischen> Um-
schrift einer <antinaturalistischen> <Idea>-Liebe. Das Absonde-
rungs-Streben ist so eindeutig wie das Streben n a c h Nicht-verstan-
den-Werden.
Was bedeutet es innerhalb solcher Triebstrukturen, w e n n man
sagt, der <Manierismus> sei ein Synonym für das Gesuchte im
Sinne des Verhüllens? Woher s t a m m e n die Antriebe für erotische
Vorstellungsbilder? Von <außen> oder d u r c h das eigene <Wollen>?
Wer will das entscheiden? Wir k ö n n e n es n u r <ästhetisch> erken-
nen. Das <Gewollte> wird uns i m m e r klar e r k e n n b a r bleiben. Auch
bei den Klassizisten? O h n e Inspiration bleiben Manieristen wie
Klassizisten — poetae minores. D a s <Gesuchte> als Verhüllendes
hingegen ist auch Ausdruck einer Triebfunktion. Richard von
Krafft-Ebing vermerkt zum <Autosexualismus>, d a ß g e r a d e dieser
zum <Geheimnis der Psyche> gehört, <das a m sorgfältigsten behütet
wird>.
F ü r die <Preziösen>, stellt R e n e Bray fest, wird die Liebe zu ei-
n e m Gott. Sie wollen lieben, aber sich nicht b i n d e n . Preziosität ist
ein Tanz vor dem Spiegel, ein <acte sans cause>. P a u l Valery
schreibt in seinen Briefen über Mall a r m e , es liege der Wert eines
238 Werkes nicht in seiner Wirkung, in seinem I n h a l t u n d in seiner
Erscheinung, sondern in der <maniere>, in der wir es gemacht ha-
ben. <Creation> ist für Valery narzißtische Schöpfung. Die Kunst
wird zu einer <einsamen Übung>. Ausdruck seiner selbst ist wichti-
ger als Mitteilung. <Die willentliche Anstrengung erzeugt Schön-
heit.) Ähnliches findet man bei Leonardo, den Valery verehrte und
dessen <Methode> er übernahm. Mallarmes <Apres-Midi d'un
Faune> ist ein autistisches Emblem. <Bien seul je m'offrais / Pour
triomphe la faute ideale des roses> (<Sehr allein bot ich mir dar, zum
Triumph das ideale Fehlen der Rosen>). <Le serein souffle artificiel
de l'inspiration> (<Der heitere künstliche Hauch der Inspiration)).
Die <Herodiade> Mallarmes spricht sich für eine solche (sterile>
Liebe noch offener aus: <Traurige Rose, die allein wächst und
keine andere Erregung kennt.) <0 letzte Verzauberung, ja, ich
fühle sie: Ich bin allein.) Andre Breton zitierte Nietzsches patheti-
schen Ausruf: <Nichts gehört Euch mehr als Eure Träume! Sub-
jekt, Form, Dauer, Darsteller, Betrachter — in diesen Komödien
seid ihr alle ihr selbst!)
Die Surrealisten veranstalteten psychoanalytische) Salon-
Beichten. Damen und Herren vereinten sich zu einem (auch <anti-
stischem) Gesellschaftsspiel: jeder mußte über sich, d.h. über seine
intimsten sexuellen Erlebnisse und Erfahrungen alles sagen. Au-
tismus, aber auch Fetischismus, Exhibitionismus, Sadismus usw.
wurden dabei <rücksichtslos> <gespiegelt>. Der <Meister> schlecht-
hin der Surrealisten ist bekanntlich: der Marquis de Sade. Doch
fasziniert blieben die Surrealisten gerade vom Onan-Mythos des
Alten Testaments. Im Bunuel-Dali-Film <L'Äge d'or> gibt es eine
grausig-transponierte Szene von <Autosexualismus>. Kubin zeich-
nete eine <Masturbation>, Dali malte einen <Grand Masturbateun.
In <To Have and Have Not>14 schildert Ernest Hemingway höchst '*NewYoik 1937,deutsche Vi^,«-
<neorealistisch>, wie eine Frau zu einer autistisch-narzißtischen benfHabpn uiui \ K InhaltenI Ham-
burg 1<J>)I U.Ö.
Selbsterfüllung in einem inneren Monolog eine ganze Phantasie-
szene mit Bildern ausfüllt. Als sie das <Gesuchte> erreicht, ruft sie
aus: <Ich bin hier, ich bin immer hier. Du bist zauberhaft. Du bist
kh.>

Das P r o b l e m des <Alles-Sagens>


Kann man nun noch übersehen, daß der zeitgenössische Manieris-
mus sich nicht nur in der Geschichte zu verwurzeln sucht, sondern
daß er sich im <AUes-Sagen>, in einem neuen Sinne also, endlich
bewußt werden möchte, im Sinne einer kombinierten Technik der
nunmehr rücksichtslosen Aussage über sich selbst, im Sinne einer
concordia discors von katholischer Beichte und jüdisch-orientali-
scher, symbolischer Seelen-Kabbala, der Psychoanalyse? In prote-
stantischen Ländern, wo die befreiende Bedeutung der Ohren-
beichte unterschätzt wird, kann die <Hieroglyphe> allzu leicht zu
einer ganz privaten Emblematik oder zu einer neuen magisch-em-
blematischen Naturlyrik werden. Der neuzeitliche extreme Manie-
rismus erstrebt also durch eine Technik des <Alles-Sagens> eine
Selbstaufhebung des <Geheimnisses>, einen neuen «Humanis-
mus), einen neuen <Humanismus> des Menschenverständnisses.
Er hofft zu einem manieristischen Humanismus des Menschlich-
AUzumenschlichen zu gelangen. Doch diese Art <öffentlicher),
<Pansexueller> Beichte scheint im Scheitern begriffen zu sein, denn
es wird ja wieder etwas ver-kehrt, nämlich das Persönliche zum
Öffentlichen gemacht. Man vergißt, daß die Beichte nur dann 239
einen Sinn hat, w e n n m a n bereut, w e n n m a n sie allein im Antlitz
Gottes enthüllt, nicht in Salons, in Galerien, in Zeitungen, in mehr
oder weniger hermetischen Gedichten. Ist die <Beichte> ohne
Frömmigkeit nicht auch ein Symptom von W a h n - S i n n ?
Was <absolut> <wertvoller> ist: die klassische Sublimierung oder
die <manieristische Enthülhmg>, d a r ü b e r k a n n m a n allerdings
höchstens ebenso streiten wie über die Grenzsituation des Norma-
len. Wir stehen vor der einfachen philosophisch-anthropologi-
schen Tatsache, d a ß es diese beiden U r g e b ä r d e n der Menschheit
gibt. M a n k a n n sich — als jeweils <Wertender> — zwar für die eine
entscheiden. M a n w ü r d e sich dabei allerdings zumindest wohl un-
kritisch verhalten, w e n n m a n dies — i m Sinne eines geistlosen parti
pris — gegen die eine oder die a n d e r e t u n w ü r d e . N u r katholische
Priester k e n n e n die Beichten aller M e n s c h e n , u n d sie haben daher
Grund, über die <Verworfenheit> aller M e n s c h e n zu erschrecken,
sofern sie es nicht mit <Heiligen> zu t u n h a b e n . U n d doch stehen
alle — für den Priester — stets in der Möglichkeit der Erlösung. Die
Sünde wider das sechste Gebot etwa ist für die Kirche bekanntlich
nicht die <schwerste> Sünde. Die schlimmste Todsünde ist der Ver-
rat am Geist, a m Logos, an Gott. Welche <Sünden> auch immer
m a n den Manieristen vorwerfen m a g , welche andersartigen <Sün-
den> den <Klassisten>, eines wird m a n an d e n Manieristen selten
tadeln können: die Sünde wider den Geist u n d d e n Verrat am Dai-
monion, der ihnen die U n r u h e gibt u n d die Kraft.
Wir zitierten wiederholt das Wort von E u g e n i o d'Ors von der
<Sehnsucht> des <Barock>-Menschen n a c h d e m <verlorenen Para-
diese Können alle diese E x p e r i m e n t e nicht auch im und mit dem
Erotischen, wie wir anläßlich der christlichen Mystik gesehen ha-
ben, sogar zu religiösen Ausdrucksmitteln führen? Es gibt auch an-
dere, durchaus <häretische> T e n d e n z e n , die jedoch zumindest auf
erotisch-metaphysische Vorstellungen l e n k e n . Verbindet sich der
geistige, der schöpferische Manierist damit nicht einer Art von eso-
terischer UrÜberlieferung der M e n s c h h e i t , nicht immer, aber oft in
einem u n b e w u ß t e n , gelegentlich a u c h in e i n e m b e w u ß t e n Gegen-
satz zur geoffenbarten Wahrheit? Sicher ist, d a ß auch er, mitten in
seiner Ver-wirrtheit u n d in seinem W a h n - S i n n , a u c h in seiner ero-
tischen Problematik die <letzten> Gegensätze ü b e r w i n d e n will. Wir
deuteten es schon an: er sucht— wie schon L e o n a r d o und längstvor
ihm Plotin —immer wieder ein kosmisches Symbol, den <höchsten>
<Zusammenfall> des M ä n n l i c h e n u n d Weiblichen, jeder Polarität
überhaupt — im Bilde des h e r m a p h r o d i t i s c h e n Gottes.

28. H E R M A P H R O D I T E N

Das Zweigeschlechter-Wesen
In der magischen Weltvorstellung <primitiver>, aber auch g e -
schichtlicher) Völker ist der H e r m a p h r o d i t , das <Zweigeschlechter-
Wesen>, ein kosmisches Urbild. D a s g e s a m t e N a t u r - L e b e n verbin-
det Männliches u n d Weibliches in sich. D e r H e r m a p h r o d i t wird zu
einem Symbol des fruchtbaren L e b e n s . D e r <Doppelcharakter> von
M a n n u n d Frau war - auch o h n e entwicklungsgeschichtbxne
240 Kenntnisse — diesen Primitiven schon aufgefallen. Ein Herrn
aphrodit im anatomisch abnormalen Sinne erhält in der Mentali-
tät der Primitivem gottähnlichen Charakter. In Sexualriten pri-
mitiver Völker wird der Weihling durch die Operation der Subinzi-
sion in ein Weib, bzw. in ein Mann-Weib oder einen Weib-Mann
verwandelt. Dann erst gilt er als ein vollkommenen Mensch, er ist
Abbild des doppelgeschlechtigen Gottes geworden. Dieser Mythos
taucht - wie so viele andere - bekanntlich bei Piaton auf: die Men-
schen waren ursprünglich <androgyn>. Deswegen wurden sie den
Göttern gefährlich, sie trennten sie daher: in Mann und Weib.
Nach einer apokryphen Überlieferung war Adam ursprünglich
ebenfalls androgyn. Auch der Gott Tuisto der Germanen ist ein
Hermaphrodit. Die Magna Mater der Antike galt als doppelge-
schlechtig. Der <Päderastie> in gewissen Mysterien der Griechen
hatte ursprünglich einen <mystisch-religiösen> Sinn. Die Angelolo-
gie bezeichnet die Engel als androgyne Wesen. Nach den geistes-
geschichtlichen und völkerkundlichen Forschungen von Winthuis
bezeugen der Hermaphroditen-Kult und die ihm zugehörende
1
erotische Praxis in religiösen Zusammenhängen, den Willen, dem Zweigeschlechtig ist <IMS »Unwe-
sen) der Dravidat (Indiens I rhe-
höchsten Wesen gleich zu werden. Im Hermes Trimesgistos, dem wohner), der aruebe Rudra (1 r^nii-
<Lehrbuch> aller Esoteriker, war Gott hermaphroditisch. Der altrö- heiien der Mexikaner, Inka*, li.iln-
lonier, Sumerer, da orphtM hea My-
mische Januskopf wurde ursprünglich mit einem männlich-weib- sterien im pela*gi*chen Griechen-
lichen Gesicht dargestellt. lD land usw.). Cf. O.Karre! o.i

Splendor solis. Aus einer


illuminierten Hand« brift,
Augsburg um 1600

241
In der magischen Naturphilosophie u n d in der manieristischen
Kunst des 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t s wird der H e r m a p h r o d i t zu ei-
n e m der «vereinendem Zentral-Mythen. In der Romantik und in
der esoterischen Literatur des späten 1 g. J a h r h u n d e r t s und unserer
Gegenwart blüht er wieder auf, w ä h r e n d <klassische> Mythen wie
Zeus, Apoll, Hera usw. eher Gegenstand von Travestien werden.
Dazu hier n u r einige ikonographische u n d literarische Beispiele.
In der magischen Naturphilosophie des 16. J a h r h u n d e r t s ist der
Hermaphrodit ein Sinnbild des <in> der Welt wirkenden, des in der
Oberwelt aufgehobenen Dualismus, E m b l e m einer magischen
<Chymischen Hochzefb. In der alchimistischen Traktatsammlung
<Splendor Solis>, angeblich von Salomon Trismoscin verfaßt, fin-
det m a n in der Ausgabe von 1532 eine faszinierende hermaphrodi-
tische discordia Concors. Im Text des Traktats zu diesem maturphi-
losophischen Sinnbild> liest m a n , d a ß diese <zween Cörper> nicht
n u r M a n n u n d Weib symbolisieren, sondern a u c h <Sonn und
Mon>, <Erd u n d Wasser>. Diese Gegensätze sind jedoch nicht nur
in der Hermaphroditengestalt ü b e r w u n d e n , sondern sie sind im
<Ay> (Ei) umschlossen. Dieses <Weltei> hält die eine, vom Betrach-
ter aus rechte, <Hälfte> in der H a n d , die andere zeigt konzentrische
Kreise: Symbol nicht des <zeugenden> L e b e n s , sondern der tran-
szendentalen H a r m o n i e . Hier ist die Z u o r d n u n g Magie — Kunst
noch eindeutig, n o c h überzeugend <rein>. Diese Reinheit, wenn
auch keine <naive> m e h r , findet m a n n o c h bei L e o n a r d o . Viele sei-
ner Bilder werden als <hermaphroditische> E m b l e m e gedeutet. Wir
k o m m e n an H a n d einer <phantastischen> Interpretation des Spät-
manierismus im fin de siede darauf zurück. D o c h der Manierismus
- w i e alles Menschliche i m m e r auf des Messers S c h n e i d e - v e r l i e r t
bald, schon zur Zeit des <Splendor Solis>, seine religiöse Beziehung
zu diesem Mythos. W i e d e r eine Anti-Klimax! Spätantike Darstel-
lungen regen auch jetzt zur <Deformation> an, zu <kuriosen> Mera-
u/g/j'a-Produkten. G. B. Marino w i d m e t diesem <seltsamen> P a a r in
seinem <Adone> eine Strophe u n d findet dazu den für ihn bezeich-
n e n d e n Vers: <Um den l a u e n Appetit zu verbessern^ Als der
<Adone> erschien (1623), wimmelte es auf d e n B ü h n e n Europas
schon von Androgynen. Sie erscheinen im Kostüm <hermaphrodi-
Doch am <Aufgang> unserer manieristischen <Neuzeit> gewinnt das
hermaphroditische Emblem seine intellektuell mythische Bedeu-
tung zurück; und dies ist für den <Manierismus> aller Epochen in
einem neuen Sinne kennzeichnend: er liebt nicht nur <seltsame>
Mythen, er <deformiert> nicht nur einige Menschheitsmythen, er
bildet sich - im Sinne der <Idea>-Tradition - intellektuelle Mythen,
er rationalisiert Mythen (und zwar immer nur bestimmte) auf seine
Weise. Er <benutzt> Mythen, um seinem immer wieder beobach-
tenden Verhältnis zur Welt einen metaphysischen Bild-Hinter-
grund zu verleihen. Es wäre (wiederum) falsch, diesen bezeichnen-
den Umweg einer Intellektualisierung von Mythen aus einem
unproblematischem Verhältnis zur Welt und zum Mythos zu <ver-
datmnen>. Im Gegenteil: das Suchen nach der Einheit in
schicksalhafter Gespaltenheit hat eine (wie auch immer fragwür-
dige) erregende, geistige, besser intellektuell-<elektrische> Kraft,
die Dynamik aller künstlichen Kraftgeneratoren. Daher die so oft
getadelte <Kälte> der Manieristen. Wie der Eros vorwiegend von
den Reizzentren der Großhirnrinde angeregt wird, so das Verhält-
nis zum < Absoluten) von einer intellektuellen Leidenschaft zur Kon-
struktion.
Imfin de siede, wir sagten es schon, wird der <Hermaphrodit>, im
bewußten Zurückgreifen auf genau die gleichen Tendenzen am
Anfang des 16. Jahrhunderts, zu einem wesentlichen Bestandteil
einer (neuneoplatonischen) <Erotologie de Piatom. 16 Peladan zu- "Titel eines Traktat;, von Peladan
folge ist der Hermaphrodit <der künstlerische Sexus par excellence>. (1859-1918), Cf. Mario l w • },.<
Carne.LaMorteeilDiavolo ,, ,
Leonardo habe den <Kanon des Polykleb gefunden: er heißt <An-
drogyn>. Er ist der künstlerische Sexus, weil er beides vereint, das 2
43
Männliche und das Weibliche. Die <Gioconda> von Leonardo wird
in dieser Beziehung als weltgeschichtliches Emblem bezeichnet: in
ihr (oder in ihm) vereinige sich die <gehirnliche Autorität des Man-
nes) und das Sinnliche <der entzückenden Frau>. Im <Heiligen Jo-
hannes) (von Leonardo) wird der Sexus zu einer <Änigme>. Leo-
nardo habe das <animistische> Hell-Dunkel entdeckt. Peladan lobt
in seinem Buch <Höchstes Laster> den <Ephebismus> des Primatic-
cio und Antinous, den Liebling Hadrians, sowie die sagenhafte
Dichterin von Lesbos. Er schreibt einen Roman <Androgyne>
(1891) und besingt (rhetorisch) darin den <uranischen Eros>, die
<monströse Maske>, die sich der Profanen zu erwehren hat. Man
findet darin folgende Sätze: <0 Geschlecht der Urzeit, o abge-
schlossenes Geschlecht, o Absolutes der Liebe, der Form: Sexus,
der den Sexus negiert, Sexus der Ewigkeit. Lob D i r . . . Androgyne.>
Die <Gioconda> Leonardos und den <Hamlet> Shakespeares,
können wir sie in diesen Zusammenhängen anders begreifen? Ste-
hen sie nicht, wie ein <Hermaphrodit> Salvador Dalis, in vielen my-
Salvador Dali: thischen, historischen und auch psychologischem Schnittpunk-
1 lennaphrodit ten? Alles bleibt <pansophisch> verschlüsselt, aber schwankend
zwischen dem echten Signaturen-System des wirklich erschütter-
ten <Magiers> oder <Mystikers> und den pseudohintergründigen
<Chiffren> kleiner, halb psychopathischer und meist hochintelli-
genter <Nachahmer>. Wollen wir den Manierismus objektiv werten
und damit die <Problematik> des modernen Menschen aus diesen
<Zeichen> begreifen, müssen wir immer nur die Gipfel betrachten,
das, was Baudelaire die Leuchttürme der Menschheit) nannte. So
gesehen entspricht der Hermaphroditen-Kult der genuin schöpfe-
rischen bildenden Künstler des Manierismus der Sehnsucht Jakob
Böhmes nach einer <adamischen> Ursprache. Böhme sucht das
<himmlische> Alphabet, den <Zusammenfall> aller Sprachen. Die
<adamische> Sprache ist somit <hermaphroditisch>.
Muß aber gerade sie für denjenigen, der diese Sprache, aber
auch diese Kunst nur <rationell> begreifen will und nur vital begrei-
fen kann, nicht (im Umkreis des alltäglichen Tuns und Wollens)
zwangsläufig <änigmatisch> und einige zeitliche Stufen weiter <ab-
strakt> werden? Sie muß es werden! In diesem Sinne sind das ma-
nieristische Bild, das manieristische Wort, der manieristische
Klang diesem Schicksal einer fortschreitenden Abstraktion verfal-
len. Die <intellektuellen> Mythen werden zu abstrakten Dämonen.
Robert Musil läßt im <Mann ohne Eigenschaften) Ulrich anläßlich
einer Betrachtung über den Hermaphroditen-Mythos sagen: <Die-
ses Verlangen nach einem Doppelgänger im anderen Geschlecht
ist uralt. Es will die Liebe eines Wesens, das uns völlig gleichen,
Ktuid Merrild: aber doch ein anderes sein soll, eine Zaubergestalt, die wir sind, die
\ lennaphrodit aber doch eben auch eine Zaubergestalt bleibt und vor allem, was
wir uns bloß ausdenken, den Atem der Selbständigkeit und Unab-
hängigkeit voraus hat. Unzählige Male ist dieser Traum vom Flui-
dum der Liebe, das sich unabhängig von den Beschränkungen der
Körperwelt, in zwei gleichverschiedenen Gestalten begegnet, schon
in einsamer Alchimie den Retorten der menschlichen Köpfe ent-
stiegen.) In diesen wenigen Sätzen sind alle <Motive> Leonardos
enthalten. Aber Unterscheidungen! Die irr-sinnige Ciarisse bietet
sich später Meingast (alias Klages) als . . . Hermaphrodit an, als ge-
eignetes Weibobjekt für... einen Männerbund. Ulrich spricht in
seinem Inzestverhältnis zu seiner Schwester Agathe von <dieser ge-
heimnisvollen Doppelgeschlechtigkeit der Seele>. Das <maniensü-
sche> Wien von 1914 <differenziert) durchaus anders als Leonardo
2 4 4
und auch anders als das Paris von 1890. Was im 16. Jahrhundert
noch echter kosmischer Mythos, in der Pariser Decadence nur
noch intellektueller Mythos war, wird jetzt zu einer abstrakten se-
xualpsychologischen Dämonologie. Aber der <unbefriedigte> Le-
bensantrieb, die Problematik der Triebstruktur ist die gleiche. Ul-
rich sagt es mit der ganzen Melancholie des ständig <unerfüllten>
<Mannes ohne Eigenschaften>, das Leonardo-Motiv des <Piacere-
Dispiacere> abwandelnd: <...im Traum, im Mythos, Gedicht,
Kindheit und selbst in der Liebe ist der größere Anteil des Ge-
fühls... erkauft... durch einen Mangel an Wirklichkeit^ Im
Traum erleben wir <hundert Prozent... im Wachen ist es kein hal- n (i. Robert M»*'1- ' j "
bes!> <Alles Unrechte und Schiefe gewinnt die Anziehungskraft ei- S^orbebiwgen ww " " ' / "'"
ner ungeheuren Versuchung, sobald man ihm im letzten nichts ent- Hermaphroditen-Mob' i
gegensetzen kann.> <Akustik der Leere .. .>17 , ll0t u 1 1
'' ' ' " '

29. M A N I E R I S M U S UND
MANIERIERTHEIT

<Verbergung> i n d e r <Lichtung>

Der Mythos des Hermaphroditen schenkt dem problematischen


Menschen eine ursprüngliche, wenn auch nicht <erbauliche>, so
sicherlich konstruktive > Trost-Idee: erfindet ein Bild, in dem eine
seiner bezeichnendsten, ebenso fragwürdigen wie schöpferischen
Anlagen <ausgeglichen> werden kann: die Bewußtseinsspaltung.
Also: nur psychologische Erklärungen bleiben unzureichend.
Wenn der <problematische> Mensch einer bisweilen schizophre-
nieähnlichen Bewußtseinsspaltung sich anzunähern scheint, was
besagt es schon, wenn sein Werk in einem dreifachen Sinne gehalt-
voll ist: im geistigen, im historischen und im metaphysischen? Der
Hinweis auf psychologische und psychoanalytische Zusammen-
hänge ist allerdings im Sinne der von Nietzsche geforderten Sau-
berkeit <in psychologicis> unerläßlich. Aber kann man mit den psy-
chologischen, biologischen und auch soziologischen Merkmalen,
die im Verlaufe dieser Darstellung angeführt worden sind, den
<manieristischen Menschentypus> - ohne ihn in auch nur irgend-
einer Hinsicht <reduzieren> zu wollen - ausreichend in seiner wir-
kenden und wesenhaften Tiefe erklären? Wir glauben es nicht.
Ersparen konnten wir uns allerdings den Einblick in so problema-
tische) menschliche Verhältnisse nicht, schon allein deshalb nicht,
nxn
Mißverständnisse zu vermeiden, um die heute so voreiligen
u
nd eilfertigen Determinations-Diagnosen in ihrer grundsätzli-
c
en Bedeutung zwar anzuerkennen, um aber auch - und das ist
« Aufgabe dieses Abschnittes - dem Fehler auszuweichen, dem
< iethodem dieser Art meist erliegen: der Verabsolutierung des
Partiellen.
mmer wieder werden wir auf jenen <Ursprung> zurückgeführt,
die <Urgebärde> des <Ausdruckszwanges> nämlich, welche die
enzen ^ e r sozialen Standortgebundenheit, der <biologischen>
a
ge, der erotischen Libido, also das gestörte <harmonische>
erhältnis von Trieb, Wille, Gefühl, Intellekt bestimmt, ja he-
rrscht. Hier ist nicht der Ort, neue Beweise für die Richtigkeit der
eseMax Schelersvon der Wechselwirkung der <Real- und Ideal- 245
faktoren> anzuführen. Wir wollen eines nicht übersehen: selbst der
durchschnittliche manieristische Künstler überwindet seine <Ge-
spaltenheit> durch Gestaltung. W i e auch i m m e r seine individuelle
Gespaltenheit aussehen m a g , welche E l e m e n t e auch immer sie
psychologisch-klinischen Forschungen liefern könnte, sein Werk
als künstlerischer Ausdruck eines M e n s c h e n t y p u s ist entscheiden-
der als seine <psychologische> Struktur. In seinem Werk mögen
<krankhafte> Züge Sichtbarwerden, d e n n o c h wird es künstlerisch
verzaubern oder <verargern> k ö n n e n .
Was also k o m m t in einem transzendentalen Sinne im manieristi-
schen Kunstwerk z u m Ausdruck? U m diese Frage beantworten zu
können, wird m a n auf die sich allmählich begrifflich i m m e r klarer
entwickelnde Ästhetik der existentialistischen Philosophie nicht
verzichten können. Der Mensch ist, in der Heidegger-Interpreta-
tion Weischedels, <das seinverstehende Wesen u n d das unverbor-
gene Seiende>. <Im Ganzen des Seienden ist i m m e r Verborgenheit
gemischte Heidegger formuliert ein existentialistisch-manieristi-
sches Concetto par excellence: <Die Lichtung, in die das Seiende
hereinsteht, ist in sich zugleich Verbergung.) Weischedel erklärt
dazu: <Das Seiende, das i m m e r zugleich verborgen u n d unverbor-
gen ist, (tritt) in der zwiespältigen Weise seines Erscheinens ans
Licht.> <Das Wesen der Wahrheit — die Grundverfassung der Wirk-
lichkeit in ihrem tiefsten Sinne> ist d e m n a c h laut Heidegger <der
Streit zwischen L i c h t u n g u n d Verbergung in der Gegenwendigkeit
der Welt und Erde>. Nach Weischedel vollzieht sich dieser <Streit>
in <Epochen>. <Je u n d d a n n herrscht die L i c h t u n g über die Verber-
gung oder die Verbergung über die L i c h t u n g vor.> E p o c h e n oder
Phasen! Lichtung = Klassik, Verbergung = M a n i e r i s m u s !
Andererseits sind die Dinge nach H e i d e g g e r auch dort, wo sie
<unverborgen> sind, zugleich <verborgen>. Es entsteht somit die Ge-
fahr (nach Weischedel) der A n n a h m e zweier <Absoluta>. Wir hal-
ten hier vorerst n u r fest: zwei Absoluta! Zwei Urgebärden!
<Herrscht die Lichtung über die Verbergung> vor, so entsteht, nach
unserer M e i n u n g , Klassik. Herrscht die Verbergung über die Lich-
tung vor, so entsteht Manierismus. W e n n Kunst —nach Weischedel
- den Sinn hat, <Metaphysisches> aufzuschließen, so wird an diesen
existentiellen Bestimmungen klar, d a ß tatsächlich Klassik und
Manierismus in einem <doppelten> Sinne <Wirklichkeit> sichtbar
werden lassen. Welche <Wirklichkeit>? W i l h e l m Weischedel defi-
niert im Sinne eines Neoplatonismus unseres J a h r h u n d e r t s : <das
Absolute in seinem dreifachen Wesen als Ursprung, U r g r u n d und
Abgrund der Dinge u n d Menschen, sowohl wie des Kunstwerks
selber.> Das Absolute könne dabei mit d e m <Göttlichen> gleichge-
setzt werden.
Somit erfassen wir den U r - D u k t u s dieser zwei <Urgebärden> der
Menschheit - in Kunst, Literatur u n d Musik - in einem e x i s t e n -
tiellem Sinne, als Methodik zu einer n e u e n Metaphysik, besser
und klarer: die Klassik will die <Verbergung> des «Ursprungs, des
Urgrunds, des Abgrunds> in der <Lichtung> Sichtbarwerden lassen,
der Manierismus will die <Verbergung> ü b e r die <Lichtung> herr-
schen lassen, d. h. die Klassik will das Verborgene des Mysteriums
in der verständlichen <Natur>, der M a n i e r i s m u s will das <Verbor-
gene> <als solches) in der <Idea> zur Wirkung bringen. Wir haben es
also in e i n e m auch «metaphysischem S i n n e mit <zwei> menschli-
chen Situationen zu tun. <Die Kunst bezeichnet zugleich den Bruch
mit einer geschlossenen Urwirklichkeit u n d d e n Versuch, den
durch diesen Bruch im Wesen des M e n s c h e n hervorgerufenen
Zwiespalt zu heilen.>
Wo stehen wir heute? Wenn die Klassik das Verborgene in die
<Lichtung> des Verstehens integriert, wenn aber der Manierismus
in der Desintegration des <normalen> Grunds der Erde, der Dinge
und des Menschen, das Verborgene erschließen will, welche dieser
beiden <Gebärden> mag für uns die überzeugende Kraft haben, in
ihrem <Zwang>, Absolutes aufzuschließen? Vor allem: müssen wir
uns mit diesem Dualismus von <zwei Absoluta> abfinden?

Erstarrung und Auflösung


Das werden wir am Schluß erörtern. Uns fehlen vorerst zu einer
Erkenntnis nicht nur des manieristischen <Künstlers>, sondern
auch des problematischen modernen Menschen noch einige wich-
tige Merkmale. Wir haben einige <existentialistische> (Heidegger),
<metaphysische> (Weischedel) und <mythologische> (Grassi) Argu-
mente angeführt, weil sie uns dazu dienen, die vorher erörterten
biologischen, psychologischen und soziologischen Merkmale nicht
als <Determinanten> anzusehen, sofern sie verabsolutiert werden,
sondern sie - auch sie — als <Funktionen>, als Symptome eines viel
tiefer <verborgenen> <Ausdruckszwangs> zu erkennen. Damit neh-
men wir Abstand von Versuchen, Geistiges durch Zurückführung
auf jeweils so oder so verabsolutierte Determinanten zu reduzieren,
seien es solche soziologischer, psychologischer, ja sogar existentia-
listischer Natur. Wie wir in der praktischen Anwendung der jewei-
ligen relativierendem Möglichkeit gezeigt haben, soll damit je-
doch die außerordentliche Bedeutung solcher Perspektiven für die
phänomenologische Aufhellung auch geistiger Werte nicht geleug-
net werden. Mehr denn je brauchen wir aber eine <Methode>, um
der Banalität unserer < determinieren dem schrecklichen Vereinfa-
chen zu entgehen. Gerade bei einem solchen Thema wird (wie
schon gelegentlich betont) eine derartige erkenntnistheoretische
Abgrenzung unumgänglich. Wenn wir uns in ästhetischen Wer-
tungen vom <Idealismus> unserer Großväter distanzieren, so tun
wir es ebenfalls von den <materialistischen> Determinationslehren
unserer Väter.
Da wir aber <phänomenologisches> Verständnis für das Konkrete
erstreben, müssen wir das Konkrete hervorheben, müssen wir
unsere Toppij^Graphiejles Manierismus, soweit wie wir sie über-
blicken, nach dem Stande des diesbezüglichen zeitgenössischen
Wissens ergänzen und beenden, zumal der Leser jetzt zur Genüge
gewarnt worden ist: er weiß jetzt, daß alles <Phänomenale>, wie
<iragwürdig> oder gar in einem schaurig eindeutigen Sinne es ihm
entgegentreten mag, nur Erscheinung ist von einem Urgründigen,
von einem Urmenschlichen, mit dem wir uns allerdings nicht (abzu-
bilden) brauchen. Die beiden <Urgebärden> liegen seit eh und je im
<Streite> miteinander. Man kann sich für die eine oder für die an-
dere <entscheiden> - als Betrachter. Die Künstler, von diesem oder
jenem <Ausdruckszwang> bestimmt, können es - existentiell - so
leicht nicht. Aber auch sie könnten es, sofern sie zur Un-befangen-
heit und Selbst-verständlichkeit fähig sind, indem sie aus der Ge-
schichte dieser beiden Gebärden zumindest vorerst eines erkennen:
die Gefahr eines Abgrundes für den einen - Erstarrung. Dann wer-
den sie aber auch die Gefahr eines anderen Abgrunds für den an-
deren sehen: die Auflösung.
Wir wollen diesen letzten Überblick, der auch nützliche letzte
Literaturhinweise umfassen soll, nach ausreichenden Abgrenzun-
gen, im Sinne einer Übersicht über noch unentbehrliche Topoi
einer jetzt philosophisch-anthropologischen Kennzeichnung des
Manierismus geben. Die Verkleidung des <Verborgeneh>~bildet in
Kunst u n d Erotik also eine Parallele, ebenso das <Unbestimmte>.
Schon bei Boccaccio taucht das b e z e i c h n e n d e Wort zur Kennzeich-
n u n g eines <unfaßbaren> Anreizes auf: <Non so che>, im französi-
schen Preziösentum das b e r ü h m t e <je n e sais quoi>. Metaphorik =
Übertragung = Verhüllen steigert das Verlangen. Das <Unbe-
stimmte> im Verbergenden läßt Faszinierendes ahnen. Das (im
Bild wie im Gedicht) U n a u s g e s p r o c h e n e deutet Möglichkeit des
Stupore, des Erstaunlichen in n u r a h n e n d e m Begreifen an. Das
Erregendste soll einem schwer g e m a c h t w e r d e n . Wieder gerät also
ein starkes Ausdrucksverlangen auf eine i n n e r e Gehemmtheit, die
keineswegs immer gewollt ist. Die <Idea> folgt ihrem Antrieb, die
<Natur> d e m ihrigen, e i n e m a n d e r e n . M a n k ö n n t e von einer kom-
plizierten manieristischen <Lüstemheit> für <Tiefe>, für das <Un-
faßbare> sprechen, also von einer echten vitalen Parallelität von
Triebstruktur u n d Ausdruckszwang. M a n braucht Hemmungen,
Verhüllungen, Verstecke, M a s k e n , Komplikationen. Daher muß
alles <schwer> werden, <dunkel>, <verhüllt> sein, u n d miemand darf
es wissen>. Solche <Komplikationen> müssen also zu Übersteige-
rungen veranlassen, zu Überspitzungen, a u c h in der Ruhmbe-
gierde, in der Selbstüberschätzung, in der <versteckten> Maßlosig-
keit jeder Art. Das <Ästhetische>, die <Form>, schließlich das Nur-
noch-Formale (in Kunst wie in m a n i e r i e r t e r Gesellschaft) erschei-
nen demgegenüber als einzige r e t t e n d e O r d n u n g . Vom <Sozialen>
her gesehen formuliert es Binswanger: <Die Manieriertheit, das
Gewollte, Gekünstelte, Gespreizte, U n n a i v e u n d Unnatürliche,
steht im Dienste der Verdeckung oder K a s c h i e r u n g einer Lebens-
schwäche, einer L e b e n s - u n d Todesangst, aber auch einer nur
m ü h s a m zurückgehaltenen proletenhaften Aggressivität. Es han-
delt sich u m beabsichtigte, der Not dieser Zwie-, ja Mehrspältigkeit
entsprungene Versuche zur D e c k u n g oder Verbergung der Unsi-
cherheit und Geniertheit g e g e n ü b e r der sozial g e h o b e n e n Mitwelt,
um Versuche also im Dienste des v e r s t i e g e n e n Ideals> unangreif-
barer und u n d u r c h s c h a u b a r e r sozialer Untadeligkeit, ja aristokra-
tischer Vornehmheit.>
Das ist ein Gesichtspunkt, u n d m a n weiß, d a ß auch heute, wo
aristokratische Höfe oder großbürgerliche Salons nicht mehr die
Rolle von einst spielen, die literarischen u n d künstlerischen
<Kreise>, die <Clubs> in den H a u p t s t ä d t e n E u r o p a s , von einer oft
grotesken <Exklusivität> sind, d a ß sie — insbesondere in
England
und Frankreich n a c h 1950 - regelrechte <Clans> im totemistischen
Sinne bilden, Burgen eines sich selbst-verteidigenden geistigen In-
fantilismus. Die < Ü b e r w i n d u n g der A u s d r u c k s h e m m u n g e m führt
nicht nur zu einer Ü b e r s t e i g e r u n g der Ausdrucksformem
(Schurr), sondern auch zu e i n e m Sich-Verbergen (und Bergen) in
jeweils zirkelhaft abgeschlossenen U m w e l t e n , ähnlich wie im
16. Jahrhundert zur Zeit der <Geheimakademien>.
M
Bleutet spricht von einer «Kaxen- sam <ein eisernes Netz> über das Verhalten des Manierierten, die
psychose>, von .Störungen der Af-
tektivität und des Gedankenganges). <Gewalt> des (Zeremoniells, des P a n z e r s , Schleiers, Korsetts, der
KraepeUn von einer (krankhaften Maske und Grimasse>. Grund: die «Übermacht der aus der Koino-
Störung der VVillensantriebe», Re-
boul-Lachaux von (psychischer
nia des Daseins ausgebrochenen D a s e i n s m a c h t der Angst über die
Übererregbarkeit>, von einem (Ein- Macht der Liebe und des Vertrauens). Dieses der Schizophrenie
studieren), (Zurechtlegen) aller Äu-
<nahe> Verhalten führt in vielen Fällen zu Selbstmord, zu «dauern-
ßerungen, also von der dominieren-
den (Absichtlichkeit> (cf. Binswan- dem Versiegem, zum Verfolgungswahn. 1 8
ger o.e.). Binswanger selbst hebt
«Angst, und (Verzweifhing)als stärk-
ste Antriebe in der (Entstehungsge-
schichte) der Manieriertheit hervor,
aber auch die nur «mühsam zurück-
gehaltene proletenhafte Aggressivi- Manier und Stil
tät-, die (manierierten) Versuche zur
I leckung oder Yerbergung der Unsi-
cherheit und Geniertheit gegenüber Wir finden zweifellos viele E l e m e n t e der Manieriertheit in der
der sozial sehobenen Mitwelt. Kunst des Manierismus u n d ebenso im Lebensbild gerade der gro-
ßen <Manieristen>, aber ein noch so exakter klinischer Befund über
«Manieriertheit) wird niemals ausreichen k ö n n e n , u m bedeutende
manieristische Kunst u n d Dichtung in i h r e m ganz spezifisch «sein-
aufschließenden) Charakter zu verstehen. Ebensowenig würde
uns eine Psychologie oder gar Psychoanalyse des Sich-klassisch-
Verhaltens, der <Würde> z.B., der «Ordnung), des «Gleichgewichts)
• usw. (sie ist im Ansatz in der «Animus>-Analyse C. G. Jungs vorhan-
den), dazu verhelfen, klassische Kunst in i h r e m Wesen zu erken-
nen. D e n n o c h bietet uns eine Psychologie der «Manieriertheit)
wertvolle Einsichten. Sie gibt uns Mittel an die H a n d , die «mensch-
liche) Bedingtheit des «Manierismus) besser zu verstehen, sie mit
weniger Vorurteil zu beobachten, m i t e i n e m Worte, sie mit aufge-
schlosseneren Sympathie-Gefühlen, mit größerer Unbefangenheit
zu erkennen. Wir w e r d e n gerade d a n n , w e n n wir die menschliche
Bedingtheit des «Manierierten) k e n n e n , d e n psychologisch oder
soziologisch unauflösbaren <Rest> i m M a n i e r i s m u s mit weniger
Störungen von U n b e h a g e n , von Befremdet-Sein erleben können
diesen «Rest>, der den «Blick in die Tiefe> freimacht (Weischedel).
Gewiß hat Pinder recht, w e n n er meint: «Immer wieder ergreift uns
mit w a r n e n d e m Schauer der tiefe E r n s t der k n a p p e n Blutmenge,
die Melancholie der Dürre, die u n b e w u ß t e F o r m von Todesangst,
die Unsicherheit erschütterter Lebenskraft im Manierismus.) Dar-
über hinaus e r k e n n e n wir jetzt aber, d a ß die G e b ä r d e , die sich aus
solcher «biologischen) G e g e b e n h e i t ergibt, auf ihre Weise schöpfe-
risches Gelingen ermöglicht u n d d a m i t «im Z e r b r e c h e n des äuße-
ren Erscheinungsbildes die in den D i n g e n w a l t e n d e Kraft auch des
Ursprünglichen zur E r s c h e i n u n g k o m m e n läßt. Paul Klee spricht
selbst (wieder) - ähnlich wie Ficino, Zuccari, wie Tesauro und
Graciän, wie alle großen «Magier> u n d «Mystiker) - von der «Nähe
jenes g e h e i m e n U r g r u n d s . . . , wo das Urgesetz die Entwicklung
speist).
Insofern ist manieristische Kunst u n d Literatur, was die «Me-
thode> des Erfassens dieses «Urgrundes) angeht, tatsächlich der
Magie u n d Mystik verwandt, die Klassik h i n g e g e n der dogmati-
schen Werte-Hierarchie, d e m theologischen Rationalismus, dem
normativen D e n k e n . E i n e uns noch fehlende P h ä n o m e n o l o g i e der
Klassik w ü r d e uns die a n d e r e <Urgebärde> der Menschheit deutli-
cher m a c h e n . A u c h in ihr w ü r d e das <Fragwürdige> ebenso deut-
lich werden, wie der ebenfalls (auf a n d e r e Weise) das Absolute er-
fassende Griff. Beider W i r k e n ist für die Bewußtseinserweiterung
der M e n s c h h e i t gleich wichtig, w e n n m a n diese Relation aner-
kennt. Beide sind als M e n s c h e n t y p e n allerdings so verschieden wie
Tag u n d Nacht. N o c h einmal t a u c h t das Jünglingsbildnis des P a r -
25O migianino auf. Die E i n s a m k e i t in seinen A u g e n k ü n d e t nicht von
Weltschmerz. Sie treibt Ehrgeiz, Intelligenz, Selbstbehauptung im
Absonderlichen an. E n t s c h i e d e n s t e egozentrische Haltung, zarter
Hedonismus der G e b ä r d e , maskenhafte Absonderung des Antlit-
zes! Die Trauer im M u n d w i n k e l wirkt kalt; sie weiß zuviel davon,
wie man Schmerz mit raffiniertem Lebensgenuß verbinden kann.
Sie deutet Erotik des Verzichts oder der Invertiertheit an, und im-
mer neues Versuchen, Sorge, Gebrochenheit vor dem Einfachen,
ständige Furcht des Scheiterns im Natürlichen — genau wie die rie-
sig vorgewölbte H a n d d e n Willen überbetont, durch abenteuerli-
che Seltsamkeit zu gefallen. 1 9 Die Manieristen liebten Prometheus, '''Arnold Gehlen spricht anläßlich
unserer (gegenwärtigen kultumi
aber den Prometheus n a c h der Fesselung am Felsen. Sie liebten häliiiisse» von cgebrochenein Ge-
sich als L e i d e n d e m i t zerrissener Leber, aber sie setzten ihren nien In benig auf nette Lyrik atm <*i-
Schmerz nicht u m in eine Liebesmystik, in klagende Nachtge- ner (Kombination uuwuiitettbarei
Chiffren». Für heutige kultutknii-
sänge oder gar in r o m a n t i s c h e Aktion. Parmigianinos Jüngling ist sche Z u s a m m e n h ä n g e stellt ei eine
gescheit, sensibel, aber etwas blutleer. E r liebt die Verkleidung und maßgebende Tbeae auf; -Was die
modernste kultur in Lyrik, Musik
an Hand des Konvexspiegels das berechnete Doppelspiel. Welcher Malerei, in den Wissensi hallen
Manierist hätte die Definition der Poesie verstanden, die Novalis in schlechthin mit der technischen
Kultur verbindet. <).<s ist gerade die
seinen «Fragmenten) gegeben hat: «Poesie ist die große Kunst der Wendung gegen die Natürlichkeit.
Konstruktion der t r a n s z e n d e n t a l e n Gesundheit. Der Poet ist also Es kommt überall hinaus auf den
Ersatz des Natürlichen und tic-
der transzendentale Arzt.>
waclisenen durch vorautfetzungS-
Das g e m e i n s a m e Schicksal der Manieristen wie so mancher Ro- lose Machenschaften.. Gehlen fin-
det das glückliche Wort: <tnetaorg*v
mantiker aber ist, d a ß sie in der europäischen Geschmackskultur nische> Kultur ( M e r k u r ' . H. 6,
umstritten bleiben. Völlig negativ bleibt die Kritik Schopenhauers. München 1956).
Er weist auf die <ächten> W e r k e hin, die <keinem Zeitalter> ange-
hören, auf die S e h n s u c h t n a c h einer anderen Vollkommenheit,
welche die M a n i e r i s t e n als verschworene Anti-Klassiker selten ge-
habt haben: <Nachahmer, Manieristen, imitatores, servum pecus,
gehen in der Kunst vom Begriff aus: sie merken sich, was an ächten
Werken gefällt u n d wirkt, m a c h e n sich es deutlich, fassen es im
Begriff, also abstrakt, auf, u n d a h m e n es nun, offen oder versteckt,
mit kluger Absichtlichkeit n a c h . Alle Nachahmer, alle Manieristen
fassen das Wesen fremder musterhafter Leistungen im Begriffe
auf; aber Begriffe k ö n n e n nie e i n e m Werke inneres Leben erteilen.
Das Zeitalter, d.h. die jedesmalige stumpfe Menge, kennt selbst
nur Begriffe u n d klebt d a r a n , n i m m t daher manierierte Werke mit
schnellem u n d l a u t e m Beifall auf: dieselben Werke sind aber nach
wenigen J a h r e n schon u n g e n i e ß b a r , weil die herrschenden Be-
griffe sich g e ä n d e r t h a b e n , auf d e n e n allein jene wurzeln konnten.
Nur die ächten Werke, welche aus der Natur, dem Leben, unmit-
telbar geschöpft sind, bleiben, wie diese selbst, ewig jung und stets
urkräftig. D e n n sie g e h ö r e n k e i n e m Zeitalter, sondern der
Menschheit an.>
Diese Kritik S c h o p e n h a u e r s ist nicht nur ungerecht, es fehlt ihr
auch die Gelassenheit, die Weisheit. M a n findet gerade Weisheit
in diesem Z u s a m m e n h a n g bei Goethe, der oft, auf den verschie-
densten Lebensstufen, ü b e r S i n n u n d Bedeutung von <Manier>
nachgedacht hat. D a s M a n i e r i e r t e , schreibt er in den <Maximen
und Reflexionen), sei zwar ein <verfehltes Ideelle, ein subjektivier-
tes Ideele>, doch fehlt es i h m <nicht leicht an Geist>. Er stellt im
Jahrhundert der M a n i e r i s t e n anläßlich des Werkes von G. B. della
Porta <De Magia Naturalis> die «entschiedene Neigung zum Wahn,
zum Seltsamen u n d U n e r r e i c h b a r e m fest. In seinen <Fragmenten
eines Reisejournals: Ü b e r Italien> schreibt er eine längere Betrach-
tung über «Einfache N a c h a h m u n g der Natur, Manier, Styl>. Die
Grundzüge zu e i n e m P o r t r ä t des bloßen Naturnachahmers: <eine
zwar fähige, aber b e s c h r ä n k t e Natur>, <seine Gegenstände müssen
leicht und i m m e r zu h a b e n sein; sie müssen bequem gesehen und
ruhig nachgebildet w e r d e n k ö n n e n ; das Gemüt, das sich mit einer 251
solchen Arbeit beschäftigt, m u ß still, in sich gekehrt, in einem mä-
ßigen G e n u ß genügsam sein>. E i n g e s c h r ä n k t e Menschern dieser
Art pflegen eine Kunst, welche <ihrer N a t u r n a c h eine hohe Voll-
k o m m e n h e i t nicht ausschließt. D e r Manierist hingegen findet
eine solche <Art zu verfahren zu ängstlich, oder nicht hinreichend.
Er sieht eine Ü b e r e i n s t i m m u n g vieler G e g e n s t ä n d e n <Er findet
sich selbst eine Weise, m a c h t sich selbst eine S p r a c h o , eine S p r a -
che, in welcher sich der Geist des S p r e c h e n d e n unmittelbar aus-
drückt und bezeichnet). <Jeder Künstler dieser Art wird die Welt
anders sehen.> <Die Manier (ergreift) die E r s c h e i n u n g mit leichtem
und fähigem G e m ü t . > D a s Wort M a n i e r will G o e t h e <in einem ho-
hen und respektablen Sinne> g e n o m m e n wissen. Er stellt aller-
dings über N a t u r n a c h a h m u n g u n d M a n i e r das, was er— wie schon
Kunsttheoretiker des frühen Klassizismus — <Styl> nannte. Der
<Styl> kombiniert gleichsam N a t u r u n d M a n i e r . E r ruht auf den
<tiefsten Grundfesten der E r k e n n t n i s , auf d e m Wesen der Dinge>.
Mit dem Wort <Styl> bezeichnet er <den höchsten Grad, welchen die
Kunst je erreicht hat u n d erreichen kann>.

30. M E T A P H E R N GOTTES

Das Absolute
in <zweifachcr> Weise
Wir fragten bereits: M ü s s e n wir uns m i t <zwei Absoluta> abfinden?
In der N a c h - H e i d e g g e r s c h e n j ü n g e r e n deutschen Philosophie
fragt z. B. Weischedel: <Gibt es n e b e n der W a h r h e i t noch ein zwei-
tes Absolutes, in d e m die E r d e in ihrer Verborgenheit u n d Dinge
und M e n s c h e n in i h r e m Bestehen gründen?> Die <Philosophie im
kritischen Weiterdenken der Entwürfe Heideggers> müsse <davon
ausgehen, daß das E i n e u n d G a n z e der Wirklichkeit beides um-
faßt, sowohl das Insichsein der D i n g e u n d M e n s c h e n , wie ihr Auf-
gehen in der Verborgenheit. So k o m m t sie zu der Frage, ob nicht
jenes Absolute, das H e i d e g g e r allein gelten lassen will, die Wahr-
heit' als der U r s p r u n g der Offenbarkeit des S e i e n d e n , u n d das an-
dere Absolute, der G r u n d der Dinge u n d M e n s c h e n in ihrer erd-
haften Verschlossenheit, ein und dasselbe Absolute sind, das in einer
zweifachen Weise sich darstellte Hier wird der Metaphysik mit Ein-
dringlichkeit u n d sokratischer B e h u t s a m k e i t wieder eine ihrer
größten Aufgaben gestellt: aus dem B e g e g n e n mit Kunst, sofern sie
j£a&-iAbsolute> erschließt, speziell mit m o d e r n e r Kunst. Wir haben
es hier abschließend mit einem a n d e r e n P r o b l e m der Integration
zu tun, mit der Tatsache, d a ß <das Absolute> sich <in zweifachen
Weise darstellen k a n n , d. h. i n s b e s o n d e r e in der Kunst. Wir sagen.
in der klassischen und in der manieristischen <Urgebärde>.
In diesem Epilog k a n n m a n also nicht darauf verzichten, noch
zwei Fragen zu beantworten, die m a n c h e r L e s e r sich gewiß schon
oft gestellt haben wird. Erstens: W i e erscheint d e n Manieristen das
<Absolute>, sofern es <Gottheit> ist, u n d ist diese geheimnisvollste
Hieroglyphe, sofern sie im M a n i e r i s m u s in <Deformation> oder
<Konstruktion> oder gar <Abstraktion> auftritt, in e i n e m ursprüngli-
chen Sinne religiös legitim oder nicht? Zweitens: Lassen sich di
beiden <Urgebärden> in e i n e m auch n u r ästhetischen Sinne <inte-
grieren>? Wenn schon die <methaphysische> Problematik <offen>
gelassen wird, wie es d e m S t a n d e unseres Denkens im Übergang
zu entsprechen scheint, so wollen wir doch entsprechende <Ten-
denzen> sichtbar m a c h e n . G e h e n wir wieder von Tesauro aus: Gott
offenbart sich, n a c h i h m , in d u n k l e n Concetti. Die göttliche Weis-
heit offenbart sich d e n Weisen durch Symbole und scharfsinnige
Anigmen. <Die h ö c h s t e n u n d fremdartigsten Dinge werden uns
verhüllt gezeigt, in S c h a t t e n gehüllt, im chiaro-oscuro ent-deekb,
und zwar in einer dreifachen maniera von Symbolen. Diese drei
<maniere> des verhüllten Offenbarens des göttlich Abgründigen
hätten die Griechen <metaphorisch> genannt. 211 ""'Die drei metaphorischen IIMJUMII
der GoOetoBeabarua^ lind nach
Der Manierismus ist nicht n u r Ausdruck eines saturnisch-tragi- Tesauro Iropologiidi, (ilegoroch
schen Lebensgefühls. E r ist a u c h Manifestation einer durchaus und anagoinicti (rinndeutoad, u *i-
aiisihauliclieiid. auflegend).
ragTsch-unglücklichen L i e b e zu Gott. Der manieristische Künstler
von Rang, von d e m — in bezug auf ein objektives Wertsystem -
immer wieder die R e d e w a r u n d ist (gerade dann, wenn wir ihn von
seinen zahllosen N a c h a h m e r n unterscheiden), versuchte, faszi-
niert wie er i m m e r w i e d e r vorn <Zusammenfall der Gegensätze> ist,
sich mit mythischen Bildern zu helfen, z.B. mit dem Mythos des
Androgynen, des A d a m i s c h e n . D a s gelang ihm nur zeitweise. Das
mythische Erfahren, besser das sich darin auf die Dauer Gebor-
gen-Fühlen, setzt ein naives, un-schuldiges Verhältnis zur Welt
voraus. Dies h a b e n die M a n i e r i s t e n gerade dann nicht, wenn sie
am sichersten zu sein g l a u b e n , etwas <Elementares> zu erleben.
Zur <Tragik> des M a n i e r i s t e n gehört es, daß er stets von Bildern
fasziniert ist, d a ß er aber i m m e r dann, wenn er Gott oder dem
<Göttlichen> zu b e g e g n e n glaubt, ihn (oder es) nicht mehr in einer
<Gestalt> sieht. E r glaubt, ihn (oder es) dann nur in den Umrissen
einer zwar gestaltlosen N a t u r , aber eben einer <Natur> dementspre-
chend auch darstellen zu m ü s s e n , d.h. in Metaphern für entweder
pantheistisch v e r s t r ö m e n d e , m a g i s c h e Natur oder in Metaphern
für <konstruktiv>-wirkende, abstrakte Natur, jedenfalls nicht in ei-
nem <gestalthaften> Bilde. Dieser gestaltlose Gott, der selbst ja
keine <abstrakte Metapher> m e h r sein kann <für etwas>, was außer-
halb seiner selbst liegt, wird also in einem erschreckenden Sinne
wieder Natur: p a n t h e i s t i s c h - m a g i s c h e oder <konstruktiv>-ab-
strakte <Natur>, jedenfalls nicht Gestalt-Bild. Auch hier könnte
marTvön einer R a c h e der N a t u r a n ihren Verächtern sprechen. Der
Erschaffende k a n n n u r n o c h im Erschaffenen oder in den Wir-
kungskräften i n n e r h a l b des Erschaffenen versinnbildlicht werden,
obwohl m a n die N a t u r — das Erschaffene - doch so mißachtet. An
diesem P u n k t wird m a n a u c h mit d e n <Daseinsanalysen> unserer
neuplatonischen Existenzphilosophie kaum noch auskommen
können. Gott oder das <Göttliche> als Abgrund, als Ursprung, als
die Tiefe usw., w e l c h e n <Sinn> h a b e n diese metaphysischen <Ab-
strakta> für religiöse E r f a h r u n g ? N a c h Thomas von Aquin ist Gott
Einheit von <essentia>, u n d <existentia>, Wesen und <Dasein>. Das
Bild der <Dreifaltigkeit) Gottes bringt ihn uns <nahe>. Indem Gott
sich selbst erkennt, geht aus ihm der ihm adäquate Gedanke her-
vor, d.h. der Logos, das Wort, der Sohn, also das Mitteilbare, das
gestalthafte Bild. I n d e m Gott sich selbst will, geht aus Vater und
Sohn die L i e b e hervor, d.i. der Heilige Geist.

2
53
Gott als Wesen oder Wirken
Gott als <metaphorische> <Gestalt> u n d Gott als <metaphorische>
<Natur>, für uns ergibt sich zunächst die Frage, ob eben auch diese
letztere Vor-Stellung einer pansophisch-manieristischen Urge-
bärde der Menschheit entspricht. Sicher ist es vom P a n t h e i s m u s der
Jl <magischen> Manieristen bis z u m <Pan-logismus> der <mystischen>
rf. O t t o k a r r e r . Das Religiöse in
der M e n s c h h e i t und d a s Christen- Manieristen ebenso n u r ein Schritt wie von der <Deformation> Pon-
tum. Freiburg 1954. D e r Begriff tormos und Max Ernsts bis zur <Anamorphose> der Pariser Mini-
< Natur' ist übrigens einer der viel-
deutigsten der europäischen Gei- men und bis zur Abstraktion P a u l Klees. Doch mit dieser metaphy-
stesgesi lochte. <Natura» k o m m t von sisch-religiösen <Inversion> stehen die Manieristen aller Zeiten
tat. nasci = G e b o r e n w e r d e n . Als In-
begriff des «Entstandenen, G e b o r e -
durchaus auch in der Tradition jenes i h n e n eigenen Ausdrucks-
nen, G e w a c h s e n e m . In diesem «anti- zwangs. Wie stellen die M e n s c h e n aller Z o n e n u n d aller Zeiten
k e m S i n n e ist die G l e i c h u n g Klassik
=• Natur noch, sofern es sich um
Gott dar? E i n m a l in «konkretem M e t a p h e r n : als Mensch, als Tier,
« N a c h a h m u n g ) (Mimesü) der Natur als Gestirn, als Pflanze; oder in <abstrakten> M e t a p h e r n : als Kraft,
handelt, angängig. Schon im Mittel- Wirkung, <Seele>, Wille usw. D e r M e n s c h mit e i n e m u n g e b r o c h e -
alter w u r d e das Wort vieldeutig,
k a u t hat eine vorsichtige <oberbe- n e m Natur-Instinkt und ohne Bewußtseinsspaltung stellt Gott als
griffliche. Definition gegeben: «In- Gestalt dar, als <Mensch> vor allem, die <göttlichste> Metapher, so
begriff möglicher G e g e n s t ä n d e sinn-
licher u n d zugleich begrifflicher Er- in paganen Religionen, so im C h r i s t e n t u m . D e r von der eigenen
fahrung'. In der zeitgenössischen <Idea>-Welt faszinierte M e n s c h sieht ihn als <Wille>, <Kraft>, als
Naturwissenschaft wird <Natur> eine
Folge von m a t h e m a t i s c h e n Sachver-
m e h r oder weniger abstrakte Figuration von S p a n n u n g e n und
halten. Wirkungen in der Natur.'1 Der klassische <Urtrieb> <geht> auf ein
persönliches Wesen, der manieristische auf ein abgründiges Wir-
ken oder auf eine gesichtlose W i r k s a m k e i t . D e r <Klassist> stellt
Gott in seiner Essenz, der <Manierist> Gott in seiner Existenz dar.
Es gibt eine welthistorische Polarität von persönlicher und un-
k a r r e r bemerkt dazu: «Auf k e i n e m persönlicher Gottesanschauung."" Sofern die manieristische Urge-
von beiden Polen k a n n der d e n -
kende religiöse Mensch verweilen.> bärde auch nach Gott greift, n a c h e i n e m <unpersönlichen>, gestalt-
Vgl. dazu die e n t s p r e c h e n d e Bemer- losen Gott (von in der N a t u r so oder so w i r k e n d e n Kräften), ist sie
k u n g von Weischedel. Zeitgenössi-
sches religiöses und philosophisches also viel m e h r <naturalistisch> als die <naivere> des ästhetisch so
Denken b e r ü h r e n sich. <naturgebundenen> Klassisten, der Gott als Gestalt sieht, ja mehr
noch, der Gott als Mensch sieht, also als die <abstruseste> Metapher,
die es eh u n d je ü b e r h a u p t gegeben hat. D e r gewaltige Unterschied
ist nicht zu übersehen, w e n n n ä m l i c h e i n m a l gesagt wird: Gott ist
<Kraft>. <Wille>, <Seele> usw., oder aber: Gott ist <Person>, <Vater>,
<Sohn>, <Herr>, <Richter>, <Heiland>. Also: der M a n i e r i s m u s ist an-
tinaturalistisch, u n d er m u ß zwangsläufig zur <totalen> Abstraktion
gelangen. Das <Mysterium> in seinem Dasein liegt darin, daß diese
höchste u n d letzte Abstraktion, die er vom U r g r u n d der Welt als
Gottheit macht, letzthin ganz <naturalistisch> ist, während der
<Klassist> in seiner <Natur>-Nähe sich das metaphysisch Unbild-
lichste, nämlich Gott, h i n w i e d e r u m u n t e r oder in der alogischsten
M e t a p h e r der Menschheitsgeschichte vorstellt: als Mensch.

Rhetorik als «Urstruktun m e n s c h -


Der ästhetische Urstreit
licher Aussage! C h i a s m u s = sym-
metrische Uberkreuzstellung von Wir wollen nichts anderes, als d e n <Duktus> dieser beiden Urge-
syntaktisch o d e r b e d e u t u n g s m ä ß i g
einander e n t s p r e c h e n d e n Satzglie-
bärden im religiösen Erleben k e n n z e i c h n e n , aber überschneiaSn
dern, meist als spiegelbildliche An- sich diese beiden <Absoluta> hier nicht — wie ein Chiasmus" - in
o r d n u n g (Klügelstellungl von S u b -
einem ästhetischen <Streit> von <Urgebärden>, welche somit durch-
jekt oder Prädikat oder Substantiv
und Adjektiv in zwei g l e i c h g e b a u t e n aus in e i n e m geradezu aggressiven Sinn metaphysische Integra-
Sätzen in der Folge: a + b : b + a o d e r tionsmöglichkeiten schon m e h r als <ahnen> lassen sollten? <Posi-
in zwei parallelen Stufen: a + b, a +
b : b + a, b + a. Im M a n i e r i s m u s des tive> u n d <negative> Theologie stehen sich seit Urzeiten gegenüber.
16. und 1 7 . J a h r h u n d e r t s sowie in Aber begegnen sich nicht - in einer <abstrusen> Kombination von
der heutigen Literatur besonders be-
lieble Stilfigur. Cf. <Sachwörterbuch Klassik u n d M a n i e r i s m u s - auch T h e i s m u s u n d P a n t h e i s m u s wie
der Literatur». Stuttgart 1955. in der Religionsgeschichte der M e n s c h h e i t ? Welche Fragwürdig-
keit, den <Manierismus> als E r s c h e i n u n g e i n e s Seinsverlustes oder
als Ausdruck m a n g e l h a f t e r <Religiosität> zu verurteilen! Sicher,
durchaus: Verschiedenheit dieser beiden Urgebärden. Aber: <Die
Verschiedenheit (der Gottesvorstellungen) erklärt sich aus dem
Gleichnishaften, U n a n s c h a u l i c h e n der religiösen Urerfahrung
selbst... aus den u n e n d l i c h e n Aspekten des Unendlichen, das
nach der Schrift selbst alle diese Bestimmungen in sich hat: der
,Vater' und die ,Kraft', der ,Herr' über uns und das ,Leben' der
Seele innen.>
Ist der U r a n t a g o n i s m u s der zwei <Absoluta>, der in der heutigen
Welt, nicht n u r in der Kunst, so leidenschaftlich geworden ist, ein
Ringen u m das Bild Gottes? W i r d in diesem Ringen nicht auch
Hoffen und B a n g e n in b e z u g auf seine höchste und geheimnisvoll-
ste Wirkung, auf seine L i e b e , spürbar? Gefährliche Ströme des Un-
Geistes gehen mitten d u r c h uns hindurch. Was also, wenn Gottes
Liebe, dienie<abstrakt>, sondern i m m e r nur <konkret> sein kann, in
* Demzufolge hatte die katholische
unserer atomaren Welt i m m e r unsichtbarer werden sollte? 24
Kirche- /. li. jetzt die Pflicht, neue
Wir sind in den B r e n n p u n k t der Problematik des modernen päpstliche Appartements um Pres-
Menschen geraten, u n s e r e s m a ß - u n d richtunggebenden Motivs. keil von Mim und Krnsl. mit Bildern
von Leger und Afro nuszufchmük-
Einheit? Einheit von <Harmonie> u n d <Problematik>, von <Essenz> ken. Die römische Kurie, die noch
und <Existenz>, von Selbst-verständlichkeit und Geheimnis? Gibt immer in (klassizistischem und «ba-
rockem Vorstellungen befangen ist,
es darauf eine Antwort? Görres, der bedeutendste religiöse <Ma- muß sich aus ihrem gegenwärtigen
nierisb des r o m a n t i s c h e n 19. J a h r h u n d e r t s , formuliert eine in un- Vorurteil losem Gerade die katholi-
sche Kirche, in deren Mysterien
serer jetzigen B e z i e h u n g wieder <phänomenologisch> auffallende auch einige der großartigsten aia-
discordia Concors: <Eine Gottheit n u r wirkt im ganzen Weltall; eine nieristisrhen -Ausdriii ks/wange
der abendländischen Geschichte -
Religion n u r herrscht in ihm, ein Dienst und eine Weltanschauung durchaus im Sinne des echten
in der Wurzel, ein Gesetz u n d eine Bibel durch alle. Alle Propheten christlichen Ärgernisses - geborgen
sind, die aber in (Eütgesperrthesli
sind ein Prophet: aus e i n e m G r u n d e haben sie gesprochen; eine
erstarren, müßte die unbedingt
Sprache, obgleich in verschiedenen Dialekten, nur geredet. Wie tbeophatlische Kraft des Manieris-
die großen Kulturformen aller Arten dasselbe sind (Entfaltungen mus begreifen. Der Konservativis-
mus der Kirche, nicht nur in I Hngen
eines Lebens), so sind a u c h die g r o ß e n mythischen Elemente aller- der Kunst, bat (-inen liefen. M köpfe-
warts dieselben, u n d die ganze religiöse Genesis ein einziges Ge- tischen Sinn. Ks wäre aber ein Feh-
ler, wenn die Kirche vergessen
wächs, das Gottes Geist selbst zuerst gepflanzt und das, von ihm würde, dali echter 'Konservativis-
getränkt mit H i m m e l s l i c h t u n d Erdenfeuchte, freudig durch alle mus) immer <aggressit . immei vom
Streben nach Erneuerung bestimmt
Zeiten sich entfaltete Hochzeitlich sich vereinende Kräfte der Ge-
war-allerdings im Zusammenhang
schichte? H ö r e n wir n o c h e i n m a l Görres: <Altes ist vergangen, mit einer der Urmächle unseres I );<-
Neues wird i m m e r , u n d in das N e u e ist jedesmal das Alte aufge- seins, der Bildkraft der den Im lue
Der'Auflösung, steht immer ab (>e-
nommen. U n t e n r u h e n b e g r a b e n in den alten Flözen die Formen gen-Gefahr die Erstarrung gegen-
der Vergangenheit, oben aber webt das Leben immer an seiner über. Problematik des modernen
Menschen? Warum soll sich in des-
Webe, und ein u m g e k e h r t e r Deukalion, wirft es Menschen und sen »Problematik' Gott weniger of-
Menschenwerke h i n t e r sich, d a ß sie zu Stein werden, für die Zu- fenbaren als im 'Harmonischen '
Die katholische Kirche steht in die-
kunft ein bleibendes Mal.> Kardinal Newman prägte diese Sehn- ser Hinsicht an einem Scheideweg:
sucht nach Integration in e i n e m k u r z e n Gebet: <Das alle eins seien, entweder übernimmt sie z.B. auch in
ihren Manifestationen fordern litur-
wie Du, Vater in uns. > gischen Raum das vereinlachte.
ist die Zeit g e k o m m e n , die u n s trotz atomarer Bedrohung (oder massenpsychologische Taro-Tam
gerade deswegen) zu n e u e r geistiger Sicherheit verhilft? Es der Totalitären, den subklassizisti-
schen Ameisen-Stil, oder sie idi iin-
scheint, als w a n d l e sich die <Problematik> des modernen Men- fiziert sich wieder, auch in diesem
schen im Sinne sich n e u verfestigender Gefüge zu neuer, langsam Sinne, mit dem - Ärgernis

sich a n b a h n e n d e r Sicherheit des Antwortens und Verhaltens um.


ir lasen D e u t u n g e n von <Gottbildem> eines katholischen Den-
ers wie Karrer. <Konkrete> u n d <abstrakte> Imaginationen Gottes
1 den - im G r u n d e - das eine Absolute aus. Karl Jaspers weist auf
aas göttliche G e b o t h i n : <Du sollst Dir kein Bildnis und Gleichnis
n Gott
) machen.> Gott dürfte weder im konkreten Natur-Bild
"°ch in (abstrakter) M e t a p h e r dargestellt werden. <Die entschie-
enste Gottnähe> ist <in der Bildlosigkefb. Aber Jaspers stellt
* T l e ß l l c n f e s t : <Immer stellt sich für menschliches Denk- und An-
schauungsvermögen das Bild ein.> Also beide Ausföhre*: der jewei- 30
ligen Urgebärden <sündigen>, i n d e m sie jeweils auf ihre Weise Gott
in Bild oder Gleichnis fassen! Aber in beider <Sünde> wirkt die Fas-
zination der Kunst - beider <Urformen> der Kunst: sie erschließt
<un-heilig> das Abgründige in jeweils verschiedenartiger, aber
auch in einer stets doch ebenso gültigen wie un-gültigen Art.
Was aber für den, der Gott weder in der <konkreten> noch in der
<abstrakten> Art fixieren will? Karl Jaspers meint: <Gegen die Fixie-
rung der entgegengesetzten Totalurteile ist u n s M e n s c h e n aufge-
geben, bereit zu sein zum unablässigen H ö r e n auf Ereignis,
Schicksal und eigenes G e t a n h a b e n i m zeitlichen G a n g des Lebens.
Solche Bereitschaft schließt in sich zwei Grunderfahrungen: Er-
stens die E r f a h r u n g der absoluten Transzendenz Gottes zur Welt:
der verborgene Gott rückt in i m m e r größere Ferne, wenn ich ihn
allgemein u n d für i m m e r fassen u n d begreifen möchte; er ist unbe-
rechenbar n a h d u r c h absolut geschichtliche Gestalt seiner Sprache
in je einmaliger Situation. — Zweitens die E r f a h r u n g der Sprache
Gottes in der Welt: das Weltsein ist nicht an sich, sondern in ihm
geschieht in bleibender Vieldeutigkeit die S p r a c h e Gottes, die nur
geschichtlich o h n e Verallgemeinerung im Augenblick für Existenz
eindeutig werden kann.>
Ist das nicht e i n m a l viel einfacher gesagt worden? <Und Gott
schuf den M e n s c h e n ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihm!
Kann diese großartigste u n d geheimnisvollste concordia discors
vom heutigen M e n s c h e n n o c h im Gefühl, im G l a u b e n nachvollzo-
gen werden?
N ä h e r t sich derjjDroblematische M e n s c h der Moderne> über all
seine <Bedingtheiten> hinweg der Möglichkeit, endlich eine <Null-
punkt-Situation> zu verlassen, <über die Linie> zu gehen? <Wir ha-
ben den N u l l p u n k t passierte W i r zitierten anläßlich des Problems
<Kreis oder Ellipse> schon einmal E r n s t Jünger: <Die LJberquerung
der Linie, die P a s s a g e des N u l l p u n k t s teilt das Schauspiel; es deu-
tet die Mitte, doch nicht das E n d e an.> Die Sicherheit ist noch sehr
fern. Dafür wird Hoffnung möglich sein.> Allerdings: diese <Hoff-
nung>, welche in n e u e r Weise c h a r i s m a t i s c h e n C h a r a k t e r anzu-
n e h m e n beginnt, wird erneut in eine Verzweiflung gestürzt. <Das
H a u p t ist jenseits der Linie>, schreibt J ü n g e r weiter. <Indessen stei-
gert sich der n i e d e r e D y n a m i s m u s weiter u n d drängt zur Explo-
sion. Wir w o h n e n d e m schauerlichen H o r t e n von Geschossen bei,
die auf die unterschiedlose Vernichtung g r o ß e r Teile des Men-
schengeschlechts b e r e c h n e t sind.> Klassik oder Manierismus? <Das
U n g e h e u r e der M ä c h t e u n d Mittel l ä ß t darauf schließen, daß nun-
m e h r das Ganze auf d e m Spiele steht.> <Wir befinden u n s . . . im
Ungesonderten. >

Klassik und Manierismus


Wenn es zwei Erscheinungsweisen des Absoluten gibt — m der
Kunst Klassik u n d M a n i e r i s m u s - , so h ä n g e n also beide Erschei-
nungsweisen des Absoluten - mit d e m Absoluten zusammen-
Nicht n u r das: es wirkt in i h n e n b e i d e n das Absolute. Beide sind
d e m n a c h in e i n e m ästhetischen Mysterium aufeinander bezogen,
wie auch i m m e r sie sich gegenseitig auszuschließen
scheinen. Ist
d a h e r eine <Integration> dieser jetzt rein ästhetisch gesehenen Ma-
nifestationen des Ursprungs, des A b g r u n d s , des Absoluten mög-
lich? Lassen sie sich also <ästhetisch> integrieren? D a s erscheint in
B a u m e unserer irdischen Bedingtheiten e b e n s o w e n i g möglich wie
wünschenswert. D e r G r u n d c h a r a k t e r dieser <Künste> als ästheti-
sche Offenbarungsweisen des Absoluten wird... gesondert bleiben.
Es ist Ausdruck der <doppeltem Seele des Menschen, ganz im
Sinne des Aquinaten. D o c h gibt es eine andere Möglichkeit, viel
mehr noch eine Aufgabe der <Integration>. Sie ist ethisch-ästheti-
scher Natur. W e n n es n a c h Bergson wahr ist, daf3 alles Philoso-
phieren ein <Denken gegen den Strorm ist, so dürfte das ethische
Gefühl der <Manieristen> nicht der Verführung zu leichter <Auflö-
sung> erliegen, es m ü ß t e - in der Desintegration - die Re-integra-
tion zumindest in der Substanz versuchen. Hochmut und Ver-
spieltheit, m o d i s c h e Scharlatanerie und dreiste Nachahmerei
müßten ü b e r w u n d e n w e r d e n durch eine ständig aufmerksame
Konfrontierung mit der Klassik, nicht also mit Klassizistischem.
Umgekehrt k ö n n e n u n s e r e Klassizisten sich vor Banalität und Er-
starrung nur retten, w e n n sie im Gesicht des manieristischen Bru-
ders nicht n u r das M e r k m a l Kains sehen, sondern eben die gemein-
same Bezogenheit auf das Absolute. Weischedel rühmt an der (mo-
dernen) Kunst die <Kraft des Ursprungs). Sie könne aber <nur ein
Übergang) sein. <Der M e n s c h v e r m a g zwar für Augenblicke auf die
Ebene der reinen Bezüge zu gelangen, aber dann wird er, weil er
ein welthaftes W e s e n bleibt, zur Rückkehr in die Welt gezwungen.)
(Hervorkommen m u ß d e m n a c h die Tiefe nicht (nur), wie sie in sich
selber ist, sondern wie sie Welt bildet.) Das große Thema der Kunst
wird sein: <das Absolute im Ernst seines weltbildenden Spiels).
Es würde oder k ö n n t e sich also nicht u m eine Aufhebung oder
Neutralisierung der <Extreme> h a n d e l n , sondern letzthin um einen
Akt der <Annäherung> im Sinne der Sympathie, der hiebe — als
Erkenntniskraft im S i n n e M a x Schelers. Die Klassik wird dann
vom Manierismus n e u e S p a n n u n g erfahren, der Manierismus von
der Klassik schärfere Umrisse, klarere Form. Wir haben im Ver-
laufe dieser D a r s t e l l u n g viele Gegensatzpaare zum Problem Klas-
sik und M a n i e r i s m u s gefunden. Einige fassen wir hier noch einmal
zusammen: Klassik u n d M a n i e r i s m u s = Struktur-Bild; männlich
-weiblich; Uogos — G e h e i m n i s ; <Idea> - Natur; natürlich - künst-
lich; ungebrochen — gebrochen; Sublimierung - Enthüllung;
Gleichgewicht — Labilität; E i n h e i t — Gespaltenheit: Integration -
Desintegration; E r s t a r r u n g — Auflösung; Charakter - Persönlich-
keit; Animus - A n i m a ; Gestalt - Deformation; Würde - Freiheit;
Ordnung - Rebellion; Kreis - Ellipse; Konvention - Artifizialität;
Theologie - M a g i e ; D o g m a t i k - Mystik; Lichtung - Verbergung
usw., usw. E i n e Vereinheitlichung dieser <Urgebärden> erscheint
unmöglich. W e n n sie sich aber nicht <vereinen> lassen, so stehen
die von ihnen (Besessenen) doch vor einer doppelten Möglichkeit:
vor der Möglichkeit, d e n jeweiligen Duktus dem anderen anzunä-
hern oder ihn vom a n d e r e n - hoffnungslos - zu entfernen. Die
Symptome für ( A n n ä h e r u n g ) v e r m e h r e n sich bei den (Schöpferi-
schen), d.h. bei d e n nicht (ideologisch) Schaffenden. Die Sym-
ptome für (Entfernung) v e r m e h r e n sich in den programmatischen
Clans. Welchen Sinn h ä t t e die (Annäherung) der beiden Gebär-
den? M a n k ö n n t e in d i e s e m S i n n e geradezu vom auch ästhetischen
<Wert> eines der O h m s c h e n Gesetze sprechen, des (magnetischen)
nämlich, demzufolge d e r (magnetische Kraftfluß gleich dem Quo-
tienten aus der m a g n e t o m o t o r i s c h e n Kraft und dem magnetischen
Widerstand ist>. M i t a n d e r e n Worten: Die Klassik braucht die (ma-
gnetomotorische Kraft) des M a n i e r i s m u s , will sie nicht erstarren,
der Manierismus b r a u c h t d e n (Widerstand) der Klassik, will er sich
nicht auflösen. Klassik ohne Manierismus wird Klassizismus, Manie-
rismus ohne Klassik wird Manieriertheit.
In keinem Kunstwerk Europas — a u ß e r den Meisterwerken Ver-
gils, Shakespeares, Calderöns, R e m b r a n d t s und Goethes
(<Faust II>) — findet m a n so viele <klassische> u n d <manieristische>
Elemente vereint wie in der (Göttlichen Komödie> Dantes. Be-
stünde der höchste künstlerische R a n g d e m n a c h in einer Annähe-
rung (nicht in einer unmöglichen Vereinigung) der beiden Urge-
bärclen? Dante schildert im 3 3 . G e s a n g des <Paradiso>, wie er end-
lich Gott erblickt: <luce eterna>, ein ewig sprudelnder Quell von
Licht. E r <hat> also ein <Gesicht>, erblickt aber kein <Gesicht>, son-
dern blendende Lichtfülle, geradezu b l e n d e n d e <Abstraktion>.
Aber: in der <Tiefe> (<nel suo profondo>) dieses Lichts sieht er, mit
übermenschlicher Kraftanstrengung das n u r <Leere> dieser Licht-
fülle überwindend, in Liebe gebunden: Wesen u n d Daseinsart und
ihr Bewirken. U n d d a n n erscheinen i h m <drei Kreise dreifacher
Farbe, doch von e i n e m Ausmaß>. Aber: wie ein <Geometer>, der
sich u m die L ö s u n g der Q u a d r a t u r des Kreises a b m ü h t , gelingt es
ihm nicht, das visionär erfaßte <Urbild> in die Symmetrie dieser
Kreise einzufügen. <Gestalt> u n d <Abstraktion> sind nur Mittel der
Erkenntnis. Sie lassen sich nicht vereinen. D a n t e beginnt zu ver-
zweifeln. Will Gott ihm entgleiten? E i n e a n d e r e Erkenntnis fährt
jäh — wie ein Blitzstrahl (<un fulgoro) — in ihn. E r be-greift, um-
greift in liebender Erkenntnis plötzlich alles. D i e letzten Verse der
<Commedia> lauten: <Liebe ist es, welche die S o n n e und die ande-
ren Sterne bewegt.> (<L'amor che m u o v e il Sole e l'altre stelle.))
Stehen die heutige Welt, die heutige Kunst, der heutige <problema-
tische> und der angeblich in sich <geordnete>, <harmonische>
M e n s c h vor einem ähnlichen D i l e m m a ? W i r d ihn, damit er davon
befreit werde, der <Blitzstrahl> der Z e r s t ö r u n g oder derjenige der
Liebe treffen?

NACHWORT

Probleme der Kritik


W i r sind am Schluß dieses ersten B a n d e s angelangt. In der folgen-
den Darstellung ü b e r <manieristische> Literatur hoffen wir, wenig-
stens einige weitere Antworten auf n e u e Fragen geben zu können;
vor allem geht es d a n n d a r u m , die Darstellung, die sich hier an
einigen Zeugnissen der b i l d e n d e n K u n s t entwickelte, wobei im
vorhinein keine Vollständigkeit b e a n s p r u c h t w u r d e , auch und vor
allem stofflich zu ergänzen. M a n wird hier m a n c h e N a m e n aus der
Geschichte der Kunst von 1520 bis 1650 u n d von 1880 bis 1950
vermissen, so u . a . Bassano, Aerts, Barocci, Bloemaert, Bunel, Ca-
ron usw., sowie Wirtz, Ensor, Füssli usw. W i r h a b e n wiederholt
r erklärt, d a ß wir u n s nicht an einer <Kunstgeschichte> versucht ha-
• ben, sondern an e i n e m Beitrag zur <Problematik des modernen
Menschen> bzw. an einer Konfrontierung von zwei <Urgebärden>
im Spiegel der d a m a l i g e n u n d derjieutigen majiij?ri^ti^cJiejiJuifi§L-
Vor kurzem erst erschien die erste bibliographische Studie zum hi-
storischen P r o b l e m des M a n i e r i s m u s in der Kunst. D a r i n wird fest-
gestellt: <Man k a n n noch nicht b e h a u p t e n , d a ß die Kritik auf alle
258 komplexen Fragen dieser künstlerischen B e w e g u n g geantwortet
hat.> <Vieles spricht dafür, daß das Problem noch offen ist.> <Nur
ein genügend breiter historischer Überblick, nicht nur über (dama-
lige) zeitgenössische Manifestationen, kann uns die Mittel geben,
K
um es zu lösen.>"° Für die Kunstgeschichte liegt also tatsächlich Giusta Mein Fasola. StoriograJu
del Manieritmo, In Fettschtid föi
noch ein weites Feld mit vielen unterirdischen Schätzen offen. Das L.Venturi. Rom 1956.
Thema ist demnach allein schon kunstgeschichtlich unerschöpf-
lich, und man wird für jede Darstellung dankbar sein müssen, wel-
che diese heute schon reiche speziellere Literatur ergänzen kann.
Wir hoffen, mit unseren phänomenologischem Studien auch
einige Durchblicke auf noch ungelöste Forschungsprobleme gege-
ben zu haben. Zum enzyklopädischem Thema, d.h. zum <umfas-
senden> kulturgeschichtlichen, kulturkritischen, zum psychologi-
schen, soziologischen, ästhetischen, philosophischen und theologi-
schen Problem des <Manierismus> wird, wie gesagt, im folgenden
Buch über die manieristische Literatur weiteres Material und wei-
tere Deutungen geboten, wobei auch das Problem der <manieristi-
schen> Musik berücksichtigt werden soll. Damit hoffen wir vor al-
lem, diese geistige Landschaft Europas, aus einer zeitgenössischen
Perspektive, noch besser erhellen zu können. Im <geistigen> Leben
lassen sich nicht nur Bild, Wort, Klang und Gebet nicht trennen.
Auch das Verhältnis unserer Vorfahren und unserer Zeitgenossen
zu ihrer politischen und gesellschaftlichen Umwelt ist — gerade für
dieses Thema — von entscheidender Bedeutung. Auch davon soll
im nächsten Buch die Bede sein. Um den <Manierismus> obschlie-
ßend> zu beurteilen, müßte man also die ganze Beise beendet ha-
ben.

Integration?
Eine letzte Bemerkung soll jedoch auf eines dieser letzten Ziele
hinweisen. Die aus räumlichen Gründen hier summarische Dar-
Stellung von Ausdrucksproblemen von(ij32o bis 1650 und von 1850
bis 1 g e f ü h r t zu dem Schluß, daß der europäische Geist vor 400
Jahren die materiellen Entwicklungen der Geschichte in einem
viel stärkeren Maße als heute vorweggenommen, aus eigener Sou-
veränität vorherbestimmt hat. Damals dominierten also die <Ideal-
laktoren> gegenüber den <Bealfaktoren>, wenn es auch vielfach zu
höchst aufregenden Verschiebungen kam. Heute stellt sich die
Frage, ob der <Unterbau> in seiner jetzigen hybriden Form (Hyper-
technisierung, Massengesellschaft) das damals zumindest noch
wechselseitige Verhältnis von Ideal- und Bealfaktoren, wegen ei-
nes <totalen> Übergewichts des <Unterbaus>, nicht vollends unmög-
lich gemacht habe. Man ist sich in der ganzen Welt - auch in China
- außerhalb der orthodoxen marxistischen Geschichtsanalysen
darüber klar, daß dies u. a. die endgültige Abdankung jeder Kunst
w
äre, die noch die <Signatur> eines mehr als gesellschaftlich
Zweckbestimmten tragen will. Kann das <Mystische> der <offenen
Gesellschaft) und das <Mechanische> der geschlossenen Gesell-
schaft) (Bergson), im Sinne einer geistesgeschichtlichen Vereini-
gung des Disparaten, sich jetzt schon im Werk der zwischen Form-
streben und Ausdruckswillen vielfach so zerrissenen Mitlebenden
vereinen? Das Problem einer solchen Integration ist denen, die
keine Macht haben, denen, die nur mit Worten, Tönen und Farben
umgehen, nicht mehr so gestellt wie den Manieristen der Spätre-
naissance und des Frühbarock. Die Vereinsamung des Geistes in
der Vorrenaissance wiederholt sich. Europa hat im Hochmanieris- 259
mus seine Einheit gesucht, aber n u r sehr bedingt gefunden. Die
damalige Spaltung zwischen aristokratisch-subjektivistischer und
bürgerlich-ständischer Kultur ist inzwischen zu einer Kluft zwi-
schen Kloster- u n d Massenkultur geworden.
Die Geschichte k a n n uns helfen, sie k a n n uns sicherlich aber
nicht aus dieser zeitgenössischen terribilitä retten. Wir stehen mit-
ten in ihr, ober- u n d unterhalb der Sehnsucht n a c h manieristischer
S p a n n u n g und klassizistischer E n t s p a n n u n g , also <unbehaust>.
Dennoch ließe sich wohl <Nutzen>, Hilfe von solcher historischen
Betrachtung erwarten, wenn m a n ihr dialektisches Wechselspiel
schließlich überwindet. Wie ist das möglich? Geschichte und Ge-
genwart transzendierend, dennoch mit genialer Hellhörigkeit ihre
vitalsten Bezüge stets konfrontierend, aus ihnen u n d über sie hin-
aus, aber nie ohne sie lebend u n d wirkend, stehen heute vor uns
jenseits aller relativierenden Diskussionen: Shakespeare und
Rembrandt. Der eine steht mitten im europäischen Manierismus,
der andere an seinem äußersten E n d e . Beide n e h m e n seine ma-
gnetischen Schwingungen auf, beide gehen d a r ü b e r hinaus, ohne
den klassizistischen Vereinfachungen des <Akademischen>, ohne
dem manieristischen Alexandrinismus der maudits zu verfallen.
Sie sind <Nachahmer> u n d <Erfüller> aus der Mitte ihrer <Person> -
im etymologischen Sinne. Shakespeare u n d R e m b r a n d t warten
noch auf ihre zeitgenössische D e u t u n g als <Europäer> zwischen
Klassik und M a n i e r i s m u s , zwischen d e m lateinischen u n d germa-
nischen Europa, zwischen dem <Ordo>-Begriff der Tradition und
dem <Existenz>-Begriff der Gegenwart. D o c h m a n wird zur Em-
phase verführt. Sie gehört freilich in eine andere, zu vereinfachend
<integrierende> E p o c h e , ins Barock. E r i n n e r t sei d a h e r an ein
<Concetto> H e r d e r s über das <Nachahmen> (also nicht über die
<Nachahmer>), soweit es jene M a n i e r i s t e n angeht, die schließlich
ihren <eigenen Weg> finden. <Die A n a n a s , die t a u s e n d feine Ge-
würze in ihrem Geschmack vereint, trägt nicht umsonst eine
Krone. >
Literaturhinweise

Nachfolgend wird n u r b e n u t z t e L i t e r a t u r in der Reihenfolge der Studie über dieses engere Thema einer Bibliographie der nui-
teile (Vorbemerkung) u n d I—V, also w e d e r in alphabetischer nieristischen Kunst bietet die schon genannte • Sloriografia del
noch in chronologischer R e i h e n f o l g e jeweils h i n t e r d e n Teilen Manierismo» von Giusta Nicco Fasola. Die beste Bibliographie
zitiert. Die in d e n A n m e r k u n g e n b e r e i t s g e n a n n t e n W e r k e wer- zur <modernen> europäischen Kunst enthält das ebenfalls zi-
den also noch e i n m a l a n g e f ü h r t , m i t A u s n a h m e der dichteri- tierte Werk von W. Haftmann, -Malerei im 20. Jahrhundert..
schen Texte, die i m n ä c h s t e n B a n d g e w ü r d i g t w e r d e n . Die aus- Eine allgemeine Bibliographie über den Manierismus im weite-
führlichste, w e n n a u c h n o c h n i c h t v o l l s t ä n d i g e Bibliographie sten Smne,insbesondere(außerKunst)in Literatur. Musik
über den M a n i e r i s m u s in d e r K u n s t findet m a n i m Ausstellungs- auch Psychologie, Soziologie. Philosophie. Theolog»-, fehlt I üe
katalog <Fontainebleau e la M a n i e r a italiana> (Neapel 1952). nachfolgend zitierte Literatur liefert dafür einige Elemente. Sie
Weitere Kataloge von M a n i e r i s m u s - A u s s t e l l u n g e n von 1946 bis werden, wie gesagt, in den Hinweisen zu unserer D a n t e u u n g
1956 sind in der V o r b e m e r k u n g a n g e m e r k t . E i n e erste kritische über manieristische Dichtung ergänzt werden.

Zur Vorbemerkung
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- , Problemi di E s t e t i c a . B a r i 1 9 5 4 1928-1929
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Della Porta, G. B., Magia naturalis. 1558

Zum zweiten Teil


Tolnav. Ch. de. Michelangiolo. Florenz 1931 Kircher, A., Magia universalis. Würzburg 1657—1659
Hoffmann, H., Renaissance. Manierismus. Frühbarock, Zü- Barr, A.H. jr., Fantastic Art, Dada, Surrealism. New York 1947
rich-Leipzig 1939 Schübler. J. J., Bolmannische Baukunst, o. J. (etwa 1720)
Bruhns, L., Die Kunst der Stadt Rom. Wien l g j i Die Kunstformen des Barock-Zeitalters. Bern 1956
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Praz, M., La Carne, la Morte e il Diavolo. Rom 1948 Bruno, G., Degli Eroici Furori. 1585
Rousset, J., La Litterature de l'Age Baroque en France. Paris Calvesi, M., II sacro Bosco di Bomarzo. In <Scritti di Storia
'954 deU'Arte in onore di L. Venturi>. Rom 1956
Carrieri, R., Fabrizio Clerici. Mailand ig55 Praz, M., I mostri di Bomarzo. Illustrazione Italiana. Mailand
Fraenger. W. H. Bosch. Das Tausendjährige Reich. Coburg t953
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Friedrich. H , Die Struktur der modernen Lyrik. Reinbek bei Dali. S.. Rede in der Sorbonne. In «Revue Medicale>. Paris 1956
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Accolti, P. Lo Inganno degli Occhi. Prospettiva pratica. 1625 Graciän. B., Handorakel. Stuttgart 1951
Niceron. J.F.. Perspective curieuse. 1638

Zum dritten Teil


Coomarasvvamy, A. K., Iconographv of Dürers Knots and Leo- Critica d'Arte 1 g54 (Zu Cambiaso)
nardos Conratenations. Art Quarterlv. Detroit 1944 Cambiaso, L., Ausstellungskatalog Genua 1956
Hooke, S. H.. The Labyrinth. London 1955 Marino, G. B., Galeria. Venedig 1620
Matthew. W E., Mazes and Labyrinths. London ig22 The Print Collection Quarterly. 1924 (Zu G. B. Bracelli)
Beckler, G. A.. Arrhitectura curiosa nova 1664 Georg. E., Der Mensch und das Geheimnis. Berlin 1954
Perrault. D.. Labyrinthes de Versailles. 1667 Remelli, A.. Le Diverse et Artificiose Macchine. o.J. (um 1580)
Brion, M.. L'Art Abstrait, Origines et ses premiers maitres. Paris Kircher. A., Musurgia Universalis. Rom 1650
'949 Baltrusaitis, J., Anamorphoses ou Perspectives Curieuses. Paris
Bru. C. R. Esthetique de lAbstraction. Paris 1955 1955
Rüge. W. Die Melodie des Lebens. Leipzig 193g
Anamorphose (Besprechung von Baltrusaitis) Sele Arte, Flo-
Piaton. Die Briefe. Übersetzt von H. Weinstock. Stuttgart 1947
renz, Heft 20, 1955
Werner, H., Die Ursprünge der Metapher. Leipzig 1919
Descartes, R., Traite de r H o m m e . 1662
Worringer. W., Abstraktion und Einfühlung. München 1908
Clerici, F., La grande Illusione. In <Art News Annuah 1954
—. Ägyptische Kunst. München 192?
Delogu. G., Tintoretto, la Scuola di San Rocco. Bergamo 1951
Heuss.Th., Zur Kunst dieser Gegenwart. Tübingen 1956 Schön-Wildenegg, E. P. V., Urmafl und Schöpfung. Berlin 1938
Venturi. L.. Arte Moderna. Rom 1956 Holthusen, H. E., Ja und Nein. München ig54
Panofsky. E., Die Perspektive als symbolische Form. Berlin Jünger, E., Über die Linie. Frankfurt 1951
1927 Jaspers, K., Einführung in die Philosophie. München 1 g53
lsarlo. G.. Les Lndependants dans la Peinture Ancienne. Paris Heidegger, M., Hölderlin und das Wesen der Dichtung. Mün-
1956 chen 1936
The Art Quarterlv. Detroit ig52 (Zu Cambiaso)

Zum vierten Teil


Geiger. B., Giuseppe Arcimboldi. Florenz 1954 Hocke, G.R., Das verschwundene Gesicht.
Arcimboldi (Besprechimg von Geiger und Legrand und Sluys) Leipzig 193g
Sele Arte. Florenz. Heft 21, 1955 Kaiser, H., Abhandlungen zur Ektypik harmonikaler Wertfor-
Huizinga, J., Homo Ludens. Reinbek bei Hamburg 1987 (= re men. Zürich 1938
Band 435) Lausberg, H., Elemente der literarischen Rhetorik. München
Hocke, G.R.. Lukrez in Frankreich. Köln 1935 '949 . .
Chytil, K.. Die Kunst in Prag. Prag 1904 Scheler, M., Die Wissensformen und die Gesellschaft. Leipzig
Stryzgowski, J., Asiatische Miniaturenmalerei. Klagenfurt 1933 1926
Nadeau, M., Histoire d u S u r r e a l i s m e . P a r i s 1945 (dt. Geschichte
- M e i s t e r des Ornament-Stichs. 1 9 ^ 2 - 1 9 ^ 4
des Surrealismus. R e i n b e k bei H a m b u r g 1 9 8 6 ( = re 437)
Muir, K., Shakespeares Sources. London 1 9 3 -
Sluys, F.. J o u r n a l des B e a u x A r t s . ( Z u D . M o n s ü ) Paris 1954
M o h r h e n n , A., Lebendige Dichtung. Heidelberg . 9 3 6
_ Revue Medicale. ( Z u D . M o n s ü ) P a r i s 1956
-Aufgang der Neuzeit., Katalog der gleichnamigen AustteUttM
Causa, R., P a r a g o n e 7 5 . ( Z u D . M o n s ü ) F l o r e n z 1956
Nürnberg 1932
Monsü, D., Katalog <Obelisco>. R o m 1950
Breton, A., Les Vases communicaiits. Pari* 193a
- , Katalog <J. and M . R i n g l i n g M u s e u m of Art>. Sarasota, Flo- Dali, S., 50 Segretos Magicos para Pintar. Barcelona 1951
rida 1950 -.Ausstellungskatalog. Rom 1954
Romdahl, D. L., Notes on D e s i d e r i o M o n s ü . G ö t e b o r g 1944 Weiss, A., Der Surrealismus und das Problem der Wirklichkeit
Clerici, F.,Taccuino O r i e n t a l e . M a i l a n d 1953 In «Hochland.. München, 43. Jahrgang, Heft 3
Jessen, R, Der O r n a m e n t - S t i c h . 1920

Zum fünften Teil


Furaagalli, G , E r o s di L e o n a r d o . M a i l a n d 1952 Winthuis, J., Das Zweigeschleclilenvesen. Leipzig 1 ><-'.s
Weininger, O., G e s c h l e c h t u n d C h a r a k t e r . W i e n 1907 Karrer, O., Das Religiösein der Menschheit and d a s Christen
Itrat-Husain, T h e mystical E l e m e n t in t h e M e t a p h y s i c a l Poets of tum. Freiburg 1934
the 17Ü1 Century. L o n d o n 1948 Hartlaub, G. F., Chymische Märchen. Ludwigsliafcn 19 , |
Hiltebrandt, P h . , R o m . G e s c h i c h t e u n d G e s c h i c h t e n . Stuttgart Gehlen, A„ Über die gegenwärtigen kullunerbaltnisM- Mer
'949 kur, München, Heftb. 193b
Freud, S., Abriß der P s y c h o a n a l y s e . Frankfurt 1953 Ziegler, L., Überlieferung. Leizpig 193b
Hommage ä M a r c e l P r o u s t . P a r i s 1927 - , Menschwerdung. Ölten 1948
Maurois, A., A la R e c h e r c h e d e M a r c e l P r o u s t . Paris 1949 Weischedel, W , Die Tiefe im Antlitz der Welt. Tübingen 193J
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Brav, R., L a Preciosite et les P r e c i e u x . P a r i s 1948 Scheler, M., Liebe und Krkenntnis. Beni 1955
i. Leonardo da Vinci:
Selbstbildnis, umi5io
2. Parmigianino:
Selbstbildnis im Konvexspiegel

-,. Pontormo:
Studie zu einem Männerakt,
nach rechts gedreht

,. Pontormo:
Kreuzabnahme.
Santa Felicita Florenz,
um ijii'2"
-,. Pontormo:
Jugendbildnis
AJessandro de Medici

(i. Pontormo:
Bildnis Cosimo I. de Medici
7. P a r m i g i a n i n o :
M a d o n n a con collo lungo,
u m 1535

8. Parmigianino:
M a d o n n a mit der Rose,
um 1531
g. Rosso Fiorentino:
Moses verteidigt die Töchter der Jethro,
um 1523
i o . H e n r i Rousseau:
Der T r a u m , 1910

11. Tintoretto:
Auffindung der Leiche
des hl. Markus (1562-66)
Milano.PmacotecaBrera
12. Paola Veronese:
Musik-Fresko in der Villa Barabaro,
Treviso, 1560 — 62

13. Pellegrino Tibaldi:


Illusionistisches Porträt aus der
Engelsburg
14. Salvador Dali:
Eindringlichkeit des Gedächtnisses, 1931

15. Aloyse:
Liebespaar mit Napoleon. 1963
16. El Greco: Laokoon
17- Carlo Carrä:
Die Tochter des Westens, 1919
18. Giorgio de Chirico:
Hector und Andromache, 1917
19. Fabrizio Clerici:
Kleines Straußennest, 1955

20. Fabrizio Clerici:


Mesmerische Phänomene, 1974
21. Salvador Dali:
Madonna von Port Lligat, 1949
22. Arcimboldi:
Rudolf II. als Vertumnus, i 5g 1
23. Arcimboldi:
Der Bibliothekar, um 1563
24. Alberto Savinio:
Abfahrt des verlorenen Sohnes

25. M a x Ernst: Vater Rhein, 1953


a6. Pablo Picasso:
Frau mit Blume, 1932
2 7- Arcimboldi:
Anthropomorphc Landschaft.
um 1566
28. Pablo Picasso:
Der rote Sessel, 1951

1
2g. Desiderio Monsü:
Zerstörung von Sodom

30. Desiderio Monsü:


S u s a n n a und die beiden Alten
31. Fabrizio Clerici:
Venedig ohne Wasser

*f

i ; Ml

JT

**v* 7*J

32. Fabrizio Clerici:


Ansichten von zwei Eitempeln, 1956
33- Pieter Bruegel d.Ä.:
Die tolle Griet, um 1562

34. Parmigianino:
Amor
ZWEITES BUCH

Manierismus in der
Literatur
Sprach-Alchimie und esoterische
Kombinationskunst
Beiträge zur vergleichenden
e u r o p ä i s c h e n Literaturgeschichte
Paul Ludwig Landsberg
gewidmet

«Das Feuer ist Mangel an Sättigung.) Heraklit

<Wir werden auf die Geschichte hingewiesen, da erscheint uns ein neues Licht. Nach und
nach lernen wir den Vorteü kennen, der uns dadurch zuwächst, daß wir bedeutende Vorgän-
ger haben, welche aus der Folgezeit bis zu uns heran wirkten. Uns wird ja dadurch die
Sicherheit, daß wir, insofern wir etwas leisten, auch auf die Zukunft wirken müssen, und so
beruhigen wir uns in einem heiteren Ergehen.) Goethe

«Begriff von Philologie: Sinn für das Leben und die Individualität einer Buchstabenmes-
sung. Wahrsager aus Chiffren; Letternaugur.> Novalis

«Am Ufer saß ich,


Fischte, die öde Ebene im Rücken.> T. S. Eliot

Zu danken habe ich zu diesem zweiten Band, außer


den im ersten Band bereits genannten Persönlichkei-
ten, wieder für unermüdliche, bewunderungswürdige
Mitarbeit meiner Frau. geb. Effenberger, für verständ-
nisvolle Emendation Professor Dr. Ernesto Grassi.
Dankenswerte Anregungen erhielt ich schließlich von
Dr. Werner Doede, Paul Elbogen, Dr. Magnus En-
zensberger, Prof. Dr. Arnold Gehlen, Prof. Gustav F.
Hartlaub, Prof. Dr. Josef Höfer, Dr. Hans Jes sen, Da-
niel H. Kahnweiler, Prof. Dr. Max Lüthi, Dr. Heinz
Holldack, Dr. Reinhard Raffalt, Prof. Wolf Steidle, Dr.
Karl Troost, Dr. Adolf Max Vogt, Dr. Werner Weber,
Prof. Dr. Wilhelm Weischedel. G.R.H.
I

INHALT
Zweites Buch

E i n f ü h r u n g in d e n P r o b l e m k r e i s 271

V o r b e m e r k u n g : Z u r Tradition des Irregulären 277 ERSTER TEIL:

1. E u r o p a s v e r b o r g e n e S p a n n u n g s f e l d e r 27g MAGISCHE
. . , . . _ , , BUCHSTABE
Aus dem <mundus subterraneus> der Geistesgeschichte 27g
- Exoterik und Esoterik 280 - Formenkunde des
Irregulären 281 - Geistesgeschichtliche Speläologie 281 -
<Natürlich> u n d <Künstlich> 282 - Attizismus und
Asianismus 282 - Mimesis und Phantasia 283 - Alte und
neue Redeweise 284 - Hellenistische Ursprünge der
<Phantasia>-Ästhetik 284 - Merkmale erster Wandlungen
285 - <Ungesunde> Bilder 285 - Kontinuität im Irregulären
286 - Schreibkünstler 286 - Gestik und Duktus 288 -
Poetische Labyrinthe 289 - Literarische Kuben 2g 1 -
Pangrammatische Kunstgriffe 293 - Petrus - Proteus 2g4

2. Sprachliches Doppelleben 295


<Ehrliche Verstellung) 295 - Geheimbotschaften 2g6 -
Buchstaben-Zauberer 297 - Virtuosität und Extremismus
298 - Leporismus 299 - <Cabala simplex> 302 - Von Z bis A
u n d von A bis Z 303 - Worte ohne Folge 303 - Der Uhren-
Kleber 304

3. Irreguläre Poesie 3°5


Die <Heteroclites> 305 - Spiel der Homonyme 306 -
Wortnetze 308 - D e r Sprachmantel Gottes 30g -
Buchstaben-Mystik 310 - Isopsephie 312 - Buchstaben-
Seelen 314 - Europäischer Scherbenhügel 314 -
Fragmentarismus 316

4. Ars C o m b i n a t o r i a ö1 ^
Gegen Gefühlsgeschwätzigkeit 316 - Das Über-Buch 317 -
3 6 2 8 800 319 - Weltschlüssel 320 - <Geheimnis der
Geheimnisse> 322 - Das amphibische Ingenium 322
5. S o p h i s m e s M a g i q u e s -2c;
Lyrische Trugschlüsse 325 - Absichtlicher Zufall 326 - Der
Babylonische Turm 327 - Das montierte Gedicht 328 -
Unübersehbare Gefilde 328 - Scheitern 330

ZWEITER TEIL: 6. Metaphorismus 33i


DIE WELT Königin Metapher 331 - Metaforeggiare 334 <Schöp-
IN BILDERN fungsgerät> 335 - Sieben Quellen 335

7. B a n n u n g d e s D ä m o n i s c h e n 337
Lob des Zweideutigen 337 - Geborgenheit u n d U n b e -
haustheit 337 - Furcht und Lüge 338 - Intellektualisierung
339

8. G o n g o r i s m u s , M a r i n i s m u s u n d P r e z i ö s e n t u m 34i
<Sinnreiche> Verwicklungen 341 - Roter Schnee 341 - Clef
brillante 342 - Der Paganini der <Lyrik> 343 - Tönendes
Atom 344 - Der Dichter als <Seiltänzer> 345 - Der
blutgierige Ritter 346 - Im Spiegel des 20. J a h r h u n d e r t s
346 - Preziosität 347 - Ratgeber der A n m u t 348 - Ochse auf
dem Turm 350 - <Antiques vocales> 351 - Neo-Marinismus
354

9. S h a k e s p e a r e s D e f o r m a t i o n e n 354
Sprachlicher Perspektivismus 354 Schwermütiger
Leichtsinn 355 - Sprachliche Illusionsperspektive 356 - Die
<Metaphysicals> 358 - <Der Welt letzte Nacht> 358 - Herz =
<roter Pavillon> 359 - Verschobener Schwerpunkt 35g -
Marionetten und Ziererei 360

10. B i l d e r w i t z 361

Auflösung und Freiheit 361 - Kants u n d Hegels


Urteilssprüche 363 - <Fragmentarische G e n i a l i t ä t 364 -
Symmetrie von Widersprüchen 365 - E p i g o n e n t u m u n d
Clownerie 366 - Goethes Reflexionen 367 - Romantik u n d
Manierismus 368

11. D e u t s c h e Vernunft-Kunst 37°


<Zirkel ohne Maß> 370 - Der Schönheit Schönheit 372 -
Lyrisches Esperanto 373 - <Übergelbes Weiß> 373 -
Zeitgenössische <Monstren> 374 - <Labor der Träume> 376
- Nonsense 377 - Die russische Brücke 377 -
Alexandrinische Gesänge 378 - Imaginismus 378 -
Proletpoesia 378

DRITTER TEIL: 12. A l c h i m i e u n d W o r t z a u b e r e i 381

PARA-RHETORIK Orientalischer Hermetismus 381 - <Corpus Hermeticum>


UND CONCETTISMUS 382 - Sprache als <Mantram> 384 - Art m a g i q u e 386 -
Deformierte Regeln 387

13. Die b e w u ß t e n T ä u s c h u n g e n 389

<Unterhalten> . . . mit <Seltsamkeiten> 389 - Topoi fallaci


389 - <Konditionalstil der Angst> 391 - <Phantasiai> u n d
Rhetorik 392 - Rhetorik nur noch Mittel 394
14. M e c h a n i k d e s E f f e k t s 395
Abend = narkotisierter Patient 395 - Lieblings-Figuren
396 - Conclusio per absurdum 396 - Manierismus und
Barock 398 - Para-Rhetorik, Gefühl und Romantik 400 -
20. Jahrhundert: Zerstörung der Logik mit Logik 402

15. F o r m e l n d e r S c h ö n h e i t 402
Lyrik der Peripetie 402 - Abstruse Allegorik 404 - Anti-
Natur 404 - Das alexandrinische Epigramm 406 -
Concettistische Zeitenwende 407 - Übergang zur
poetischen I m m a n e n z 407 - <Das Grauen wird schön> 410

16. M a n i e r i s t i s c h e P r o g r a m m a t i k e r 411
Lyrik u n d Essayistik 411 - Das <Seltene verhindern 411 -
Pestilenz des U n m a ß e s 412 - Vater der modernen Bildung
413 - Magazin von <Denk-Manierismen> 415 - Der
Deutschen <Poetischer Trichter> 417 - <Deutscher Gegend
lieblicher Safb 417

17. E m b l e m a t i k als R ä t s e l k u n s t 419


Bild der Chiffre 419 - Die beflügelte H a n d 421 - <Obeliscus
Pamphilius> 423 - Poetische Quacksalberei 424 -
<Sklavische Willkür> 425

18. Musizismus 427 VIERTER TEIL:

Musik: <Aus sich selbst Erfinderin) 427 - Madrigalistik 429 DER MENSCH
- <Musica Poetica> 430 - <Stilus phantasticus> 431 - Das ALS KÜNSTLERISCHE
<dunkle Findern 432 - Krypto-Akustik 434 FIKTION

19. Von G e s u a l d o d a V e n o s a z u S t r a w i n s k y 435


Das <Ricercare> 435

20. Musik-Kabbalistik 439


Lettrie u n d <Tapl-Music> 439 - Reliefkarten des
E l e m e n t a r e n 440 - <Tote Poren der Geschichte> 441 -
Barocke Antithese 442 - Das theophanische Opfer 443 -
Zeitgenössische Vereisung 444

21. Daidalos u n d Dionysos 446


Vor dem <Kernraum> 446 - Ariadne und Dionysos 447 -
Daidalos als <Maudit> 450 - Der Labyrinth-Tanz 451 -
Geburt des Tragikomischen 453 - Der Dionysos der
Manieristen 455

22. Das manieristische Theater 455


<Verspielte P a r a d o x i e m 455 - Maschinen-Künste 456 -
<Erfindung, verkehrt sich in sich selbst> 458 - <Ich bin mir
selbst verkleidet> 458 - Das Europa des Absurden 460 -
Sudden choice 461 - Versagte Tragik 461 - Das
alchimistische Theater> Shakespeares 462 - <Spiriti
innovatori> 464

23. Irrgang Roman 464


Das Um-die-Ecke-Schreiben 464
24. E p i s c h e M o n s t r e n 467
Roman Fleuve 467 - Wasserenten Galeeren 468 - James
Joyce und Daidalos 470

FÜNFTER TEIL: 25. Die Nachtseite der Gottheit 473

D E R MENSCH ALS Phantastische Mystik 473 - Demiurgen u n d Paranoiker 474


MANIERISTISCHES - Künstliche Paradiese 474 - Erstarrung auf d e m Gipfel
THEMA 475 - Jesus-Minne 476 - Gott und Elefant 479

26. W e i ß e u n d schwarze Mystik 480


Satanismus 480 - Geister von Verstorbenen 481 - Die
<Poetes fous> 482 - Erlebnis der Panik - Der Schock des
Zweifels 483 - Skepsis des <Malcontent> 484

27. Kasuistik u n d L a x i s m u s 486


Der Mensch als manieristisches T h e m a 486 - Moralische
Wahrscheinlichkeits-Rechnung 486 - Freiheit u n d Gesetz
487 - Versprechen verpflichten n i c h t . . . 488 - <Bizarre
Hermaphroditen> 489 - Schwarze M o r a l 489 - Apotheose
der Treulosigkeit 490 - Dennoch Rechtfertigung 491

28. D e r Erfinder Gottes 494


Integration im Menschen 494 - <Integration> in einem
Menschen 496 - <Konfusion ohne Absicht) 497 - <Freude,
Freude, Freude> 498 - Das Concetto der <Wette> 499 -
Unsere Religion: <Weise und wahnsinnig) 501 - P a r a -
historische Konkordanz 501 - Als <sein Eigen erweisen) 502

29. S i g n u m Crucis 503


Sträflinge Gottes 503 - Außen und I n n e n 504 - G e h e i m e
Krankheit 505 - Kreuzung von Licht u n d Finsternis 506

Literaturhinweise 507

Europäische Concetti 513


I. Spanien 513 - U. Italien 515 - III. Frankreich 517 - IV.
England 521 V. USA 525 - VI. R u ß l a n d 526 - VII.
Deutschland 527

Quellenangaben 530

«
EINFÜHRUNG
IN D E N P R O B L E M K R E I S

Der Manierismus in der europäischen Literatur geht auf den <asia-


nischen> Stil der Antike zurück. Wenn dieser Manierismus als eine
<Ausdrucksgebärde> anzusehen ist, die nicht nur auf die enger um-
grenzte manieristische Stilepoche zwischen 1520 und etwa 1620
eingeschränkt wird, so h a b e n wir es mit einer antiklassischen und
antinaturalistischen Konstante der europäischen Geistesge-
schichte zu tun. Dieser Stil, ein Stil, der das Irreguläre dem Harmo-
nischen vorzieht, läßt sich nicht nur in der gesamten europäischen
Literaturgeschichte nachweisen. Er beherrscht auch Epochen der
bildenden Kunst vom Hellenismus bis zu den heutigen verschiede-
nen <Deformations>-Tendenzen. Auch in der Musikgeschichte
taucht er phasenhaft auf, vom Frühmittelalter über die Trouba-
dours u n d über die Madrigalistik des 16. und 17. Jahrhunderts bis
zur Gegenwart. Manierismus gibt es in vorklassischen und in nach-
klassischen Kulturen. E r wird - als besonders scharfe Dialektik -
sogar in klassischen E p o c h e n sichtbar. Immer wieder manifestiert
er sich in spezifischen Dichtungen, Kunstwerken und Kompositio-
nen. Doch läßt sich in der Literatur die Kontinuität des Manieris-
m u s besonders deutlich belegen.
D e r literarische Manierismus ist vor allem an seinen formalen
Eigentümlichkeiten zu erkennen. Sie sind reich und mannigfaltig.
Sie k ö n n e n verzaubern u n d schockieren, sie können erregen und
verstimmen. Die wiederholte Tendenz zur Ver-stimmung führt zu
einer Mechanik des Effekts. Diese kann dann auch langweilen.
Die W i r k u n g jeder manieristischen Kunst liegt zwischen Schock
u n d Langeweile. Bei allzu häufig wiederholtem <Verblüffen> gibt
es zwischen Sensation und Langeweile — wie zwischen klassischer
E r h a b e n h e i t und Lächerlichkeit - nur einen Schritt.
Manieristische Literatur bekundet folgende Grundtendenzen:
affektvolle Übersteigerung oder kälteste Reduzierung des Aus-
drucks, Verbergung u n d Überdeutlichkeit, Verrätselung und Evo-
kation, Chiffrierung u n d ärgerniserregende <Offenbarung>. All
dies ergibt sich jedoch nicht aus einer nur polemischen Antithese
zur Klassik bzw. zum viel älteren antiken Attizismus. Die künstli-
chen, gesuchten, verblümten, übersteigerten oder untertriebenen
Ausdrucksformen h ä n g e n mit einem problematischen Verhältnis
zum eigenen Ich, zur Gesellschaft und zu philosophischen und reli-
giösen Überlieferungen der konventionell denkenden <Bien-Pen-
sants> z u s a m m e n . Es ergibt sich in der europäischen Kultur schon
früh eine Neigung zum Irregulären. Bald entsteht eine antitraditio-
nalistische Überlieferung des Disharmonischen, bald, d.h. schon
i lange vor Christi Geburt. Es bildet sich geradezu ein Kult des Dis-
harmonischen aus, als allmählich auch gesetzhafte, regelhafte Ver-
haltensweise des Anti-Konformismus. Dieser Kult, die Liturgie des
Manierismus aller Zeiten, ist nicht allein historisch, sondern auch
psychologisch und existentiell interessant, weil er sich auch als äs-
thetische Erscheinungsform der psychischen Struktur des proble-
matischen Menschen darstellt, des Menschen, der an überlieferten
Maßstäben für sich, um sich und über sich zu zweifeln beginnt und
deswegen nicht selten in einem auch fruchtbaren Sinne, also in
einem auch theologisch-antiklassischen Sinne, <positiv> ver-zwei-
felt.
Daher dient und nützt die Speläologie des literarischen Manie-
rismus eher einer modernen M e n s c h e n k u n d e als einer veralteten,
falsch abstrakten Ästhetik. Sie, diese geistesgeschichtliche Höh-
lenkunde, läßt uns immer wieder einem bestimmten Menschenty-
pus begegnen. In ihm vereinen sich Vitalität u n d Intellekt unmit-
telbar. Es fehlen in ihm vielfach andere, ausgleichende Kräfte u n d
Mächte. Bildlich gesagt: er hat entweder zuviel Gehirn, zuviel Herz
oder zuviel Blut oder von allem zuwenig. Auf diese seine partiellen
Überschüsse oder Mangelerscheinungen reagiert er d u r c h gera-
dezu kernphysikalische Vereinigungskünste von hochentwickel-
tem Verstand und mächtigen Affekten. D a r a u s ergeben sich nicht
selten mustergültige Disharmonien. M a n m a g diesen Typus werten,
wie man will. Er gehört zu den lebendigsten u n d fruchtbarsten An-
regern, zu den besten Wirkstoffen unseres europäischen Kultur-
Kreislaufs. Ohne seine katalytische Kraft w ü r d e n wir erstarren, zu
fratzenhaften Kulturmarionetten. Auch Manieristen u n d Proble-
matiker haben überdies eine durchaus eigene mythische Ordnung.
Ihr mythisches Ursprungsbild finden sie in e i n e m von d e n hellsten
und dunkelsten Schicksalsmächten gleichzeitig geschlagenen
<Verdammten>, im Archetypus aller poet.es u n d peintres damnes, im
dngenieur damne> par excellence, in Daidalos, im E r b a u e r des La-
byrinths von Kreta, einer manieristischen N a c h a h m u n g des ürrsin-
nigstem, des dreizehnfachen Labyrinths von Altägypten. M e h r
noch: Daidalos hat einen manieristisch-mythischen Tanzkult ent-
worfen. Er ist für die europäische Theatergeschichte von entschei-
dender Bedeutung geworden. In ihm w u r d e eines der Urprinzipien
des Manierismus Ereignis: die Mischung von Affekt und Kalkül.
Gerade dies beweist aber, daß auch der M a n i e r i s m u s n a c h einer
Ordnung eigener Art strebt. Er sieht die Gegensätze des Welter-
fahrens auch als eine <absurde> Einheit des angeblich ebenso auf-
gespaltenen Weltgrunds. Und er will sie — beide Gegensätze -
durch manieristische Künste in einer h ö h e r e n Einheit sichtbar
werden lassen und sie damit in ihrem Zwiespalt überwinden.
Damit berührt sich geistesgeschichtlich der M a n i e r i s m u s mit äl-
teren und neueren Erfahrungen der Magie, der Alchimie, der Kab-
balistik. Auch die verschiedenartigen formalen M a n i e r i s m e n sind
von diesem Esoterismus Asiens u n d E u r o p a s beeinflußt worden.
Heterodoxie der Denkinhalte u n d irreguläre F o r m e n hängen
spannungsvoll zusammen. Weltdeutung u n d literarische Gestal-
tung sind meist Ergebnisse einer sogenannten G r o ß e n Kombma-
tionskunst, auch und gerade dann, wenn stärkste Affekte vorhan-
den sind. Es ergibt sich in und für die D i c h t u n g Europas die
jt <Vernunft-Kunst> (Gongorismus, M a r i n i s m u s , E u p h u i s m u s , Pre-
zipsität, <ingeniöse> Witz-Kultur). Sie findet ihre erste neuzeitliche
Ausdrucksform in geistigen Randfeldern zwischen Renaissance
2/2
und Barock. Sie greift, die europäische Romantik durchdringend,
herüber in unsere heutige <Moderne>.
Aus diesem m e h r oder weniger unterirdischen Adern- und Ner-
vensystem der europäisch-asianischen Geistesgeschichte lassen
sich, im Z u s a m m e n h a n g mit der heutigen sogenannten Tiefenpsy-
chologie, Grundlagen für eine entsprechende Twßn^Asthetik ent-
werfen. Doch k a n n das Europa des Absurden, des Problemati-
schen, des Irregulären und Disharmonischen nur durch genaueres
Wissen u m formale Manierismen verstanden werden. Nur so be-
greifen wir D a u e r und Folgerichtigkeit des Manierismus, seine
Grundgesetze, aber auch seine Verwandlungen in jeweils nationa-
len, soziologischen und individuellen Situationen. N u r so können
wir daher auch der Größe und Einzigartigkeit eines Kunstwerkes,
eines Künstlers u n d einer Epoche gerecht werden. Nur so retten
wir uns vor Schematismen u n d vereinfachenden Synthesen. Durch
Aufweis und Nachweis solcher <Automatismen>, auch in der unter-
irdischen Geistesgeschichte Europas, kann man den Duktus, die
Ausdrucksweise des Manierismus in einen organischen Zusam-
m e n h a n g stellen, genau wie das überlieferte, vielfach allzu be-
wußte und daher meist auch allzu <automatische> Formengut der
Klassik.
Die extreme Künstlichkeit des Phänomens wird anziehen und
abschrecken, je nach Temperament, Bildungsgrad, Gewissensreife
und moralischer Aufnahmebereitschaft. Nur durch aufmerksame,
liebende Toleranz können wir ihm gerecht werden. Wir stehen im-
mer wieder vor extremen Situationen. Immer wieder begegnen wir
gleichzeitig heißen Wüsten und Eisbergen, ozeanischen Tiefen
und baumlosen Gipfeln, Verruchtheit und inniger Menschenliebe,
der Sehnsucht nach Überschreitung aller Grenzen und dem
Wunsch n a c h windstillem Hafen, dem Traum von einer mathema-
tischen religiösen Weltformel und der Angst vor dem sieht- und
fühlbaren Zorn des lebendigen Gottes. Daraus ergeben sich die
Spannungsverhältnisse in der manieristischen Literatur: artisti-
sche Pflege des logistischen Scharfsinns und dämonisch-vitaler
Expressionstrieb, m ü h s a m e s , oft allzu mühsames intellektuelles
Suchen u n d nervöser Taumel in metaphorischen Assoziationsket-
ten, Kalkül u n d Halluzination, Subjektivismus und Opportunis-
m u s gegenüber (antiklassischen) Konventionen, zierliche Schön-
heit u n d erschreckende Seltsamkeit, rauschgiftnahe Faszination
u n d fast betende Evokation, H a n g zur Verblüffung und aufgelöste
Traumbereitschaft, idyllische Keuschheit und brutale Sexualität,
grotesker Aberglaube und fromme Andacht. Diese Spannungen
werden in jeder manieristischen Kunst gerade und vor allem in
Grundformen und Grundmotiven sichtbar. Erst wenn diese er-
schlossen u n d verständlich sind, öffnen sich die geistigen Hinter-
gründe, in denen sie entstanden sind und durch die sie sich ver-
wandelt h a b e n - vom Synkretismus des alten Alexandrien bis zur
Massenzivilisation unserer heutigen Großstädte.
Eine Analyse gerade des literarischen Manierismus führt uns
also zunächst zu einer Formenkunde des <Irregulären>. Sie beginnt
mit einer ursprünglich noch mythisch-religiösen <Poesia Alfabe-
tica> E u r o p a s u n d Asiens, mit ingeniösen rhetorischen Spiel- und
Verblüffungsformen, mit sophistischen Trugschlüssen. Auch sie
stehen, bereits in hellenistischer Epoche, vielfach im Dienst einer
<asianischen> Kunst der <Phantasiai>, sie entfernten sich also da-
mals schon von der noch mythischen Kunst der objektiven <Mime-
sis>. Aus dieser bereits in der Antike und im Mittelalter entstehen-
den <manieristisch-asianischen> Dichtung, zunächst m e h r <forma-
ler> Natur, entwickelt sich dann die pararhetorische, emblema-
tische und concettistische Dichtung der Spätrenaissance. Diese o-e_
winnt durch die Wiedergeburt nicht nur der altgriechischen und
altrömischen Kultur, sondern durch die bewußte Rezeption auch
der magischen und esoterischen Kulturen Asiens, eine auch gno-
stische, über bloßes Spielen und Gefallenwollen transzendierende
metaphysische, geistig-hermetische Bedeutung. Es entsteht eine
<heterodoxes> Weltbild. Formale Errungenschaften des Concettis-
mus bleiT^ilrrTBafock erhalten, doch <reintegriert> die Welt des
Barock verfallende Ordnurigssysteme, zunächst n u r restaurativen
und gegenreformatorischen Tendenzen einer n e u e n politischen
und religiösen Orthodoxie folgend. Erst in der <intellektuellen> Ro-
mantik und in der heutigen <Moderne> Europas leben diese Form-
systeme und auch manche <inhaltlichen> Grundmotive in jeweils
epochal oder individuell veränderter Weise wieder auf. Es ergibt
sich somit eine akademische Tradition des Anti-Akademischen.
Die Grundformen und Grundmotive des Manierismus in der Ly-
rik, in der Epik und in der Theaterkunst stimmen, wie bereits ange-
deutet, mit denjenigen des Manierismus in Kunst u n d Musik über-
ein. Sie bilden also einen einheitlichen Stil suigeneris in der euro-
päischen Geistesgeschichte.
Diese Ästhetik des Irregulären, des Disharmonischen läßt uns
vor allem die psychologischen Strukturen des p r o b l e m a t i s c h e m ,
des sogenannten <modemen> Menschen in e i n e m n e u e n Licht er-
scheinen. Auch manieristische Künste jeder Art, in Wort, Bild und
Klang, haben es in erster Linie mit menschlichen Spannungskräften
zu tun. Gerade in Übertreibung, Deformation oder Verrätselung
sollen sie auf besondere Weise sichtbar werden. Doch damit wird
man der geschichtlichen Extension des <Manierismus> noch nicht
gerecht. Der Mensch selbst, außerhalb aller ästhetischen Bezüge,
kann zum Thema, sogar zum Gegenstand des Manierismus wer-
den. Manierismus in der Literatur heißt somit Manierismus auch
in der Psychologie, Soziologie, Philosophie u n d Theologie. In allen
Bezirken befindet sich jeder Manierismus allerdings stets auf des
Messers Schneide zwischen oft bedeutender evokativer u n d offen-
barer Kraft und einer oft nicht minder erregenden Schwäche des
Zerfalls. Extreme Künstlichkeit, n u r noch assoziative Verspieltheit
sind dafür Symptome, aber auch kasuistische Wertverneinung und
substanzloses Wahrscheinlichkeitsdenken als Ausdruck einer Ver-
fremdunggegenüber konventionell <Absolutem>. Doch beweist die
europäische Geistesgeschichte an manieristischen H ö h e p u n k t e n
im Werke subjektiv aus tiefer eigener Existenz erschütterter Per-
sönlichkeiten nicht nur die hohe spezifische Schönheit u n d Aus-
druckskraft <antiklassischer> Kunstwerke von Rang. Sie erschließt
auch vielfach außerordentlich anregende transzendentale Aspekte,
und sie weist damit auch hin auf besondere Bilder der Gottheit,
sozusagen auf die Nachtseite der Gottheit. In einem dialektischen
Wertsystem Europas hat der <konstante> Manierismus also nicht
nur eine legitime Funktion. Er bildet einen unentbehrlichen Ge-
genpol zur Gefühls- und Denkwelt in seltenen h a r m o n i s c h e n Kul-
turordnungen und erst recht in leider viel häufigeren konventio-
nell-akademischen, pseudoästhetischen Gesellschaftsideologien.
Jedes voreilige Harmonie-Denken könnte also der Erstarrung
durch verständnisvolle Begegnung mit den Irregularitäten des
<Problematikers> ausweichen.
Schon in seinem Entstehen sieht sich jeder M a n i e r i s m u s aller-
dings immer vor der Aufgabe der <Reintegration>, der Harmonisie-
274 rung auseinanderbrechender subjektiver, ja, oft n u r noch subjekti-
vistischer Tendenzen. Die erste welthistorisch bedeutsame Re-In-
tegration einer der größten manieristischen Kulturepochen - von
1520 bis 1660 — erfolgte durch Blaise Pascal. Es handelt sich um
eine religiöse Integration mit strengsten geistigen Vorzeichen. Un-
sere Epoche hat diese Aufgabe noch nicht gelöst. Sie scheint heute
mit nur traditionellen Mitteln unlösbar. Die manieristische Inge-
niosität beginnt sich in der modernen Technik von ihrer menschli-
chen Bindung zu lösen u n d <selbständig> zu werden. Die <Klassik>
hat viel von ihrem Z a u b e r als vereinheitlichende Ordo-Macht ver-
loren, weil sie in der Neuzeit leider nicht selten zu einem dekorativ-
ideologischen System vom Diktaturen aller Farben profaniert wor-
den ist. Der Gefahren, in denen wir stehen, werden wir uns also
auch und gerade durch eine sorgfältige Spiegelung manieristischer
De-Kadenzen u n d Dis-Harmonien bewußt. Sie führen uns in gei-
stige Abgründe der Menschheit. D a ß es nicht nur <theoretische> Ab-
gründe sind, begreifen wir aus unseren heutigen Begegnungen mit
einer allmählich totalen Welt des Absurden besser als unsere Vä-
ter. Es gehört zur Aufgabe unserer Generation, ihre geistigen
Energien nicht n u r an eine bloße Erkenntnisarbeit zu verschwen-
den. Sie hätte daraus ethische Folgerungen zu ziehen. Die Begeg-
n u n g mit der gesamten Tradition des Irregulären kann dazu neue
Wege weisen. Allein schon durch die Überwindung des Vorurteils
gegenüber dem, der seine Freiheit auf seine Weise sucht. Sofern
diese Freiheit immer der durch nicht zu reduzierenden Wahrheit
verbunden bleibt und nur der Nächstenliebe dient. Andere Ele-
mente für zeitgenössische Reintegrations-Aufgaben gibt es nicht.
Es sind allerdings - absolut genommen - die schwersten.
ERSTER TEIL

Der magische
.Buchstabe

VORBEMERKUNG:
Z U R T R A D I T I O N DES
IRREGULÄREN
iese Darstellung über <Manierismus in der Literatur)

D setzt unsere Studien über Manierismus in der Kunst> fort.


Beide Bände bilden eine Einheit, sind jedoch in bezug auf
den Stoff voneinander unabhängig. Die Einheit ergibt sich aus un-
serem G r u n d t h e m a : die Problematik des modernen Menschen. Y
Wie es im e r s t e n ß e i t r a g nicht lediglich u m Kunstgeschichte ging,
so in diesem nicht allein u m Literaturgeschichte. Es wird versucht,
die Wesenszüge eines Menschentypus in einer spezifischen Gei-
stesgeschichte des homo europeus, in einer bestimmten Tradition
des <irregulären> E u r o p a phänomenologisch, an H a n d literari-
scher Sprachdenkmäler sichtbar zu machen.
Die M e t h o d e erforderte in erster Linie Enträtselung durch Kon-
frontierung. Wie läßt sich die verrätselte Problematik des homo
absconditus in der Geschichte klar darlegen, aus der Geschichte,
die aus dem Urrätsel k o m m t und zum Urrätsel führt? Es mußte
nach Beispielen, nach Belegen, nach unmittelbaren Zeugnissen
gesucht, u n d es müssen diese interpretiert werden. Auch wenig-
stens einige musikalische Beweisstücke sollen nicht fehlen. Sie
werden in einem besonderen Abschnitt behandelt. In einigen we-
nigen Fällen m u ß t e n literarische Beispiele in der Originalsprache
gegeben werden. Übertragung hätte in solchen Fällen nur Verfla-
c h u n g bedeutet. Der Leser sollte auch nicht ungeduldig werden,
w e n n m a n ihm m a n c h m a l eine langsame und hin und wieder auch
energische Lektüre zumuten m u ß . Wir sind davon überzeugt, daß 2
er am Ende über den <Schlüssel> verfügen wird. Als Ariadne-Fa-
den haben wir zu einer gegenwartsnäheren O r i e n t i e r u n g oft Nova-
lis zitiert.
Man spricht von einer Renaissance des historischen Bewußt-
seins. Das wäre ein wichtiges Symptom für die Wiedergeburt
Europas in seinem n e u e n Einheitsstreben. F ü r die Bewußtseins-
erweiterung des europäischen Geistes wird die <verborgene> Tradi-
tion in seiner Geschichte eine e n t s c h e i d e n d e Rolle spielen, will
man eine nur klassizistische E u r o p a - R h e t o r i k überwinden. Doch
werden einzelne Pfade in den A b g r ü n d e n des problematischen, ir-
regulären, abstrusen E u r o p a d e m skeptischen Europa-Wanderer
nicht geniigen. Wer heute in noch wenig erschlossene Gebiete der
europäischen Geistesgeschichte eindringen will, verlangt unter
Umständen gleich eine Generalstabskarte. Die gibt es nicht. Wir
haben uns allerdings M ü h e gegeben, u n s e r e Karten z u m abstrusen
Europa so genau aufzuzeichnen wie möglich, d a h e r gelegentlich
unvenneidliche Wiederholungen. D a b e i sind wir u n s bewußt ge-
blieben, daß Leser an m a n c h e n w e i ß e n Stellen H u n g e r auf weitere
Abenteuer verspüren werden. Deswegen h a b e n wir solchen Ideal-
Lesern durch ausführliche L i t e r a t u r a n g a b e n die Möglichkeit
gegeben, sich für eigene Expeditionen wenigstens elementar aus-
zurüsten. Solche Pfadfinder w e r d e n d a n n selbst feststellen, wie
einzigartig und wie unerschöpflich E u r o p a ist.
Unsere literarischen Beispiele h a b e n wir meist der Lyrik ent-
nommen. Das sollte nicht verwundern. D i e Sprache des Irregulä-
ren findet, genau wie die Sprache des H a r m o n i s c h e n , im Gedicht,
im gelungenen Gedicht, ihren höchsten Ausdruck. Solche Bei-
spiele für concettistische D i c h t u n g findet m a n — in einen europäi-
schen Strauß gesammelt — am E n d e des vierten Teiles. Manche
^von ihnen sind von uns zum ersten M a l übertragen worden, ohne
Anspruch auf Vollkommenheit. Ü b e r t r a g e n heißt nichts anderes
als: Sprachschwierigkeiten ü b e r w i n d e n helfen. W e r Vollendung
sucht, m u ß die Originaltexte lesen.
Kann Europa aus der Tradition des I r r e g u l ä r e n regenerierende
Kraft schöpfen? Liegen nicht auch im D i s h a r m o n i s c h e n lebendige
Ursprünge des europäischen Geistes? Jedenfalls wird unsere Liebe
zu Europa tiefer werden, w e n n wir i h m a u c h e i n m a l auf seiner
dämonenumwitterten Nachtseite b e g e g n e n , in seinen <Phanta-
siai>, in seinen Denklastern, in seinen v e r w e g e n e n Sprachbildern.
Souveräne Europäer werden wir sicherlich n u r d a n n werden, wenn
wir nicht darauf verzichten, u n s m i t u r m ü t t e r l i c h e n Kulturland-
schaften Asiens und Afrikas auseinanderzusetzen. E i n e der Ur-
kräfte Europas liegt in einer spezifisch ingeniösen Mutationsfähig-
keit aus dem Problematischen, m a n c h m a l sogar aus dem Verruch-
ten. Doch müssen wir jetzt den manieristischen Vorhang öffnen.. •
zu einem kurzen höhlenkundlichen Prolog. D a n n werden wir an-
fangen: erst mit dem Abc des irregulären E u r o p a .
i. E U R O P A S VERBORGENE
SPANNUNGSFELDER

Aus dem <mundus subterraneus>


der Geistesgeschichte
Im Spiegelbild des <modernen> Europäers verbergen sich entle-
gene Spannungsfelder. Sie haben einen Magnetismus eigener Art.
D u r c h grelle Feuerzeichen mögen sie sich auswirken oder durch
das rasche, nur nächtliche Blühen giftig erscheinender Blumen.
Die Problematik des modernen Menschen kann man aus einer
lediglich horizontalen Spannungsebene im Allein-Heute nur un-
vollkommen begreifen. Es gibt auch Spannungsschichten der Ge-
schichte. Wer in sie dringt, steht vor vertikalen, geistig geologi-
schen Strukturen des Problematischen. An ihren über- und inein-
andergelagerten Berührungsflächen, gerade in Randschichten,
gären und rauchen die chemischen, die alchimistischen, die esote-
rischen, die hermetischen Prozesse des Übergangs, der Krise, der
speziell vom P r o b l e m a t i s c h e m erlebten Grenz-Lagen der Wende
u n d der welthistorischen Peripetien des Geistes nicht nur des lei-
denden, des beleidigten Menschen vor allem. Gerade dieses Ver-
borgene, diese Welt in der <Unterirdischkeit> des europäischen
Geistes, beginnt uns z u n e h m e n d zu fesseln. Es scheint zur Aufgabe
unserer Generation zu gehören, den <mundus subterraneus> in der
europäischen Geistesgeschichte mit empirisch-kritischen Mitteln
ans Licht des Tages zu heben. Diese oft bewußt versteckte Welt
ist allerdings faszinierend. Sie ist reich an Grotten, verworrenen
Gängen, Fossilien, farblosen Grottenasseln, blinden Fischen,
überempfindlichen Fledermäusen, an von oben nach unten wach-
senden Stalaktiten und an von unten nach oben steigenden Stalag-
miten. Doch dazu m e h r noch: in diesen Tropfsteinhöhlen unserer
geistigen Überlieferungen finden wir, umgeben von eisiger Fin-
sternis, w e n n wir Glück haben, an bläulichgrünen Felswänden
Allegorische Darstellung: Die
geistige Arbeit von der Muse unter
den Schutz des Gesetzes gestellt.
Stich nach Choffard. i 791
Zeichen, seltsam stilisierte <Hierogiyphen>, Botschaften unserer
Vorfahren, für welche die Natur reine D ä m o n i e war, die aber dafür
Wahrheit fanden, Wahrheit n u r in der eigenen Phantasie, ein in-
neres Abbild der Dinge, und die daher das bloße Abbild der Natur
mißachteten, verachteten.

Exoterik und Esoterik


Der europäische Geist will sich heute nicht m e h r n u r aus seinen
äußeren, exoterischen Landschaften begreifen. E r möchte in die
inneren, esoterischen Labyrinthe seiner S e i n s g r ü n d e eindringen.
Er möchte mehr über seinen <mundus subterraneus> wissen. Die-
ser Ausdruck stammt von Athanasius Kircher, d e m < abstrusem Po-
lyhistor des 17. Jahrhunderts. E r m e i n t e , das <Innere> unseres
Planeten sei nicht anderes als ein nie entwirrbares Labyrinth. Wel-
chen Sinn hat es, nicht nur in die Labyrinthe des Erdinnern, son-
dern nun in die <esoterischen> Labyrinthe des europäischen Kul-
turorganismus einzudringen? M a n k a n n u n d wird es verstehen:
der <moderne> Mensch strebt n a c h einer nicht n u r seelenkundli-
chen, sondern auch nach einer formenkundlichen Analyse aller

»+ A T H A N A S I I KIRCHER.I
jener Bestandteile der europäischen Kultur, die je und eh die
<Problematik> seines Wesens (in der Geschichte) sichtbar gemacht
haben. Er sucht nach psychischen Archetypen, nicht nur im Klini-
schen, nicht nur im Psychologischen. Er will das ihn — gerade heute
- so unheimlich umdringende Problematische aller sogenannten
<Kultur> in und aus d e m begreifen, was gemeinhin als <Ästhetik>,
als die Lehre vom <Schönen>, bezeichnet wurde.
Vielleicht wird überhaupt der intelligente moderne Europäer,
sofern er nicht im Malstrom der technisierten Massengesellschaft
untergegangen ist, dadurch zu einem neuen, durchaus schöpferi-
schen Repräsentanten seiner geistigen Umwelt, daß er Wissen
über das Absolute, Erlösung aus neurotischer Problematik in den
Werken der Künstler, der Dichter oder Komponisten sucht. Welch
ein Wandel! N i e m a n d wird übersehen können, daß wir wieder
mitten in einer n e u e n alexandrinischen Gnosis stehen, in einer
Gnosis, die <Ur-Wahrheit>, Begegnung mit einem Absoluten, vor
allem in Kunst, Literatur u n d Musik finden möchte, also im <vor-
kirchlichen> Raum. Das kann uns als ein Zeichen der Hoffnung
gelten. Es liegt aber auch die Gefahr störender Neurosen nahe,
Symptomen der heutigen politischen Selbstzerstörungs-Tenden-
zen. Unsere Ästhetik hat mit unseren psychologischen Errungen-
schaften nicht Schritt gehalten, sofern es u m Grundelemente geht.
Wir verfügen über eine Tiefenpsychologie. Es wird Zeit, nach Ele-
menten einer Tiefen-Ästhetik zu graben.

Formenkunde des Irregulären


Gnosis aus Begegnung mit nur Kunst, Literatur und Musik kann
im psychischen Aufbau einer Persönlichkeit zerstörend wirken,
wenn, gerade was <Problematiker> angeht, eine elementare For-
m e n k u n d e im ästhetischen Weltbild fehlt oder mangelhaft ist. Wer
Erlösung im Ästhetischen sucht, ohne die Strukturen der irregulä-
ren Ästhetik des Problematischen zu kennen, begibt sich in Gefahr.
Geistig paßt er sich, ohne es zu wissen, den vereinfachenden Pro-
zessen der technisierten Massengesellschaft von heute an. Er wird
Opfer einer <Mode>, so wie breite Schichten Opfer jeweiliger totali-
tärer Ideologien werden. M e h r noch: er versteht sein irreguläres
Ideal nicht einmal so, wie er es, in ehrlicher Gewissensprüfung, in
stillen Stunden innig möchte.
Insofern wird für jeden, der das Problematische Europas und das
Problematische in sich selbst illusionslos verstehen will, das 'Un-
bewußte) in der unterirdischen Geistesgeschichte Europas Ereig-
nis, als Weg für und zu persönlicher F r e i h e i t . . . zu einem viel un-
mittelbareren Zwiegespräch mit dem nicht reduzierbaren Numi-
nosen, zu einem Stehen vor Gott.

Geistesgeschichtliche
Speläologie
Daher ergibt sich die Notwendigkeit, in einer Krisenzeit geistesge-
schichtliche Speläologie, systematische kulturelle Höhlenfor-
s c h u n g z u t r e i b e n . Sie soll weder vor-täuschen, noch ent-täuschen.
Sie soll einen Ariadne-Faden vermitteln, der in einem Labyrinth
von Selbst-Täuschung zumindest zu einem Ausgang verhilft. Wer
diiinit nicht zufrieden ist— am E n d e unseres Weges—, der m a g s
andere Ausgänge suchen. Wer sich in diese Schächte h i n a b - un
auch liinaufbegibt, weiß, daß er sich zu e i n e m Abenteuer an-
schickt, aber er wird hoffen dürfen - im Sinne der <Theologia üor-
dis>, des dntelletto d'Amore>-, in seit l a n g e m nicht durchwander-
ten Gängen auf jene Geheimzeichen zu stoßen, von denen berei s
die Rede war. Doch m a g es dann geschehen, d a ß diese Gebilde)
bringt man sie ans Licht zurück, allzu <schockartig> auf Helle rea-
gieren. Sie könnten dann — im Empfinden u n d Urteil des Lesers —
wie Tiefwasserfische, hält m a n sie in die Sonne, nicht n u r sterben,
sondern blitzschnell zu Staub zerfallen, u n d das geschieht, wie
man weiß, auch m a n c h e m archäologischen Ausgrabungsgut.
Doch wollen wir versuchen, solchen Zeichen, Niederschlägen ur-
sprünglicher Gebärden, zu einer wenigstens dokumentarischen
Dauer zu verhelfen. In einem speläologischen Spiegel des europai-
schen Geistes mögen sie dann erhalten bleiben, Buchstabe u m
Buchstabe, Wort um Wort, Satz u m Satz.

:Natürlich> u n d <Künstlich>
Zwei Ausdrucksgebärden wird dieser Menschenspiegel zunächst
immer wieder verzeichnen, elementar gesagt, einen <natürlichen>
und einen <künstlichen>. U n d die gleiche Zweiheit wird dieser
Spiegel auch angesichts des Urduktus des Schreibens vermerken.
Stellt man der <knappen>, zwar auch stilisierten, aber un-<verblüm-
1
Georg Philipp Harsdorfler emp- ten> Weise die Art des verschnörkelnden, ver-blümten1 Mitteilens
firfiU im (Poetischen Trichter> (ver-
blümte Beschreibung). Ausgabe gegenüber, so ist der literarische M a n i e r i s m u s (als Ausdrucksform
Nürnberg 1655, Bd. III. p. 13. des problematischen Menschen) so alt wie die Literatur selbst. Die-
ses Gegensatzes wurde m a n sich schon zur Zeit Piatons bewußt.
Das Streitgespräch zwischen Attizisten (Klassizi sten) u n d Asianern
(Manieristen) gehört zu den archaischen S p a n n u n g e n des europäi-
schen Geistes. Das Wort <klassisch> ist ein Spätling in u n s e r e m Vo-
kabular. In Altrom war es zunächst ein steuerrechtlicher Ausdruck.
Ein classicus gehörte der höchsten Steuerklasse an.

Attizismus u n d A s i a n i s m u s
\ttizistisch bedeutet in der antiken Rhetorik: b ü n d i g , konzentriert.
knapp, kunstvoll, wesentlich. Asianisch weist auf das extrem Ge-
genteilige hin, auf Ü b e r m a ß , Vieldeutigkeit, gekünsteltes Begin-
nen mit dem Unwesentlichen u n d listiges, wortreiches Umzingeln
des Kerns, subjektives, perspektivistisch b e w u ß t <täuschendes>
Darstellen. E d u a r d Norden n a n n t e d e n attizistischen Stil konser-
•' tf. auch Franz Altheim. Klassik vativ, den asianischen: modern. 2 Wir k ö n n e n u n s e r e Begriffspole
und Barock in der römischen Ge-
also erweitern: klassisch = attizistisch, h a r m o n i s i e r e n d , konserva-
schi ile. In: Retorira e Barorco. Atti
del III. Congresso Int. di Stud. Uma- tiv. Manieristisch = asianisch, hellenistisch, disharmonisierend,
nistici. Rom 1956- p-'^- 'Asianis-
mus als Form war. wenn irgend
modern. Der attizistische Stil hat das Ideal der e n t s p a n n e n d e n Re-
twav Barock.) Attizismus und Asia- gularität, der asianische Stil dasjenige a u c h der <Phantasiai>, des
nismus - <ein Gegensatz von welt- spannungsvollen Irregulären.
geschichtlicher Bedeutung» (p. 25).
Warum heißt dieser Stil <asianisch>? E r ist — schon im 5. und
4. Jahrhundert v.Chr. — im griechischen Kleinasien entstanden.
Durch die Begegnung des griechischen M u t t e r l a n d e s mit altorien-
talischen Kulturen erhielt er entscheidende I m p u l s e . Als seine älte-
282 sten Vorbilder gelten Gorgias von Leontini, E m p e d o k l e s und vor
allem der <dunkle> Heraklit, <Urahne des Surrealismus> (Breton)
mit seinen verrätselnden Antithesen, Metaphern und Wortspielen.
Schilderungen des damaligen Konflikts zwischen diesen beiden
Stilen findet m a n in den rhetorischen Abhandlungen Ciceros und
in Quintilians Lehrbuch der Rhetorik. <Das höchste Gesetz des
Asianismus liegt in der Willkür> (Norden), aber es handelt sich, wie
wir sehen werden, sehr oft auch u m eine wohlerwogene, ja, berech-
nete Willkür.

Mimesis und Phantasia


Doch wollen wir versuchen, den Gegensatz von Attizismus und
Asianismus im Z u s a m m e n h a n g mit unseren Manierismus-Pro-
blemen in ein anderes dialektisches Verhältnis zu bringen. Attizi-
stisch wird schon im 2. Jahrhundert v.Chr. ein <Stil> genannt, der
auf die alten <klassisch reinem <gesunden> (Cicero) attischen Vor-
bilder aus dem 5. Jahrhundert v.Chr. zurückgreift, insbesondere
auf die Musterautoren Thukydides, Lysias und Demosthenes. De-
ren Ideal war die <Mimesis>, die N a t u r n a c h a h m u n g bzw. die <Dar- •'
Stellung menschlicher H a n d l u n g e n und Taten, in deren Umkreis
der M e n s c h selbst eingeschlossen bleibt wie in dem eines Schick-
sals oder einer ursprünglichen Ordnung>. D Den asianischen Stil hat ' cf. Ernesto Grassi. Kunst und My-
m a n bisher meist nur mit den polemischen Begriffen seiner attizi- thos. rde Bd. -,(). 2. Aufl. Reinbek bei
Hamburg 19dl). p. 118. Wir benutz-
stischen Gegner gekennzeichnet (vor allem Ciceros und Quinti- ten den Begriff <Mimesis> also in die-
lians). Diese n u r negativen Stilkriterien bedürfen der gleichen Kor- sem neuen, differenzierten Sinne.
rektur, die uns Ernesto Grassi zum Mimesis-Begriff gegeben hat.
Wir werden das im Laufe dieser Darstellung ergänzen. Doch wol-
len wir einleitend schon der attizistisch-<klassischen> <Mimesis> die
asianisch-<manieristische> <Phantasia> gegenüberstellen. Wir be-
rufen uns dabei auf drei Stellen in der Rhetorik des Quintilian
(Ende des 1. Jahrhunderts v. Chr.).
U m die großen Stilgegensätze seiner Zeit zu charakterisieren,
weist Quintilian auf die bildende Kunst hin. Er nennt dabei z.B.
Theon von Samos, der sich durch ein lebendiges Erfassen von Vor-
stellungen auszeichne, durch <Phantasiai> (XII, 10, 6). An anderer
Stelle schreibt er dazu: <Phantasiai nennen die Griechen —wir mö-
gen dazu immerhin ,visiones' sagen - die Seelenkräfte, vermöge
deren wir Bilder abwesender Dinge uns so lebhaft vorzustellen im-
stande sind, daß wir sie mit Augen zu sehen und leibhaftig vor uns
zu haben glauben. Wer solche Vorstellungen lebendig erfaßt, wird
in S t i m m u n g e n sehr stark sein>... <Oft entstehen solche Bilder in
der Langeweile und in krankhaften Wunschträumen>... <Dieses
seelische Laster (animi Vitium), warum sollte man es nicht zweck-
m ä ß i g anwenden? >4 (VI, 2, 29). Schließlich nennt Quintilian die Adolf Trendelenburg, der. durch
Phantasiai: <Abbilder der Dinge>. diese Stellen Quintilians angeregt.
die altgriechische Plastik u.a. von
Wenn Quintilian etruskische (asianische) Künstler von attizisti- Theon von Samos auf Pliantasiai
schen ebenso unterscheidet wie asianische Redner von attizisti- untersucht (Schrift gleichen Titels.
Berlin 1910), läßt diese Sätze fort.
schen, w e n n er Perikles mit der <Schlichtheit> des attizistisehen also «krankhafte Wunschträume»
Redners Lysias vergleicht, so können wir als einen Gattungsbegriff und <seelische Lasten. In der ideali-
stischen Ästhetik waren solche Be-
für asianische Stilmerkmale den Ausdruck <Phantasiai> wählen. griffe mehr als anrüchig, während
Der attizistisch-klassisch-konservativen <Mimesis> kann man zu- der Attizist Quintilian ganz unbefan-
gen meint, man könne diese mehr
mindest als heuristisches Prinzip das asianisch-manieristisch-mo- oder weniger <krankhaften» Phanta-
derne <Phantastikon> gegenüberstellen, und wir haben damit, wie siai als Redner gelegentlich durch-
aus anwenden.
wir noch n ä h e r belegen werden, die literarische Wurzel der subjek-
tivistischen Idea-Lehre, des <Disegno fantastico>, der <Imitazione
iantastica> der manieristischen Traktatisten der Jahrzehnte vor 283
und nach Shakespeare wie der heutigen <Modernen> speläologisch
vor uns. Im Jahre 1650 schreibt einer der italienischen Program-
matiker des damaligen Manierismus, M a t t e o Peregrini, in seinem
Buch <Fonti del Ingegno> (Bologna 1650), es lägen die <Ideen der
Dinge> <in unserem Busen>. Sie lagerten dort wie in einer Muster-
messe oder wie in den Buchstaben-Kästen der Setzereien. Man
könne sie daher auch <Immagini> oder <Fantasmi> n e n n e n . Dazu
Shakespeare: <Und wie die schwangre P h a n t a s i e G e b i l d e / v o n un-
bekannten Dingen ausgebiert / gestaltet sie des Dichters Kiel, be-
nennt / das luft'ge Nichts und gibt ihm festen Wohnsitz.)

Alte und n e u e Redeweise


Zur Mimesis gehört die harmonische O r d n u n g s l e h r e der <archaia
retorike>, der alten Redeweise, zum P h a n t a s t i k o n die <nea reto-
rike>, die neue Redeweise. Die Mimesis stellt den Menschen und
sein Schicksal in kreishafter H a r m o n i s i e r u n g , das Phantastikon
den Menschen in <Phantasiebildern> dar. D i e Phantasiai-Künstler
kennen und brauchen das Korrektiv der <Natur> nicht. Die Welt der
Phantasiebilder ermöglicht es, alles in alles zu verwandeln, die ele-
mentaren Aggregatzustände zu m i ß a c h t e n . Nicht die Welt der Na-
tur, sondern die Welt der Vorstellung wird z u m künstlerischen Er-
eignis.

Hellinistische U r s p r ü n g e der
<Phantasia> -Ästhetik
Kann man den Ursprung unserer zeitgenössischen Kunst- und Li-
teratur-Revolution in hellenistische Zeit verlegen? Wir dürfen uns
für erste Ansätze auf Kenner der Antike berufen wie z.B. Bernhard
Schweitzer. Fassen wir seine Forschungsergebnisse über den Be-
griff <Phantasia> kurz z u s a m m e n . <Phantasia>, Vorstellungsbild,
wurde schon von Aristoteles mit der Kunst in Verbindung gebracht.
In der stoischen Philosophie wird aus diesem m e h r psychologi-
schen ein kosmologischer Begriff. D u r c h P h a n t a s i a erfaßt man den
Weltgrund. Phantasia wird zu einer <Durchgangsstelle zwischen
göttlichem Willen und menschlicher Ausführung). Die mythische
Ordnungswelt der Mimesis gerät allmählich aus d e n Angeln. Es
erfolgt <die Geburt der revolutionären Persönlichkeit) - nach dem
Erlebnis des Sonder-Daseins der P h a n t a s i a . Dieses sieh in einem
neuen Sinne frei fühlende Subjekt will sich <nicht m e h r dem Her-
kommen beugen und nicht m e h r im h a n d w e r k l i c h e n Sinne Stein
auf Stein zur gemeinsamen sterblichen Welt u n d z u m gerneinsa-
men Weltbild fügen). Es fordert <seine eigene Welt>. Der mythi-
sche Objektivismus der Mimesis wird d u r c h den zunächst noch
mythischen Subjektivismus der P h a n t a s i a - G n o s i s verdrängt. Es
beginnt die <Auf-sich-Bezogenheit allen F ü h l e n s u n d Denkens).
Daraus ergeben sich <neue Quellen der Kraft). D e r Künstler be-
zieht jetzt sein <Gesetz aus d e m Innern>. E s entsteht <ein neues Be-
wußtsein von schöpferischem, individuellem Gestalten). Das Vor-
stellungsbild des Künstlers, die P h a n t a s i a , wird üdentisch mit dem
Angelpunkt des ganzen seelischen u n d geistigen Lebens>. Dieser
Bruch erfolgte also im frühen H e l l e n i s m u s ( 4 . - 3 . Jh. v. Chr.).
Merkmale
erster Wandlungen

Nicht die Ordnung, die Gemeinschaft, die Harmonie, sondern die


Affekte u n d die individuelle Tragik, ja, <die Beobachtung patholo-
gischer Reizerscheinungem werden Ziele und Mittel von Kunst
und Dichtung. <Das Ziel war nicht mehr objektive Richtigkeit, son-
dern subjektive W i r k u n g der Darstellung.) Der Gegensatz von Mi-
mesis und Phantasia wird i m m e r stärker. Es handelte sich damals
also schon u m <die Todesstunde des klassischen Idealismus und
u m die Geburtsstunde des Individualismus). Die Phantasia-Kunst-
Idee tritt <in reifer Form zur Zeit der zweiten Sophistik auf und
systematisiert bei Plotin>. Diese neuplatonische Phantasia-Ästhe-
tik wirkt — wie wir wissen — im gesamten europäischen Manieris-
mus bis heute nach.
Der realen N a c h a h m u n g des Gegenständlichen wird die apriori-
sche u n d in Gott gegründete Sympathie zwischen Natur und
Künstler gegenübergestellt. Philostratos schreibt (im Leben des
Apollonios von Tyana VI. 19, p. 256, etwa 250 v.Chr.): <Die Phan-
tasia — eine weisere Künstlerin als die N a c h a h m u n g (Mimesis) —. 1
N a c h a h m u n g bildet, was sie sieht, die Phantasia aber auch das, was
sie nicht sieht>5 <Der Wert des durch Phantasia gesetzten irrealen ' Zitiert von Schweitzer o.e. p. i 10.
Dazu eine B e m e r k u n g von Georg
Bildes überstieg immer m e h r den des realen Vorbildes; das Band, Philipp Harsdörffer, dem bedeu-
welches das künstlerisch Wirksame mit der Sinnenwelt verband, tendsten Traktatisten des deutschen
Manierismus im 17. J a h r h u n d e r t .
wurde i m m e r dünner.) Seneca, einer der Lieblingsautoren maßge-
«Der Poet handelt von allen und je-
bender europäischer Manieristen, faßt diese Wendung in die den Sachen, die ihm vorkommen,
Worte: <Es ist — ganz belanglos, ob der Künstler sein Modell drau- wie d e r M a i e r alles, was er siebet ab-
bildet: ja auch, was er nie gesehen,
ßen hat, auf das er seine Blicke richtet, sondern im I n n e r n . . .> als in seinen sinnreichen G e d a n -
ken.) (o.c.p.3.) Dazu weiter Hars-
Z u dieser Hypostase der Phantasia gesellt sich dann eine neue -
dörffer o.e. p. 166.
m e h r ästhetisch-psychologische - Anwendung der Platonischen
M a n i a - L e h r e . Es interferieren also nicht nur Asianismus und Ma-
nierismus, sondern auch Phantasia und Mania. Doch vergessen
wir nicht, daß dies alles im hellenistischen Neuplatonismus noch in
einem mythischen Urgrund geborgen bleibt. Plotin schrieb eine
der tiefsten Formeln zur Ästhetik der Antike: <Die irdische ver-
fälschte Wirklichkeit verlangt nach der Ergänzung in einem schö-
nen Bilde, damit sie sowohl als etwas Schönes erscheine als auch
ü b e r h a u p t sei.) Die hypersubjektivistische Säkularisierung erfolgt
erst später.

<Ungesunde> Bilder
Davon, von der Gefahr, die Inhalte der Phantasia zu verabsolu-
tieren, hat Quintilian (35-86 n.Chr.), als er von bestimmten
>Phantasiai> als von <seelischen Lastern) schrieb, offenbar schon
gewußt. 6 Die demiurgische Verabsolutierung der Phantasie-In- ' ' D i e s e Quintilian-<Kritik> an den
Phantasiai wird von Schweitzer
nen-Welt m u ß t e also durchaus Baudelaire als Vorboten zu seinen nicht berücksichtigt.
<Paradis Artificiels> erschienen sein. Eines ist sicher: vom schöpfe-
rischen <irregulären> Phantasia-Kunstwerk von Rang bis zu den
zahllosen künstlerischen manieristischen Manifestationen der
Phantasia als <seelischer Laster) ergibt sich eine unendliche Skala
von individuellen Entfaltungsmöglichkeiten. Wir werden sehen,
daß diese n e u e n Aspekte einer manieristischen Gebärdenkunde
dazu verhelfen, einen starren Schematismus zu vermeiden. Das
<Phantastikon> k a n n irrational, aber, in einem besonders typisch 28*
manieristischen Sinne, auch sehr <ingeniös> sein, also stark de •
Kontrolle e i n e r - im Sinne des Labyrinth-Erbauers Daidalos - he
rechneten Technik des phantastisch-intellektuellen Kunstinee-
meurs unterliegen.

Kontinuität im Irregulären
Dürfen wir den Asianismus mit dem Oberbegriff einer antinatura-
listischen Kunst der Phantasiai kennzeichnen? Gibt es eine euro-
päische Kontinuität des Anti-Harmonischen, des Irregulären? Wir
wollen schrittweise vorgehen. Der Archäologe R e i n h a r d Herbig
hat den antiken (literarischen) Gegensatz von Attizisten u n d Asia-
nern mit zeitgenössischen Begriffen auf die bildende Kunst über-
tragen, anläßlich einer Abhandlung über antike Fresken im Pom-
peji und in Boscoreale. Die (attizistischen) Fresken der Mysterien-
Villa bei Pompeji sind: klar, einfach, schlicht, ungebrochen, ruhig,
nicht überanstrengt, ohne überflüssige Akzente. Die (asianischen)
Fresken von Boscoreale sind übersteigert, der formale Reichtum
überwuchert den Inhalt. Diese Kunst überredet, überspannt, über-
rennt, aber eben auch mit gesuchten, berechneten Mitteln. In
der <manieristischen> Kunst Altgriechenlands (z.B. in der perga-
menischen Plastik) <verläuft keine Kontur o h n e vielfache zittrige
Brechungen, keine ohne stete W e n d u n g u n d Wiederwendung>.
Nirgends begegnet man <großen ungebrochenen Schwüngen des
Verlaufs). <Die Übergänge vollziehen sich in heftigem Bruch.> Wie
rund igoo Jahre vorher Quintilian, so hat auch Baltasar Graciän
vor 500 Jahren, 36 Jahre nach Shakespeares Tod, in seinem für den
dichterischen Manierismus dieser Zeit m a ß g e b e n d e n Traktat über
<Agudeza y Arte de Ingenio> auf diesen Dualismus eines natürli-
chen (<laconico>) und künstlichen (<asiatico>) Stils hingewiesen.

Schreibkünstler
Um auch den literarischen Manierismus als Konstante der euro-
päischen Geistesgeschichte und in u n s e r e m Sinne als Ausdruck
einer Triebstruktur zu begreifen, wird m a n m i t dem Buchstaben,
mit dem Alphabet beginnen müssen. M a n i e r i s m u s in der Literatur
fängt nicht beim Wort, beim Satz, bei der Periode an. Schon der
Buchstabe regt den Trieb zur Symbolisierung, Bereicherung, Aus-
schmückung, Verdunkelung u n d Verrätselung an, zur Kombina-
tion von Phantasie und berechnender Künstlichkeit. Der Buch-
stabe stellt nicht nur einen Laut dar. Er ist selbst ein bildhaftes
Zeichen, das vor allem in den frühen Kulturen des Vorderen
Orients einen magischen oder mystisch-religiösen Symbolwert
hatte. Nimmt m a n Buchstaben zunächst als <Bilder>, so wird damit,
nachdem wir einige Elemente des M a n i e r i s m u s in der Kunst un-
tersucht haben, in optisch faßbarer Weise ein Ü b e r g a n g geschaffen
für eine Darstellung des Manierismus in der Literatur.
Ein attizistisches, <klassisches> Zeichen für einen Buchstaben
findet man in der Darstellung des Buchstabens <M> aus dem
< Gründlichen Bericht der alten lateinischen Buchstaben) (um
1540) des deutschen Schreibkünstlers J o h a n n Neudörffer. Dieses
Zeichen dient dem klaren E r k e n n e n u n d der Schönheit, die un-
286 mittelbares Bedeuten auszustrahlen vermag. M a n a h n t attische
Geschlechterbuch der Familie
Tucher. Auftragswerk von Jost
Amman. 158g
Struktur antiker Tempel. Vergleicht m a n n u n damit einen anderen
Buchstaben aus der Shakespeare-Zeit, das Initial <W> von P a u l
Franck aus dessen Versalienbuch < S c h a t z k a m m e r (1601), so be-
gegnet m a n der a n d e r e n , der asianischen Welt. Wie der Sinn eines
manieristischen Kunstwerks oder Gedichts verdunkelt erscheint,
so geht hier die E r k e n n b a r k e i t des e l e m e n t a r e n Mitteilung-Zei-
chens verloren. Subjektivismus herrscht vor. Die entfesselte P h a n -
tasie wird antiklassisch. <Ein ausschweifendes Schnörkelwesen
b r i n g t . . . das statische R e g e l s c h e m a der Renaissance ins Schwan-
k e n s I n k o m m e n s u r a b l e Kurven bilden <Vexierbilder>. <Das Prin-
zip der Veränderung u n d Verwandlungen, ein echt manieristi-
sches, triumphiert in den G r o ß b u c h s t a b e n der Kurrent.> Die Mit-
teilungwird deformiert. E s entsteht ein verschlüsseltes L i n e a m e n t .
Alles kann m i t e i n a n d e r vertauscht werden.
Doch dieses Verfahren verliert sich keineswegs im grenzenlos
Überschwenglichen. A u c h der M a n i e r i s m u s h a t seine O r d n u n g ,
sein metaphysisches Idealgefüge. Sein Symbol ist das Labyrinth.
M a n findet zur Zeit des römischen u n d florentinischen Manieris-
mus Buchstaben- u n d Wort-Labyrinthe. In d e m <Neu F u n d a m e n t -
buch) vorTÜrban Weyss u n d Christoffel Schweytzer (Zürich 1562)
k a n n m a n in dieser kunstvollen Konstruktion lesen: <Wer will er-
fahren der weit wesen D e r t h u o disen r e i m e n lesen, D a r i n n e n wirt
erfinden geschwind, W i e die ganze weit ist w o r d e n blind> usw. Die
y^ ^Verdeckung des Funktionswerts von Buchstabe u n d Wort beginnt
beim literarischen M a n i e r i s m u s also schon b e i m Schreiben der
Schriftzeichen. Es wäre voreilig, dies als <barockes> Schnörkelwe-
sen ab- und geringzuschätzen. A u c h die manieristische Schreib-
kunst ist ein Versuch, d u r c h Kalkül das Berechenbare der Kunst-
hchkeit mit d e m U n b e r e c h e n b a r e n der Phantastikon zu vereinen.
Es handelt sich ursprünglich noch u m alchimistische Verbin-
dungs-Kunst auch b e i m Kunstschreiben sinn-bedeutender Zei-
chen, u m den eigengearteten Ausdruck einer uralten <Alchimie du
Verbe>. Die D e k a d e n z läßt nicht lange auf sich warten.

287
Nürnberger
Schreibmeister

Gestik und D u k t u s
Bevor wir weitergehen, müssen wir schon u n d gerade hier an r i a n
unserer beiden Schreibmuster auf ein wichtiges Erkenntnismitte
hinweisen. Wenn Manierismus Ausdrucksgebärde eines bestimm-
ten Ausdruckszwanges ist, so wird m a n seine Gestik (Cicerosgestus
' Nach Aristoteles gibt Quintilian in orationis)' in den abstrakten Lineaturen der manieristischen
seiner Rhetorik eine minuziöse Ge-
bärdenJehre (0.C.XI.3). üemosthe-
Schreibmeister Nürnbergs besonders gut e r k e n n e n k ö n n e n . Man
nes bat seine Gebärden vor einem hat hier geradezu graphologisches Material zur D e u t u n g psychi-
Spiegel einstudiert. Kr tadelt die scher Voraussetzungen des Manierismus, E l e m e n t e für eine ma
übermäßig bewegten Gebärden als
<magis proprietates>, als Eigentüm- nieristisehe Ausdruckskunde. (Geste von gerere = tragen, aber
lichkeiten der Magier. auch zeigen, eine Weise, etwas zu zeigen, se gerere — sich zeigen.;
Dem manieristischen Gestus entspricht ein manieristischer Du
tus. Die Art, wie man einen Buchstaben malt, offenbart den Duktus
einer Gebärde. Man sieht also in konkreter Weise manieristischen
Gestus und Duktus, wenn m a n sich noch e i n m a l den angeführten
Buchstaben <W> ansieht und ihn mit dem <klassischen> Buchstaben
<M> vergleicht. Eines unserer Hauptgesetze ergibt sich auch aus
dieser Konfrontierung. Die manieristische D a r s t e l l u n g fugt hin 211 '
288 bereichert, überhöht. Durch Phantasiai verstärkt, verdunkelt sie
und übertreibt. Die Welt erscheint weder einfach, noch wird sie in
einfacher Weise dargestellt. Daher führt der Duktus der manieri-
stischen (iestik i m m e r wieder ins Labyrinth, in eine künstliche
O r d n u n g des (anscheinend) Krausen. Wirren. Versteckten, des un-
durchdringlich Beziehungsreichen, u n d zwar in der Kunst wie in
der Dichtung, in der Musik wie im Denken und im Lebensstil.
Wir wollen jedoch liier darauf verzichten, weitere Äußerungen
einer solchen »Ausdriu kskunde> zu verfolgen. Wir haben uns die
Aufgabe gesetzt, eine historische Entwicklung darzustellen und
eine manieristische Konstante in der europäisclien Literatur mit
Beispielen zu belegen. s Wir ziehen dieses empirische Verfahren " u , r manierisüsch« tanomene
vor. weil es uns vor Abstraktionen sichert, den Ursünden m a n c h e r mit (lim Mitteln der -Ausdrucks-
kuiide> untersuchen will, findet im
Literaturwissenschaft^ Wir werden dabei zunächst mit der Anti- Werk von Kiages, Ausdrucksbewe-
, . . . . . . j i i ,,. K""{! imil Gestaltungskraft (luui),
U
lese: Atti/.isinus - Asuunsmus onerieren, m der l lottuung. z u m ,, . , .,-, , .
r o einige nützliche begriffliche Voraus-
S c h l u ß e i n e Ü b e r z e u g e n d e I n t e g r a t i o n v o r t r a g e n ZU k ö n n e n . Setzungen. Empfohlen seien ferner:
Hermann Strehle. Mienen, Gesten
und Gebärden. 1954. Theodor Pide-
rit. Mimik und Physiognomik. 1925.
L.Binswanger. Drei Formen miß-
P i j 1 • 1 glückten Daseins. Tübingen 1956.
gnomik, W iesbaden m v
oetische Labyrinthe w aJlem: Rudol{ i u « r , |.|1>si„.
Kehren wir zu unserem Alphabet — nun als Literatur — zurück.
Wenn dem problematischen M e n s c h e n die Welt als Labyrinth er-
scheint und wenn Daidalos, wie wir noch sehen werden, als mvthi-

S I N « T E l> E I \ > M \ N l> I A C H K l< V M S V M M A 5 A I V I I §


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T r. v v K I I V t r. M A <; E n i * r.% i i n n K T I t U\R E NAT A
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flUASTKSI'l I I V I I Ä I ' K T K N T U K M I M I I I I I . I S O R H
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T E M E- O R A I, A E T 1% l> I. II I T l i II II I • F K I. I I I V » I F. V \ V
K ü « V r I. | c K H l*.E R M A K I %' It A R I II I H E 0 I « D II I. V K 1
T E P O M | x V MÜI A I. V K T r r l l T V A R E M l * E K \ U ti R A S T
n R A 8 V I K C \ V I V X T T II T I S I I I« I C % l> K K E R E II X I •
T v v1v s E T 1 r i T f y « i i l « N n i 1 KCLv T E L A E T I »
1» A R E % l ' O K « A H O N 11 R V, M | » E R H I 1 I S « I « % S O R tt I S
1 M f E « T I R F. T V V M r I. K l K l I E Ii E I A l> I» I l O x X V I X
» V N T S I A O E F E I. I 1- E * P V I I I T F. R </ V I» > A I. M E*l' V I It I
E X R f i V A R A T A I V O A N • M 1% R • T I P I V O R T I » »I \ ' N P I
o RBE M V K C E P A I I ESDETI. EOE*RONAVO 1 1\ T 1 •
f* R 1 X V I P E T K I KC l i r v i i O M I I I F E I. I r I V » A t % O
" ^ U I . A E T E S T V R K M J H E M I B v s A v R E A K 1 1» v Ä
289
sches Urbild der artifizieUen, labyrinthisehen O r d n u n g anzusehen
ist, so k ö n n e n u n d müssen schon B u c h s t a b e n - u n d Zahlenkombi-
nationen als elementare Mittel erscheinen, das Irrationale der Na-
tur durch das Rationale des Kalküls zu ü b e r w i n d e n . Doch soll in
solchen artifizieilen O r d n u n g e n gleichzeitig die Wunderbarkeit
des unauflösbar Widersprüchlichen erhalten bleiben! Wieder ein
dramatischer G r u n d z u g des M a n i e r i s m u s , der selbst im pseudo-
mythischen N u r - n o c h - S p i e l e n mit Buchstaben-Kombinationen
zumindest noch zu a h n e n ist. W i r werfen einen A n k e r in das Meer
von Geschichte, das u m u n s braust, u n d versuchen eine erste
Orientierung. Im J a h r e 1651 veröffentlichte der deutsche Jesuiten-
pater Eusebius N i e r e m b e r g zu M a d r i d in spanischer Sprache ein
merkwürdiges Werk. Es heißt <Occulta Philosophia de la Sympatia
yAntipatia>. Es handelt sich u m eine mystische Kosmologie, die bis
ins 19. J a h r h u n d e r t hin eingewirkt hat. J o s e p h Scheebens Interpre-
cf. <l)ie Mysterien des Christen- tation der katholischen Mysterien w u r d e davon beeinflußt. In die-
tums>, hg. von Josef Höfer, Freiburg
i.Br. 1043. Matthias Joseph Schee-
sem Werke Nierembergs, eines Zeitgenossen von Tesauro und
ben (18313—1888, bedeutendster Gracian, finden wir die Welt als <Laberinto P o e t i c o charakteri-
scholastischer Dogmatiker des siert. D e r W u n d e r b a u der N a t u r erscheint als eine Nachahmung
19. Jahrhunderts, Professor am Prie-
sterseminar in Köln) hat Nierem- der Kunst. Die Welt ist von Gott <gemacht>, in <artifizieller> Weise,
bergs Werk <Aprecio v Estima de la n a c h Formeln der Arithmetik u n d der Kunst, n a c h Urgesetzen von
divina Gratia> (Madrid 1638) ins
Deutsche übersetzt (Die Herrlich- Sympathie u n d Antipathie.
keiten der göttlichen Gnade). Zur U m aber das göttliche Verfahren g e n a u e r zu erklären, weist Nie-
Neuausgabe des gesamten Textes
von Josef Höfer Hervorhebung der r e m b e r g — in dieser E p o c h e des d a m a l i g e n Spätmanierismus — auf
<paralogischen Metaphern' und der die B u c h s t a b e n - L a b y r i n t h e eines r ö m i s c h e n Dichters aus konstan-
Unbefangenheit, mit welcher die
Bildersprache der Vater und die tinischer Zeit hin, auf Optatianus Porfyrius. Die <höchst künstli-
Sprache der •manieristischen> Theo- c h e m L a b y r i n t h e des Porfyrius, in der <Manier> von Buchstaben-
logen der nachtridentinischen Pe-
riode aufgenommen werden.
Reihen gebildet, erscheinen i h m <ingeniosissimi>, äußerst geist-
voll. In t a u s e n d labyrinthischen <maneras> sei also eine göttliche
H a r m o n i e e n t s t a n d e n , eine rätselhafte (labyrinthische) Ordnung
des Chaotischen. U n s interessiert vor allem, d a ß Nieremberg zur
E r k l ä r u n g dieser geheimnisvollen S t r u k t u r e n auf die antiken
Technopägnien hinweist, d . h . auf die B u c h s t a b e n - und Figuren-
Gedichte der Antike. W i r b e g e g n e n d a m i t e i n e m ersten formalen
V M a n i e r i s m u s , der aus der Antike s t a m m t , im Manierismus des
17. J a h r h u n d e r t s . Diese alten <poetischen Labyrinthe), die auf äl-
teste Kulturen, vor allem Ägypten u n d C h i n a , zurückweisen, haben
in der zeitgenössischen L i t e r a t u r zu e i n e m oft schwer entwirrbaren
Symbolismus angeregt. E i n e r ihrer Vorläufer, Mallarme, nannte
sein lyrisches Werk: <ein b l u m e n g e s c h m ü c k t e s Labyrinth>. Die Er-
z ä h l u n g e n des Spaniers Jorge Luis Borges (geb. 189g) haben den
b e z e i c h n e n d e n Titel <Aleph>, h e b r ä i s c h e Bezeichnung für den
"' cf. Teile daraus in <Merkur>. Buchstaben <A>.10 Diese in j e d e m S i n n e alexandrinischen Prosa-
München. Juli 1938. unter dem Titel stücke sind gongoresk, b e w u ß t n a c h Vorbildern des 17. Jahrhun-
<Der Garten der verschlungenen
derts stilisiert. L a b y r i n t h e schreiben h e i ß t anscheinend unentwirr-
Pfade>.
b a r e B e z i e h u n g e n herzustellen, den L e s e r in <magische> Welten
entführen. E i n symbolisches L a b y r i n t h wird - bei Borges - zu ei-
n e m m n s i c h t b a r e n L a b y r i n t h der Zeit>. G e d a c h t wird an ein L a -
byrinth der L a b y r i n t h e , an ein g e k r ü m m t e s , sich stetig ausdehnen-
des Labyrinth, das die Vergangenheit u n d Z u k u n f t umschließt und
die Sternenwelt in sich einbezieht).
Solche T e c h n o p ä g n i e n g e h e n zurück auf Alexandrien, auf den
ersten g r o ß e n S a m m e l p u n k t des asianischen Manierismus, die
Gegenwelt des Attizismus. Sie wurzeln i m alexandrinischen Neu-
platonismus. Die U r s p r ü n g e aber liegen in der Alphabet- und Zah-
lenmystik der semitischen F r ü h k u l t u r e n des Orients. Dieses kom-
binierende Prinzip h a t auch die Kunst der konstantinischen Zeit
290 beeinflußt. In der manieristischen L i t e r a t u r Spätroms wurde es zur
Mode, im manieristischen 1 7. J a h r h u n d e r t aber zu einer Zwangs-
vorstellung. In der deutschen <Barock>-Dichtung wimmelt es von
Buchstabenkünsteleien dieser Art.

Literarische Kuben
Labyrinthische Gesetzmäßigkeit! Im J a h r 1 704 veröffentlicht Joh.
Christoph M ä n n l i n g d e n E u r o p ä i s c h e n Helikon>, ein L e h r b u c h
der Poetik, angeregt durch das W i r k e n der M a r i n o - S c h ü l e r Hof-
m a n n s w a l d a u u n d Lohenstein. Beide bezeichnet M ä n n l i n g als
seine <Ariadne-Fäden>. W i e später M a l l a r m e , Valery, Benn geht er
Daniel Caspervon Lohenstein
auf die ursprüngliche B e d e u t u n g des griechischen Wortes <Poie-
(1655-1683), Kaiserlicher Rat und
tes> zurück; es k o m m t von <Machen>. Höchste Kunst des <poieti-
Syndikus zu Breslau
schen> M a c h e n s b e k u n d e m a n bei der Herstellung eines <Irrge-
dichtes>, eines <Cubus>, d.h. eines <Carmen Labyrintheum>, <wel-
ches in einen Irrgarten führt, u n d links u n d rechts, oben u n d unten,
überzwerch, in die Breite u n d L ä n g e gelesen wird. E s besteht aber
das ganze Kunststück in d e m allermittlersten Buchstaben, welcher
groß gesetzt steht, von d e m g e h e n h e r n a c h alle a n d e r e n in die an-
deren Linien ab, wie solches hier als E x e m p e l a m deutlichsten

§äerot
fcon Titelblatt einer Gedichtanthologie
von Hofmannswaldau. Leipzig
imt>anfcrcr£>eutfd)cti 1697
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291
/ / c e f s p e c n c e P s f e c i §
Inschrift auf dem Grabstein des
Fürsten von Silo in der Kirche San / c e f s P e c n • n c e P s f e c i
#
Salvador zu Oviedo
c e / 5 P e c n • r n c eP s f e c
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i c e f s •
P e c n n c e P s f e c i
*
t i c e f s P e c n c e P s f e c i t

kann zeigen, da wir die Worte nehmen wollen: Gott ist mein Trost.
Also in der Mitten G den Anfang zu lesen machet, und mehr als
4omahl können gelesen werden.) In Oviedo (Asturien) findet man
eine vom Fürsten Silo erbaute Kirche San Salvador. Der Grabstein
ihres Erbauers trägt eine Inschrift, die wie ein Geheimkode aus-
sieht. In der Mitte nach den vier Ecken t, t, t, t läßt sich der Satz
<Silo princeps fecit> auf 45 760 verschiedene Arten lesen.
Das geheimnisvolle <Magische Quadrat), Anagramme und Pa-
lindrome vereinigend, ist die berühmte Sator-Arepo-Formel.

s A T 0 R

A R E P 0

T E N E T

0 P E R A

R 0 T A s

Dazu kurze Erklärungen: Der Bauer (Sämann) Arepo (Eigen-


292 name) lenkt mit seiner Hand (Arbeit) den Pflug (Räder). Religi°se
Deutung: Gott (Sator) beherrscht (tenet) die Schöpfung (rotas), die
Werke der M e n s c h e n iopera) u n d die Erzeugnisse der E r d e (arepo
— Pflug). Die Wörter lassen sich zunächst horizontal u n d vertikal
viermal lesen. Aus den wenigen Ruchstaben hat m a n 13 a n a g r a m -
matische (lateinische) Sätze gebildet. Die Vereinigung der beiden
Wörter <tenet> in der Mitte bildet ein Kreuz. D u r c h Rösselsprung
ergeben sich die Wörter <Pater noster> u n d A O = das M o n o g r a m m
Christi usw. usw. Das Q u a d r a t galt daher als Zauberzeichen.
Unter Hinzufügen von Alpha und O m e g a (in lateinischen Buch-
staben) ergibt sich also:

A
P
A
T
E
R
A P A T E R N O S T E R O
O
S
T
E
R
O

Pangrammatische Kunstgriffe
Es gibt uralte formale M a n i e r i s m e n . Auch sie führen auf die grae-
co-orientalische Antike zurück. W i r k ö n n e n sie als manieristische
Grundformen, als das kleine Einmaleins gleichsam ansehen für
starke Spannungsverhältnisse zwischen N a t u r und Geist.
Älteste formale M a n i e r i s m e n in bezug auf Buchstaben-Kombi-
nationen sind die <lipogrammatischen> (z.B. Gedichte ohne den
Buchstaben <s> o.a.) u n d <pangrammatischen> Kunstgriffe (z.B.
möglichst viele aufeinanderfolgende Wörter mit demselben Buch-
staben). Eines der b e r ü h m t e s t e n p a n g r a m m a t i s c h e n Kunststücke
stammt von E n n i u s . E s lautet: <0 Tite, tute, Tati, tibi tanta, ty-
ranne, tulisti.> Ernst Robert Curtius findet - a u ß e r diesen beiden
formalen M a n i e r i s m e n u n d den Buchstaben- oder F i g u r e n - G e -
dichten - weitere vier <Hauptarten>. E s sind: 1. Die <logodaedalia>,
d.h. Verwendung von n u r einsilbigen Wörtern in Versen; oder je-
der Vers beginnt u n d endet mit e i n e m Monosyllabon, wobei das
Schlußwort jedes Verses als Anfangswort des nächsten wieder- tr&t mcu (fö*tKU cScjirtiL..
kehrt. 2. Das versfüllende Asyndeton, d.h. die Worthäufung im Qcrm.MU IruwfJ cirnuJus, OpiTrus

y Vers. 3. Die versus rapportati, d.h. <mehrere verschränkte Aufzäh-


lungen, in denen die meist in der Dreizahl vorhandenen Nomina, Martin Opitz (nach einem Stich von
J.v. Heyden. Straßburg). Das
Verba, Adjektive, adverbiellen B e s t i m m u n g e n usw. erst durch Auf-
lateinische Epigramm verfaßte
lösung der Verskombination in ihrer Zugehörigkeit zueinander er- Caspar Barth auf Wunsch des
kannt werden k ö n n e n , w ä h r e n d die hörbare Satzgestalt zu falscher Dichters. Es lautet: <So beschaffen.
Vorstellung verführt, zurücktritt u n d erst für das Auge abgewickelt Leser, war von Antlitz die
werden muß>. Ein Beispiel von Opitz: <Die Sonn', der Pfeil, der Phöbusbegeisterte Sirene, des
Wind, verbrennt, verwundt, weht hin / mit Feuer, Schärfe, Sturm, deutschen Liedes Fürst. Opitz.>

mein Augen, Herze, Sinn.> Aufzulösen: Die Sonn' verbrennt mit


Feuer m e i n e A u g e n usw. 4. D a s S u m m a t i o n s s c h e m a , d.h. Sum-
mierung aller Gedichtmotive im Schlußvers.
293
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Titelblatt zur Erstausgabe von
Martin Opitz: .Buch von der
Deutschen Poeterev>, Breslau 1624
MARTINI
OPITII

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-H (rtnMcr* to 23rfß(att>. 1 6 2 4 .

O Petrus — Proteus
Alle diese formalen Manierismen stammen aus der antiken Litera-
tur. Sie kennzeichnen insbesondere den noch ausschließlich rheto-
rischen Charakter der <Manierismen> der lateinischen Literatur
des Mittelalters. Sie tauchen aber auch in allen späteren manieri-
stischen Epochen wieder auf, wobei sich allerdings, wie wir später
sehen werden, eine fortschreitende Verwandlung und schließlich
eine Preisgabe der überlieferten, der attizistischen rhetorischen
Rezepte ergibt. Dies zu verfolgen und zu belegen, gehört zu den
wichtigsten und reizvollsten Aufgaben einer Phänomenologie und
Geschichte des literarischen Manierismus. Die Liste formaler Ma-
nierismen wird zwangsläufig länger werden.
Das manieristische Streben nach Wirkung und Verblüffung, die
meraviglia Marinos, führt also zu einem ersten elementaren <Han-
tieren> mit Buchstaben. Nur einige Beispiele aus der dazu beson-
ders geeigneten lateinischen Sprache! Paronomasie: amans -
amens = verliebt = verrückt. Gleichklang bei verschiedener Vokal-
länge und Bedeutung: malo malo malo malo. (Ich möchte lieber ein
294 Apfelbaum sein als ein schlechter Mann im Unglück.) Hinzutreten
und Wegfall eines Buchstabens: Amore, more, ore, re coluntur ami-
citiae. (Durch Liebe, Sitte, Wort u n d Tat werden Freundschaften
gepflegt.) A n a g r a m m e : Aus <Roma> lassen sich durch Umstellen
der Buchstaben verschiedene Wörter bilden: Roma amor anno
maro mora oram ramo. Aus <Berolinum> (Berlin) wird <lumen orbi>.
Aus dem Englischen G r u ß werden durch A n a g r a m m e 1200 L o b -
lieder auf Maria gemacht. Aus d e m schwankenden O Petrus wird
<Proteus>. B e r ü h m t war der Vers von Bernard von Banhuysen: <Tot
tibi sunt dates, Virgo, quot sidera caelo>. M a n hat ausgerechnet,
daß m a n diesen Vers i 0 2 2 m a l umschreiben, n e u kombinieren
könne, der Zahl der damals b e k a n n t e n Gestirne entsprechend. Er
hieß deswegen <Das homerische Wunder>.
Es k o m m t aber eine weitere Tendenz hinzu: die gewollte Ver- Giambattista Marino (1569— 1625).
dunkelung, das B e m ü h e n u m ein geheimnisvolles Chiffre-System, Stich nach einem Gemälde von
um verbergendes Bedeuten. Novalis: <Rätselweisheit oder die Leoni
Kunst, die Substanz u n t e r ihren Eigenschaften zu verbergen.> Bal-
tasar Graciän preist in seinem schon e r w ä h n t e n Traktat <Agudezay
Arte de Ingenio> die Technik der Buchstaben- und Wort-<Verdre-
hung>. Auf diese Weise erzeuge m a n Wort-<Labyrinthe>. Die
Buchstaben u n d Silben k ö n n e m a n so vertauschen, d a ß sich eine
<Nueva y misteriosa significaci6n> ergibt. A n a g r a m m e u. ä. dienen
also nicht n u r d e m Spiel, d e m Vergnügen, d e m nur b a n a l e n Witz.

2. S P R A C H L I C H E S
DOPPELLEBEN

<Ehrliche Verstellung)
Künstlichkeiten dieser Art dienen einem verbergenden Esoteris-
mus, genauso wie die d a m a l s so geschätzte Hieroglyphik u n d E m -
blematik. Buchstaben-Kombinationen w e r d e n in den verschiede-
nen Formen des literarischen M a n i e r i s m u s im E u r o p a des
17. J a h r h u n d e r t s (in S p a n i e n Conceptualismo, Cultismo und Gon-
gorismo, in E n g l a n d Euphuism, in Italien Marinismo, in Frank-
reich Preciosite, in D e u t s c h l a n d <Vernunft-Kunst>) auch zu M e t h o -
den, u m eine doppelte sprachliche Schicht zu erzeugen, einen
sprachlichen Doppelsinn, eine sprachliche Ver-Stellung. Z u m L e -
bensstil der E p o c h e gehört die so vielfach angepriesene Verstel-
lung des persönlichen Verhaltens. M a n lebt auf zwei E b e n e n , einer
intim-persönlichen u n d einer öffentlich-gesellschaftlichen. Diese
auch charakterliche Esoterik u n d Exoterik bilden ein G r u n d t h e m a
im <Handorakel> von Graciän. E i n italienischer Dichter, Torquato
Accetto, schrieb 1641 eine Schrift über die <Dissimulazione one-
sta>, die ehrliche Verstellung. Gepriesen wird die Kunst der Verstel-
lung. M a n soll <änigmatisch> sein u n d <hintergründig>. Ja, die
Schönheit ist nach Torquato Accetto nichts anderes als eine <lie-
benswürdige Vorstellung) (<Tutto il bell o non e altro che u n a gentil
dissimulaziono). Graciän erkennt Göngora, der n e b e n Shake-
speare u n d J o h n D o n n e a u c h für uns noch der größte Lyriker des
1 7. J a h r h u n d e r t s ist, als Meister an, weil er <con m u d a r alguna le-
tra>, mit der U m s t e l l u n g einiger Buchstaben höchste Wirkungen
erziele. D u r c h die Verstellung von Buchstaben k ö n n e m a n vor al-
295
lern rätselhafte <correspondencias>, Entsprechungen, erzeugen.
Sogar theologische Mysterien würden uns avif diese Weise er-
schlossen. So wird aus <Dios> (Gott) <Di> <os> (Gib uns) z.B. das
Leben, das Sein usw. Es entstehen auf diese Weise geistvolle Zwei-
deutigkeiten (<Equivocos ingeniosos>). Wort-Labyrinthe sind so-
mit nicht n u r Ausdruck einer höchsten Subtilität. Sie dienen auch
einer Verschlüsselung der Welt.

Geheimbotschaften
In den Tragödien und Komödien Shakespeares wimmelt es nicht
nur von Wortspielen. Durch Buchstaben-Kombinationen u n d ge-
\ \ illiam Shakespeare heime Wortentsprechungen soll es darin ganze <Geheimbotschaf-
(1 5 6 4 - 1 6 1 6 ) ten> geben. M a n bemüht sich seit vielen J a h r e n u m ihre Entziffe-
rung. Bis 1950 sind darüber H u n d e r t e von Büchern erschienen.
M a n hat aus solchen Chiffren vor allem herauslesen wollen, daß
Bacon sich als Verfasser einzelner Stücke enthüllt. Vor kurzem ist
über diese chiffrierten Geheimbotschaften im Werke Shakespea-
res ein neues scharfsinniges Werk erschienen.
Es gibt eine europäische Kryptologie und Anigmatologie am
Rande der Literatur, aber auf die Literatur stärker einwirkend als
der Nicht-Adept glaubt. Die <Geheim>-Schriften stehen besonders
im 16. u n d 17. Jahrhundert in hoher Blüte. L e o n a r d o ist auch hier
der unerreichte Ahnherr. Reuchlin hat eine Geheimschrift entwor-
fen. Galilei schrieb an Kepler chiffrierte Briefe über seine E n t d c k -
kungen. Von Trittenheim gibt es eine <Polygraphia> mit <Clavis>.
Meist handelt es sich u m Buchstaben-Kryptogramme, d.h. jeder
Buchstabe kann mit einem anderen vertauscht werden. Das b e -
rühmteste Chiffre-System hat Lord Francis Bacon entwickelt. 11
Dazu gehört schon ein <Alphabet mit zwei Buchstabens Bacon er-
L e o n a r d o da Vinci: Polvhedron (aus
d e m Codex Atlanticus. 263 r-b)
läuterte sein System mit folgenden Worten: <Die Chiffre hat die
Eigenschaft, daß durch sie irgend etwas als irgend etwas bezeich-
net werden kann.> Hier findet m a n zumindest einen Schlüssel für
die Mentalität Hamlets, für die Vertauschbarkeit von Leben u n d
Spiel, von Traum und Wirklichkeit... im <Schnittpunkt> der
<Phantasie>. Athanasius Kircher schuf die erste praktisch brauch-
bare Kode-Schrift in seiner <Polygraphia nova et universalis) (Rom
1665), einem der heute am meisten gesuchten Bücher dieses uner-
schöpflichen deutschen Jesuiten. Ein Lehrbuch der Kryptographie
schrieb (1665) ein anderer deutscher Jesuit, Gaspar Schott, die
<Schola Stenographica>.
Novalis fragt: <Sollten . . . die Kräfte die Verba . . . Dechiffrie-
rungskunst sein?> Im 20. Jahrhundert entwirft Karl Jaspers seine
" <Of the Advancement of L e a r n -
ing>. 1609. u n d <De Auginentis Philosophie als ein System z u m Lesen der <metaphysischen
Scientiaruin». 1625. Chiffre-Schrifb. Das Lesen von Poesie w u r d e schon früh zu einer
'-' Rom 1540. Über die ursprünglich Dechiffrierungskunst. Die Tendenz des Versteckens u n d Verber-
kultische Bedeutung des Rätsel- gens kann in extrem verspielten Fällen sogar zur <Poesie> des Re-
spiels cf. J o h a n Huizinga, H o m o Lu-
d e n s . Reinbek bei H a m b u r g 11)87.
bus-Rätsels führen, wie in den <Sonetti figuratb von G.B. Pala-
12
p. 108ff. ( = re 455). tino

296
Buch staben-Zauber er
Arthur R i m b a u d h a t eine <Alchimie du Verbe> geschrieben und in
einem Gedicht <VoyeIles> die Farben der Vokale (z.B. A noir, E
blaue usw.) durch Farben charakterisiert. In seiner <Alchimie du
Verbe> schreibt er: <Je notais l ' i n e x p r i m a b l o (<Ich schrieb das Un-
aussprechbare nieder>). <Ich erklärte m e i n e magischen Sophismen
mit der Halluzination der Wörter.) M a l l a r m e hat den Dichter
einen <Buchstaben-Zauberer> g e n a n n t und in einem Brief die
<Alchimisten> als <Vorfahren> bezeichnet. Kennzeichnungen von
Buchstaben durch Farben findet m a n schon in alten tibetischen
Sekten. Über B u c h s t a b e n - M a g i e h a b e n neben vielen anderen zeit-
genössischen Autoren auch J ü n g e r u n d Benn geschrieben. <Wenn
Sie in Zukunft auf ein Gedicht stoßen>, empfiehlt Gottfried Benn,
<nehmen Sie bitte einen Bleistift wie b e i m Kreuzworträtsel.) Der
Dichter <besitzt einen Ariadnefaden). Jeder M e n s c h hat ein beson-
deres Sensoriuni, <es gilt der Chiffre, i h r e m gedruckten Bild, der
schwarzen Letter, nur ihr alleim. D e r Erfinder des heutigen <Let-
trisme>, Isidore Isoü (geb. 1925 in R u m ä n i e n ) , schreibt in einem
Traktat: <Die Zentralidee des Lettrisme geht davon aus, daß es im
Geiste nichts gibt, was nicht Buchstabe ist oder Buchstabe werden
kann.)
Die Traktatisten des literarischen Manierismus im 17. J a h r h u n -
dert empfehlen als besonders wirkungsvolle maniera ausdrücklich
die künstliche Buchstaben- u n d Wort-Verbindung. Nichts darf
einfach sein, schreibt Matteo Peregrini in seinem Traktat <Delle
Acutezzo (1639), s o n d e r n es m u ß auf das <grandemente raro> ge-
achtet werden, auf das höchst Seltene. Concettistisches Schreiben
heißt über <maniere di legamento> verfügen. <Schöne Dinge wer-
den gemacht.) Gottfried Benn schreibt: <Ein Gedicht wird ge-
macht.) Manieristisches Dichten heißt souveräne Beherrschung
einer sprachlichen Verbindungskunst, ein wissendes, geistig be-
stimmtes Dichten. D a h e r wird Dichtkunst für P a u l Valery eine
<fete de l'intellect), eine Feier des Geistes.
Dichten hat im 17. J a h r h u n d e r t vielfach wenig m e h r mit dem
klassischen Mit-teilen zu tun. Dichten heißt in erster Linie ästheti-
sches Wirken durch sprachliche Kombinationen. Das ist eine wei-
tere entscheidende Feststellung für den gesamten europäischen Initialen aus Paris.
um 1568
Manierismus, vom antiken <Phantasiai-Asianismus>, von der spät-
römischen Literatur, von der spätmittelalterlichen Dichtung über
die Epoche Göngoras, Marinos, D o n n e s , Shakespeares, Harsdörf-
j e r s , der zweiten schlesischen Dichterschule bis zur romanischen
und germanischen Frühromantik, zur <antiklassischen> und <anti-
idyllischen> Lyrik von 1880 bis heute. 1 5 Dj^jVlittel der Mitteilung,
die Sprache, der Buchstabe, das Wort, die Metapher, der SatzTdie
13
Periode, die lyrische Sinnfigur (concetto) w e r d e n autonom. Es wird Dichter der europäischen Roman-
s
tik und der deutschen Frühromantik
auf ihren ursprünglichen Funktionswert verzichtet. Novalis: <Die greifen auf die Traditionen ver-
Kraft ist der u n e n d l i c h e Vokal, der Stoff der Konsonant.) <Es kön- schlüsselnder Wort-Kombinationen
zurück, insbesondere auf solche des
nen Augenblicke k o m m e n , wo A B C - B ü c h e r . . . uns poetisch er- 17. Jahrhunderts. So Friedrich
scheinen.) Schlegel. Clemens von Brentano.
Victor Hugo. Richard Wagner.
Das b e w u ß t e H a n t i e r e n mit <rein äußerlichen) Buchstaben-
Kombinationen beobachtend, sind wir schon auf den D r a n g zur
Verschlüsselung, Verdunkelung, Verstellung gestoßen. Wir fan-
den eine G r u n d t e n d e n z : das b e w u ß t e , wissende, <machende>
Dichten. Wir b e g e g n e n schon am E n d e dieser Motivkette weiteren
Elementen.

297
Georg Philipp Harsdörffer <der
Spielende» (1607-1658). Stich von
Joachim von Sandrart

Virtuosität und Extremismus


Bewußtes Hantieren? Absichtliche Verschlüsselung! Es gibt auch
eine andere maniera, ja, eine artifizielle <Mania> der klanglichen
Beziehungen im Sprachlichen. Der Kryptographie entspricht eine
Art lyrisch-verblüffender: Phono-Graphie. Einer unserer m a ß g e -
benden Literaturtheoretiker des 17. Jahrhunderts, E m a n u e l e Te-
sauro, hat in seinem <Aristotelischen Fernrohr> eine regelrechte
Buchstaben-Ästhetik, ein phonetisches Instrumentarium für m a -
nieristische Virtuosen geschrieben. Die Tonqualität aller Vokale
u n d Konsonanten wird genau bezeichnet, klangmalerische Wir-
kungen, d.h. <Sympathien> u n d <Antipathien>, die zwischen L a u -
ten bestehen, werden beschrieben, wirkungsvolle Klang-<Konkor-
danzen> u n d <Dissonanzen> empfohlen. Seitenlang werden alle
erdenklichen maniere dargestellt. Das geht bis zum onomatopoeti-
schen Extremismus einer p u r e n Buchstaben-Lyrik, sozusagen
eines Lettrisme avant la lettre. So preist Tesauro die <metrischen
Noten> seines Zeitgenossen Mario Bettini, dessen Nachtigall-
Gedicht, nach welchem m a n nicht m e h r wisse, ob dieser Vogel ein
298 Dichter sei oder der Dichter ein <rosignuolo>.
Die von Tesauro zitierten Verse Bettinis lauten:

Quito, quitö, quitö, quitö


quito, quitö, quitö, quitö,
zizizizizizizizi
1
quoror tiü zquä pipique. o.c.p.104. Vorbild dafür Aristo-
phanes, Die Vögel. 1 .Akt
Das ist liebenswürdiger E x t r e m i s m u s , virtuoses Gesellschaftsspiel,
oft n a c h g e a h m t von d e n N ü r n b e r g e r Pegnitzschäfern, die auch alle V
anderen p a n g r a m m a t i s c h e n Künsteleien k e n n e n . Sie ü b e r n a h m e n
diese vor allem aus Italien, insbesondere aus dem Werk Marinos,
des Musterautors Tesauros. 1 : i Hier ein Beispiel aus Harsdörffers ' ' I n den «Fraueiizimniergesprä-
*
chen> Harsdörffers (um 1620) finden
Schäferoper <Seelewig>: sich unter 849 angeführten Büchern
210 italienische, 250 deutsche, 124
Welt-witterndes Wetter. Kriegnebelnde Düfte, französische. 101 niederländische.
mordgleißendes Eisen, b r a n d s c h m a u c h e n d e Not, 85 spanische. 19 englische. 60 antike
Autoren. (Aus W.Kayser. o.e.) Zu
blitzspeiende Keile, keilrollende Lüfte . . . Marino in Deutschland vgl. cRivista
di Lett. Tedesca>. Jg. IV. Nr. 1—6.
Solche Bravourstücke n a n n t e Harsdörffer bezeichnenderweise Er-
1
gebnisse einer <Vernunft-Kunst>. lü Festschrift zur 250. Jubelfeier des
Pegnesischen Blumenordens. Nürn-
berg 1894.

Leporismus
Durch den Vokalreichtum der Sprache erreichte m a n in Italien
stärkere Effekte u n d kunstvollere Kombinationen. Schon am An-
fang der wiederauflebenden antiken u n d mittelalterlichen M a n i e -
rismen steht Luigi Groto (1541—1581) mit seinen <Rime>. Er gehört
zu den ersten u n d k ü h n s t e n Buchstaben- u n d Wort-Ingenieuren
des italienischen 16. J a h r h u n d e r t s , M a r i n o bewunderte ihn. Seine
Glanzleistung ist ein Sonett mit 52 R e i m e n . P a u l Valery, der d e n
leoninischen, den mehrsilbigen Reim schätzte, m ü ß t e Groto u m so
m e h r in sein P a n t h e o n a u f g e n o m m e n h a b e n , als dieser ausdrück-
lich erklärte, der G e g e n s t a n d eines Gedichts sei völlig gleichgültig.
Hier nur die erste Strophe dieses b e r ü h m t e n Sonetts:

A un tempo t e m o , e ardisco et ardo et agghiaccio


quando a l'aspetto del mio a m o r m i fermo
e stando al suo cospetto, a l'hor poi fermo
God o, gemo, languisco, guardo e tacio.

Zu beachten sind a u c h die Alliterationen u n d im vierten Vers das


Summationsschema. Ein vollendetes Beispiel für einen manieristi-
schen Versifex.
Verwegener, ingeniöser, daidalisch im Sinne eines <fabbricare>
von Versen, sehen die Erzeugnisse des italienischen Lyrikers L o -
dovico Lepaceo aus, erschienen zu R o m im J a h r e 1634. Sein an
dichtende <Tollheit> grenzendes H a u p t w e r k heißt <Decadario Tri-
metro>, u n d m a n wird an Graciäns Wort erinnert, laut dem <jedes
Talent (ingenio) einen G r a d von Wahnsinn>, enthalte, oder an Te-
sauros Sentenz, es seien im G r u n d e die Irren besonders geeignet,
schöne (paralogische) Verse zu m a c h e n . Leporeo n a n n t e sich selbst
einen <Erfinder der Alphabetischen Poesie>. Was bei Harsdörffer Emanuele Tesauro
noch <Vernunft-Kunst> war, wird bei Leporeo durch ein Z u s a m - (1592-1675)

mentreffen von Virtuosität u n d E x t r e m i s m u s zu einem fast <mo-


dernem verbalen A u t o m a t i s m u s .
Der Autor erklärt in e i n e m Vorwort zu seinem abstrusen Werk
ausdrücklich, er h a b e sich v o r g e n o m m e n , <die italienische Lyrik
schwierig zu gestalten). Die absichtsvolle Verdunkelung ist viel-
leicht nur von M a l l a r m e so offen ausgesprochen worden (<ajouter
un peu d'obscurite>, etwas Dunkelheit hinzufügen). Leporeo will 299
1 io <Zehner> in 1100 Versen bilden, u m damit 3300 <Korrespon-
denzem zu erhalten. Der Vokalklang ist <zentral>, der Inhalt n e b e n -
sächlich; m a n kann konventionelle T h e m a t a n e h m e n ; der sprach-
liche Effekt ist entscheidend. Nachfolgend ein <Deca-Tredeca-
Sillaba>. Sie müßte den jungen Hugo Ball, als er noch Dadaist
war und für die <magisch gebundene Vokabeb schwärmte, ent-
zückt haben. Man m u ß das Gebilde allerdings mit den O h r e n u n d
mit den Augen aufnehmen, denn das Spiel mit L a u t e n läßt sich
nicht übersetzen. Der Inhalt aber ist banal.
Sudo ignudo, egro, e negro, entro u n a cella
Cufa stufa, ove piove il grano e spilla,
Mentre il ventre, ivi, a rivi, il sangue stilla,
Grido e strido, asmo, spasmo, e muio in quella.
Apollinaire, der (in <Alcools>) Worthyperbeln liebte, hätte gewiß an
folgenden Versen unseres Virtuosen der a l p h a b e t i s c h e n Poesie>
Gefallen gefunden:
Non Bärbaro Reobarbaro, Barbärico
puö guarire il martir mio mio misenterico
Se non mi sfoio, muoio Climaterico,
Ne mi risäna il male äna d'Agärico.
Leporeo war zu seiner Zeit als leidenschaftlicher <Anti-Klassiker>
Mitglied der <Accademia dei Fantasticü. Als Begründer der <neuen
Poesie>, des <Leporismo>, wurde er ebenso bewundert wie ge-
1
cf. auch Leporeos Werk: Centena haßt. 1 Die antike Ästhetik der <Phantasia> wiederholt sich in selt-
distica, dactylica, hexametrica, rith-
raica, alphabetica, vocalia. conso- samer Landschaft.
mintialia. Rom 1652. In lat. Sprache. Leporismus, wenn auch im edelsten Sinne, begegnet m a n im
Buchstabenkünste als Ausdruck ei-
ner • liuuuae libertas>. Werke eines der größten <modernen> Dichter Englands, in m a n -
chen Gedichten von Gerard Manley Hopkins (1844—1889). Es
m u ß a n g e n o m m e n werden, d a ß Hopkins (als Jesuit) Graciäns
Werke gekannt hat. Sein <Inscape>-Begriff entspricht d e m <Dise-
gno Interno> Zuccaris. Der beste Freund von Hopkins, Robert
Bridges, tadelte den <Manierismus> dieses einzigartigen Vorläufers
der neueren <modernen> Poesie Englands. Hopkins hat diesen Ma-
nierismus als <parnassische Sprache> bezeichnet. <Alle manieristi-
schen Schulen sind groß im Hervorbringen von Parnassischem.>
Es sei allerdings nicht <im höchsten Sinne Dichtung>. Es werde
<auf und von der geistigen E b e n e eines Dichters gesprochen, nicht
aus Inspiration>. Große Dichter hätten alle ihren eigenen, <parnas-
sischen Dialekt). Darin liege ihr <Manierismus>. E s gebe jedoch
eine höhere Art von manieristischem Parnassisch. Hopkins n e n n t
Poesie dieser Art <kastalisch>. D e n höchsten Rang n i m m t die <del-
phische> Dichtung ein, mit ihrer Sprache des <heiligen Bezirks>. Da
es eine vorzügliche Übersetzung der Werke von Hopkins gibt, er-
scheint es angemessen, zu seinem manieristischen (parnassischen)
<Leporismus> wenigstens zwei kurze Beispiele zu geben.

L a ß Leben, erloschen, oh laß Leben ab-


Weifen seine ehdem gesträhnte geäderte Vielfalt auf,
Ganz auf zwei Spulen; trenne, dränge, pferche
Sein Alles n u n in zwei Herden, zwei H ü r d e n — schwarz-weiß;
Recht, unrecht; erwäge nur noch, achte n u r noch,
Bedenke nur
Noch diese zwei; merk eine Welt, wo n u r diese zwei zählen,
Eines abstößt das andere; einen Marter-Rocken,
Wo selbstgewunden, selbstgebunden, Scheide- u n d schutzlos,
Gedanken wider Gedanken dumpf ächzend
300 Knirschen.
Den letzten Vers noch in englischer Sprache, weil d a n n die Kombi-
natorik von Silben u n d Buchstaben (viel m e h r als bloße Allitera-
tion) stärker e r k e n n b a r wird: <Where, selfwrung, selfstrung, sheate
— and — shelterless thoughts against thoughts in groans grind.> 18 ' " A n s <S|>elt Crom Siljyl 's Leaves>
Übersetzt von Ursula Clemen,
Sein Gedicht über die <Waldlerche> rückt ihn noch m e h r in die o.e. p. 140.
Nähe von Leporeo oder Bettini — der auch Jesuit war. Die ersten
vier Zeilen hier n u r englisch:

Teevo, cheevo cheevio chee:


O where, what can thät be?
Weedio-weedio: there again
So tiny a trickle of song-strain.

D a n n aus der Mitte des Gedichts folgende Verse:

The ear in milk, lush t h e sash,


And crush-silk poppies aflash,
The blood-gush blade-gash
Flame-rash rudred
Bud shelling or b r o a d - s h e d
Tatter-tassel-tangled and dingle-a-dangled
D a n d y - h u n g dainty h e a d .

Die meisterhafte Übersetzung von Ursula C l e m e n lautet:

Die Ähre milchreif, saftig die Schärpe,


U n d knitter-seidiger M o h n aufblitzend,
Das wie spritzendes Blut, klaffender Schwerthieb
F l a m m e n - r a s c h hochrot
Die Knospe sprengende oder breit-gespreitete
Fetzig-quastig-verwirrt u n d hin- und h e r b a u m e l n d
Stutzerhaft h ä n g e n d e zierliche H a u p t .

M a n vergleiche aus J.Peletiers (151 7 - 1 5 8 2 ) <ArtPoetique> (1555)


eine andere <parnassische> N a c h a h m u n g des Vogelsangs:

Declique u n li clictis
Tretis petit fetis
Du pli qu' il multiplie
II siffle au floc flori
Du buisson, favorit
D ' E c o qui le replie. 1 9 '" H o p k i n s hat verschiedene E c h o -
Verse, so z.B. o . c . p . 8 8 . p. 1-6. Fast
für alle formalen Manierismen ist
H o p k i n s eine F u n d g r u b e .
Schließlich einige Verse aus d e m b e r ü h m t e n Lerchengedicht
Giullaume du Bartas' ( 1 5 4 4 - 1 5 9 0 ) : <La gentile alouette avec son
tirelire / Tire l'ire ä l'ire e tire lirant tire / Vers la voute du ciel / Puis
son vol vers ce lieu / V i r e , et desire adieu Dieu, adieu Dieu.> 20 U n d -"'.La S e m a i n e . . V. Tag. Mit Bei-
spielen dieser Art aus 2=, J a h r h u n -
aus dem <Kleinen Bestiariurm von J o h a n n Klaj ( 1 6 1 6 - 1 6 5 6 ) : derten manieristisrher Dichtimf;
könnte m a n ein dickes Buch füllen.
Die L e r c h trierieret ihr Tiretilier,
es binken die F i n k e n den Buhlen allhier.
Die Frösche coaxen u n d wachsen in L a c h e n ,
rekrecken, mit Strecken sich lustiger m a c h e n ,
es k i m m e r t u n d w i m m e r t der Nachtigall Kind,
sie pfeifet und schleifet mit künstlichem Wind.

3 0 1
<Cabala simplex>

Johann Christoph Männling, der bereits genannte Literaturtheo-


retiker der zweiten schlesischen Dichterschule, preist seinerseits in
seinem E u r o p ä i s c h e n Helikom: <Kabbalistische Kunststücke). E r
belehrt über «eine neue Zierlichkeit, da m a n nach der Aritmetico
des ABC setzt u n d nach demselbigen eine R a h m e n s e n t e n z oder
Spruch ausrechnet). Es handle sich u m <Cabala simplex> u n d
<communis> oder auch u m <Poesia artificialis>. M ä n n l i n g ist sich
also bewußt, daß er sich schon sehr weit von der noch mythischen
Kabbala, von der noch Näheres zu lesen sein wird, entfernt hat.
<Cabala simplex>! Männling bietet eine Tabelle mit Buchstaben -
und Zahlenreihen zur künstlichen Erzeugung von Spruch- u n d
Nainenspoesie. Er macht selbst auf diese Weise ein Gedicht u n d
nennt das Ganze einen <Spiegel>, der <uns die Seligkeit u n d wahres
Leben zeigt>. Wir werden an Parmigianinos Selbstporträt im Kon-
vexspiegel erinnert, am Anfang des neuzeitlichen Manierismus.
M ä n n l i n g lobt auch andere <Paragrammata>, so z.B. Palin-
drome, <Rücklinge>, Sätze, die m a n von vor- u n d rückwärts lesen
kann. Sie wurden zwischen 1910 u n d 1920 im Z u s a m m e n h a n g mit
dem literarischen <Konstruktivismus>, vor allem in Rußland, wie-
der Mode. Solche <Rücklinge> sind in deutscher Sprache schwierig.
Männling gibt ein Beispiel: <Gewiß sie rette, reiß sie weg. > Aus dem
Englischen: <Madam, I'm Adam>. Oder: <Was it a cat I saw>. Ein
anderes von Schopenhauer lautet: <Ein Neger mit Gazelle zagt im
Regen nie.> In der zeitgenössischen m o d e r n e n Dichtung Frank-
reichs hat m a n ganze Gedichte in der Form von Rücklingen ver-
faßt. Dafür nur ein Beispiel, u n d zwar <Adam> in drei P h a s e n :
1 Bizarre». Paris \ r . Vlll. Juli 19=>7 Un Nu / Ne de l'Eden / Noble, bei, bon. 2 1
Rein assoziative Kunst> dieser Art h a t Hugo Ball nach seiner dadai-
stischen Zeit als <Blendwerk und Diabolik> bezeichnet. <Eine rein
bildnerische Antithese zur Natur u n d zum Geschehen ist nicht auf-
rechtzuerhalten.)
Wir haben es hier wieder mit <sinnfreien Lineaturen) zu tun, mit
solchen grotesker Art, wie sie uns aus der Geschichte der manieri-
stischen Kunst bekannt sind. Die (oder das) Groteske wird heute
von der Literaturwissenschaft als kontinuierliche <Gattung> in der
cf. die lehrreichen Untersuchun- europäischen Literaturgeschichte angesehen. 2 2 Sie gehört seit der
gen von W.Kayser, Das Groteske.
Seine Gestaltung in Malerei und Antike zu einem der beliebten Ausdrucksmittel des Manierismus.
Dichtung. Oldenburg 1957 und rde Die kunstvolle Irregularität des Asianismus steht gegen die kunst-
Bd. 10-. Reinbek b. Hamburg i960.
Mit den Forschungen von Schnee- volle Regularität des Attizismus! <Witz (ingenio) ist das spielende
gans über den <Sprachbrei' der Re- A n a g r a m m der Natur>, schreibt J e a n Paul in der «Vorschule der
naissance-Satire als ergänzend zu
diesem Motiv im Manierismus.
Ästhetik). <die Phantasie ist das Hieroglyphen-Alphabet dersel-
Dazu auch: Theophile Gautiers ei- ben.) Phanta-<siai>! <Der wahre Reiz des Wortspiels) ist nach J e a n
genwilliges Werk: <Les Grotesques>.
Paul <das Erstaunen über den Zufall, der durch die Welt zieht, spie-
Paris lriy-v
lend mit Klängen und Weltteilen), die <daraus vorleuchtende Gei-
stesfreiheit, welche imstande ist, den Blick von der Sache zu wen-
den gegen ihr Zeichen hin>. Elementare Strukturen dieser Art
überdauern, in rein formaler Hinsicht, wechselnde epochale Stil-
moden und verschiedenartige historische Situationen.

302
Von Z bis A u n d von A bis Z
Neorhetorisch erscheint z. B. das <pangrammatische> Gedicht ei-
nes der bedeutendsten zeitgenössischen Lyriker Italiens, Edoardo
Cacciatore, in seinem Gedichtband <La R e s t i t u z i o n o . Der erste
Buchstabe des ersten Worts ist <Z>; jeder weitere Anfangsbuch-
stabe des ersten Worts der nächsten Zeile folgt der Reihenfolge des
Alphabets bis A. Jeder Vers weist a u ß e r d e m starke Alliterationen
auf. Sie w e r d e n von d e n jeweiligen ersten Buchstaben des ersten
Worts lautlich bestimmt. Nachfolgend als Beispiel die ersten vier
Verse, als lyrische Buchstaben-<Musik> zu werten.

Zampilla u n o zodiaco da ogni zero


Vieni vieni verso la via che va al vero
Unisci l'udito a l l ' u n a n i m e universo
Tempera alla tastiera u n tuo t e m a terso. Usw.
. u_ 1
^ Quirin K u h l m a n n (1651—1689) schreibt ein <Güldenes L e b e n —
A B C des Freitags>. E r freilich geht noch von A bis Z, nicht von Z
bis A. Der formale M a n i e r i s m u s also ist der gleiche, aber unsere
<Moderne> irrationalisiert ihn, wie wir noch deutlicher sehen wer-
den; sie stellt ihn auf den Kopf. So schrieben Vertreter der russi-
schen Avantgarde des 20. J a h r h u n d e r t s <Rücklinge>, Verse, die
man, wie wir wissen, auch von hinten nach vorn lesen kann, und sie
malten Bilder, die, auf den Kopf gestellt, ebenso einen <Sinn> erge-
ben wie in normaler L a g e .
Die letzten vier Verse des Gedichts Quirin K u h l m a n n s lauten:

Wahrhaftig wie der ist, von d e m du, Mensch, bist geworden,


X gleichend, d e m das X entreißt den Kreuzesorden,
Y ähnlich, Drei in eins, im Gottesbilde nett,
Zeitleer an Jesus Brust, der sei Dein A u n d Z.

Worte ohne Folge


Im zeitgenössischen Frankreich w u r d e die Buchstaben-Lyrik ent-
husiastisch wiederaufgegriffen, allerdings meist als aggressives
Mittel gegen klassizistische Ästhetik, gegen n u r sentimentale Ro-
mantik und akademische Routine. Die <alogischen> Silbenassozia-
tionen des D a d a i s m u s regten zu einer <Nonsense>-Poesie an, die
schließlich im <Lettrisme>, dessen spezifische M e r k m a l e wir auch
zur Unterscheidung noch k e n n e n l e r n e n werden, verendete. In
einem Gedicht <Die Arbeit des Dichters> von P a u l E l u a r d
(1895 — 1952) heißt es voller W e h m u t : <On arrive bien vite / aux
mots egaux / aux mots sans p o i d s / P u i s / a u x m o t s sans s u i t o D o c h
Eluard, der wie Apollinaire noch die hermetische Tradition kennt,
findet i m m e r wieder zu den eleganten Vorbildern der Preziosität
zurück, zu den Preziösen des 17. J a h r h u n d e r t s . Viele seiner schön-
sten Verse ü b e r w i n d e n d a h e r alles <Zufällige> des automatischen
Schreibens, der literarischen Haussitte der Surrealisten. Eine der-
art doppelt <gekünstelte> M a n i e r ist u n v e r k e n n b a r in Versen wie:

Mais r eau douce b o u g e


Pour ce qui la touche,
Pour le poisson, pour le nageur, p o u r le bateau,
Qu'elle porte
Et qu'elle empörte. 303
*

Antonin Artaud (1896-1948) läßt den <lettristischen> Desintegra-


tionsprozeß in einer einzigen typischen Strophe sichtbar werden.
M a n erkennt, wie die Sprache und die Klangkombination zerfal-
len. Das Prinzip der bloßen Klangwirkungen bleibt erhalten, aber
die bindende Versstruktur wird aufgegeben. U n d schließlich noch
der Wortkörper selbst:

Tout vrai langage / est incomprehensible, / comme la claque / du


claque dents; / ou le claque (bordel) / du femur ä dents, (en sang) /
faux / de la douleur sciee de l'os. / Dakantala / dakis ketel / to re-
daba / ta redabel / de stra muntils / o ept enis / e ept astra.

Der Uhren-Kleber

Der deutsche Lyriker Hans Magnus Enzensberger (geb. 192g), ei-


ner der erstaunlichsten Sprach-Alchimisten der n e u e n Generation
in Deutschland, schreibt ein Gedicht: <Bildzeitung>. Darin findet
m a n <Markenstecher-Uhrenkleber> u n d <Manitypisten-Steno-
küre>. Der Franzose Jacques Prevert (1900—1977) hat ganze Ge-

Guillaume Apollinaire: Seite aus


LA COLOMBE POIGNARDEE ET LE JET D'EAU
<Calligrammes>, 1918

Oouees figurtj poi* * . liires Kvr« fleurlts


w
MIA MAREYE
YETTE LORIE
ANN1E tttoi MARIE
OÜ et»»-
VOUS i
jeunes filles
MAIS
pi-c» d'un
jet d'tmu qul
pUure et q\ii prle
alle e c l o m b e 5'extasie

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304
dichte nach diesem Prinzip gemacht, so z.B.: <Ein Greis in Gold
mit einer U h r in Trauer>, <ein Professor für Porzellan mit einem
Flicker von Philosophie^ <ein Feldwebel in S c h a u m mit einer
Pfeife im Ruhestand) usw." 5 Doch schon Morgenstern, Apollinaire Aus <Cortege>, «Panorama Criti-
que des nouveaux Poetes Irancais».
und Hans Arp sind darin Meister. Auch Morgenstern wollte <die Paris 19,^5, p- 76.
Sprache zerbrechen). D e r M e n s c h erschien ihm als <im Spiegelker-
ker gefangen). Morgenstern erfindet Wort-<Phantasiai>: <Ein Stie-
fel wandern u n d sein Knecht / von Knickebühl gen Entebrecht.)
Ähnliche Beispiele findet m a n in seinem Werk oft. H a n s Arp
k o m m t auf: <Kakadu-Kakasie> und auf <Schneewittchen-Hagel-
wittchen>; d a n n meint er: >Solche Kopfzerbrechen erklärt die Un
zahl zerbrochener Köpfe.) In Apollinaires <Alcools> findet mai
zahllose Buchstaben- u n d Wortspiele. Apollinaire (jüdisch-polni
scher Herkunft, in R o m geboren, Wahl-Franzose) hat, was m e l a n -
cholische Brillanz u n d N e u e r u n g s s u c h t angeht, etwas von einem
Erzneapolitaner zur Zeit M a r i n o s u n d L u b r a n o s . E r stellt aus-
drücklich fest: <Die Ü b e r r a s c h u n g (surprise) u n d das Unerwartete
gehören zu den wichtigsten Anregern der heutigen Poesie.) 2 4 M a - 24
<L'Esprit Nouveaux et les Poetes».
rino hatte <stupore> empfohlen u n d die <bizzarria della novitä>. <Mercure de France>. Dezember
1918. Rimbaud schrieb: 'Verlangen
wir vom Dichter Neuheit.» Laiorgue
verlangt: .Neuheit, immer wieder
Neuheit.» Diese Tendenz zum Nur-
Neuen tadelten schon die Attizi-
sten . . . am Asianismus.

3. I R R E G U L Ä R E P O E S I E
Die <Heteroclites:
Literaturgeschichtlich k a n n m a n solche <Poesie> formelhaft als
desintegrierten Leporismus bezeichnen. D o c h h a b e n Artaud u n d
andere französische Lettristen im eigenen L a n d e Vorbilder. Ita-
liens poeti bizzarri (wie Groto, Leporeo u.v.a.) heißen in Frank-
reich <poetes heteroclytes) (unregelmäßig, irregulär). Es ist das
Verdienst von R a y m o n d Q u e n e a u , in einer S o n d e r n u m m e r der
Zeitschrift <Bizarre> vergessene A h n e n der heutigen <Heteroclites>
entdeckt u n d eine ganze Galerie von bisher u n b e k a n n t e n Vertre-
tern dieser ver-rückenden Wortverstellungs-Kunst vorgestellt zu
haben. Einer dieser französischen A h n h e r r e n des <Irregulären>
heißt Louis de Neufgermain. E r lebte — wie zu erwarten war — im
17. J a h r h u n d e r t . 1630 veröffentlichte er zu Paris ein Buch <Poesies
et Rencontres>. Wir finden darin Buchstaben-Gedichte, Buchsta-
ben- u n d Silben-Kombinationen, uns jetzt schon b e k a n n t e P r o -
dukte des Leporismus u n d auch des gerade damals in Paris ge-
schätzten M a r i n i s m u s . F ü r einen M o n s i e u r Lope schreibt er ein
<bizarres> Gedicht, von d e m wir n u r die letzten drei Verse zitieren:

Vous lipus, liplopants, qui liplopez liplope,


Langage liploplier par les syllabes lope,
Muster für Initial A aus dem
Lope est u n n o m d'heros, et cet heros est L o p e . Schreiblehrbuch von Vespasiano
Amphiario. Venedig 1554
Schon Rabelais bietet solche Monstrositäten, m a n findet sie in der
satirischen Literatur von J o h a n n Fischart bis Cyrano de Bergerac.
Parallelen in der bildenden Kunst, die <Bizzarrie> von Bracelli, die
groteske O r n a m e n t i k u n d die <Zierseuche> des Ornament-Stichs I
im 17. J a h r h u n d e r t h a b e n wir kennengelernt.
Alles findet ein <System>, auch das Abstruse. Die paralogischen
Dichter der Poesia Alfabetica i m 17. J a h r h u n d e r t bewegten sich -
auch als <Extremisten> - n o c h in einem ästhetischen System, w e n n 3°5
Karikatur aus dem 156^ in Paris
erschienenen Werk <Les songes
drölatiques de Pantagruel>

auch in einem irregulären. Die Desintegration, von der noch m e h r


zu sagen sein wird, erreicht mit d e m Dadaismus u n d seinen Nach-
ahmern den Nullpunkt. Doch regt auch diese totale Irrationalisie-
rung zur methodischen Erklärung, zur systematischen <Erfassung>
an. Immer wieder wird bekanntlich auch im <Manierismus> eine
O r d n u n g gesucht, allerdings eine O r d n u n g sehr eigener Art.

Spiel der H o m o n y m e
Als Vorläufer des zeitgenössischen Lettrisme glaubte ein französi-
scher Philologe, Professor Jean Pierre Brisset, sogar eine n e u e
Weltordnung aus Buchstaben-Kombinationen gefunden zu haben,
und zwar viele J a h r e vor dem Dadaismus. Sein System der Welt-
^ a u f s c h l ü s s e l u n g durch Buchstaben- und Silben-Kombinatorik hat,
laut Breton, die verbalistische <Pataphysik> Alfred Jarrys angeregt,
die <Paranoia-Kritik> Salvador Dalis, die Lyrik Raymond Roussels,
Robert Desnos' u n d Marcel D u c h a m p s . Es wird vor allem James
Joyce genannt, dessen Werk sicherlich den H ö h e p u n k t der euro-
306 päischen Alchimie du Verbe darstellt.
Brisset findet g e h e i m e metaphysische <Entsprechungen>, wenn
m a n Wörter auf folgende Weise verstellt (dislocation):

Les dents, la bouche.


Les dents, la bouchent.
L'aidant la bouche.
L'aides en la bouche.
L'aide en la bouche.
Laid dans la bouche.
Lait dans la bouche.
L'est d a m ä bouche.
Les dents — la bouche.

(Aus Je sais que c'est bien wird [je oder] jeu sexe est bien.)

Es handelt sich, u m mit alten rhetorischen Begriffen zu sprechen,


u m Wortnetze von H o m o n y m e n (gleichnamige, gleich oder ähn-
lich lautende Wörter von ganz verschiedener B e d e u t u n g und ety-
mologischer Herkunft bei gleicher oder abweichender Schreib-
weise). Sie sind gerade i m Französischen zahlreich (saint, sain,
sein, cing). Hinzu k o m m e n : <Diaphora>, d.h. Kombinationen mit
den verschiedenen B e d e u t u n g e n u n d Verwendungsarten eines
Wortes, W i e d e r h o l u n g mit A b w a n d l u n g des Sinnes; Amphibolie,
d.h. Doppelsinn, Zwei- oder Mehrdeutigkeit der logischen Aus-
sage eines Satzes; P a r o n o m a s i e , Z u s a m m e n s t e l l u n g gleichlauten-
der oder ähnlicher Wörter von verschiedener oder entgegengesetz-
ter Bedeutung (Rheinstrom-Peinstrom, Bistümer—Wüsttümer
(s. Abschnitt I). Wir erhalten also eine Reihe weiterer formaler M a -
nierismen. W ä h r e n d sie in älteren Literaturen vielfach noch einer
<Aussage> dienten (Wortspiel), sollen heute <gegenstandslose>
Wortnetze ähnlicher Art lyrische S t i m m u n g e n erwecken, in ein ir-
reales Anderssein führen. James Joyce, in dessen letzten Werken
weite Strecken mit großartigem Können und sprachlichem Wis-
sen, wenigstens in elementaren Bezügen, auf das Verfahren sol-
cher Kombination gegründet sind, erreicht damit, vor allem, w e n n
er auch die verschiedensten Sprachen mischt, erstaunliche Wir-
' ' Doch hat m a n allein im -.Kapitel kungen. Er schuf sich seine eigene Kunstsprache. 2 5
des <Ulvsses> 96 überlieferte Figuren
gezahlt, cf. J e a n Paris. J a m e s Joyce
par lui meine. Paris 1957, p. 124.
Vgl. vor allem die «phantastisch.-
daidalischen Buchstabenspiele in
«Anna Livia Plurabelle> (1951) u n d Wortnetze
in «Finnegans Wake> (1939). Dazu
auch: Rene Ghil, Tratte du Verbe.
Paris 1886. Darin ist viel von sprach- James Joyce ist ein Sonderfall, durch einzigartige sprachliche
lichem <lnstrumentisme> die Rede.
Dazu unseren Teil [V: <Musizismus>.
Kraft, durch künstlerisches Vermögen, durch subtilen persönli-
chen Wahn-Sinn. Die alte Buchstaben-Lyrik aber ist in der zeitge-
nössischen Lyrik ganz Europas, von weniger Begabten g e h a n d -
habt, zu einer <Manier> geworden, die der alten <Zierseuche> des
Ornament-Stils in neuer, literarisch «gegenstandslosen Weise ent-
spricht. Vom D a d a i s m u s der <Metapoetik> eines Altagor in Frank-
reich bis zum <Imaginismus> Jessenins u n d zu den transmentalen
Buchstaben-Gedichten Chlebnikovs in der avantgardistischen Ly-
rik Rußlands von 1920 bis 1925 geht eine Linie. Sie führt über das
17. J a h r h u n d e r t zurück nach Alexandrien. N u r n a c h Alexandrien?
Warten wir ab! Fragen wir uns hier erst noch: K a n n m a n ein sol-
ches historisches und universales P h ä n o m e n n u r negativ werten?
Handelt es sich in allen Fällen u m T ä u s c h u n g oder u m E p i g o n e n -
tum? Schon das letztlich unergründliche Spätwerk J a m e s Joyces
spricht dagegen. Auch einzelne, im echtesten Sinne durchaus <er-
schütterte> Vertreter der russischen Dichtung während der ersten
Revolutionsjahre, zur Zeit also, als ein parteipolitischer Rigoris-
mus den Geist noch nicht in den Dienst des sozialistischen Realis-
mus> gestellt hatte, beweisen, d a ß m a n es nicht n u r mit Bürger-
schreck oder mit einem irrationalen Jargon bloßer Verzweiflungs-
schreie in einer Welt im Übergang zu tun hat.
D e r russische Geist stand immer Alexandrien u n d Byzanz n ä h e r
als Athen. Velemir V Chlebnikov ( 1 8 8 5 - 1 9 2 2 ) z.B. wollte eine
universelle Ursprache, wie Jakob Böhme eine adamische Sprache,
wiederherstellen. Sie sollte gebildet werden aus der symbolischen
Bedeutung, die jeder Buchstabe habe, aus einem mythischen
Chiffre-Alphabet also. Eine Wortmagie dieser Art nährte d a n n sei-
nen Metaphernschatz.
Auch in der jüngsten deutschen Literatur findet m a n viele Bei-
spiele für Buchstaben-Kombinationen, so etwa von Weinheber G e -
dichte ohne e oder ohne s, usw. (<Hier ist das Wort>). In Brocks
«Kotflügel-Wortkonzert in durchgeführter Sprache> liest m a n .
* «Kotflügel. 80 junge Papierschnit- «Spektralkonstruktion O B A F G K M R N / O Be A F i n e Girl Kiss
zel oder die E n t w i c k l u n g eines
Wortkonzerts in durchgeführter
M e Right Now>. 26 D e n Sinn der «Wirklichkeit in Vokalem be-
S p r a c h e n Itzehoe 1957, p. 50. schreibt Karl Krolow in einem seiner schönsten Gedichte.

308
Worte
Einfalt erfundener Worte,
Die m a n hinter T ü r e n spricht,
Aus Fenstern u n d gegen die M a u e r n ,
Gekalkt mit geduldigem Licht.

Wirklichkeit von Vokabeln,


Von zwei Silben oder von drei'n:
Aus den Rätseln des H i m m e l s geschnitten,
Aus einer Ader im Stein.

Entzifferung fremder Gesichter


Mit Blitzen unter der H a u t ,
Mit Barten, in denen der W i n d steht,
Durch einen geflüsterten L a u t .

Vokale, — geringe Insekten,


Unsichtbar über der Luft,
Fallen als Asche nieder,
Bleiben als Quittenduft.

Immer wieder b e g e g n e n wir, wie in der manieristischen Kunst,


schon in u n s e r e m einleitenden Alphabet — d e m Zwiespalt: auf der
einen Seite d e m Streben n a c h sinnerschließender Gnosis, auf der
anderen der sinnfreien, w e n n nicht sinnlosen Virtuosität. Wir er-
wähnten, daß H u g o Ball in seiner frühen Züricher Zeit mit der
<magisch g e b u n d e n e n Vokabel) einen Kult trieb und selbst lettristi-
sche Gedichte schrieb.
Später hat er das alles v e r d a m m t . <Die M e t a p h e r , die Imagina-
tion u n d die M a g i e selbst, die nicht auf Offenbarung u n d Tradition
gegründet sind, verkürzen u n d garantieren n u r die Wege zum
Nichts. Sie sind Blendwerk u n d Diabolik. Vielleicht ist die ganze
assoziative Kunst ein Selbstbetrug.)

Der Sprachmantel Gottes


Solche Kontraste drücken in der Geschichte des europäischen Gei-
stes latente U r s p a n n u n g e n aus. N u r selten brechen sie hervor, in
chaotischen Stilrevolutionen u n d in scharfen Reaktionen dagegen.
Die Dialektik h a t sich gerade in den letzten dreihundert J a h r e n der
europäischen Literatur i m m e r m e h r zugespitzt. Sie gewann
schließlich, wie wir i m m e r g e n a u e r sehen werden, einen ebenso
dramatischen wie tragikomischen Charakter. Die manieristischen
Autoren, wir m ü s s e n es i m m e r wiederholen, finden ihre Urbilder
nicht im <klassischen>, attizistischen Altertum, sondern in der
orientalischen, semitischen, in der <asianischen> Antike der <Phan-
tasiai>. Der ägyptische, chaldäische u n d hebräische Symbolismus
(Bibel. Schriftexegese, Talmud, die spätere Kabbala, die alchimi-
stische Literatur) h a b e n schon den Neuplatonismus Alexandriens
und den erneuerten Neuplatonismus von Florenz zur Zeit Marsilio
Ficinos beeinflußt. Es ist bekannt, daß der alexandrinische Neu- x
plätonisrnus den <Asianismus> förderte, d . h . jene hyperbolische,
extremistische Stilrichtung, die den Attizismus mißachtete. In der
Geschichte der manieristischen Kunst wird der <Subjektivismus>
der antiklassischen I d e a - L e h r e (Zuccari) durch den florentini-
schen Neuplatonismus u n d kabbalistischen <AIchimismus> ange-
regt. Auch der Dichter M a r i n o , das H a u p t u n d Idol aller Marini- 3
inand kriwet: Komposition, 4^
aus: Image. Oktober 1965

sten im 17. Jahrhundert, beruft sich auf die I d e a - L e h r e u n d preist


Ficino als <Geheimkämmerer Gottes>.
Doch wie die Klassizisten <klassische> Mythen benutzen, ohne
deren ganzen Sinn gegenwärtig zu haben, Apollo und Demeter auf-
treten und reden lassen, als ob sie P u p p e n - F i g u r e n wären, so geht
schon im spätantiken Asianismus das Wissen u m die ebenso tiefen
wie reichen mythischen Hintergründe der semitischen Buchsta-
ben-Mystik verloren. Die Spätlinge greifen mit zu kurzen A r m e n
nach dem Sprachmantel Gottes.

Buchstaben-Mystik
Jede Hieroglyphe war für die Ägypter Bild eines Gotteswortes. F ü r
die J u d e n hatte Buchstabe u n d Schrift nicht n u r einen göttlichen
Ursprung. Sie führten - symbolisch u n d kombinatorisch — auf Gott
zurück. Der Buchstabe Aleph zum Beispiel bedeutete ganz bildhaft
'' Clemens Brentano noch deutet Gott.-' In der orientalischen und graeco-orientalischen Literatur
die Dreieinigkeil in cAleph> hinein.
ct. Kran/ Dornseiff. Das Alphabet in i der Antike wimmelt es von Theologien, Kosmogonien, Angelolo-
Mystik und Magie, und K.Selie- gien und Anthropologien auf G r u n d von Buchstaben-Kombinatio-
mann, Le Miroir de la Magie. Paris
«957-P-257.a65.273-*75
nen der verschiedensten Art. F ü r den Alchimisten Zosimos hatten
Buchstaben Eigenschaften, u n d sie verteilten Eigenschaften. Die
esoterische Buchstaben-Mystik der orientalischen Urantike ist
(wie die chinesische) in erster Linie theognostisch. Sie bildete E l e -
mente der Mystik, der Magie, der heilenden u n d bewältigenden
Magie, aber auch der gottrufenden, der evokativen Klangmagie.
Mit Buchstaben konnte m a n zaubern und verzaubern. Verzaubern
durch den bloßen Klang von Buchstaben? <In Ägypten preisen die
310 Priester sogar die Götter durch die sieben Vokale, i n d e m sie diese
der Reihe nach ertönen lassen, und statt Aulos u n d Kithara wird
der Schall dieser Buchstaben gehört wegen ihres Wohlklanges.>
In dieser theologischen Buchstaben-Kryptographie wurden
ganze Systeme von Buchstaben-Symbolen entworfen. Im uner-
gründlichsten Buch der jüdischen Kabbala, im Sepher Jetzira, bil-
dete Elohim sein U n i v e r s u m mit den drei Büchern: Sepher (die
Schrift), Sopher (die Zahl) u n d Siphur (das Wort). Also: Univer-
sum, Zeit, Körper. Von d e n Sephiros, die Elohim erschafft, hat der
<Geist des Geistes> <22 Buchstaben geschnitten und in Stein gebil-
dete diese 22 Buchstaben sind die G r u n d l a g e n der drei Mütter, der
sieben Doppelten u n d der zwölf Einfachen. Aus ihnen ist die ganze
Welt gebildet. Das Alphabet wird zu einem kosmischen Chiffre-Sy-
stem.
Lettristische P e r m u t a t i o n e n hatten auch im bloßen Klang von
Buchstaben u n d B u c h s t a b e n - G r u p p e n noch einen transzendenta-
len Sinn. U m 1150 v.Chr. m a c h t e m a n in Ägypten die <Entdek-
kung>, daß die wirksamste Gestalt des Urgott-Namens aus absolut
sinnlosen Z u s a m m e n s t e l l u n g e n von Buchstaben bestünde. Sogar
das <Zungenreden> ergab also mythischen Sinn. Auf diese Weise
glaubte m a n eine <chemisch reine Gottheit) zu erhalten. Die
spätere kabbalistische Bezeichnung Ziruph für Buchstaben-Ver-
setzung bedeutet auch <Schmelzung). D u r c h B u c h s t a b e n - P e r m u -
tationen schmilzt m a n also gewissermaßen das Urwesen ein.
Es gab bestimmte Techniken dazu, so etwa die uns schon be-
kannten Palindrome, Rücklinge oder Krebsworte, die Kaimata
(Worte werden u n t e r e i n a n d e r geschrieben, wobei m a n jedesmal
einen Buchstaben wegläßt, z.B. unser schon zitiertes Amore, more,
ore, re' ) u n d Analogien. So bringt der Klostergründer S.Sabas in Im altjüdischen Zauberwesen
seiner Schrift <Die Mysterien der griechischen Buchstaben), he- wird der D ä m o n Schubriri a n g e r u -
fen: <Schabriri, briri. riri. rL> Aus
bräischen Vorbildern folgend, die 22 Buchstaben des hebräischen
Biau. Das altjiidische Z a u b e r w e s e n .
Alphabets mit den 22 Schöpfungswerken Gottes, den 22 Büchern Zitiert nach Dornseiff o.e.

J e a n - F r a n c o i s Bory:
Komposition

>C o Z v
' £ *° 5 m^\m^x^-^
ZI- <"<*

«. < & -
%.

« « UM 311
des Alten Testaments, den 22 000 Rindern Salomons, den 22 Aretai
(Tugenden) Christi in Beziehung. Es gibt sieben Vokale, so wie es
sieben Planeten, sieben Sphären, sieben Leiersaiten, sieben Töne
in der Oktave, sieben Tonarten gibt.

Isopsephie
Eine weitere Technik der antik-semitischen und orientalisch-grie-
chischen <Arithmomantik> und <Gemantrie>: die sogenannte <Iso-
' psephie>. d.h. die Herstellung verborgener Beziehungen in den
Wörtern durch Kombinationen von Buchstaben und Zahlen, eine
der beliebtesten Methoden in den Talmud-Schriften, in der Kab-
bala, in der Alchimie, aber auch schon in der althebräischen Lyrik.
So ergibt sich für die heutigen Deuter der Geheimnisse u m Shake-
speare, nach dem System a = 1, b = 2, usw. bis y = 23, z = 24,
<additiv> aus dem Wortmonstrum in < Verlorene Liebesmüh>: <ho-
norificabilitudinitatibus> (Zahlenwert = 287): <Hi ludi, tuiti sibi,
cf. auch Louvier, Chiffre und Fr. Bacono nati.> 29
Kabbala in Goethes Faust. Berlin
i8y _ . sowie Oskar Fischer-Döbeln, Die Sucht nach den <Psephos>, nach der Entsprechung, führt al-
Orientalische und griechische Zah- lerdings schon in der Antike zu einer Psephomanie, zu einer popu-
lensymbolik. Leipzig 1918.
lärmagischen Onomatomantik, zu einer preziös-manieristischen
Buchstaben-Orakelei für Markt u n d Pöbel. N e b e n Isopsephie u n d
Ziruph (Buchstaben-Umstellung) finden wir schließlich noch die
"' Eine Liste davon in A. Kirchers <Temura>, die Buchstaben-Versetzung. 3 0
«Oedipus. Aegyptiacus> (o. c. p. 249).

Labvrinthkomposition des
deutschen Kalligraphen I.C.
Hiltensperger. Anfang
18. Jahrhundert

512
Federico Zuccari: Selbstporträt.
1595. Accademia di San Luca in
Rom

Alles das wirkt in Kabbala u n d Alchimie weiter, so vor allem im


kabbalistischen Sepher Jetzira, in der magischen Symbolistik der
Alch imisten u n d in der arabischen Zauber-Literatur. Akrosticha
findet m a n schon in den Klageliedern des Jeremias, in den Sprü-
chen Salomons u n d in d e n Psalmen. Sie werden, als n u r ästheti-
sches Mittel, d a n n verwendet in der jüdischen Lyrik des 6. bis
13. Jahrhunderts, in d e n Piyyutim. In diesen Gedichten findet
man, n e b e n den ersten R e i m e n , auch zahllose A n a g r a m m e . In der
Karfreitag-Liturgie der katholischen Kirche, in den Lamentatio-
nes, h a b e n sich die hebräischen Psalmen-Akrosticha erhalten, so
vor allem diejenigen von Psalm 118 (acht Verse beginnen mit
Aleph, weitere acht mit Beth usw.). Ganzen <Ketten> von Akrosti-
cha begegnet m a n in den ABC-darien der M a r i e n v e r e h r u n g und in
der griechisch-byzantinischen Kirchenpoesie. A E I O U - diese For-
mel galt als <Name> Gottes.

3*3
Buchstaben-Seelen
Das alles taucht, nachdem es im Mittelalter in <magisch>-religiöser
Weise auf mannigfache Art weitergelebt hatte, zwischen Renais-
sance und Hochbarock, wie wir später sehen werden, in n e u e r
Form wieder auf. Pico della Mirandola, Agrippa von Nettesheim,
Athanasius Kircher u.a. verwenden die alten mythischen Alpha-
bet-Manierismen zu neuen Konstruktionen, zu methodischen Mit-
teln einer magischen Natur-<Wissenschaft>, die sich vielfach auch
von der Astrologie herleitet. Den Gestirnen waren Buchstaben zu-
geordnet. M a n n i m m t sogar an, daß die Reihenfolge der Buchsta-
ben des Alphabets astrologischen Ursprungs ist. In Hölderlins <Hy-
perion> findet m a n noch einen Niederschlag dieses Glaubens: <Das
sind nur Sterne, Hyperion, nur Buchstaben, womit der N a m e n der
Heldenbücher a m Himmel geschrieben ist.>
Vor allem Novalis hat diese Überlieferungen gekannt u n d viel-
fach über <grammatische Mystik> spekuliert. Spätere Schriftsteller,
stellt er fest, hätten <diese alte Manier aus romantischen u n d m o -
dernem Instinkt ergriffen>, diese <alte M a n i e n , des <ägyptischen
und orientalischen Mystizismus). <Je größer der Magus, desto will-
kürlicher sein Verfahren, seine Mittel.) <Der Zauberer ist ein Poet>,
<ein Künstler des Wahnsinns), und der Dichter weiß u m die (magi-
sche) Sympathie des Zeichens mit dem Bezeichneten. (Eine der
Grundideen der Kabbalistik.)
Novalis findet auch hier eine seiner überraschenden Formeln:
<Die Seele ist ein konsonierter Körper. Vokale heißen bei den H e -
bräern Buchstabenseelen.)
Diese noch religiös gebundene Buchstaben-Kunst ist selbstver-
ständlich auch im 16. und 17. J a h r h u n d e r t zu finden. John Dee
(geb. 1527) konstruiert phantastische Zahlen- u n d Buchstaben-
Symbole, aber er sucht durch sie noch Verbindung mit den Engeln,
mit Gott - genau wie A. Kircher in der Mitte des 17. J a h r h u n d e r t s .
In Moscheroschs <Wunderlichen wahrhaftigen Gesichtern Philan-
ders von Sittewald> (1665) liest m a n dazu schon die Satire: <Wenn
ich des Morgens aufstehe, sprach Gschwebbt— ein Kroat—, so spre-
che ich ein ganzes ABC, darin sind alle Gebett einbegriffen, unser
Herr Gott m a g sich danach die Buchstaben selbst zusammenlesen
und Gebethe drauss machen wie er will. Ich könts so wol nicht, er
kann es noch besser.)

Europäischer Scherbenhügel
In der Shakespeare-Zeit erfolgt der Bruch, die <Säkularisierung>.
Shakespeares Theater k a n n m a n noch in e i n e m mythischen Sinne
als alchimistisches Theater) bezeichnen, w e n n auch— wie wir se-
hen werden - Shakespeare formale M a n i e r i s m e n oft in einer
Weise benützt, welche an die spätere Verblüffungs-Technik der
Leporeo und Genossen erinnert. <Kaum ein anderes Werk unter-
richtet uns besser über das (esoterische) Glaubenssystem im
16. J a h r h u n d e r t als das Werk Shakespeares.) Die n e u e r e For-
schung dringt i m m e r tiefer in die alchimistisch-hermetischen Ele-
mente im Werke Shakespeares ein. Fast gleichzeitig - vor allem an
einer so vielseitigen u n d vieldeutigen E r s c h e i n u n g wie M a r i n o
s i c h t b a r - tritt eben jene <Säkularisierung> ein, die n u r noch artisti-
sche Verwendung von ursprünglich religiös bestimmten formalen
<Manierismen>. D a r ü b e r werden wir in den nächsten Kapiteln
[Itc-enlerAriel. Inxlalble, playlng and ilaging;
Ferdinand followlng. j
Arlefs Song.
Come unto these yellow sands,
And tben take hands:
Courtsied when you have and kiss'd
Tbc wild wavts wbist:
Foot it featly henc and there;
And, swcct Sprites, the burtben bear.
Hark, barkl
Hunnen \dlaperacdly\ Bow-wow.
Ariel. The watch dogs bark:
Burihca [dlapcnextly]. Bow-wow.
Ariel. Hark, bark I I hear
The ttrain of struttingr chaaticleer
Cry, Cock-a-diddle-dow.

Von Robert A n n i n g Bell illustrierte


A u s g a b e von S h a k e s p e a r e s <The
Tempest>. L o n d o n 1901

noch m e h r hören, vor allem noch weiteres über das Nachwirken


semitisch-orientalisch-<asianischer> Traditionen.
Wir begreifen jetzt jedenfalls schon, daß im Klassizismus mit
bloßen Götter-<Figuren> u n d im M a n i e r i s m u s mit bloßen <Zei-
chen> in einer ästhetisierenden Literatur n u r noch <operiert> wird.
Allmählich geht der G l a u b e u n d d a n n auch das Wissen vom Sym-
bolwert dieser Zeichen verloren. Im zeitgenössischen Lettrisme
werden durch musikalisch-lyrische Evokationen nicht m e h r göttli-
che Kräfte beschworen, sondern allenfalls <transzendentale> Stim-
m u n g e n . Schock u n d <Gestimmtheit> w e r d e n gesucht. Aus alter
Buchstaben-Mystik wird die n u r ästhetische Magie einer spätzeitli-
chen <Alchimie du Verbe>. E s ist gewiß kein Zufall, daß m a n c h e
unter den zeitgenössischen m o d e r n e n <asianischen> Chiffre-Lyri-
kern auch ihrer Herkunft n a c h <Pueri hebraeorum> sind. Aber viele
von ihnen (Apollinaire, M a x Jacob. E l u a r d usw.) teilen das Schick-
sal einer säkularisierten, entmythisierten Zeit. Sie h a n d h a b e n — als
M a n i e r i s t e n - <Chiffren> n u r als Residuen von Mythen. W i e unsere
<attizistischen> Klassizisten Götter u n d Ideale meist n u r noch als 51
Z u m Problem .Kunst und My-
Staffage benutzen, so viele der heutigen <asianischen> Spätmanie- thos) vgl. das g l e i c h n a m i g e Buch von
Ernesto Grassi o.e. D a r a u s ein Er-
nsten Symbole n u r noch als Instrumente für die <Evokation> des gebnis: (Wichtig ist für uns. diese
Nichts, der Null, der Langeweile, zur Beschwörung einer teils irri- Wende vom Sakralen zum Profanen
in ihrer ganzen Tragweite zu erfas-
tierenden, teils suggestiv verzaubernden Wachtraum-Situation sen. T ö n e und R h y t h m e n , bisher
ästhetischen Verdösens, einer problematischen <Erotik> als letzter lediglich naturhafter Ausdruck des
Menschlichen oder in seiner sakra-
und bloßer Vermittlerin vitaler Auftriebe u n d geistiger Gespannt-
len O r d n u n g streng g e b u n d e n , wer-
heit. Aus h e r m e t i s c h e m Kalkül u n d aus esoterischer Evokations- d e n n u n zu künstlichen E l e m e n t e n
kunst der orientalischen Antike wird vielfach im europäischen u n d treten in die .Geschichte' ein»
(p. 103). Also <Mimesis> noch in My-
Manierismus seit der Shakespeare-Zeit, u m ein Wort Goethes zu thos-Welt. <Phantasia>-W'elt = er-
gebrauchen, obskurantistische <Belletristerei>. Dl ster Schritt zur Ent-Mythisierung.
Fragmentarismus
Der heutige homo europeus begegnet somit ebenso einem k l a s s i z i -
stischem wie einem <manieristischen> Scherbenhügel. Aus Z e h n -
tausenden von Fragmenten soll, durch evokative Addition u n d
kombinierende Assoziation, dem geduldig-ungeduldigen L e s e r im
Atomzeitalter etwas <vermittelt> werden. Was? E i n magisches Ur-
geheimnis? Wissen die <Neutöner>:'2, daß diese Scherben, die m a n
heute benützt, Reste von Tempeln sind? Wir wollen zugeben, daß
unsere besten <Manieristen> von heute mit ihrem Buchstaben-
Pantheismus, sofern sie als Dichter in der G n a d e zu stehen schei-
nen, oft einen H a u c h von Urgeheimnis a h n e n lassen. Aber meist
sind sie — und das ist nicht immer ihre Schuld, sondern das S i g n u m
ihrer Epoche — Amateur-Archäologen. Sie versuchen, aus vielen
Fragmenten zu rekonstruieren, was einst Einheit war, wie es noch
heute Einheit ist in den Geheimsprachen der E i n g e b o r e n e n . L e -
ben wir in einer Epoche manieristischer und klassizistischer D e k a -
denz? Sie hätte allerdings im äußerst spannungsvollen Alexan-
drien angefangen.
Gewiß, seit dem 17. Jahrhundert h a b e n Laizismus, Libera-
lismus, Rationalismus, Soziologismus, Psychologismus, Histo-
rismus, Existentialismus unseren Horizont in anderer Hinsicht
erweitert. Unsere historische Erfahrung ist bereichert, unser
Bewußtsein geradezu beängstigend ausgefüllt worden. Es entsteht
ein Gedränge, ein Geschiebe von Bewußtseinsinhalten. Diese er-
staunliche Akkumulation hat ihre Vorteile u n d Nachteile. D u r c h
sie ist zwar die <evokative> Differenzierung heute größer, der Ein-
blick in viel mannigfaltigere u n d reichere Erfahrungen schärfer,
das ästhetische Wissen (vielfach) subtiler, die Selbstkritik (vielfach)
durchdringender, das Raffinement mittelbarer, die K o m m u n i k a -
tion viel verwickelter geworden. Dafür ist allerdings die spontan
gliedernde Kraft des Bewußtseins u n d seine Fähigkeit zur Be.-
schwörung von Gestalten schwächer. E b e n deshalb bewegen wir
uns in einem archäologischen Trümmerfeld von Mythen, in einer
morgue von Göttern. Das Großartigste aber a m manieristischen
Schauspiel unserer Zeit ist dafür auch die Tendenz der W i e d e r -
Herstellung. Scharfe, eiskalte Werkzeuge w e r d e n da angewendet.
Wir wollen weiter sehen, wie dies, aus Abgründen der Geschichte
angeregt, geschieht, anders g e s c h i e h t . . . als n u r mit mythisch ver-
waisten Buchstaben. Wir kennen erst das Alphabet. Bis z u m m a -
nieristischen Abitur haben wir noch einen längeren W e g vor uns.
Wir begeben uns wieder, wie der Titel einer G e d i c h t s a m m l u n g von
H. E. Holthusen heißt, in <Labyrinthische Jahre> (1954), vor- u n d
rückwärts.

4. A R S C O M B I N A T O R I A

Gegen Gefühlsgeschwätzigkeit
Der französische Dichter Stephane M a l l a r m e (1842 — 1898), den
m a n als Vater eines besonders verschlüsselten Typus der zeitgenös-
sischen <hermetischen> Lyrik E u r o p a s bezeichnen k a n n , beginnt
316 auch in Deutschland von einer jüngeren Generation besser ver-
standen zu werden als von George u n d dessen damaligem Kreis.
Ein M i ß t r a u e n g e g e n ü b e r <Gefühls- oder Inspirationslyrik> ist fest-
zustellen. E r i n n e r n wir an die Sentenz Nietzsches: <Dies (horazi-
sche) Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als
Begriff nach rechts u n d links und über das Ganze hin seine Kraft
ausströmt, dies M i n i m u m in U m f a n g u n d Zahlen der Zeichen,
dies damit erzielte M a x i m u m in der E n e r g i e der Zeichen - das
alles ist römisch u n d , w e n n m a n mir glauben will, vornehm par
excellence. D e r ganze Rest von Poesie wird dagegen etwas zu Popu-
läres - eine bloße Gefühls-Geschwätzigkeit.. .>33 " <*• <Götzendämmerung>. -Was ich
Vergessen wir nicht, d a ß für den <Romantiker> Novalis <der Ver-
stand der Inbegriff aller Talente> war. <Der Dichter h a t n u r mit
Begriffen zu tun.> <Ich bin überzeugt, daß m a n durch kalten, tech-
nischen Verstand u n d ruhigen, moralischen Sinn eher zu wahren
Offenbarungen gelangt als durch P h a n t a s i e , die uns bloß ins Ge-
spensterreich, diesen Antipoden des w a h r e n H i m m e l s zu leiten
scheint. >
Uns dient dieser Hinweis dazu, eine der großartigsten Figuren
der n e u e n europäischen Literatur hervorzuheben, Stephane Mal-
larme, den Erzgegner alles n u r Zu-fälligen in der Lyrik, aber auch
den Extremisten, <für sein Denkbild blutend>, den <Priester>, der,
mit k a u m faßbarer G ü t e u n d Geduld, individuelle Selbsttäu-
schung u n d Massenkult zurück- u n d zurechtwies.
In der Kunstgeschichte ist mit Recht i m m e r wieder das intellek-
tuelle — wir m ö c h t e n sagen das daidalische E l e m e n t des Manieris-
mus hervorgehoben worden, eine fast wissenschaftliche Kälte des
Schaffens bei stärkster E m o t i o n , eine für m a n c h e erschreckende
Bewußtheit. W e n n manieristische Eigenschaften dieser Art auch
positiv gewertet werden k ö n n e n , so m ü ß t e dies anläßlich Mallar-
mes geschehen. Valery h a t einmal gesagt, daß der dichterische
Schaffensprozeß interessanter sei als das dichterische Kunstwerk
und daß die m o d e r n e Lyrik das Entstehen von D i c h t u n g zum
Hauptgegenstand habe. W e n n dies für M a l l a r m e richtig ist, so
m u ß ein Einblick in seine Schaffensprozesse ganze Landschaften
manieristischen Verhaltens in der Literatur freimachen.

Das Über-Buch
Ein Ziel lockt uns: die Erforschung eines der großartigsten euro-
päischen Scherbenhügel. W i r stoßen dabei auf ein neues Laby-
rinth-Geheimnis. E i n e Zahl, der wir zufällig begegnen, führt uns
zu einem n e u e n Ariadne-Faden. In einer n e u e n Veröffentlichung
hinterlassener Notizen M a l l a r m e s fanden wir die Zahl: 3 6 2 8 8 0 0 .
Wir erinnerten uns d a r a n , daß dies eine S u m m e von Kombinatio-
nen der <Ars M a g n a Sciendi sive Combinatoria> von Athanasius
Kircher darstellt. Kircher schöpft seine Anregungen aus der <Ars
Compendiosa> von R a y m u n d u s Lullus ( 1 2 2 3 - 1 3 1 6 ) . Wir fanden
bestätigt, daß M a l l a r m e zumindest Schriften von Lullus, diesem
ebenso vielseitigen wie umstrittenen Philosophen u n d Dichter des
Hochmittelalters, diesem Vermittler alter orientalischer E r k e n n t -
nismittel u n d Weisheiten, studiert hat. Doch zunächst einiges zu
Mallarmes Konzeption eines universalen Über-Buchs, eines
Buchs, das sämtliche Möglichkeiten der Sprache erschöpfen sollte.
Ein schmaler Rest des Nachlasses von M a l l a r m e ist, wie gesagt,
jetzt erst veröffentlicht u n d gedeutet worden. Es handelt sich u m
Entwürfe zu einem <gewaltigen Werk>, g e n a n n t zunächst <Le 3*7
S t e p h a n e M a l l a r m e (1842 — 1898).
nach e i n e m G e m ä l d e von E d o u a r d
M a n e t , 1876

Livre>, das <die enge Beziehung der Dichtung mit dem Universum>
darlegt, wobei aber, damit die Dichtung rein sei, diese <von ihrem
Traum- und Zufallscharakter befreit wird> (so M a l l a r m e selbst in
einem Brief). <Schönheit> soll das <Buch> spiegeln. Es soll g l a n z -
volle Allegorien) des Absoluten enthalten, auch wenn dieses Abso-
lute <Nichts> sein sollte. Diese B e m ü h u n g u m ein poetisches Welt-
buch vergleicht Mallarme mit dem alchimistischen Suchen n a c h
dem Absoluten. Auch Leonardo da Vinci n e n n t er als Vorbild. Wir
finden dazu in den Fragmenten des Novalis den geheimnisvollen
Imperativ an sich selbst: <Aufgabe, in einem Buche das Universum
zu finden.) Außerdem: <Von der Bearbeitung der transzendentalen
Poesie läßt sich eine Tropik erwarten, die die Gesetze der symboli-
schen Konstruktion der transzendentalen Welt begreift.) M a l l a r m e
beurteilt das Nachlassen des religiösen Glaubens nach der Franzö-
sischen Revolution als eine folgenschwere Tragik. Er fand es aller-
dings für einen Dichter seiner Epoche schwer, das Religiöse mit
den Bildern und Mitteln geoffenbarter Religionen zu vermitteln.
Als das Wahre, Letzte bleibt ihm n u r doch die logische Struktur des
Universalen. Das erinnert an den metaphysischen Skeptizismus
und universallogischen Instrumentalismus von Wittgenstein, der
bekanntlich nicht nur in England auch auf die Literatur einen E i n -
fluß ausgeübt hat. F ü r Mallarme ist das W a h r e das Logische. E r -
kennbar wird es - als Weltsubstanz - aber n u r im Bild. (Wittgen-
stein: <Der Satz sagt nur insoweit etwas aus, als er ein Bild ist.>)
Von Mallarmes Entwürfen ist n u r wenig erhalten: Skizzen, erin-
nernd an geometrische und algebraische Aufzeichnungen eines
Architekten, anscheinend sinnlose Wortgruppen, durch Striche,
318 Kreuze und Klammern miteinander in Verbindung gebracht. Sie
geben einen erstaunlichen Einblick in die geheimsten Werkstatt-
winkel eines Dichters, der sie wie Valery als Ingenieur-Daidalos
empfand. U m eine g e h e i m e Stenographie handelt es sich, die mit
kombinatorischen Mitteln <Alles> umfassen sollte. Mallarmes
Wort ist bekannt: <Tout a u m o n d e existe, pour aboutir ä un livre>
(<Alles hienieden besteht, u m in ein Buch zu m ü n d e m ) . Dieses
Weltbuch sollte orphisch sein. D u r c h ein bestimmtes Verfahren
wollte M a l l a r m e orphisches Weltwissen sammeln, jedoch in <ma-
thematischer Sprachen Als Anreger m ö g e n die romantisch-manie-
ristischen F r a g m e n t e von Novalis u n d Wagners Idee einer Vereini-
ym &- - '
gung aller Künste mitgewirkt h a b e n . Das Buch, das zehn Teile £
haben sollte, war als Vorlese-Buch gedacht. Es sollte in einer Serie
von festlichen <Aufführungen> vermittelt werden.
Wir müssen uns dazu Einzelheiten ersparen. Was uns in diesem
Z u s a m m e n h a n g interessiert, ist ein weiterer formaler Manie- P a u l Valery ( 1 8 7 1 - 1 9 4 5 ) .
rismus: die A n w e n d u n g der sprachlichen Ars Combinatoria beim L i t h o g r a p h i e von Picasso, i g 2 0
lyrischen Kalkül, beim <Machen> von Lyrik, die sprachlogische Er-
zeugung einer — wie M a l l a r m e schrieb — <reinen Ganzheit von Be-
ziehungen jedes zu allem>, eines <hohen Z u s a m m e n k l a n g s t Das
Ur-Buch, das <Buch aller Bücher> Mallarmes ist nie beendet wor-
den. Diesen gigantischen Kampf gegen den <Zufall> der bloßen
Eingebung zugunsten eines <höheren> lyrischen Weltsystems, ei-
nes Buches o h n e u n m i t t e l b a r e Aussage, Personen u n d H a n d l u n -
gen, hat der zarte Gymnasiallehrer, der <Prince des Poetes>, der
sich selbst als (neuer Hamlet> empfand, nicht beenden können.
Der Tod m a c h t e diesem einzigartigen literarischen Traum eines
Buches der geheimsten Beziehungen von Buchstaben und Worten,
die er Arabesken n a n n t e , ein E n d e .

3628800
Das Ur-Buch Mallarmes sollte also in seinen verschiedenen Teilen
mit einem Buchstaben, e i n e m Wort, einem Satz beginnen. Daraus
werden dann Systeme von Beziehungen abgeleitet, eben mit jener
kombinatorischen M e t h o d e von B a y m u n d u s Lullus, dessen (Kom-
binationstafel) (aus symbolischen Buchstaben) ein theologisch-on-
tologisches Weltsystem ergibt. Diese kombinatorische Methode
des Lullus galt schon im 16. J a h r h u n d e r t als von Adam erfundene
«hebräische Kunst>. Sie w u r d e auch als (alchimistische Kunst> be-
zeichnet. In Schriften ü b e r Lullus n a n n t e m a n seine Kombina-
üonstafeln auch <Ars clavigera>. <Liber secreti secretorum>, (Alpha-
betum divinum> u n d <Geheimtestament der Engel). Lullus wurde
schon in der Renaissance-Zeit als ein Meister des <alquimia de la
palabra> bezeichnet. 5 4 >+
Über die sog. «Cabala cristiana>
von Lullus u n d über den Einfluß sei-
Mallarme b e k a n n t e in einem Brief: <Hier liegt das ganze G e - ner Kombinatorik auf die mittelal-
heimnis: verborgene Beziehungen h e r s t e l l e n ) . . . durch sprachlogi- terliche Rhetorik cf. M . M e n e n d e z
Pelavo. p. 400 ff. Die Rhetorik als
sche P e r m u t a t i o n e n . Allerdings, dies sei jetzt n u r angedeutet, und «Alchvmia verborum>! Der «Arbol de
hier liegt, wie wir sehen w e r d e n , das tiefere Geheimnis der <Inge- la Ciencia» von Lullus w u r d e schon
im Mittelalter benutzt als G r u n d l a g e
nieur>-Lyrik, sollten derart hergestellte Beziehungen nicht gegen- für ein kosmisches Aufschlüsse-
ständlich benannt, sondern <suggeriert> werden. Doch bleiben wir lungssystem. Mit Rhetorik und Lo-
zunächst bei der traditionellen M e t h o d e . gik glaubte m a n die Weltgeschichte
in Weltformeln bringen zu können.
Der <Ingenieur> oder (Operateur) - als solcher empfand sich Davon werden wir später noch lesen.
Mallarme - verfügt jetzt über einen M e c h a n i s m u s . D u r c h Ablei-
tungsverfahren ergeben sich G r u p p e n von Wortfolgen. Eine Wort-
gruppe k a n n in vielfacher Weise interpretiert bzw. permutiert wer-
den. F ü r jeden Vers ergeben sich somit viele sprachliche Neben- 5*9
u n d Randfelder und entsprechend viele Bedeutungen. So entste-
hen lauter einzelne Kombinationsstücke. Sie werden zu Faszikeln
vereint. Die Sprache kombiniert - mit Hilfe des Operateurs - gera-
dezu selbständig weiter. Auch Sätze k ö n n e n auf vielfache Weise
permutiert werden, z.B. durch Inversion. M a l l a r m e wollte d a n n
aussieben, aber das Ur-Buch hätte auch d a n n noch mindestens
zwanzig dicke Bände mit 4 8 0 0 0 0 Teilen umfaßt. M a l l a r m e hatte
sich bereits die Kosten einer staatlichen Subvention ausgerechnet.
Die < Aufführungen) sollten fünf J a h r e dauern.

Weltschlüssel
Erneut werden wir auf spezifische <Gesetze> des europäischen M a -
nierismus hingelenkt, d.h. auf formale Automatismen der m a n i e -
ristischen Tradition. Doch müssen wir zwei entscheidende Fest-
stellungen machen: Mallarme hat diesen <Lullismus> in der m a -
gisch, <alchimistisch> veränderten Form ü b e r n o m m e n , die i h m in
der literarischen Glanzzeit des europäischen Manierismus aus
älteren kabbalistischen Traditionen gegeben worden ist. Er über-
nimmt ihn in der Form der oben schon erwähnten <Ars Magna> des
Jesuiten Athanasius Kircher, den wir in der Kunstgeschichte des
" cf. W L p. laaff. Dieses Werk Kir- Manierismus bereits kennengelernt haben. 5 5 Dieser kabbalistische
cliers erschien i 6 6 y in A m s t e r d a m .
Lullismus Kirchers ist den strengen Lullisten mit Recht ein Ärger-
nis, seiner <magischen> E l e m e n t e wegen. F ü r uns ist diese histori-
sche Filiation aber aus vielen G r ü n d e n wichtig. Die G r u n d z a h l der
symbolischen Ableitungsbuchstaben bei Lullus ist, wenigstens ab
1290, <Neun>, bei Kircher ist sie ebenfalls <Neun>, in anderer Folge
aber auch <Zehn>. Daher findet m a n bei i h m die P e r m u t a t i o n s -
reihe aus Z e h n mit der Zahl 3 6 2 8 800 b e i m Buchstaben K, bei i h m
wie bei Mallarme. Kircher will in seiner <Ars M a g n a Sciendi sive
Combinatoria> eine eigene sprachliche u n d vor allem ontologische
Kombinatorik geben, eine Methode zur erweiterten Erfassung des
göttlichen Welturgrunds durch Wort- und Zahlenkombinationen.
Das geht von einem <Alphabetum Artis> bis zu einer entsprechen-
den rhetorischen Kombinationskunst. Kircher bietet uns seinen
<Weltschlüssel>.
Die Kombination der gesamten Buchstaben des Alphabets mit
Zahlenpermutationen ergibt andere Möglichkeiten als die n u r
neun symbolischen Buchstaben des Lullus: B, C, D, E, F, G, H, I, K
^Bönitas, Magnitudo, Duratio, Potentia, Cognitio, Voluntas, Virtus,
Veritas, Gloria. Bei Lullus sind dies die <principia absoluta>. Dazu
kommen die <principia relativa>: <Differentia, Concordantia, Con-
trarietas. Principium, Medium, Finis, Majoritas, Aequalitas, M i -
noritas.> Auf die Kombinatorik dieser G r u n d e l e m e n t e {prmcipia
primitiva) können alle Formen des Seienden zurückgeführt wer-
den. Sie heißen deswegen <Absoluta>. Das wird ergänzt durch die
Grund-<Regeln> einer uralten stilistischen Kompositionslehre: An,
Quid, Cur, Quantum, Qui, Quäle, Ubi, Quando, Quibuscum, be-
kannt aus dem Sekunda-Unterricht. F ü r die Kunst gibt es entspre-
chend - in Kirchers kombinatorischem Weltsystem — <Symbole>:
Dem, Angelus, Coelum, Elementa, Homo, Animalia, Plantae, Mine-
ralia, Materialia. Das Prinzip lautet: Nichts gibt es im Sein, was
nicht auf ein anderes zurückgeführt werden kann. E i n e einzige
Tafel, eine <Tabula Alphabetorum Artis nostrae>, wie Kircher sei-
ne Aufstellung nennt, k a n n also eine alphabetische Urontologie
320 enthalten, sozusagen die ontologische Struktur eines Ur- u n d
Über-Buches. Aus diesem k a n n <alles Mögliche> durch einlaches
<commutare>, durch einfache A u s t a u s c h u n g (<Reversibilität>!) ab-
geleitet werden. Die noetische Weltmaschine ist perfekt. Das Ent-
scheidende ist: mit einer derartigen Kombinatorik kann auch alles
abgeleitet werden. Das ist ein Problem Kirchers. Es ist ein Grund-
problem des literarischen M a n i e r i s m u s .
Die andere Reihe, die Z e h n e r r e i h e , bei Kircher hat pythago-
reisch-neuplatonische M e r k m a l e . Sie weist, wie ü b e r h a u p t sein
ganzes Werk, m e h r auf Ficino, auf Geheimkulte in Alexandrien
und auf die kabbalistische Wort-Alchimie d e n n auf Lullus. Die
kombinatorische Kryptographie Kirchers ist <asianisch>, nicht <atti-
zistisch>. M a n weiß, d a ß Kircher sich jahrelang mit semitischer
Sprachkunde u n d mit Hieroglyphik beschäftigt hat, wie schon
Marsilio Ficino und Pico della M a r a n d o l a . Sein seltsamer Neu-
Lullismus enthält sicherlich noch g r u n d l e g e n d e plato-aristoteli-
sche E l e m e n t e . Aber diese w e r d e n — eine manieristische Denkform Hellte 161 5 seine «Janua linguarum*.
— synkretistisch ergänzt, aus salomonischer Weisheit, Talmud- Darin sind die Wörter und Redens-
arten, die zu lernen waren, nach
Wissen, Kabbala u n d N e u p l a t o n i s m u s . Diesen Neo-Lullismus hat
sachlichen Rubriken derart zusam-
Mallarme, wie wir aus der Zahl 5 6 2 8 8 0 0 wissen, als methodische mengestellt, d a ß gleichzeitig so et-
Basis für sein entsprechendes lyrisch-chiffriertes Weltsystem einer was wie ein Weltspiegel gegeben
w u r d e . Arnos Komensky (Come-
All-Kombinatorik g e n o m m e n . Aus späteren Verarbeitungen sol- nius) hat in seiner «Janua linguarum
cher Stoffe im Frankreich der HI. Republik, wo <Magie> besonders reserata> (1631) in etwa 1200
(Jbungssätzen die Dinge der Welt
beliebt war, m a g M a l l a r m e , der solche L e k t ü r e schätzte, diese dargestellt. Um einen Weltkatalog
kombinatorischen Verfahren in ihrer <magischen> A n w e n d u n g internationaler S p r a c h e n hat Bacon
sich b e m ü h t («Descriptio globi intel-
kennengelernt haben, d e n n nichts beweist, d a ß er das allerdings
lectualis), 162^). Leibniz hat mit
oft popularisierte Werk des <Grand Jesuite Allemand>, Kircher, Kircher über dessen <Ars Magna>
selbst gekannt hat. Kombinationstafeln dieser Art findet m a n aller- korrespondiert. <Zum Verständnis
von Dichtungen>. meint Dornseiff.
dings im Werke des m i t i h m befreundeten Erzmagiers Papus. <die ein relativ geschlossenes Voka-
Doch brauchen wir uns nicht in derartige Gefilde zu begeben, bular durch i m m e r n e u e Variationen
h e b e n und steigern, wie etwa . . . die
wenn wir für unsere Leser einen Ariadne-Faden bis zur Gegenwart Gongoristen. Marinisten. E u p h u i -
geben wollen, d e n n nichts wäre falscher, als a n z u n e h m e n , wir be- sten. Preziösen. Schlesier des 17.
J a h r h u n d e r t s , m a n c h e Romantiker
wegten uns in A b g r ü n d e n längst vergessener Geschichte. Wieder u n d die Symbolisten, wäre es
ist es Novalis, der diesen Ariadne-Faden bis zu uns hinüberreißt. äußerst förderlich, einen solchen
Seine <Fragmente> zur Kombinationskunst sind m e h r als Stich- Wortschatz nach Sachen zu inachen:
Die Stellen erläutern sich gegensei-
worte. Es sind Zeichen, die uns dazu verhelfen, E p o c h e n zu über- tig in oft ü b e r r a s c h e n d e r Weise.>
brücken. Hier einige seiner z e i t u m s p a n n e n d e n Durchblicke: <Die D i c h t u n g wäre somit «die letzte und
höchste S t e i g e r u n g des Svnonv -
Analyse ist die Divinations- oder die Erfindungs-Kunst auf Regeln menschubs>. Von Homonvmen-
gebrachte <Alle Ideen sind verwandt. Das Air de Familie n e n n t m a n S c h ü b e n w e r d e n wir noch hören.
Sprachliche Ableitungsyerfahren
Analogie.) <Sippschaften von Gedanken.) <Mein Buch soll eine dieser Art gehen auf den b e r ü h m t e n
szientistische Bibel werden, ein reales u n d ideales Muster und Hebräer Porphyrius von Tvros
( 2 ^ 2 - 5 0 4 ) zurück, auf seine "Einlei-
Keim aller Bücher.) <Es lassen sich auch eine Perspektiv u n d m a n -
t u n g zu den Kategorien des Aristote-
nigfache tabellarische Projektion der Ideen denken, die u n g e h e u - les) (Eüagoge). Aristotelismus wird
ren Gewinn versprechen.) <Eine sichtbare Architektonik und Ex- von diesem Schüler Plotins mit Neu-
platonismus vermengt. Der k o n z e p -
perimentalphysik des Geistes, eine Erfindungskunst der wichtig- tualismus des Porphyrius gab mit
sten Wort- u n d Z e i c h e n i n s t r u m e n t e läßt sich hier vermuten.) Anlaß z u m Universalienstreit zwi-
schen Nominalisten und Realisten.
Nach d e m nominalislisehen Kon-
Manieristische T r a d i t i o n e n . . . auch gerade in der Kombinato- zeptualismus sind Begrille rein sub-
rik! Die kombinatorische Erfindungskunst war in der antiken u n d jektive Operationszeichen, sie haben
mittelalterlichen Literatur wie im Schulwesen bekannt. S a m m l u n - also keine objektive Wirklichkeit.
E i n m a l ist die ästhetische Vorzugs-
gen des Wortschatzes n a c h Begriffskreisen findet m a n vor allem in stellung d e s <Concetto> im ^ . J a h r -
Alexandrien; auch dort w u r d e n sie mit magischen Kosmogonien in h u n d e r t aus diesen Z u s a m m e n h ä n -
gen zu erklären, d a n n aber auch die
Verbindung gebracht. Z u r A b t ö n u n g des Ausdrucks suchte m a n U b e r b e t o n u n g der Dichtung als
schon im lyrischen Esoterismus des Kallimachos-Kreises nach Z y - «reine Sprache*. Schon im Mittelal-
ter w u r d e der Nominaiismus als «via
klischem W e n d u n g e n . Im Mittelalter entsprach insbesondere dem m o d e r n a . bezeichnet. Die Realisten
scholastischen Syllogismus diese M e t h o d e sehr. Wort-<Maschi- folgten der «via antiqua.. Vgl.
Freund. M o d e r n u s und a n d e r e 7-eit-
nen> sind d e n Mystikern u n d Kabbalisten der Renaissance be-
begriffe des Mittelalters. In «Mün-
kannt, von Agrippa von Nettesheim bis zu Giordano Bruno, vor sterische Beiträge zur Geschichtsfor-
allem dem M a n i e r i s m u s der Nachrenaissance. 3 6 schung> Bd.4, Köln-Graz 1 9 , 7 .
<Geheimnis der Geheimnisso
Wortmaschinen? Auch Begriffe werden zu Phantasiai! Manieristi-
sche Kombinationskunst mit begrifflichen Phantasiai. Begriffe
werden, wie im Nominalismus, n u r noch subjektive, phantastische
Operationszeichen, wobei wir nicht übersehen, daß <die Funktion
des Nominalismus genau der Rolle entspricht, die die Sophistik in
der Geschichte der antiken Kunst u n d Kultur spielte. Beide gehö-
ren zu den typischen philosophischen L e h r e n antitraditionalistisch
denkender u n d liberal gesinnter Epochen.) Im 17. J a h r h u n d e r t er-
reicht diese <Via moderna> einen neuen H ö h e p u n k t , doch werden
wir eine weitere wesentliche Unterscheidung zu m a c h e n haben.
Die kombinatorische Erfindungskunst wird als Mittel für die Zu-
sammenstellung von abstrusen Metaphern gepriesen. Diese lassen
sich dann, wie wir später sehen werden, im <Concetto> mit sophisti-
schen <Paralogismen> <vereinen>. E m a n u e l e Tesauro stellt in sei-
n e m <Cannocchiale Aristotelico> einen <Kategorialen Index> auf.
Hier handle es sich, so schreibt er, u m das <Geheimnis der Ge-
heimnisse), u m eine unerschöpfliche Quelle für M e t a p h e r n , Sym-
bole und lyrisch-paralogische Sinnfiguren (concetti). An H a n d der
Kategorien des Aristoteles zeigt Tesauro, wie m a n ganze Wortfa-
briken in G a n g setzen kann. Diese Ableitungsreihen lassen sich
n u n kombinieren. Es ist nach ihm dies die beste maniera, u m (Wäl-
57
o.e. p. 68. H. Deeimalor veröffent- der von Metaphern> zu erzeugen. 3 7 Auch Joh. Christoph M ä n n l i n g
icht if>ob eine <Sylvae vocabu-
anim>.
empfiehlt Ableitungstabellen. Das sind n u r zwei Beispiele für viele.
Hier ist der Zeitpunkt für die in Aussicht gestellte Unterscheidung
gekommen.

Das amphibische Ingenium


Schon der literarische Manierismus gebraucht die Kombinations-
kunst nicht n u r zur Erfindung oder gar n u r zu sprachlich-logischen
Ableitungen. Er stellt sie in den Dienst einer ästhetischen Para-
Logik, des Phantastikon, d.h. er benutzt die Ableitungsketten
nicht, u m rationale, sondern u m irrationale Wortverbindungen,
u m <seltene> u n d <ungewöhnliche> M e t a p h e r n u n d <staunenerre-
v- gende> Symbole zu erhalten. Tesauro kombiniert z.B. zum Begriff
<klein>: Nadir mit Atom, Pupille mit Senfsamen, G e m m e mit Ex-
trakt, Bienenstachel mit Fischschuppen usw. Die Kombinations-
kunst dient also dem <paralogischem <accoppiare circonstanze piu
p( l o n t a n o , der effektvollen Vereinigung des entferntesten, nicht also
58
o. c. p . 5 1 . Dazu E. A. Poe: 11 prefer des (logisch) Nächsten. 3 8 Es entsteht eine <Para-Rhetorik>. Bei den
c o m m e n c i n g wilh the consideration
of an elteet.. et". • Seierted Poems>.
Traktatisten des 17. Jahrhunderts, besonders in Italien, Spanien
New York 10,51. P- V ' t - und England, ist eine erste A b w e n d u n g von der klassischen Rheto-
rik festzustellen und zu belegen.
M a n operiert zwar mit logisch-syllogistischen Mitteln, aber u m
Anti-Logisches zu erzeugen. M a n <sucht> <Argomenti urbanata-
mente fallaci>, in angenehmer Weise <trügerische> Argumente,
überraschende <topoi fallacü, d. h. <paralogismi>. Insofern heißt gut
dichten gut <lügen>, mit syllogistisch-dialektischer M e t h o d e . Te-
sauro: <Die Lügen der Dichter sind nichts anderes als Paralogis-
men.> Novalis: <Symbole sind Mystifikationen.) Wir stehen hier
wieder vor einem manieristischen G r u n d e l e m e n t , auch in der bil-
denden Kunst bekannt, dem Beversibilitätsprinzip.
Alles kann in ein Gegenteil ver-kehrt, vertauscht werden. Aus
322 der Kombinationskunst als einem Instrument zur Erkenntnis ratio-
naler Z u s a m m e n h ä n g e wird ein Instrument zur Bildung irrationa-
ler Verhaltnisse gemacht.
M a n <siicht> das Ahstruse methodisch. M a n erzeugt auf diese
Weise systematisch Dunkelheit, Anigmatik, Meraviglia, Stupore,
Novitä. <In zu klaren Wendungen>, schreibt Tesauro, <verliert der
Scharfsinn sein Licht, so wie die Sterne im Morgenlicht erblassen.)
Echte Poesie leuchtet wie die Sterne im Dunkeln.
Schon im Manierismus des 17. J a h r h u n d e r t s erfolgt also eine
Deformation des Ars Combinatoria. In Graciäns Traktal uBer m a -
nieristische Literatur, d e n M e n e n d e z Pelayo <einen Kodex des
poetischen Intellektualismus) nennt, wird die <correspondenciare-
condita>, die <verborgene> Beziehung, und zwar anläßlich Göngo-
ras gelobt. Graciän empfiehlt, m a n solle <concordar los extremos
repugnantes>, <die widerstrebenden Extreme vereinen). Schwie-
rigkeit und Verborgenheit können nicht groß g e n u g sein. Zwei-
deutigkeit ergibt Tiefe u n d Geheimnis. Das o m p h i b i s c h e Inge-

Titelblatt von Tesauros Hauptwerk

CANNOCCHIALE «Das aristotelische Fernrohr».


Venedig 1665

A R 1 S T O T E LICO,
Ofia, Idea
DElVARGVTAET INGENIÖSA EL0CVT10NE,
Che ferue ä tutta l'Artc
ORATORIA, LAPIDARIA, ET SIMBOLICA.
ESAMINATA Co' PRINCIPII

DEL DIVINO ARISTOTELE-


Dal Contc
D.EMANVELE TESAVRO,
CAVAÜRR GRAN CROCB DE' SANTI MAVRITIO, ETLAZARO.
SECONDA IMPRESSIONE,
4ccrefii*ta <Ult Autore di due nuoui Traft ad, cioe,
DE' CONfCETTl PREDICABIU, ET DEGLI EMBLEMI.
AlI,Uluftrifs:,no' & Eccell:010 Sig."

LORENZO DELFINO

IN VENETIA*jPre{ßP4ohB*zlb*l. M.DC._LXnL
Con Liccnza de' Superiori» c Priuilcgio.

ö5<miu* fr.jj«»t S/fdmlU $**..%


323
Manuskriptseite aus «Blütenstaub»
4
von Novalis, Freiburg i. S. 1798 0/7 P. / " '

/t++->

:
^^^ f^jFi£T

nium>, das sich in einer Doppelwelt des Faßbaren u n d des Unfaß-


baren bewegen kann, wird gelobt. Greifen wir wieder zu u n s e r e m
Ariadne-Faden, zu Novalis. Das s c h e i n b a r e Schreiten vom Be-
schränkten zum Unbeschränkten ergibt eine pseudologische, poe-
tische Ontologie>. <Magische Lettern> geben Novalis das alchimi-
stische Rezept für seine <magischen Schemata der Z u k u n f b .
Was die Manieristen an der Kombinationskunst anzog, war also
ihre Labyrinthik, d. h. das berechenbar Unberechenbare. Die k o m -
binatorische Welt wird als ein <Labyrinth von abstrakten G e d a n -
ken) empfunden. Auch die logische Ars Combinatoria gilt als ein
/ <Alphabet der Gedanken>. <Diese M e t h o d e verschafft u n s einen
Ariadne-Faden durch das Weltlabyrinth.> Wer die <Ars Magna>,
eine <Mathesis universalis) beherrschte, hieß <Artista>. Was aber
den manieristischen Dichter daran fesselt, ist die Umkehrbarkeit
des <Suchens>. M a n will das Labyrinthische mit diesem System
nicht entwirren, sondern bis ins Unendliche hinein tiefer verwir-
324 ren.
5. S O P H I S M E S MAGIQUES

Lyrische Trugschlüsse
Der Problematiker neigt zur <irrationalen> K o m b i n a t o r i k . . . u n d
zum Trugschluß! Die Technik der Versetzung von Wörtern bzw.
Buchstaben n a n n t e n die Sophisten z.B. <Logogriph> (aus logos =
Worte u n d griphos = Netz, Rätsel). Es k ö n n e n w a h r e u n d täu-
schende (fallaci), labyrinthische Wortnetze gebildet werden. Irra-
tionale Wortnetze führen zur M e t a p h e r n f i n d u n g , zum Concetto
(Paralogismus plus Oppositions-Metapher) u n d zum Symbolis-
mus. Die Sophisten b e d i e n e n sich jedoch nicht n u r der t ä u s c h e n -
dem rhetorischen F i g u r e n , so etwa u. a. der H o m o n y m i e (absichts-
volle Verwechslung der v e r s c h i e d e n e n Bedeutungen desselben
Wortes), der Amphibolie (Mehrdeutigkeit des Satzes) und der listig
verstellten Disposition ifallacia consequentis). Sie schaffen nicht
nur eine Art von manieristischer Para-Rhetorik durch solche ab-
sichtsvoll deformierenden sprachlichen Mittel. Sie operieren auch
und gerade mit P a r a l o g i s m e n , m i t Trugschlüssen, auch Sophismata
genannt. Sie v e r d r e h e n u. a. d e n Beweissatz, verändern den Streit-
punkt, sie lassen d e n Beweisgrund i m ungewissen ifallacia falsi
medii), sie m a c h e n d e n Beweissatz z u m Beweisgrund (Zirkelbe-
weis) oder <springen> im Schließen usw. Tesauro r ü h m t solche
<fallacia>, solche <paralogismi> geradezu als Gipfelleistungen des
dichterischen I n g e n i u m s . D i e manieristische Dichtung ist schon
im <Asianismus> der Antike d u r c h solche pararhetorischen u n d
paralogischen Kunstgriffe g e k e n n z e i c h n e t . Entscheidend ist im-
mer das, was U n a m u n o einmal, hinsichtlich des spanischen Kon-
zeptualismus, als <Vergewaltigung>, wir wollen sagen, als Ver-
drehung, U m k e h r u n g (Reversibilität) <der Logik durch die Logik>
bezeichnet. Das H a u p t der preziösen Nürnberger, Harsdörffer,
nannte dies <Vernunft-Kunst>, Friedrich von Schlegel n a n n t e sie
<Vemunftdichtung>. 39 <Die r e c h t e Quelle der Kombinatorik liegt 59
In einer Besprechung von Jean
Pauls <Vorschule der Asthetik>. Zum
in der Poesie, also m ü ß t e m a n freilich mit Hieroglyphen anfan- erstenmal herausgegeben von Ernst
gen.) Behler in der <Neuen Rundsrhau>.
1957, Heft4.
Rimbaud prägte den Ausdruck: <Sophismes magiques>.
Wie entsteht n u n aus d e m Paralogismus durch <Verarbeitung>
mit Oppositions-Metaphern ein manieristisches Concetto? G e h e n
wir von d e m Paralogismus aus: <Was m a n nicht verloren hat, hat
man noch. D u hast H ö r n e r nicht verloren. Also hast D u Hörner.>
Für diesen Paralogismus, mit Oppositions-Metaphern <orniert>,
im Sinne des <delectare> mit Phantasiai, wollen wir zwei von uns
selbst <kombinierte> scherzhafte Beispiele geben, eines auf franzö-
sisch-preziöse u n d eines auf deutsch-barocke Art: 1. <Im Spiegel
siehst Du i m m e r D e i n Gesicht / D o c h fehlt das Auge Dir für Vor-
sicht / Da Du das nicht verlieren kannst, / was D u noch hast, so hast
Du wohl die Liebste n o c h / doch ihre Treue hast D u längst verlo-
ren.) 2. <Das Nicht-Verlorene ist unverloren / Das Un-Verlorene
steter Besitz / D a s heimlich H ö r n ist auserkoren / Ist keineswegs ein
bloßer Witz / D a s H ö r n , das bläst u n d das H ö r n , das ziert; / das
laute Hörn oft das stille gebiert.) Tesauro gibt zu diesem Verfahren
onigmatischer Reflexionen) eine ganze Liste von maniere, u n d
zwar zum T h e m a : <Die Biene im Elfenbein), so z.B. (als Kombina-
tionsmöglichkeiten für Paralogismen): <Hic iacet; non iacet; in la-
Pide; non lapide; clausa, n o n clausa; volucris, non volucris; rapta,
dum rapit> usw. D a z u ein Vers aus unserer Zeit (von H a n s M a g n u s 325
Enzensberger): <Die Wespe im Bernstein bebt / unterm Gejaul der
Geräte.)
Damit kommen wir der manieristischen Reversion der Ars Com-
binatoria näher, doch haben wir ihre Bedeutung auch für die zeit-
genössische Dichtung vorher noch zu belegen. Die Geschichte der
Rhetorik in Verbindung mit der Geschichte der Logik ist <noch ein
unerforschtes Feld>. Für die neue französische, spanische, italieni-
sche und englische Literatur hat die Rhetorik als Instrumentarium
von Kunstgriffen, nicht also das, was m a n populär als <Redekunst>
versteht, ihre Bedeutung behalten. P a u l Valery z.B. tadelt einmal
zeitgenössische Kritiker, weil sie die Bedeutung rhetorischer Topoi
vernachlässigt haben. <Die Figuren>, schreibt er, <spielen eine
maßgebende Rolle in der bewußten und gestalteten Dichtung,
dann aber auch in jener ständig aktiven Poesie, die unseren erstarr-
ten Sprachsatz aufwühlt, die Bedeutung der Wörter erweitert oder
verengt, die durch Symmetrien oder Verwandlungen operiert.) Un-
merklich verwandle sie andauernd die Sprache. Wenn m a n Lyrik
verstehen wolle, müsse m a n mit Rhetorik anfangen. 4 0
Entsprechend positiv äußert sich Valery über die Kombinations-
kunst. «Die Gestalt dieser Welt ist Teil einer Familie von Figuren,
von denen wir, ohne es zu wissen, alle E l e m e n t e unendlicher
Gruppen besitzen. Das ist das Geheimnis der Erfinder.) <Die Lo-
gik). <eine mystische, kultivierte Logik>, <schenkt uns m e h r innere
Kombination, als wir zum Leben brauchen>. Sie geht aus <von einer
kleinen Gruppe von Zeichen und Symbolen). Es können «mecha-
nische Kombinationen) sein, <wie im Traum>. Es handelt sich u m
«psychische Onomatopoesien), u m «elementare Kontraste und
Symmetrien>. <Das Kunstwerk n i m m t den Charakter eines Mecha-
nismus an.> Dichten wird somit ein «induktives Verfahren). Kunst
ist: konstruktive Permutation. Leonardos A b e n d m a h l ist ein Sy-
stem «geheimnisvoller Kombinationen).
Apollinaire will das «synthetische Gedieht). Poesie ist «urlyrische
Alchimie). «Man m u ß sich vor dem Mißverständnis hüten, als be-
deute dieses Verhalten moderner Lyriker einen Ersatz für schöpfe-
rische Kräfte. Vielmehr ist zu beachten, daß die intellektuellen Be-
sonnenheiten die Sprache gerade dort zum lyrischen Siege führen,
wo sie ein kompliziertes, traumhaft verschwebendes Material zu
bewältigen hat.) Auch für Strawinsky ist der Künstler ein <homo
faber>, Poetik, in ihrem letzten Grunde, <Ontologie>. Der Kompo-
nist ist in erster Linie «Erfinder). Daidalosl
Aber sind in Deutschland, auch nach d e m 17. J a h r h u n d e r t ,
diese «geistigen Urformen der sprachlichen Mitteilung) je ganz
vergessen worden? Mitnichten, und gerade nicht in der deutschen
Romantik. Hören wir wieder Novalis: «Rhetorik . . . begreift die an-
gewandte oder psychologische Dynamik u n d die angewandte, spe-
zielle Menschenlehre überhaupt in sich. Technische M e n s c h e n -
lehre.)

Absichtlicher Zufall
Nun haben wir genügend Elemente, um die «geheimnisvolle) M e -
thodologie zu begreifen, die Mallarme faszinierte, als er Entwürfe
für sein Über-Buch machte. Die Dinge, als Chiffren für das Welt-
mysterium, sind da; wir haben sie nicht zu schaffen, wir h a b e n n u r
ihre Beziehung zu erfassen. Mallarme hatte «alle Bücher gelesen).
Sprache entsteht aus Sprache, Dichtung aus Dichtung, wie bei
Zuccari, dem Traktatisten der manieristischen Kunst, Kunst aus
Kunst entsteht.
Mallarme wollte <die g e h e i m e n Identitäten) herstellen, u n d er
unternimmt es mit Hilfe einer paralogischen u n d alogischen Kom-
binationskunst. E r vereint, wie die Manieristen des 17. J a h r h u n -
derts, Kombinatorik u n d g e r a d e jene rhetorischen Kunstgriffe, die
Aristoteles für die R e d e k u n s t als fehlerhaft, für die Poesie als er-
laubt bezeichnet hatte. U n d a u c h das empfahl bekanntlich schon
Tesauro, unser manieristischer Enzyklopädist aus dem 17. Jahr-
hundert.
Mallarme wählt ein Wort u n d stellt d a n n Wort- bzw. Bilder-
Netze her. 4 1 Aber er vermeidet dabei i m m e r das Naheliegende. Aus
41
Vgl. H.Friedrich o . c . p . g 8 , Inter-
pretation des Gedichts: >Ses pures
den Entwürfen zu seinem U b e r - B u c h erfährt m a n , daß er aus drei ongles>.
Grundwörtern, aus <chasse>, <yacht> u n d <guerre>, alle Z u s a m m e n -
hänge von wichtigen m e n s c h l i c h e n Ereignissen ableiten wollte:
Begräbnis, Taufe, E h e . So schafft das U b e r - B u c h sich, paralogisch
— alogisch — kombinatorisch, gleichsam selbst seinen Inhalt. Der
Zufall ist vernichtet. D o c h t ä u s c h e n wir uns nicht! Wir werden
noch genau sehen, wie diese Vernichtung des Z u f a l l s . . . durch be-
absichtigte <Zufälle> erfolgt. I m extrem Artifiziellen offenbart sich
wieder eine natürliche U r o r d n u n g , die kombinierte alogische on-
tologische O r d n u n g des M a n i e r i s m u s .
Es wäre jedoch ein Irrtum a n z u n e h m e n , diese <fabrication>, im
Sinne des griechischen Wortes <poieo> = ich m a c h e , ich dichte,
gelte nur für die r o m a n i s c h e n Literaturen. In E n g l a n d ist die Ver-
bindung von Poesie, Logik u n d Rhetorik auch im 20. J a h r h u n d e r t
erhalten geblieben. Die formalen M a n i e r i s m e n der metaphysical
poets des 17. J a h r h u n d e r t s sind in England, wie vielfach in A m e -
rika, auch für die b e d e u t e n d s t e n Lyriker des 20. J a h r h u n d e r t s vor-
bildlich geblieben, u n d zwar in einem sehr wissenden und b e w u ß -
ten Sinne. T. S. Eliot h a t die metaphysical poets meisterhaft analy-
siert, die <far-fetched association of the dissimilar^ die gesuchte
Vereinigung des U n ä h n l i c h e n , geistvoll beschrieben. 4 2 Der Con-
4i
rf. <Donne in our Tiine>. <A Gar-
land for J o h n Donne> und <The M e -
cettismus ist allein schon d u r c h die Shakespeare-Tradition in E n g - taphysical Poets>. Z u r reichen Lite-
land lebendig geglieben. Poesie u n d Scharfsinn (acutezza) sind ratur zu diesem T h e m a vgl. die Bi-
bliographie in d e m Werk von Sona
dort — von Outsiders a b g e s e h e n —nie als Kontraste empfunden wor- Raiziss. T h e Metaphysical Passion.
den. Syllogismus verstärkt die Möglichkeit des r a d i k a l e n Bildes>. Seven M o d e r n Poets and the Seven-
t e e n t h - C e n t u r y Tradition. Philadel-
phia 1952. Ferner u . a . <La Poesia
metafisica inglese del Seicento».
104^: C.Brooks. M o d e r n Poetrv and
the Tradition. C h a p e l Hill 1939. Der
Der Babylonische Turm zeitgenössischen englischen Kritik
gebührt für die E r h e l l u n g dieser Z u -
s a m m e n h ä n g e der höchste R u h m .
Was Deutschland angeht, so wächst das Verständnis für manieri- Die E n g l ä n d e r haben dabei den
Vorteil, o h n e den Begriff <Barock>
stische Z u s a m m e n h ä n g e in der sogenannten Barock-Lyrik, ohne a u s k o m m e n zu können.
sie nur negativ zu werten, in z u n e h m e n d e m M a ß e . Auch die m a -
nieristischen E l e m e n t e in der D i c h t u n g der deutschen Romantik,
nicht nur bei H e i n e , wo sie b e k a n n t u n d offensichtlich sind, wer-
den i m m e r deutlicFer erkannt. Novalis hat, wie schon angeführt, in
seinen F r a g m e n t e n bewiesen, d a ß er viel von k o m b i n a t o r i s c h e r
Analysis> gewußt hat. E r w a r dazu durch die L e k t ü r e von Leibniz
angeregt worden, wie dieser von Kircher u n d dieser wiederum von
Lullus. Die <Zahlen-Kompositionskunst> in Poesie wie Musik hat
Novalis geradezu fasziniert. D i e <kombinatorische Analysis als kri-
tischer Algeber> h a t i h n zu d e m folgenschweren Wort veranlaßt:
<Der Dichter ist der oryktognostische Analyst i m mathematischen
41
o . c . p . 19. Oryktognosie = klassifi-
Sinne, der das U n b e k a n n t e aus d e m B e k a n n t e n findet.) 4 5
zierende Mineralogie.
Folgenschwer? Die Dissertation eines der begabtesten Dichter
der neuen Generation in D e u t s c h l a n d , die Arbeit von H a n s M a - 327
enus Enzensberger: <Über das dichterische Verfahren in Clemens
Brentanos lyrischem Werk>, bietet dafür lehrreiches Material. Wir
lesen dort vom syntaktischen Choc als Entstellungsmittel>, von
<der Zerstörung) traditioneller <Materialien> <zur Gewinnung
neuer sprachlicher Möglichkeiten), von entstellender Poetik>,
vom berechnenden Zerbrechen geläufiger Wortketten, von metho-
discher Verdunkelung an Stelle von Präzisierung, von dabyrinthi-
schem Dursttraum>, von Einflüssen aus dem 17. Jahrhundert.
Brentano schreibt selbst von <bizarrer Manien der <Umkehr>, der
<Entstellung>.
Zur <Labyrinthik> werden wir an Friedrich Schlegels Wort erin-
nert: <Der Anfang aller Poesie (ist), den Gang und die Gesetze der
vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die
schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der
menschlichen Natur zu versetzen.) Zentral dazu wieder ein Wort
von Novalis: <Der Poet braucht die Dinge und Worte wie Tasten,
und die ganze Poesie beruht auf tätiger Ideenassoziation, auf
selbsttätiger, absichtlicher idealischer Zufallsproduktion. >
Die Methode, derart Paradoxales zu erreichen wie absichtliche
ZufaIlsproduktion>, ist uns nun bekannt. Der <absolute> Zufall
wird also vernichtet, wir sagten es schon, durch den beabsichtigten
Zufall. Labyrinthisches Mysterium! Wieder saturnischer Wahn-
... Sinn. Streben nach Ordnung aus reversiblen Ordnungen.
Künstliche Anti-Ordnung als Emblem für verborgene Ordnung!
Daidalische Phantasiai!

Das montierte Gedicht


Was die zeitgenössische deutsche Lyrik angeht, so hat Gottfried
Benn auch sie, d.h. die Dichtung, wie er sie sich dachte, in diese
Zusammenhänge gerückt. Mit der ihm eigentümlichen Verve hat
auch er die kombinatorische Erfindungskunst gepriesen: <Worte,
Worte - Substantive! Sie brauchen nur die Schwingen zu öffnen
und Jahrtausende entfallen ihrem Flug. - Botanisches und Geo-
graphisches, Völker aller Länder, alle die historisch und systema-
tisch so verlorenen Welten, hier ihre Blüte, hier ihr Traum - aller
Leichtsinn, alle Wehmut, alle Hoffnungslosigkeit des Geistes wer-
den fühlbar aus den Schichten eines Querschnitts von Begriffe Mit
dieser <Großen Kombinationskunst> ist also wirklich alles ableitbar
geworden! <Das Wort hat eine latente Existenz. Dies scheint mir
das letzte Mysterium zu sein.> So also entsteht das faszinierend
montierte Gedicht>. Walter Höherer stellt anläßlich eines Gedichts
<Kombination XI> von Helmut Heißenbüttel fest: <Die .Fluores-
zenz', in der die Bedeutung vielfältig ist, gibt dem Wort die Mög-
lichkeit, in neue Nachbarschaften zu treten.) Heißenbüttel selbst
dichtet: <Poesie - beginnt, wo die Inhalte aufhören...) <Das Ge-
dicht ist - ein Molekularmodel] aus Vokabeln.)

Unübersehbare Gefilde
Wir glauben es, wenn Benn sagt, es handle sich da nicht um Nihi-
lismus und Laszivität). Aber er weiß es selber: <Sie verlassen die
Beligion, sie verlassen das Kollektiv und gehen über in unüberseh-
bare Gefilde.) Die sprachlich-lyrische Kombinatorik führt zu ei-
Titelkupfer zum (Mysterium
Magnum> von Jakob Böhme.
Amsterdam 1682
nem metaphorischen Fiktionalismus und schließlich zu einem
Wort-Pantheismus. Sie ist zu einem erregenden Ersatz geworden
für das Wort als Träger metaphysischer Symbolik, als konkret of-
fenbarendes Logos-Zeichen. Die säkularisierte Kombinatorik
führt zur gegenstandslosen Wörter-Hieroglyphik unseres Jahr-
hunderts.
Es ist bezeichnend, daß man neuerdings die Kombinatorik auch
zur Herstellung von Weltraum-Romanen, von <science-fiction>
empfiehlt. Durch Ableitungen kann man alle Planeten mit kombi-
natorisch Erfundenem beleben. Wir begegnen auch hier einem
nur anscheinend neuen kombinatorisch-kosmogonischen Rebus-
Spiel. Nicht Jules Verne, sondern Athanasius Kircher hat die ersten
Weltraum-Reisen beschrieben, das Landen auf Mars und Saturn.
Die Phänomenologie der Komposition mag grenzenlos sein. Trotz-
dem darf man nicht übersehen, wie eine abstrakte Choreographie
von Metaphern zu einer wieder <zufälligen> Mechanik der Bil-
derfolge führen kann und damit zu einer sprachlich erstarrten Re-
bus-Landschaft. Gedankenlyrik ohne Gedanken ist die Folge,
Poesie ohne Menschen, Rede ohne Gegenüber. Es ergibt sich eine
esoterische Liturgie der Dichtung ohne authentisches Dasein>.
Solche Literatur wird zum Religionsersatz. In der Grenzenlosigkeit
der manieristischen Erfindungskunst liegt nicht nur ihre Dunkel-
heit, sondern auch ihr nächtliches Schicksal, ihr tiefer Abgrund,
ihre chimärische, unersättliche Zeugung des Satzes mit dem Satz,
des Wortes mit dem Wort, des Buchstabens mit dem Buchstaben.
Das Bild des Turms zu Babel steht vor unseren Augen, das Ursym-
bol für konstruktivistische Hybris. Wie sein Bau durch Sprachver- 32g
wirrung unterbrochen wurde, gehört zu den erschreckenden
Wahrheiten aller Mythen. M a n begreift, daß Jakob B ö h m e gerade
im 1 7. Jahrhundert die dingua adamica> wieder suchte, die Ur-
und Natursprache, die durch den Sündenfall verfiel u n d dadurch
die babylonische Sprachverwirrung verursachte.

Scheitern
Manierismus ist stets ein Ergebnis starker polarer S p a n n u n g e n
" Übel Polarität, z u m \ u m i n o s e n : zum Nominosen, zur Gesellschaft, zum eigenen Ich. <Das Naive>,
i l . Leopold Ziegler, Überlieferung.
Leipzig iij^fi. Über Polarität zur G e -
erkennt Novalis genau, <ist nicht polarisch. Das Sentimentale (sen-
sellschaft: cl. Arnold Gehlen, Sozio- timental im Sinne des Sentimentalischen Schillers) ist es.> Doch
logischer K o m m e n t a r zur modernen
Malerei. .Merkur.. München, IV
gibt es auch eine ästhetische Polarität, speziell im Manierismus:
I958. I 'her psychische Polarität: cf. diejenige der künstlerischen Vollendung und diejenige des Schei-
Harald Schulz-Hencke, Der ge-
terns. Der <Manierist> wird künstlerisch überzeugen, w e n n es sich
h e m m t e Mensch. Leipzig 1940;
Mai V\ieser, Der sentimentale um eine tragische, saturnische P e r s ö n l i c h k e i t . . . im Scheitern
Mensch. Stuttgart it)J !•• handelt. Scheitern wird der Manierist dann in seiner Kunst, w e n n
die Spannung zum Scheitern bei i h m eine bloß künstliche ist.
Scheitern wird er auch, wenn er nicht nur <Manierismen> kopiert,
sondern überdies das äußere dämonische Lebensbild wirklich
schöpferischer Manieristen n u r nachahmt. W i e d e r u m ergibt sich:
Bloße N a c h a h m u n g und <Natur> im Sinne einer säkularisierten
Mimesis ist eher in der aurea mediocritas verflachter Attizisten
möglich. Im saturnischen Bereich der Manieristen führt die be-
rechnende N a c h a h m u n g noch mythisch g e b u n d e n e r oder auch
' Schon QuintiHftn o.e. hat von
nur subjektiv bestimmter Phantasiai 4 5 unvermittelt zur extremsten
berechnender Nachahmung der
• Phantasiai- gesprochen. Clownerie: zur Clownerie nur noch vor dem Spiegel. Ist der Baby-
lonische Turm nicht auch ein Symbol des Scheiterns?
ZWEITER TEIL

Die Welt in
.Bildern

6. M E T A P H O R I S M U S

Königin Metapher

D
er M a n i e r i s m u s ist also stets ein Ergebnis polarer Span-
n u n g e n z u m Geist, zur Gesellschaft, zum eigenen Ich. Da-
mit wird er z u m legitimen Ausdruck eben dieser Proble-
matik, zur a n g e s p a n n t e n Ausdrucksweise der Problematik des so-
zusagen <modernen> M e n s c h e n , im Gegensatz zur entspannten
Ausdrucksart des noch traditionalistisch g e b u n d e n e n , des konser-
vativen M e n s c h e n im besten Sinne, der, auch nach heftigsten Er-
schütterungen, i m m e r wieder zur Seinsgewißheit zurückfindet.
Das Erlebnis des Seinsverlustes jeder Art in weltgeschichtlichen
Krisen verstärkt g e r a d e im Problematiker, im Melancholiker, in
seiner sehr spezifischen Empfindlichkeit, das Gefühl der Verwan-
delbarkeit und Verwandlungsfähigkeit aller Dinge. Wenn die ob-
jektive Welt nichts Konkretes, eindeutig Geltendes m e h r zu bieten
zu haben scheint, beginnt die Welt der subjektiven Beziehungen
ihre M a c h t zu zeigen. D e s w e g e n erhält die Metapher, die Übertra-
gung eines Dinges auf ein a n d e r e s , im M a n i e r i s m u s den Charakter
eines für diese strukturlose Welt höchst angemessenen Mittei-
lungsmittels, ja, eines Zaubermittels. Das unendliche Verwand-
lungsspiel, das die M e t a p h e r erlaubt, ein verwegener Reigen von
abstrusen M e t a p h e r n , erreicht im H o c h m a n i e r i s m u s geradezu die
Bedeutung eines Spiegels der Welt. In ihm erscheint das C h a o -
tische der P h ä n o m e n e d u r c h ein ingeniöses Metaphern-Ballett ar-
tifiziell geordnet. Die M e t a p h o r i k schenkt die Scheingewißheit
einer künstlich h a r m o n i s i e r t e n Welt. Sie trägt auch dazu bei, ge-
wohnte Bilder einer zu optimistischen Ordnungswelt zu zerstören.
jedoch auch dazu, in Paradoxien höchster Künstlichkeit eine magi-
sche Welt überrelativer Zaubereinheit herzustellen. Insofern ge-
winnt die Metapher für jeden Manierismus, für den noch mythisch
gebundenen des Hellenismus wie für den säkularisierten der Neu-
zeit, eine dämonische Macht.
Deswegen gilt es gerade hier scharf zu unterscheiden. F ü r den
bei allem Subjektivismus noch mythisch g e b u n d e n e n Manieris-
mus der Antike ergibt sich die Gleichung: <Metapher gleich Gott>
das heißt die Verwandlungskraft Gottes spiegelt sich in der Meta-
pher, und es ist dies ein Ausdruck Tesauros, des Manieristen im
17. Jahrhundert. F ü r den säkularisierten M a n i e r i s m u s wird die
Metapher zur Gleichung: <Metapher gleich Mensch>, u n d es ist
dies schon eine Formel von Novalis, dem Romantiker des i g . Jahr-
hunderts. Schließlich aber, in der Spätliteratur europäischer und
amerikanischer Großstädte des 20. J a h r h u n d e r t s , wird die Meta-
pher n u r noch zur Gleichung: M e t a p h e r gleich Rätsel, Ausdruck
also nur noch der letztlich n a m e n - und gesichtslosen <Wirklich-
keit>. So Andre Breton, der Surrealist im 20. J a h r h u n d e r t .
Das sind Kernformeln des manieristischen M e t a p h o r i s m u s . In
jeder Epoche will er aber, auf gleiche/orma/e Weise, durch Über-
tragungen (griech. metaphora = Übertragung), in Bildern letzte,
unergründliche Dinge vermitteln. Die sogenannte orphische Me-
tapher hat mythischen Ursprung, sie k a n n diesen C h a r a k t e r sogar
in einer Epoche der Massenzivilisation behalten. Gleichzeitig aber,
schon in älteren Kulturen, erfolgt das bloß ingeniöse H a n t i e r e n mit
Metaphern, das verdeckende Verwandlungsspiel, die sinnentleerte
Kettenbildung von Metaphern, der literarische Ornament-Stil.
Schon die Wortzerbrechung ist ein Anlaß zur Metapher. Aus
dem Wort <Onix> kann <Oh, Nix> (Schnee) w e r d e n u n d d a n n <oh,
nix flamma mea> (Oh, Schnee, meine F l a m m e ) . <Onix> = <Schnee>
= <Flamme> — das Gegensätzliche wird v e r b u n d e n durch eine
kunstvolle Vereinigung von Wörtern, eines der beliebtesten manie-
ristischen Stilmittel. Eine Metapher erzeugt zahllose andere. Asso-
ziationsketten von <Bildern> entstehen, ob es sich u m Metaphern,
Gleichnisse, Vergleiche, Symbole, E m b l e m e u n d Katachresen
(Gebrauch eines Wortes in uneigentlicher B e d e u t u n g wie z.B.
<Bart eines Schlüsselst, u m Allegorien, Personifikationen handelt
oder um Oxymora (sinnreich pointierte Verbindung sich gegensei-
tig ausschließender Begriffe) wie z. B. <eisige Flamme>.
Die Metapher ist in diesem besonderen Sinne für den manieri-
stischen Dichter, wie es schon im 17. J a h r h u n d e r t heißt, die <Köni-
gin der Wort-Figuren>, die <geistvollste> u n d <scharfsinnigste>, die
<wunderbarste> und fruchtbarste>. Sie ist die geistvollste, weil sie
das Entfernteste miteinander verknüpft, Korrespondenzen des
Entlegenen bildet (Graciän). Sie ist scharfsinnig, weil sie das <Ab-
struse paart>. Auf diese Weise erzeugt sie das W u n d e r b a r e (meravi-
glioso). und wir wissen, daß Tesauro u n d A n d r e Breton, der Theo-
retiker des heutigen Surrealismus, das <Wunderbare> als <schon>
preisen, <ganz gleich, welches W u n d e r b a r e , es ist sogar n u r das
Wunderbare schön>. Das höchste Ziel der Poesie wird von Andre
Breton in gleicher Weise definiert wie von Tesauro: <Zwei Dinge
miteinander vergleichen, die voneinander so weit entfernt sind wie
möglich oder — ganz andere M e t h o d e - sie in ü b e r r a s c h e n d e r Ma-
nier gegenüberstellen.) Die Vereinheitlichung des Unvereinbaren
erzeugt <Stupore> (Überraschung). D u r c h die N e u h e i t wird der
Geist <überrascht>, sagt Tesauro, u n d auf diese Weise <genießt er>.
Wir haben es hier mit einer elementaren Technik zur Erfassung
von <Phantasiai> zu tun. Schon Heraklit schrieb: <Das E n t g e g e n g e -
Holzschnitt im Stil
des 16. Jahrhunderts
setzte p a ß t z u s a m m e n ; aus d e m Verschiedenen ergibt sich die
schönste H a r m o n i e . )
Schon fremdartige, fremdländische, seltene, künstlich zusam-
mengestellte W ö r t e r k ö n n e n diese W i r k u n g erzeugen. Baudelaire
stellt fest: <Das U n r e g e l m ä ß i g e , d. h. das Unerwartete, die Überra-
schung, das E r s t a u n e n stellen ein wesentliches E l e m e n t des Schö-
nen dar.> W i e die alogische M e t a p h e r , so bewirkt die Wahl selte-
ner, <gebildeter> Wörter <Rarität> u n d <Novität>. Der <Cultismo> von
Göngora bis M a l l a r m e u n d T. S. Eliot 1 vermengt abstruse M e t a - ' T. S. Eliots eigener Kommentar zu
«Waste Land> zeugt nicht nur von
phorik mit entlegenen Bildungsstoffen. <Seltene Dinge sind u n - <Cultismo>. Es handelt sich gera-
sterblich), schreibt Graciän. Dafür gibt es viele <Maneras>. Doch dezu um preziösen <Cultismo>. cf.
«Collected Poems). London 19^4.
beschäftigen die scharfsinnigen lyrischen Pointenfiguren {concep- p.ojff.
tos) Graciän viel m e h r als die M e t a p h e r . F ü r Tesauro hingegen
bleibt sie die <Königin der Poesie>. Die gesuchte, paralogische M e -
tapher hat den Vorteil, <Änigmatisches> zu erzeugen. Sie spricht
aut <dunkle Weise klar>. Sie zwingt den Leser <zu eigener Interpre-
tations-Kunst). Der R e d n e r m u ß sich vor Übertreibungen hüten,
der Dichter darf sich ihrer b e d i e n e n . Tesauro schenkt uns eine voll-
standige M e t a p h e r n - S t i l l e h r e . Auch hier wird dargelegt, wie m a n
aul künstliche Weise M e t a p h e r n bilden kann. Tesauro weist acht
maniere nach. Gelobt wird vor allem die <Oppositions>-Metapher,
so etwa: <Die Schildkröte ist eine Lyra o h n e Saiten>, <die Orgel ist
eine Nachtigall o h n e Federn>. M a r i n o wird als Musterautor oft zi-
tiert. Tesauro regt an, n a c h diesen acht maniere besonders verblüf-
fende M e t a p h e r n zu <machen>. Sie sollten d a n n als Material zur
manieristischen Kernfigur, z u m Concetto, dienen, zu einer bildli-
chen Kombination von Ideen, zu einem metaphorisch-lyrischen
Paralogismus. 333
Pablo Picasso: Illustration zu «Vingt
! )•
P o e m e s de (J6ngora>. Paris 1948

1 4

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7 T

Metaforeggiare
Mit dem Neologismus <metaforeggiare> kennzeichnet Tesauro
eine Mode, deren Übertreibungen sogar er tadeln m u ß . Gracian
gebraucht das Verbum <conceptuar>, u m das <moderno escribir>
zu kennzeichnen. Dichten heißt für Tesauro, ein <Worttheater
bauen>. Metaphorische Kunst ist die Wurzel aller anderen. Die Op-
positions-Metapher, d.h. diejenige, die das Gegensätzliche vereint,
ist das beste Erzeugnis des Scharfsinns, denn —und das ist wichtig -
<die Rhetoriker k e n n e n sie nicht). U m sie zu finden, soll m a n sich
der Kombinationskunst bedienen. M a n wird sich nicht wundern,
wenn Tesauro den <ingeniösen> Dichter als denjenigen preist, der
<alles in alles verwandeln kann, eine Stadt in einen Adler, einen
M a n n in einen Löwen, eine Schmeichlerin in eine Sonne>.
Men-
schen, die dies vollbringen, müsse m a n mit E n g e l n vergleichen.
Graciän setzt fähige Concettisten mit C h e r u b i n e n gleich. Gongora
ist deswegen <Schwan, Adler, P h ö n i x - i m Klanglichen, im Scharf-
sinnigen, im Extremismus>.
Der Wahnsinn wird zum Synonym für Metapher. Dichter, Ma-
thematiker und Irre haben für Tesauro etwas G e m e i n s a m e s . <In
Metapherm, schreibt Tesauro, <werden P h a n t a s m e n vertauschte
334 Am E n d e seines Romanes <Nadja> schreibt A n d r e Breton: <Die
Schönheit wird ,konvulsivisch' sein oder sie wird nicht sein.> In ei-
nem anderen Werk gibt Breton uns eine verschwenderische Defi-
nition: <Die konvulsivische Schönheit wird verschleiert-erotisch,
explosiv-starr, magisch-zufällig sein oder sie wird nicht sein.>2 Das
ist Neo-Asianismus in surrealistischer Quintessenz, mit dem Wil-
len, <klassische> bzw. <bürgerliche> Wirklichkeit zu zerstören. Doch
gehört dies zu der ersten P h a s e des Surrealismus. In einer späteren
will m a n — vor allem im W e r k e Eluards - eine n e u e Welt in n e u e r
Poesie erstehen lassen.

<Schöpfungsgerät>
Spanien ist ein L a n d der M e t a p h o r i k e r , durch jahrhundertelange
enge Verbindung mit d e m <Asianismus>, auch mit der späteren
arabischen Kultur. R a y m u n d u s Lullus ist Spanier wie Seneca,
Lukan und Martial, M u s t e r a u t o r e n für Gracian. Solche Beziehun-
gen wirken nach, w e n n Ortega y Gasset von der M e t a p h e r sagt, sie
sei <die größte Macht, die der M e n s c h besitzt. Sie grenzt an Z a u b e -
rei und ist wie ein Schöpfungsgerät, das Gott im Innern seiner Ge-
schöpfe vergaß, wie der zerstreute Chirurg ein Instrument im Leib
des Operierten liegen ließ>. D a s ist die Sprechweise Graciäns u n d
des in Südamerika g e b o r e n e n L a u t r e a m o n t , aber auch diejenige
Tesauro* u n d Peregrinis. M a n h a t viel d a r ü b e r geschrieben, wel-
ches das europäische U r s p r u n g s l a n d des Concettismus im
17. J a h r h u n d e r t sei. M a n schwankte dabei zwischen Italien, E n g -
land und Spanien. Gewiß ist der sogenannte E u p h u i s m u s älter als
Gongorismus u n d M a r i n i s m u s . Dafür sind formale und auch <in-
haltliche> M a n i e r i s m e n bei Tasso, bei Petrarca und selbst bei
Dante älter. Der U r s p r u n g des M a n i e r i s m u s in der europäischen
Literatur liegt zeitlich tiefer u n d r ä u m l i c h weiter entfernt, er liegt,
wir wiederholen es, im <Asianismus>. In Italien h a b e n sich aller-
dings nach d e m provenzalischen trobar clus u n d nach den mittella-
teinischen formalen M a n i e r i s m e n der neuzeitliche Metaphoris-
mus und Concettismus zweifellos, w e n n auch in Ansätzen, zuerst
entwickelt. D e r Italiener Tesauro ist jedoch, so reich seine Schatz-
kammer ist, längst nicht so scharfsinnig u n d keineswegs ein so gu-
ter Schriftsteller wie Gracian. A u ß e r d e m ist Göngora (wie Donne)
ein Dichter von Rang, w ä h r e n d Marino n u r ein literarisches Inge-
nieur-Talent ist. Italien h a t a b e r — aus Epigonenschulen Petrarcas
und Tassos — sicherlich als erstes europäisches L a n d die neuzeitli-
chen Theorien <alogischer> D i c h t u n g entworfen. Es lenkt uns dies
auf einen a n d e r e n K r o n z e u g e n für die <manieristische> M e t a p h o -
rik, auf Matteo Peregrini (1595—1652) mit seinem Werk: <Delle
Acutezze>, erschienen 165g, also noch vor den manieristischen
Traktaten Tesauros u n d Graciäns.

Sieben Quellen
Die sieben Quellen des lyrischen Scharfsinns sind, nach Matteo
Peregrini, <das Unglaubliche, das Zweideutige, das Gegensätz-
liche (Täuschende), die d u n k l e Metapher, die Anspielung, das
Scharfsinnige, der Sophismus>. Übertragungs-Kunst (Metaphorik)
besteht in der B e r e i n i g u n g des Gegensätzlichem. Es k a n n dies in
vielerlei moniere erfolgen. Gelobt wird das Wort Corydons, als m a n
ihm schwarzes Brot brachte: <Bring mir keines m e h r , sonst machst
Du Nacht!> U m gute Metaphern zu bilden, m u ß m a n sich vorn G e -
meinem entfernen und das <Seltene> suchen. U m seltene Meta-
phern zu finden, bediene m a n sich der Kombinationstafeln. Man
erhält damit zahllose Möglichkeiten. Doch h ü t e m a n sich vor
Übertreibungen. M a n wiederholt sonst die Fehler <asianischer
Redner>. Die <Asianer> sündigten nicht, weil sie den spielenden
Scharfsinn einführten, sondern weil sie darin kein M a ß hielten.
Doch Matteo Peregrini galt bei den dezidierten Manieristen sei-
ner Zeit, seines allzu milden revolutionären P r o g r a m m s wegen, als
rückständig. Gerade die asianischen <Übertreibungen>, die u.a.
Cicero zugunsten des attizistischen Stils bekämpft hatte, gelten den
Erzmanieristen des 17. Jahrhunderts als mustergültig. W e n n Ci-
cero an den Asianern die Wortvertauschung, die bis zur Unver-
ständlichkeit pointierten Sinnfiguren (concetti), den Metaphern-
Reichtum, die Überladenheit des Stils, die E m p h a s e , die Dunkel-
heit, die Geschraubtheit und Gesuchtheit tadelte, so trat er ein für
einen neuen lateinischen Attizismus, für einen lakonischen Stil
' cf. G e n n a r o Perrotta, Disegno Sto- <gesunder< Republikanität. 0 Matteo Peregrini, Typus einer Über-
r n o della Letteratura Greca. Mai- /
land 1 c)-,8. Cicero wurde zum Wort-
gangszeit, ist noch halb Ciceronianer geblieben. Deswegen erken-
führer einer literarischen Selbst- nen wir in seinem Werk besonders klar den Bruch, u n d zwar mit
stilisierung Roms, freilich e i n e m
dem deutlichen Hinweis auf den <Asianismus>, vor d e m er, im Ge-
e n t s p r e c h e n d e n Idealbild Attikas
folgend, gegen die «Fremdem Roms, gensatz zu Graciän, noch warnt, w e n n auch schüchtern, schon
gegen die Dichter. Schriftsteller und überwältigt vom Sieg der n e u e n alten M o d e .
R e d n e r aus Afrika und Asien. G e g e n
Hegesias aus Lvdien (geb. <Die wichtigste uneigentliche Sprachform ist die Metapher>
2 4 0 v . C h r . ) stellt Cicero die 'salubri- (Wolfgang Kayser). Nicht die Verwendung der M e t a p h e r ist ma-
tas> u n d <sanitas> des Atheners Lv-
sias (geb. 4 4 5 v . C h r . ) . W ä h r e n d der nieristisch, sondern der Metaphorismus, d.h. die exzessive Verket-
späteren, silbernen Latinität werden tung von Metaphern u n d die spezielle Verwendung der <Opposi-
d a n n , neuen asianischen geistigen
Strömlingen folgend. Seneca wieder
tions>-Metapher. Dabei k a n n m a n die Ergebnisse eines solchen
gegen Cicero auftreten. L u k a n ge- <metaforeggiare> in einzelnen Wort-Kunstwerken jeweils verschie-
gen Vergib Juvenal gegen Statins.
dener Dichter u n d Epochen leicht voneinander unterscheiden. Wir
Kompliziertheit. Subtilität. Preziosi-
tät und M e t a p h o r i s m u s werden wie- wollen diese Differenzierung nicht übersehen, auch w e n n wir vor-
der M o d e — gegen die ciceroniani- wiegend zeitlich kontinuierliche/brmaZe M a n i e r i s m e n nachzuwei-
sche Latinität. AJexandrieii siegt
wieder über Athen, die P h a n t a s i e sen haben. Wolfgang Kayser vergleicht z.B. Verse von Trakl mit
wieder über che <Mimesis> und g e - lyrischen Erzeugnissen von <Barock>-Dichtern. E r stellt mit Recht
gen den späteren imperialen Hof-
Klassizismus, cf. auch: R e n e Pichon. fest, daß im älteren Falle <durch den Verstand zwei selbständige
r listoire de la Litterature Latine. Pa- Elemente zu einer Mischung verbunden w u r d e n , w ä h r e n d (bei
ris i 9 4 7 , p - 4 3 5 f .
Trakl) in dem Glutstrom des Empfindens oder der Visionen eine
Verbindung entstand, die die Autonomie der E l e m e n t e aufhebt
und aus ihnen ein Neues, Drittes macht>. E i n Vergleich von meta-
phernreichen Gedichten von H o f m a n n s w a l d a u u n d Hofmanns-
thal macht dies in den D e u t u n g e n Kaysers n o c h deutlicher.
Was manieristische Formprinzipien angeht, stellen wir zunächst
wieder fest: manieristische Kombinationskunst wie mameristi-
scher Metaphorismus aller Zeiten dienen, im Sinne einer intendie-
renden Urgebärde, einer <paralogischen> Gestik der uneigentii-
chen Sprachform. Es ist begreiflich, daß Goethe die Metaphorik
(in seiner <klassischen> Zeit) genauso ablehnte wie die Hyperbe -
Wie auch i m m e r Gefühlskräfte oder <visionäre> Antriebe in jeweils
historisch verschiedenen Situationen, in verschiedenen nationalen
Z u s a m m e n h ä n g e n oder bei wertmäßig verschiedenen individue -
len Anlagen walten - seinem konstitutionellen Ausdruckszwang
und der entsprechenden Gestik entgeht kein Dichter, von Kalhma-
chos bis Eluard und Gottfried Benn.
Die manieristische Gestik des uneigentlichen Sprechens is
meist nur negativ beurteilt worden. M a n ü b e r s a h vielfach, daß so-
gar noch im exzessiven, im grotesken Bildertaumel, w e n n es si
u m Dichtung von Rang handelt, auch asianische Bilderranken ei
336 n e m elementaren <Metapherngeist> (Herder) e n t s t a m m e n , einem
durchaus ursprünglichen Ausdruckstrieb. Ahnlich entspricht der
groteske O r n a m e n t - S t i l in der Kunst d e m Fruchtbarkeitszauber
uralter Vegetationsgottheiten, von d e n e n die <Rankengöttinnen>
der Kunstgeschichte a b s t a m m e n . Sie sind Ausdruck einer >mytho-
logisch o r n a m e n t a l e n Idee>. Diese Motive k ö n n e n wuchern, sinn-
los wuchern, wie, w e n n der Ausdruck erlaubt ist, mythisch u n -
fruchtbares U n k r a u t . W i e dies in der manieristischen Kunstge-
schichte geschieht, bis z u m Jugendstil u n d z u m Surrealismus, ist
uns bekannt.

7. B A N N U N G
DES D Ä M O N I S C H E N

Lob des Zweideutigen


In schutzlosen Zeiten, in Krisenzeiten, in Zeiten dramatischer
Umbrüche jeder Art, d a h e r a u c h in hochzivilisierten Zeiten, wie in
Alexandrien, in der H a d r i a n - Z e i t , u m Hochmittelalter, im bur-
gundischen 15. J a h r h u n d e r t , im Florenz Ficinos u n d im Rom Mi-
chelangelos, in den J a h r z e h n t e n vor u n d nach Shakespeare, in der
europäischen R o m a n t i k u n d in d e m J a h r h u n d e r t 1850 bis 1950
flüchten die <Unbehausten>, sich von den übermächtigen Gesich-
tern <befreiend in die gestalteten Bilden. <Das Schaffen des Künst-
lers ist, so gesehen, die b i l d e n d e Antwort auf die Herausforderung
durch die E r s c h e i n u n g der im Begriff unfaßbaren, mächtigen
Tiefe des Daseins.> Das Wesen des Bildes ist— ohne Rücksicht auf
historische Sondersituationen — <die Verschlingung von N ä h e u n d
Ferne>.
Die Sucht geradezu der Manieristen nach Korrespondenzen fin-
det hier eine tiefere E r k l ä r u n g . <Das Wesen des Bildes ist innere
Zweideutigkeit.> D a s L o b des Zweideutigen k e n n e n wir aus dem
17. Jahrhundert, einer der gefährdetsten E p o c h e n der europäi-
schen Geschichte. <Der Zweideutigkeit des Bildes (überhaupt) ent-
spricht die Zweideutigkeit der in i h m repräsentierten Sache.> Der
Erfolg für eine D a r s t e l l u n g der Welt als einer Welt von Bildern:
<Den M e n s c h e n lüstet es n a c h d e m Schein, weil er weder Sein noch
Nichtsein erträgt, weil er selber ein Wesen des Scheins ist.> <Die
Wahrheit erscheint, aber i n d e m sie erscheint, verbirgt sie sich zu-
gleich in ihr E r s c h e i n e n s

Geborgenheit und Unbehaustheit


<Im Ganzen des Seienden ist u n t e r die Unverborgenheit immer
Verborgenheit gemischt.) G e h e n wir dieser fundamentalen ontolo-
gisch-dialektischen Beziehung nach, so werden wir festhalten kön-
nen: Attizismus u n d Asianismus bzw. Klassik u n d Manierismus
sind zwei a u t o c h t h o n e u n d legitime Weisen des Seinsverständnis-
ses. In beiden geschieht, in je verschiedener Weise, Lichtung und
Verbergung. Das Sein lichtet sich für das attizistisch-klassische
Seinsverständnis nach einer bestimmten Seite hin, verbirgt darin
aber jene Seite, die nur dem asianisch-manieristischen Seinsver-
ständnis zugänglich ist, und ebenso umgekehrt. Weischedel fol-
gend, kann man dann, ohne spekulative Synthesen-Inflation, auch
und gerade in bezug auf Literatur, nicht nur von einem <Chias-
mus>-Verhältnis von Klassik und Manierismus sprechen. Man
wird jetzt noch deutlicher das Verschiedenartige beider Positionen,
bei aller ontologischen Zugeordnetheit, erkennen: im Klassischen
erscheint das Sein als das Bergende, Ordnende, Gründende, Ge-
staltgebende, im Manierismus als das Bedrohliche, Schreckener-
regende, Zerbrechende, Behaustheit Versagende.
Doch hat der Manierismus seine spezifische Form des Schei-
terns wie die Klassik die ihrige: hier Manieriertheit, Klassizismus
dort. Das Scheitern im denkerischen Manierismus beginnt schon
mit der Verabsolutierung eines Mittels, eines Mediums zur Er-
fassung des Seins, so u.a. mit der frenetischen Überwertung des
Bildes überhaupt. Weischedel zitiert eine Stelle Fichtes, die in er-
schreckender Weise an die Reduzierung des Seins zu Bilder-Auto-
matismen seitens des Surrealismus erinnert. <Es ist kein Sein...
Bilder sind, sie sind das Einzige, was da ist... Bilder..., die durch
Bilder von den Bildern zusammenhängen... ich selbst bin eins die-
ser Bilder; ja ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes
Bild der Bilder. Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren
Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne
einen Geist, dem da träumt; in einen Traum, der in einem Traume
von sich selbst zusammenhängt.) Der Philosoph des romantischen
Idealismus erfährt sich selbst als eine alogische Metaphern-Asso-
ziation! Für den, der Wahrheit sucht, muß Metaphorik daher im-
mer fragwürdiger werden, auch wenn er - zeitgebunden wie er je-
weils sein w i r d - das Dunkel mit logischen oder alogischen Mitteln,
mit intellektueller Kälte oder visionärer Hitze suchen mag. Was
aber könnte sich jenseits der Bilder zeigen: das Nichts, die <Uner-
kennbarkeit der verborgenen Gottheit) (Meister Eckhart).
Die sinnvolle Konfrontierung der beiden Urgebärden hat in ei-
nem neuen Sinne erst begonnen. Historisch entscheidend ist, daß
der Attizismus die <Schreckensbotschaft>, wie sie vor allem dem
mythischen Denken der Naturvölker eigen ist, (rationalisierend)
glättet, während der Asianismus (speziell in historisierenden Epo-
chen) ... die Primitiven wiederentdeckt und ihre mythischen Dä-
monenbilder <intellektualisierend> neu (verschlüsselt).

Furcht und Lüge


Die mythische Elementarität des Metaphorismus wird durch einen
kurzen Hinweis auf prälogische Daseinsformen der Menschheit
noch deutlicher. Wir geraten in Zeiten, wo Sprache, Bild und Ge-
bärde noch wenig unterschieden waren. Bildersprache (wie auch
immer sie geartet ist) führt somit auf Urtriebe, auf ursprüngliche
Triebstrukturen zurück. Kann man bestimmen, ob Bilderfülle oder
Bildknappheit dem Ursprung, dem Absoluten nähersteht? Tatsa-
che ist, daß Metaphern einer <Abstraktionsnot> entsprechen. Es be-
weist dies, daß jede Form von Weltangst in <Krisen>-Situationen
einen Überfluß, eine Inflation von Metaphern erzeugt. Gefährliche
Übergangszeiten führen zu einer Zwangs-Metaphorik. In der
Angst spürt man (Ähnlichkeiten verborgenster Art zwischen umge-
benden Erscheinungen auf>. So entsteht - bei den sogenannten
Primitiven — magisches D e n k e n . Sprachlicher <Magismus> in
hochzivilisierten Zeitaltern ist d a h e r auch Ausdruck einer ver-
drängten Weltangst. Besonders die M e t a p h e r wird zur Erschei-
nungsform einer weltängstlichen Urgebärde u n d einer entspre-
chenden Daseinsflucht. W e n n die M e t a p h e r <Lüge> ist, so wissen
die Kenner der Naturvölker, daß <die h e m m e n d e Furcht> zur E n t -
stehung der L ü g e führt). < Überall dort, wo ein seelisches Auswei-
chen wirksam ist, ist die Möglichkeit d e r Entwicklung d e r Lüge
gegeben.) <Die M e t a p h e r enthält> bei den kosmisch angstgejagten
<Primitiven> <immer ein bestimmtes lügenhaftes Element). D e r
Stoff zum Ausbau der M e t a p h e r stammt aus der Weltanschauung
des P n e u m a t i s m u s . Deswegen zerschlagen schon die Urvölker
Wörter u n d g r a m m a t i s c h e Z u s a m m e n h ä n g e in magisch-irratio-
nale Fetzen. G e h e i m e Buchstaben, g e h e i m e Wörter, geheime
Metaphern entstehen — schon bei Naturvölkern. Die sogenannten
Primitiven h a b e n chiffrierte, <magische Geheimsprachen>. Es ent-
stehen magische M e t a p h e r n . Krokodil wird B a u m s t a m m ; Auge
des Königs wird Edelstein; seine Z u n g e ein Blatt; seine Gestalt eine
Kiefer; sein H a u s eine Wolke des H i m m e l s . Penis wird Schlange,
Vulva Frucht, d e r Geschlechtsakt Essen, die Befruchtung ein
<Schatten, der in die See fällt>. In Liedern der Naturvölker findet
man <alogische> M e t a p h e r n wie diese: <Dein Auge gleicht d e m
Knie einer Ziege>, <Deine L i p p e n gleichen einer Fischblasen Ein
berühmter M a n n ist <ein großer Baum>, ein Reicher ein <Großes
Auge>. Verwandte sind <Feueranbläser>.
Die Erforschung d e r Bildersprache bei Primitiven k o m m t zu
dem Ergebnis: <Die M e t a p h e r ist in der Urform ein intellektueller
Selbstschutz des Individuums.) Noch entscheidender ist das For-
schungsergebnis: <Die M e t a p h e r ist Erzeugnis zweier Tendenzen:
der Tendenz, eine Vorstellung oder einen G e d a n k e n , dessen Aus-
druck im Sinne d e r S ü n d e oder Gefahr tabu ist, zu unterdrücken
und andererseits doch d u r c h die sprachliche Auswahl die Mittei-
lung zu ermöglichen.) W i e d e r ergeben sich, auch angesichts der
Ausdrucksmittel der Naturvölker, zwei elementare Stile.

Intellektualisierung
Die <Intellektualisierung> der M e t a p h e r hat ihren Ursprung in der
<Poetik> des Aristoteles. Die M e t a p h e r ergibt sich daraus, d a ß m a n
auf ein D i n g einen N a m e n überträgt, d e r einem anderen gehört.
Diese Ü b e r t r a g u n g erfolgt von der G a t t u n g auf die Art, von der Art
aui die Art oder mittels Analogie (Poetik XXI). Es folgt d a n n eine
Kombinationslehre mit Hilfe von Buchstaben, die, wie wir wissen,
auf das <Machen> von D i c h t u n g über Lullus u n d Kircher speziell in
manieristischen E p o c h e n einen e n o r m e n Einfluß ausgeübt hat.
Iesauro n e n n t seine manieristische Literaturästhetik nicht u m -
sonst <Cannocchiale Aristotelico. M e t a p h e r n r e i c h e Sprache wird
von Aristoteles <änigmatisch> g e n a n n t (Poetik XXII). Die Änigme
entsteht d u r c h die <Vereinigung> unmöglicher Dinge. Aristoteles
tadelt die Kritiker, die d e n Dichtern a m Z e u g e flicken, wenn sie
sich solcher Stilmittel b e d i e n e n (XXII), verlangt aber das <rechte
Maß>. Die M e t a p h e r <Die Küsten brüllen) (anstatt <die lärmenden
Küsten>) wird gelobt. M e t a p h e r u n d gut ausgesuchte seltene Wör-
ter (Cultismo!), alle diese moniere des Schreibens, veredeln den
Stil; m a n findet sie nicht in d e r Sprache d e r Gemeinen. Meta-
p h e r n - E r z e u g u n g beweist Geist, d e n n m a n b e k u n d e t damit, d a ß
m a n die Ähnlichkeit unter den Dingern erkennt. Im dritten Buch
seiner <Rhetorik> (für die Manieristen eine Art Bibel) erklärt Ari-
stoteles sogar ausdrücklich: <Auch in der Philosophie bekundet
man ungewöhnlichen Scharfsinn, w e n n m a n eine Ähnlichkeit zwi-
schen zwei voneinander entfernten Dingen sieht> (Buch III, n ) .
Hier liegt das Vorbild für die <correspondencia> Graciäns u n d für
das <accoppiare> Tesauros.
In diesem Abschnitt 11 findet m a n noch zahlreiche a n d e r e prak-
tische Hinweise für einen <ungewöhnlichen> Stil. E m p f o h l e n wer-
den, außer der Metapher, Buchstabentausch, W o r t u m k e h r u n g e n
als <Mittel zum Erwecken von S t a u n e m , H o m o n y m i e , Ellipsen,
Hyperbeln usw. Aristoteles, wie bereits angedeutet, läßt für die
Dichter viel gelten, was für Redner ein Fehler wäre. Aber gerade
dies, die äußersten Lizenzen für Dichter u n d die Fehlerelemente
für Redner, wird, wie wir schon hervorgehoben h a b e n , bei den Ma-
nieristen des 17. Jahrhunderts zum antiklassischen Stilmittel. Ari-
stoteles, der Gesetzgeber strenger Klassik, was die Geschichte des
Theaters angeht, ist in der Geschichte der sogenannten intellektu-
ellen Lyrik Europas zum mustergültigen Lehrmeister einiger der
wichtigsten formalen Manierismen geworden. Aber diese <Manier>
des Artifiziellen interferiert mit einer <Manie> des Artifiziellen.
Maniera kommt von manus (Hand), übertragen: manu von Men-
schenhand, <von der Hand>, <durch Kunst>. M a n i e ist abgeleitet

Titelblatt einer französischen


Ausgabe der »Nikomachischen
ARISTOTELIS
Ethik- von Aristoteles, Paris 1555 S T A G I R I T A E PER.IPA-
T E T I C O R. V M P R I N C I P I S , ETHI.
CORVM AD N I C O M A C H V M LIBRI DI-
cem: Joanne Argyropylo Byzantio intcr-
prctc, nupcr ad Graxum excmplar
diiigcntifsimcrccognitij&cuni

Donit'i^AaUioli Floremini, viri doclißimi commentariii


ciÜigatißimis, dermo in iuetm editi.

PA ms us
Apnd IoanncnulcRoigny.vi.i.id D.lacobuivi.
fub Bjdliico gc quatuorEletncntis.
' 5 J J-

34O
vom griechischen mania = <Wut, Raserei>. Der Begriff <Manie>
entspricht dem, was G i o r d a n o Bruno in seinem antiklassizistischen
Dialog <Degli Eroici furori> (1585) mit <furore> meint; der wahre
Dichter verachtet die <Regeln>, er ist dnspirierb, er findet alles nur
in sich, w e n n er in <Raserei> gerät. Diese M a m a - Ä s t h e t i k geht auf
den <Enthusiasmus> P i a t o n s zurück u n d führt zu einer A b l e h n u n g
der aristotelischen Ästhetik, mit A u s n a h m e eben der <gekünstel-
ten> rhetorischen Topoi. D e r Aristotelismus wird mit der Lehre
Piatons u n t e r der P l a t a n e a m Bissos über d e n <Wahnsinn> ver-
mengt. Hier eine Wurzel für einen a n d e r e n bezeichnenden Duktus
der manieristischen U r g e b ä r d e , für das Phantastische u n d Gro-
teske! Aus der m e t a p h o r i s c h e n M a n i e r wird eine metaphorische
Manie. Doch sehen wir u n s jetzt einige Vitrinen mit manieristi-
schen M e t a p h e r n an — aus europäischen Landschaften, in Vergan-
genheit u n d Gegenwart.

8.
GoNGORISMUS,
MARINISMUS
UND P R E Z I Ö S E N T U M
<Sinnreiche> Verwicklungen
Die Deformation der normalklassischen M e t a p h e r wird im spani-
schen Gongorismus zu einer höchst ingeniösen Artistik. Anläßlich
der spanischen Literatur im <romantischen Siglo d'oro>, anläßlich
Calderöns u n d Cervantes' sprach Friedrich Schlegel vom u n g e -
heuer Künstlichen, Tiefsinnigen u n d Absichtsvollem, <von einem
Labyrinth von sinnreichen Verwicklungen u n d phantastischen
Verzauberungen, das in ü p p i g e r Farbenpracht die edelsten, lieb-
lichsten Blüten entfaltet, die je die romantische Poesie hervor-
gebracht hat>. E s gilt dies besonders für Luis de Göngora
(156 1—1627) u n d seine Nachfolger bis h e u t e . Göngora zeichnet
sich a u ß e r d e m vor allen a n d e r e n manieristischen Dichtern seiner
Epoche, mit S h a k e s p e a r e u n d J o h n D o n n e , durch überwältigende
Calderön de la Barca
dichterische Kraft aus. (1600-1681)

Roter Schnee
Man findet bei i h m längst vor P a u l Eluards: <Die E r d e ist blau wie
eine Orange> die <absurde> Metapher: <... Schneeweißer P u r p u r
oder roter Schnee> (<Polyphem>). <Quellen> werden zu <Perlen-
schlangem (<Soledades>), <Reiher> beschreiben <das durchsichtige
Papier des Himmels> <mit Federn ihres eigenen Fluggewimmels>
(<Soledades>). 4 U n d n u r zwei Beispiele aus der Metaphernfülle ' Diese und die nachfolgenden Bei-
spiele aus dem <Soledades> in der
Calderöns: <Das Schweigen steinigt mich>. Semiramis, das Licht Übersetzung von Hermann Brunn:
auslöschend: <Wie ich, eine M ö r d e r i n a m Lichte, mich selbst <Soledades>. München 19^4.

verfinsternd, Finsternisse dichte>. Von einem M ä d c h e n schreibt


Göngora, sie k ö n n e mit ihren beiden <Sonnen> (Augen) <Norwegen
verdorren> u n d <mit ihren beiden H ä n d e n Äthiopien bleichem
(<Soledades>). <In Saphirfeldern weiden Steme> (<Soledades>). 341
Dazu von Marino: <Die Sonnenpferde weiden überirdisches Futter
im Stall des Himmels> (<Adone>). Göngora: Vögel sind <befiederte
Katharen> (Marino: <fliegende Pinien> oder <fliegende Violinen>).
Für Göngora ist die Armada ein «ruheloser Wald> (Schiffe sind aus
Holz gemacht), Ein schlafendes Mädchen ist ein <schlafender Kri-
stalb. Die Pappel hat <grüngreises Haar>; <den Morgen grüßt der
braune Gangesschwan>; <die Erle geht dem Dorfe Geheimnisse
enthüllen>; «Hymen klagt mit zwei Topasen am Tor des Ostens>. Es
gibt einen <schwarzen Phönix der Erinnerung). <Das Staunen
starrt, in Marmor eingehüllt.) Die <Rasenbrust der Erde> wird zum
<harten Flutenschoß des Sturzes). Der Fluß ist ein <Schmetterling),
der im <Schimmerlicht der See sterben will>. Der Ozean <aller
Flüsse übermächtiger Meister, im Kranz durchgrünten Schaums,
durchweißten Tangs bewegt sich in trotziger Folgsamkeit des
Rückwärtsganges). Netze sind <Knotenlabyrinthe aus Leinen> und
das Meer ein <Wogenacker>. Eine Insel ist eine <Schildkröte>, <sie
schwimmt schon seit Millionen Stunden und kann den Fluten-
spielrand nicht erreichen).
Wir begreifen jetzt, daß die zeitgenössischen Dichter Spaniens
Göngora als Vorläufer betrachten. Garcia Lorca hat einen be-
rühmten Essay über Göngora geschrieben. Darin steht, Göngora
habe gewünscht, <die Schönheit seiner Werke möge wurzeln in der
reinen Metapher einer Wirklichkeit, die tatsächlich bewegt, einer
Metapher, die mit dem Geist eines Rildhauers geschaffen und in
eine irreale Sphäre verlegt wurde>. Die Metapher aber <eint zwei
entgegengesetzte Welten mittels eines kühnen Reitersprungs, den
die Phantasie vollführt). Novalis schrieb: <Nichts ist poetischer als
alle Übergänge und poetischen Mischungen), <Kontraste sind in-
verse Ähnlichkeiten).

Clef brillante
Göngora hat 1615 ein Sonett über Greco gedichtet. Ein Schlüssel
(Grabstein) aus herbem Porphyr, heißt es dem Sinne nach, ver-
schließt der Welt den Mann, welcher der Natur die Kunst vererbte,
der Kunst das Wissen, Iris die Farbe, Phöbus die Strahlen und Mor-
pheus die Schatten. Dieses Sonett hat Jean Cocteau übersetzt. In
der französischen Fassung rückt es Göngora (und Cocteau) in die
Nähe Mallarmes. Daraus nur die beiden ersten Verse im französi-
schen Text:

Ce bloc solennel, 6 toi qui passes,


cette clef brillante de porphyre...
Cocteau verfaßte außerdem (1953) ein längeres Gedicht über den
<Großen Sohn Cordovas>. Die Huldigung führt zu einem bewußt
angewandten Gongorismus. Die Metaphern bilden die gleichen
<correspondencias> wie diejenigen des <seltsamen Fremdem aus
Spanien. So: <Die Nacht zerriß die Tauben des Tages>, <stolze Ab-
sage an die Launen des Sandes>, <die Klarheit log, u m unverstan-
den zu bleiben). - Französische Preziosität und spanischer Kultis-
mus reichen sich über die Jahrhunderte hinweg die Fackel nich
des Lukrez, sondern der Hegesias und Kallimachos. Göngora star
in geistiger Umnachtung. Sein Geist, der das Helle dunkel machte,
versank noch zu seinen Lebzeiten in die geheimnisvolle Amgm e -
Er war eine saturnische Natur, wie Pontormo einer der schwermü-
tigsten Realisten unter den Manieristen Europas, ein Meister der
Seite aus der Originalausgabe des
<Adone> von Giambattista Marino.
1625

ARGOMENTO.
1
E K T A la Maga inuan I'ani profane;
Poi Ichernlr cerca Adon focc'alcra forma.
L'addormerua.l inganna.e lo trasforrna,
tgli fugge,altriillcgue,clla tiroane.

II.
BlfinAtala Du quäl forta fatal, che gli corregge",
tun Imgua, 0 da qualpattofin legati eßretti'.
o Zoroaflro, £' neceßaria , o <volontaria legge,
| Qmccfic m Che siglirende altruifirui, e/oggetti!
prima au- Qua/i chi tuttopui, chi tutto regge
toruä co - Tema äam huom dtfubbidtrc ai dtttii
umtat Ptaltnto,h timor qudchegli moue
\ Dornte tp - Tant opre afarproiigvfe e novo,
prtfi il tuo III.
tngegno od Deh quante motte dcle lieui rote',
effer ma - (he ß molgon s> ratto intorno oifoli,
flro Veduto ha cm ßupor reßarfi immote
Dd' arte deteßalde, cti ineanta i (jiout limmenfe efinifurate moli}
L'arte , ehe contro ogni pejfanzjt d" aßro Quante <vid' egli alt malnagt nute
Vmeer Natura, i dommarß <vanta f Le Lnne in Cid moltiplkarfi, e i Soli!
E ctme ponno iniqui earmi e fei Scorrere i tuoni afuo ai/petto, t i lampi,
Dtt Inferno, t dd Cid sfinar gli Dti i Scoterfi il mundo, t tknlarne i campst
Oo iij

Form wie Kallimachos, ein großer Dichter, dessen merkwürdiges


Schicksal darin besteht, d a ß ihn vielleicht n u r Dichter verstehen.
Auf ihn trifft zu, was J e a n Cocteau in einem Gedicht über Greco
schrieb: <Tief, in einer d u n k l e n M i s c h u n g von Messen, riß er her-
^ Bemerkenswert das Wort Lautrea-
unter von den F l ü g e l n der E n g e l den Schwefel. >5
monts: <Le Gongorisme metaphvsi-
que des autoparodistes de mon temps
heroico-burlesques.> 0.c.p. 579.

D er Faganini der iLyrik;


Göngora lebte von 1561 bis 1627, Shakespeare von 1564 bis 1616,
John D o n n e v o n 1575 bis 1631, M a r i n o von 1569 bis 1625. Gön-
gora ist der älteste, w e n n a u c h u m wenige J a h r e . Vertieft m a n sich
in das Werk M a r i n o s , so betritt m a n eine andere Welt, auch wenn
man i m m e r wi'ecteTden gleichen formalen <Manierismen> begeg-
net. Was bei G ö n g o r a Intensität, Schärfe, Konzentration, Destil- ^
lation ist, wird bei M a r i n o , d e m damaligen europäischen Avant-
gardisten par excellence, Herausforderung, lyrische commedia
dell arte, Virtuosität. M a r i n o ist der P a g a n i n i der italienischen
Lyrik. M a n hat i h n lange unterschätzt, vor allem in Italien selbst.
Benedetto Croce hat den letzten kleinen Rest seines europäischen 343
Ruhms ruiniert. M a n liest heute den Erzneapolitaner nicht mehr,
weil in Literaturgeschichten zu lesen ist, sein Werk sei bloßes
Wortgeklingel, er habe keine Moral, keine Religion, keine politi-
sche Meinung, er sei einer der vielen poetischen Taugenichtse Eu-
" M a r i n o erhielt 1598 eine Kerker- ropas, aber ohne die Erlebniskraft und echte Verve Villons. 5 Das
strafe. Kr hatte die Tochter eines rei-
chen H ä n d l e r s verfuhrt. Sie starb an alles ist ebenso richtig wie falsch. Marino h a t die italienische Spra-
einer Abtreibung. D e n n o c h w u r d e che bereichert. E r hat die <Antike> in einem b e s t i m m t e n Sinne ge-
er später in Rom Mitglied der anti-
klassischen Accademica degli Umori- rettet. W ä h r e n d diese im Späthumanismus nicht selten einer pe-
sti. 1603 steht er im Dienst des Kar- dantischen Geistlosigkeit als Selbstrechtfertigung diente, hat er sie
dinals Aldobrandini. 1611 m a c h t er
n i e d e r — wegen Verleumdungen buchstäblich umgekippt, eine echte historische <Reversion> (Rever-
und Liebesaffaren — die Bekannt- sibilität!) vollzogen. Marino ist sicherlich keine aristophanische
schaft mit d e m Gefängnis. 1615 wird
er— seines w a c h s e n d e n R u h m e s we-
Natur. Aber er h a t für die Zeit zwischen Renaissance u n d Barock
gen — von Maria de'Medici, der entdeckt, daß die <Antike> nicht n u r W ü r d e , Ernst u n d E r h a b e n -
Witwe Heinrichs IV., nach Paris ein-
geladen. Favorit Ludwigs XIII. 1623 h eit bedeutet. E r hat den hemmungslosen Spieltrieb der Griechen
verläßt er - schon berühmt — die und die Selbstpersiflage der R ö m e r n e u belebt, u n d zwar mit hin-
franzosische I lauptstadt. Rom berei-
tet ihm eitlen triumphalen Empfang.
reißendem literarischen Können, w e n n auch nicht alles, was er
Übersiedlung in die Heimatstadt schrieb, höchsten Ansprüchen genügt. Das entspricht dem, was
Neapel. W u r d e hoch geehrt. 1625
man eine typische <Avantgarde-Situation> n e n n e n k a n n . Marino
starb er in Neapel, an diesem g r o ß -
griechischen Schnittpunkt antiker, hat noch ein Verdienst. Er hat mit dazu beigetragen, d a ß Europa
spanischer und italienischer Kultur.
nicht einem pseudomoralischen Pharisäismus verfiel. W e n n Croce
und seine Nachfolger an Marino i m m e r wieder den panerotischen
<Sensualismus> tadeln, so begriffen sie offenbar noch nicht, daß er
auch damit Ausdruck einer Zeitenwende ist, d a ß er ebenso vor-
wärts wie rückwärts lebte, in einem bestimmten Sinne: er über-
wand die Erstarrungen mittelalterlicher Askese u n d verlachte im
voraus die n e u e n Versteifungen der barocken Gesellschaftsfor-
men. In einem Brief an den Dichter Girolamo Prato schrieb Ma-
rino: <Ich behaupte, die Regeln besser zu k e n n e n als alle Pedanten,
aber die wahre Regel ist diejenige, rechtzeitig die Regeln zerbre-
chen zu können, sich also d e m Zeitgeschmack zu n ä h e r n , d e m Ge-
schmack des Jahrhunderts.) Nachfolgend Beispiele für seine meta-
phorische Kombinationskunst.

Tö nendes Ato m
Giambattista Marino schreibt: <müde Ruhe>, dreiwilliger Wahn>,
s c h ä d l i c h e Nützlichkeit), <kühne Angst>. Ganze Reigen solcher
Luis de G ö n g o r a y Argote
Oxymora findet m a n . Metaphern: Marino n e n n t die Rose <Aprü-
(1561-1637)
auge> oder <Rubinkelch>, <Lächeln der Liebe, vom H i m m e l ge-
lacht). Über die Nachtigall: <Sie vergießt ihre zitternde, zarte Seele,
die Zauberin der Wälder, m a n fragt sich, wie es möglich sei, daß
dieses winzige Geschöpf so viel Kraft in Adern u n d Gebein spei-
chert.) Sie ist ein <tönendes Atom>. Von einem dichten Wald sagt
Marino, es <vermodern in ihm die Schatten). Die S o n n e wird be-
sonders (konvulsivisch) geschildert. Sie ist der <Henker, der mit
7
cf. «Opere scelte di G. B. M a r i n o e Strahlensicheln die Schatten köpft). 7
dei Marinistb. Turin 195 y. und ' M a -
rino e i Marinistb. Milano 1954 (A Wir begreifen einen n e u e n Zug: <Sonoritä>. Es ist einleuchtend,
cura di G. G Ferrero). Mle nachfol- daß dies dem n e u e n <Colorismo> in der manieristischen Kunst, die
g e n d e n Beispiele in eigener ( a n n ä -
hernder) Ü b e r t r a g u n g aus d e m
Marino liebte, entspricht. <Mit heiserem Beilen beißt die Welle das
<Adone>. in -Marino e i Marinistb. Ufer.) Wogen sind <schäumende Alpen>. Rose = <Ruhm der duf-
O. c.
tenden Familie) oder <Kleid der Morgenröte). E i n e virtuose Vers-
kombination über das beliebte N a r z i ß - T h e m a : sie Geliebter, er
Gehebte, Frost und Glut, Pfeil u n d Ziel zugleich, Bogen u n d Bo-
genschütze. Der Pfau <zieht hinter sich h e r einen Garten). L>ie
Liebe ist ein <modernes Monstrum). In der Liebe ist das Gedic
ein <süßer Köder> und der Phallus ein <Gewehr>. <Liebesruhm> i s
344
<Berühren des letzten Ziels> u n d <Hafeneinfahrt des Holzes>. <Ver-
liebter Schlüssel öffnet das Tor.> <Der Kuß erlischt in einem Grabe
düsteren Rubins.)
Doch <lyrischere> Beispiele: <Die Nachtigall, Sirene der Wälder,
verwandelt eine Z u n g e in t a u s e n d Klänge.> Die Nachtigall ist b e -
fiederter Atem>. Z u e i n e m B r u n n e n mit verschiedenen Schalen:
<Das geteilte Wasser giert vor Durst.> 8 Beiläufig sei vermerkt: im 8
Die Oktave Marinos diente C. F.
Meyer als Vorbild zu seinem Gedicht
<Adone> (XV, n ) findet m a n drei Oktaven, die in auffallender über romische Brunnen. Zum «Ma-
Weise, w e n n auch im Sinne eines k n a p p e n <Schematismus>, an nierismus) bei C. F. Mever vgl. Ro-
bert Mühler, Dichtung in der Krise.
Goethes <Osterspaziergang> i m <Faust> erinnern.
Wien—München 1951. Insbeson-
dere die Aufsätze: <C. F. Meyer und
der Manierismus> sowie «Narziß und
der phantastische Realismus». Un-
tersuchungen, die unseren Einsich-
Der D i c h t e r als <Seiltänzer> ten über das zeitlich oder schul-
maßig nicht begrenzte Kontinuum
manieristischer Kunstübung entge-
JVIarmo schätzt Seiltänzer-Metaphern. E r vergleicht den Seiltänzer genkommen.

mit einem Dädalus, der sich von Turm zu Turm im irren R a u m


schwingt. (<Qual Dedalo novel da torre a torre.>) M a n begreift: M a -
rino empfand sich selbst als lyrischen Seiltänzer. E r liebte Tanz
und Literatur. Beides war für ihn eine <geometria meravigliosa>
(p. 302). Seiltänzer u n d Labyrinthgänger! Auch hier haben wir eine
<coneciön de los extremos>, wie B. Graciän ig J a h r e später in sei-
nem hier schon so oft zitierten Traktat schreiben sollte.
Marino m a c h t e Schule — wie J a m e s Joyce u n d Apollinaire. Die
damaligen Avantgardisten u n d Traktatisten E u r o p a s sahen in ihm
den <Poeta> schlechthin (Tesauro wie Graciän). Die Nachfolger
nannten sich bald <Marinisten>. Sie sind heute, vielfach zu Un-
recht, vergessen. Hier einige N a m e n : Macedonio, Murtola, Bal-
ducci, Achillini, Preti, Basso, Artale, L u b r a n o .
Ihre Metaphorik erhält paranoische Züge. Das Gedicht wird zu
einer turbulenten Assoziation aller acht Metaphernarten, zu einem
<manischen> Wirbel von Bildern u n d Hyperbeln.
Die Brille ist für G i a c o m o L u b r a n o ( 1 6 1 9 - 1 6 9 3 ) <eine Hyperbel
der Augen>. Die Leuchtkäfer w e r d e n H e r a u s f o r d e r e r der Schat-
ten), sie m a c h e n d e n <Flug z u m S t r a h b , sie lassen <das Dunkel er-
blühen>. Es sind <irrende Fackeln>. Zedern werden zu dändlichen
Rasereien>, <zu Duft-Delirien>. D e r <Zitterroche> ist <eine lebende
Synkope>, er <atmet kalte Epilepsien aus>.
Die Natur wird zu e i n e m Bilder-Taumel, u n d gerade Lubrano
erinnert mit seinen e x t r e m i s t i s c h e m Sonetten an zeitgenössische
Expressionismen. D e r Vitalismus Marinos wird bei dessen neapo-
litanischem L a n d s m a n n in jeder Hinsicht <asianisch> übersteigert,
in Phantastik aufgelöst. Ein großartiges Beispiel ist sein Gedicht
über L u f t s p i e g e l u n g e n vor Siziliens Hier werden die Bilder inso-
fern k ü h n <alogisch>, als die Verbindungsglieder (das <wie>, schon
den Marinisten ein Greuel) fehlen. Zwischen Skylla und Charybdis
erschauert L u b r a n o . Historische Visionen, versunkene Städte,
Fragmente der Geschichte suchen ihn heim. <Parastische Magie>
fällt ihm an dieser schicksalsträchtigen M e e r e n g e ein. Ein H ö h e -
punkt des italienischen M a n i e r i s m u s in der Literatur - wie Monsü
Desiderio in der Kunstgeschichte. <Parastische Magie>? Parasti-
ehon ist das gleiche wie <Akrostichon>, d.i. (griech.): Versspitze,
erster Buchstabe eines Verses (Gedichte, bei d e n e n die Anfangs-
buchstaben der einzelnen Verse oder Strophen aneinandergereiht
ein Wort, einen N a m e n oder Satz ergeben). Das Kunstmittel des
Akrostichons (Parastichons) w u r d e an den griechischen Orakel- 9
Kap. I u. Tesauro o.e. über Buch-
stätten oft verwendet. 9 Weltgeschichte bindet sich also in der Vi- staben-Mystik in delphischen Ora-
sion Lubranos vor Skylla u n d Charybdis wie in e i n e m Akrostichon. kel-Sprüchen.
Der <unförmige Hauch> des <hundertgestaltigen Proteus> vereint
<wirbelnd> das Vergangene. Eine <Cosmopea> von Erstaunlichem
enthüllt sich in einer Wolke: <Sümpfe> tanzen in <heller Unbestän-
digkeit). <Goldene Barken h a n g e n an den Ufern Perüs>, auf dem
Rücken Amphitrites, der Königin des Meeres, <tanzen Bündel ek-
statischer Meteore>. Alles v e r w a n d e l t sich> vor Skylla d u r c h Circe,
in der <feuchten Tyrannis> von <Wasser u n d Wolken>, doch dann
und bald <einkerkernd> fesselt die thyrrhenische Flut, reich an Pal-
men, <mit apokryphen Fesseln schweigenden Silbers>. Eines der
schönsten Gedichte des Marinismus! Es rückt L u b r a n o an die
Seite Rimbauds!

Der blutgierige Ritter


Wir müssen uns von Lubranos Wortlandschaften t r e n n e n . Andere
verlangen das Wort. Giuseppe Artale! Ein Dichter u n d <Kavalier>,
ein W'eiberheld und Skandalmacher, ein Trinker u n d Raufbold,
den m a n in Deutschland, als er dort sein U n w e s e n trieb, den b l u t -
gierigen Ritter> n a n n t e (geb. 1628). Artale erinnert — abgesehen
von der Nase — an Cyrano de Bergerac. Doch b e k u n d e t er weniger
rhetorische Phrenesie als metaphernsüchtige Melancholie. Auch
er hat ein Gedicht geschrieben, das es verdient, der Vergessenheit
entrissen zu werden. Über die <Geliebte b e i m Würfelspiel). Die
Würfel werden zu <Knochen>, die <mit schwarzen Noten> <schrill
schreien>. Sie, die Geliebte, «.verliert täglich>, <lebt stundenweise
und stirbt nur in Augenblicken). U n d was ist Kleopatra? <Eine
Schlange raubte sie einem Adler.> Von Artale gibt es einen Vers,
der wieder an Pontormo erinnert: <E cosi va a chi le sue mete ec-
'" Die ausfuhrlichste Literaturge- cede / Sol col formar chimerizzando u n ente> (/Solchen Weg geht
schichte des italienischen <Seicento>
ist <II Seicento» von Antonio Bel- der, der sein Ziel überschreitet, w e n n er n u r p h a n t a s i e r e n d Sein
loni. in <Storia letteraria d'Italia>. gestalten will>). So geht es den besten manieristischen Dichtern.
Vallardi. Mailand 1929. Benedetto
Croces meisterhafte Essays über die Die echten von ihnen sind Söhne Saturns. <Qui fra quelli che sono,
italienische Literatur des 1/.Jahr- io non sono io> (<Unter denen, die sind, bin Ich nicht Ich>). Artale
h u n d e r t s . F u n d g r u b e n vergessener
europäischer Dichtung, bleiben
kennt den Identitätsverlust der <modernen> Dichter. E r resigniert
stofflieb i m m e r a n r e g e n d . Seine Kri- im motturno di>, im mächtlichen Tag>.10
terien sind d e m <Barock> g e g e n ü b e r
allerdings, seiner rationalen Ästhe-
tik des cbuon senso> wegen, fast im-
m e r negativ. Seine Standard-Werke:
• F2ta Barocca in Italia>. Bari 19=^.
u n d 'Saggi sulla Letteratura Italiana
del Seicento>. Bari 1948. Vgl. auch
Im Spiegel des 20. Jahrhunderts
Anteni Meozzi, II Secentismo E u -
ropeo. o.e. Zitiert M e n e n d e n z Pidal: <Brüstung kühlenden Windes>, <das L e b e n - ein Felsen voller
• D e r C u l l e r a n i s m o existierte zu al-
len /.eilen und in allen Literaturen»
Schreie>, solche Bilder findet m a n im Werk des zeitgenössischen
(p.42). Seine Kriterien entsprechen italienischen Dichters G. Ungaretti, der G ö n g o r a u n d Shakespeare
der C r o c e - S c h u l e . Aufgeschlossener
übersetzt hat. Das lyrische Werk von Gabriele d'Annunzio wim-
zeigt sich in geistvollen Untersu-
c h u n g e n C . Calcaterra. II P a m a s o in melt von kultistischen u n d preziösen M e t a p h e r n . D'Annunzio ist
Rivolta. M a i l a n d 1940. u n d I Lirici auch ein Meister brillanter Wortvertauschungen u n d verblüffen-
del Seicento, M a i l a n d 1956. Reiche
Bibliographie z u m 'Seicento- vor al- der Wortspiele. Viel <moderner> ist einer der begabtesten Dichter
lem in Bellonis Werk und F. Balden- des heutigen Italien, der schon zitierte E d o a r d o Cacciatore. Aus
sperger. Bibliograph; of C o m p a r a -
tive Literature. North Carol. Press.
seiner ebenso seltsamen wie tiefsinnigen <La Restituzione> wenig-
i g 5 o . p . 5g 1 - n<H.p. 728 ff. Dazu im- stens noch einige Beispiele: <Wirklichkeit verfließt wie flüssiges
mer wieder die schon zitierten
Werke von M a r i o Praz z u m «Sei-
Wachs.> <Das Telephon an der W a n d - letztes amputiertes Glied.>
cento--. cf. \ \ L u n d folgende Ab- <Hände sind ein Forum>, <Tod ein Chiromant). <Der H i m m e l hat
schnitte. Blutgerinnsel.)

346
Giuseppe Artale
(1628-1679)

Preziosität
Ist es möglich, d e m Z a u b e r der manieristischen Dichtung einzel-
ner Nationen bei der Ubiquität formaler Kunstgriffe und erst recht
bei dem in keiner Weise zu r e d u z i e r e n d e n Reichtum an Individua-
litäten gerecht zu w e r d e n ? D a s ist, will m a n G e m e i n s a m e s feststel-
len und gleichzeitig d e m Besonderen gerecht werden, ein schwieri-
ges Unterfangen. D e n n o c h m e i n e n wir, daß eben dieser einzigar-
tige Duft, das Mysterium des unverwechselbar Persönlichen, auch
im Verbundensein m i t literarischer Kollektivität spürbar sein
müßte, gerade was <Manieristen> angeht, w e n n m a n , anstatt Theo-
rien, M e t a p h e r n liest.
Die<P reziösen>! Frankreich hat, unmittelbar vor seiner welter-
347
obernden Klassik, keinen Göngora, aber es h a t eine Reihe von poe-
tae minores, deren Wert m a n jetzt erst allmählich begreift.
Rene Bray hat in einer meisterhaften Analyse die französische
<Preciosite> vom Mittelalter bis zu M a l l a r m e u n d zur Gegenwart in
" Rene Bray, La Preciosite et les Verbindung gebracht. 1 1 Tatsache ist, daß eine Tradition französi-
Precieux. Paris 1948, u n d Victor L.
scher Dichtung von Maurice de Sceve über du Bartas, Desportes
Tapir. Barcxjue et Classicisme, Paris
• 957' und das Hotel Rambouillet bis zu Verlaine, Valery u n d bis zum
Surrealismus als <preziös> im <manieristischen> Sinne begriffen
wird, und wir werden dabei - in der Kunst — an den spezifischen
Manierismus der Schule von Fontainebleau, aber auch an die Gro-
teske Callots denken müssen.

Ratgeber der Anmut


C e s a r e Ripa: Origine d'Amore (aus
der <Iconologia>, 1593). E r k l ä r u n g Raffiniert gebändigte Metaphorik ist auch das Kennzeichen der
z u m iLJrsprung der Liebe«: Eine
französischen Preziösen. Die M e t a p h e r dient ebensowohl dem
Frau fängt in e i n e m Brennglas die
Verstecken wie der Subtilität, speziell in den J a h r z e h n t e n von 1580
S o n n e n s t r a h l e n ein und entzündet
auf diese Weise die Fackel der bis 1650. Die preziöse Metapher, die oft in ihrer B e d e u t u n g unter-
Liebe. Diese Metaphorik ü b e r n a h m
Ripa von Marsilio Ficino. Spiegel
u n d Brennglas gehörten zu den
Lieblingsmotiven des M a n i e r i s m u s .

ORIGINE D'AMORE
Karikatur auf die Allongeperücke,
die um 1625 in Frankreich in Mode
kam

LEBICHON POUDRE.
Hommcen pmniqucbnjneouDlcmcle
Pcnse efecüarmev tout Je m onde
Mai'&deccs va'mschevcuxJamas pix>digictix
Lencnoirdetabacetpoudre ;usqticsäißc \cux
Quön nc c o n n o i t plus la naturc
Dans saermicre blanche enfle comme vn
,,wcho
jl nc semblc plus quviiBichon/. "

schätzt wurde, verliert a u c h im Verspielten ihren dämonischen


Charakter keineswegs. D a s Streben n a c h Eleganz, nach A n m u t ist
eine spezifische Weise der ingeniösen Welt-Rekonstruktion in
Epochen der Krise. Die arkadische Metaphorik oder die Künstlich-
keit der manierierten Salons ist sogar eine der faszinierendsten
Uberwindungsweisen des G r a u e n s . Die Entdänionisierung der
Welt erfolgt hier mit sublim-verspielter metaphorischer Dämonie.
Auch dafür einige Beispiele:
Manieristische S u m m a t i o n (Analogie-Metapher) findet m a n bei
Langier de Porcheres ( 1 5 6 6 - 1 6 5 3 ) : Blitze sind <Augen, Götter,
Himmel, Sonnen>. D e r <Spiegel> wird zum <Ratgeber der Anmut>,
die Wangen w e r d e n zu <Thronen der Scharm. E i n Melancholiker
hat eine <nächtliche Seele>. Die L i e b e ist ein <Konzert von Disso-
nanzen) u n d ein <Labyrinth von Körperm. Die französische Prezio-
sitat schafft einen liebenswürdigen Irrgarten von metaphorischen
Wortspielen. Es erscheinen S c h a t z k a m m e r n des W u n d e r b a r e n
und Wörterbücher der Preziosität. 1 2 Francois (Binet) lobt z. B. alles 12
Desaccords. Bigarrures. Paris
Seltene, Antike, Schwerverständliche, Hieroglyphische, u n d er 1586; Rene Francois. Essay des
warnt vor d e m N o r m a l e n . D o c h sind, angesichts des bloßen Merveilles. Paris 1639: Theophile
Gautier, Les Grotesques. Paris
sprachlichen Gesellschaftsspiels der Preziösen, einige vorklassi- '«55-
sehe Dichter Frankreichs viel interessanter, so vor allem Jean de
Sponde. Bei diesem auch <saturnischem Manieristen stoßen wir
auf Elemente, die weit über <Preciosite> h i n a u s d r ä n g e n , auf Merk-
male eines nicht n u r gesellschaftlich verspielten D u k t u s der ma-
nieristischen Ausdrucksgebärde. Wieder w e r d e n wir, in solchen
Fällen, wo formale Manierismen sich mit g e n i a l e m manieristi-
schen Denken vereinen, an Baudelaire erinnert, vor allem ange-
sichts einer <paralogischen Metapher) wie der folgenden: <Das
Fleisch duftet nach der süßen Frucht gegenwärtiger Lust. / Der
Geist lebt n u r aus der einzigen Hoffnung auf die Abwesenden.>

Ochse auf dem T u r m


An die <groteske> Welt Callots u n d Baudelaires d e n k e n wir, wenn
wir einen der interessantesten präklassischen Dichter Frankreichs
im 17. Jahrhundert lesen: Theophile de Viau. D a begegnen wir <ka-
tharrisch kranker Luft, t r ä n e n d e m Auge des H i m m e l s , erblindet
im Anblick der Erde>, den Schrecken «endloser Langeweile>, dann
aber auch einer alogischen <Montage>, die Arcimboldis würdig ist:
<Ein Bach steigt bergan, / Ein Ochse auf d e m Turm, / Blut fließt
vom Felsen, / Schlange paart sich mit Bärin. / H o c h auf dem alten
Turm / Zerreißt eine Natter einen Geier, / Feuer glüht im Eis. / Die
Sonne wird schwarz. / Den M o n d sehe ich fallen. / Dieser Baum
verläßt seinen Stand.>
Doch vergessen wir hier nicht Frankreichs abstrusesten <Poete
heteroclite> im 17. Jahrhundert: Louis de Neufgermain. In einem
Gedicht an Mademoiselle Dinton heißt es: <Dame h a r m o n i e c'est
Dinton / Son luth faisant dre lin din din. S o n n e sonnets, et san-
sonne. / O'qui par sa forme spherique.) L a u t r e a m o n t begrüßt im
19. Jahrhundert den <alten Ozean> als <großen Junggesellen). Für
Lautreamont hat der See-Polyp einen <Seidenblick>. Diese Meta-
pher m u ß Salvador Dali beeindruckt h a b e n , als er sich dazu ent-
schloß, ein dmaginäres Porträt> dieses genialen Vorläufers des
Surrealismus zu machen.
Paul Eluard übernimmt in seine < P r e m i e r e Anthologie vivante
de la Poesie du Passe> die <chimärische B e s c h r e i b u n g eines Ver-
nunftwesens aus Versatzstücken fabriziert> (1713) von Abbe
Claude Cherrier. Davon, der uns (aus Teil I) b e k a n n t e n unüber-
setzbaren Wortvertauschungen wegen, als Beispiele n u r die ersten
Verse: <I1 a un Corps de garde, / des m e m b r e s de periode, / une tete
d'Armee / u n e face de theatre, / des traits d'arbalete> usw. Das ist
wahlverwandt mit dem <Disegno fantastico> Zuccaris, mit den <Biz-
zarrie> von Bracelli.
Im 20. Jahrhundert finden wir die gleiche Technik der metapho-
rischen Reversibilität bei Morgenstern, Apollinaire, Arp, Enzens-
berger, Antonin Artaud u . a . m . Weitere manieristische Musterau-
toren der französischen Tradition sind für E l u a r d bezeichender-
weise: du Bartas, Desportes, de Sponde, Chassignet, d'Aubigne, de
Viau, Saint-Amant, Cyrano de Bergerac.
Die Ästhetik der Vereinigung des Disparaten wird zu einem vor-
weggenommenen <surrealen> Ereignis. Das Rezept Lautreamonts
ist vorzeitig erfüllt: <Schönheit ist die zufällige B e g e g n u n g einer
Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Operations-
tisch.) Das Gedicht Theophile de Viaus k ö n n e n die meisten Sur-
realisten von heute ebenso auswendig hersagen wie Lautreamonts
unheimliche Formel.
35°
<Antiques vocales>
Die <Modernen> in Paris von Apollinaire über Ivan Goll bis Paul
Celan k e n n e n die Technik d e r paralogischen M e t a p h e r auch <in-
wendig>. In dieser n e u e n Reihe g e b ü h r t allerdings Apollinaire der
Lorbeer des Vor-Nachläufers. Doch ist dies keineswegs polemisch
gemeint. I m Gegenteil! D a s Erlebnis manieristischer Kontinuität
m u ß unsern Sinn für die Hintergründigkeit europäischer Geistes-
geschichte wecken u n d uns das Glück geistiger Ahnenschaft ver-
leihen: das A k a d e m i s c h e des Anti-Akademischen bezeugt uns die
Macht der in alten Kulturen waltenden F o r m - D ä m o n i e , auch und
gerade dort, wo F o r m e n in schöpferischem <Furore> gesprengt
werden.
Gerade Apollinaire, allerdings nicht so <gebildet>, wie man
glaubte, flirtete m i t alexandrinischem Wesen. E r liebte die <anti-
ques vocales>, er suchte bei d e n Bouquinistes an der Seine seltene
Literatur, speziell des 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t s , vorwiegend eroti-
sche. Die pornographischen Bücher, die er unter Pseudonym
schrieb, deutet selbst die französische Kritik recht keusch an. Auch
Apollinaire liebte — wie die Kultisten einst — seltene Mythen und all
jene rhetorischen Figuren, die für Attizisten als fehlerhaft gelten,
lerner die <ironische> R o m a n t i k in der Art Brentanos und Heines.
Seine Metaphorik, von R i m b a u d besonders angespornt, verleitet
ihn zu einem Wort-Cocktail, dessen Ingredienzen unverkennbar
REÄtVl-RVSTWVTRlX £.
Maurice de Ylaminck:
Guillaume Apollinaire C A F E DES SPORTS

: ^

sind. (Z.B.: <Heftiger Regen k ä m m t den Rauch>, <Meiner Augen


müdes P a a r a m blutenden Weinberg>, <pompöses K e u c h e n bluti-
ger Johannisbeeren), <Schwarze Sonne>. <ln e i n e m aufgeschnitte-
nen Bauch entdeckte ich vier I, vier 0 , vier D.>, <Eiffelturm, Schaf-
hüterin von Brücken> usw.) <Alchimie du Verbe> R i m b a u d s ! Para-
logische Metaphern — im Sinne Tesauros u n d Graciäns — gibt es
darin genug (<Moschee> als Fabrik, <Schule für Trommeln, von
Engeln gemacht), <ein Salon in der Tiefe eines Sees) usw. ). Wir
erinnern uns: für Rimbaud sind dies <Sophismes magiques>. Wir
glauben Apollinaire, daß er elementare Einfälle hatte. N e u e Un-
tersuchungen ergeben allerdings, daß er (im Sinne des von Te-
sauro empfohlenen <Machens>) seine Einfälle in denkwürdiger
Weise korrigierte. E r verdunkelte seine a u t o m a t i s c h e n Gedichte
absichtlich, i n d e m er von verschiedenen G e d i c h t e n Verse n a h m
u n d diese miteinander kombinierte. E i n e ingeniöse <Collage>, ex-
treme Mixtur des Disparaten, ähnlich wie auf Architektur-Bildern
Monsü Desiderios! Das Suchen, das Ver-suchen i m ver-dunkem-
den Sinne ist also bei Apollinaire viel gewollter als bei R i m b a u d . Es
35 2
entspricht viel eher der ingeniösen Vereinigungskunst Tesauros
und Graciäns. Apollinaire ist mittelmeerischen Geblüts. E r war al-
les andere als ein <Täuscher>, w e n n er lyrischen <Inganno> er-
strebte. W ä r e er kein so b e d e u t e n d e r Dichter, von dem jetzt fast
schon zwei G e n e r a t i o n e n sich n ä h r e n , wäre es überflüssig, über
ihn so viel zu sagen. M a n m u ß sich n u r über seine literaturge-
schichtliche Ahnenschaft klarwerden: er gehört zu den asianischen
Erzmanieristen, allerdings aus m e h r instinktivem als wissendem
Traditionsgefühl. Kein W u n d e r , daß sich Apollinaire, der so <mo-
dern> sein wollte, oft ärgerlich über Mißverständnise der aller-
neuesten M o d e r n e ausgesprochen hat.
Weitere Metaphern-Beispiele u n d entsprechende Wort-Kombi-
natorik aus der zeitgenössischen französischen Literatur: <L'agile /
A c h i l l e / M u t i l e / L a v i l l e / D u p ä m e / P r i a m > (Alfred Jarry). <I1 passe
sur automobiles —Comme sacs äloto mobiles> (Max Jacob). E r d e =
<madrepore> (Sternkoralle) <des morts>, der Toten (Pierre Jean
Jouve). <Unser Liebesflechtwerk gleicht Lettern auf einem Baum.>
U m a r m u n g = <verliebter Krake aus Beinen und A r m e m (Jean Coc-
teau). <In L e e r e n schweigen-schwerer Fenster> und — geradezu

CCEUR COURONNE ET MIROIR


Wort-Collagen von
Apollinaire

R ' 8 , »C
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LES VRAI

ME COM

ME
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MA ON

I
353
marinistisch - <Die ganze Welt hängt von D e i n e n reinen Augen ab
/ Und all mein Blut fließt hin in ihren Blick >. <Die E r d e ist blau wie
eine Orange.> <Wir haben die N a c h t gemacht.) <Ich reise in Deinen
Augen.> <Meines Bettes leere Muschel.) <An die M a u e r n meiner
Langeweile schreib' ich Deinen Namen> (Paul Eluard).

Neo- Marinismus
Frankreich, im Avantgardistischen an der Spitze, hat als erstes eu-
cf. Sondernummer: <Cahiers du ropäisches L a n d Marino und die Marinisten für heute entdeckt. 13
Sud». Marseille 1955, Nr.332. Übersetzt wurden Marino, Dotti, L u b r a n o u. a. M a r i n o erscheint
überdimensioniert (in einem Vorwort Boussets), L u b r a n o ist <ad-
mirable>. Das Erstaunliche aber ist: d u r c h die Übersetzungen
ins Französische gewinnen die Marinisten, n e u e M o d e nach 350
Jahren, eine überraschende Geschmeidigkeit u n d Eleganz, die
nüchterne Kantilene Mallarmes. Aus d e m u n s schon bekannten
Gedicht Lubranos hier wenigstens einige Verse, diese n e u e franzö-
sische <tournure> bekundend: <Les angles d'incidence / mesurent
les perspectives de ces tours.) - <La native b e a u t e de cedres fanati-
ques.> - <Un Vertumne navigateur / debarque sur les rives des Pe-
rous de forets dorees.)

9. S H A K E S P E A R E S
DEFORMATIONEN

Sprachlicher Perspektivismus
<Schon im Metaphorischen ist der M e n s c h doch auf ein Eigentli-
ches gerichtet. Zu jedem Gleichnis gehört auch ein Wesen. In der
Wechselbewegung gleichnishaften Spiegeins aller D i n g e ineinan-
der durch die Sprache ist nicht die Nichtigkeit des Spiegeins von
„ . nichts, sondern in der Tat eine Stufenfolge von Wesen für uns ge-
l i . " 2 Z £ * 2 S £ ß«™ärtig.>» Manieristische Metaphorik k a n n zu e i n e m Wortge-
'947. P599- spenster-Tanz von nur noch Ab-bildern der Welt führen, sie kann
aber auch dazu dienen, Ur-weltliches aufleuchten zu lassen. Nir-
gendwo wird dieses moderne D i l e m m a größer u n d überwältigen-
der sichtbar als in der Wortwelt Shakespeares. Die englische Dich-
tung von Shakespeare bis Crashaw b e d e u t e t in mannigfaltiger
Hinsicht einen Höhepunkt des europäischen M a n i e r i s m u s , in ei-
nem schöpferischen Sinne. E n g l a n d blieb, wie schon angedeutet,
die Barockisierung des Manierismus z u m großen Teil erspart.
Überdurchschnittlich wurde antiklassische D i c h t u n g , das Gegen-
teil also dessen, was die E n g l ä n d e r augusteische D i c h t u n g nennen,
im 1 / . J a h r h u n d e r t n u r in E n g l a n d u n d Spt
lanien.

354
Frontispiz einer Shakespeare-
Edition, London 1846

Schwermütiger Leichtsinn
Wir erinnern an den Oxymora-Reigen Marinos über die Liebe, so
etwa: <Blinder L u c h s , v e r b u n d e n e r Argus, säugender Greis und al-
tes Kind> - <Ewiger A b g r u n d von discordie concordb. In <Romeo
und Julia> heißt die Liebe: <Schwermütiger Leichtsinn, ernste
Tändelei>. dichter Rauch> u n d <kalte Glut>, <stets wacher Schlah
und diebreicher Haß>! D o c h wirken im gewaltigsten pararhetori-
schen D u r c h b r u c h der europäischen Literatur (unter Bewahrung
des rhetorischen I n s t r u m e n t a r i u m s ) , bei Shakespeare, solche M e -
taphern noch konventionell. Sie werden allerdings auch in Augen-
blicken höchster Gefühlserregung gesprochen, so Julia beim Be-
richt der Wärterin über den Tod Romeos, aber bei Shakespeare tritt
dann eine seltsame, Tesauro w ü r d e sagen <irre>, Deformation ein.
Die konventionelle M e t a p h e r wird, u m eine tiefere Seelenschicht
zu offenbaren, u m auf eine a n d e r e Daseinsebene zu lenken, in ei-
nem doppelten Sinne irrational. Sie wird durch ein intellektuelles
Zerbrechen u n d d a n n d u r c h ein rationales Kombinieren mit Buch-
staben und Worten der emotionellen Konventionalität entrissen
355
und in einen Bezirk magischer Artifizialität (etwa der Verzweif-
lung) gedrängt. Wir wissen allein schon d u r c h unsere Hinweise auf
Graciän und Tesauro, daß dies als Beweis für dichterische Potenz
im Sinne eines radikalen Anti-Naturalismus galt. Shakespeares
diesbezügliches <Ingenio> wird in Übersetzungen allerdings kaum
Sichtbarwerden. Zitieren wir also diese Stelle (III, 2) im englischen
Originaltext, u m die Beversion einer M e t a p h e r (Perspektivismus
im Sinne Borrominis und Tesauros) zu belegen. D e r Ausdruck
<puns\ Wortspiele, m u ß hier allerdings d u r c h einen anderen er-
setzt werden. Wir schlagen, kunstgeschichtlichen Erscheinungen
im 16. Jahrhundert entsprechend, den Begriff einer sprachlichen
Illusionsperspektive vor. Die Stelle lautet:

Hath Bomeo slain himself? Say thou but <I>


And that bare vowel <I> shall poyson m o r e
Than the death darting eye of Cockatrice,
I a m n o t l i f t h e r e b e such an <I>.
Or those eyes shut, that makes thee answer <I>:
If he be slain say <I>, or if not, n o .

Es handelt sich um ein sehr <ingeniöses>, aber leicht <auflösbares>


Wortspiel mit dem Vokal <I>, das durch Ü b e r s e t z u n g — wie so vieles
bei Shakespeare — nicht wiederzugeben ist. D e r Vokal <I> bedeutet
im Englischen <Ich>, aber auch (<I> = <Ay> — gesprochen wie <I>)...
<Ja>.
Das Wortspiel steigert, in einem Augenblick derart persönlicher
Erregung, die Metapher aus bloß sinnlichen Bezügen in raum-
1
' rl. auch die sophistische Verve sprengende Doppeldeutigkeit. D e r W a h n der Trauer wird doppelt
großartiger Sprachgrotesken in der sichtbar, so wie Figuren in Deckenfresken Federico Zuccaris sich
Rede-<Weise> Tersites' in <Troilus
und Cressida>. Oxford-Ausgabe, mit dem wandernden Betrachter auf ihn zu bewegen oder sich von
III. i. ihm entfernen. 1 5

16
WoHgang Clemen, The Develop-
ment of Shakespeares tmagery.
Sprachliche Illusionsperspektive
Neuausgabe London 1951 . und Max
Lüthi, Shakespeares Dramen. Ber- Über die Metaphorik bei Shakespeare gibt es so viel ausgezeich-
lin K)-,-. Darin über «Manierismus»
bei Shakespeare, auch und gerade in nete Literatur, daß wir uns mit n u r wenigen <abstrusen> Beispielen
bezug auf inhaltliche Bestimmun- begnügen wollen. <Oh, sie lehrt die Kerzen hell zu glühn! Wie in
gen und Bühnentechnik (Rausch.
Wahnsinn. Grausamkeit, Kontraste dem Ohr des Mohren ein Bubin> (<Bomeo u n d Julia> I, 5, 45~44-)-
usw.). p. 1 joff. Dazu die noch immer <Tat, ein Sklave der Beschränkung> (<Troilus u n d Cressida> III, 2,
maßgebenden Darstellungen von
l.evin L. Schücking in: Charakter- 164). <Gold> = <roter Sklave> (<Timon von Athen> IV, 3, 2 8 - 3 0 ) .
probleme hei Shakespeare. Leipzig <Des Mutes Auswurf) (<Timon von Athen> I, 2, 56). <Am Schaudern
1937, und: Shakespeare und der
Tragödienstil seiner Zeit. Bern satt gespeist> (<Macbeth> V, 5, 14). Wie Kunstwerke vergangener
1947. Weiter empfohlen: Elisabeth Zeiten sich jeweils neuen Generationen anders erschließen, so ge-
Holmes. Vspects of Shakespeare's
Imagery. Oxford 1929, und Edward schieht es mit Meisterwerken der Dichtung. M a h o o d zitiert Addi-
V Vmstrong. Shakespeares Imagi- sons Frage: <Sind wir zu einer Basse von Wortspielern geworden?)
nation. London 1946. t 'her Marinis-
mus in England vor allem Mario Tatsache ist, laut Mahood, <daß die Augusteer (wir sagen Attizi-
Praz, Secentismo e Maruiismo in sten) Shakespeares Wortspiele ablehnten, d a ß das Zeitalter Victo-
Inghilterra, Studi sul Concettismo.
Florenz 1946, La Poesia metaftsica
rias sie mißbilligte, daß wir sie aber schätzen). 1 6
inglese deJ Seicento. Rom 19 w und Eine Generation, die <Finnegans Wake> von J a m e s Joyce liebt,
Richard Crashaw. Brescia 19 (6. Zur
literalurgeschichllicheu Orientie- kann der Gefahr, vor Wortsubtilitäten bei Shakespeare blind zu
rung: Douglas Bush. Englisch Lite- sein, nicht verfallen. Im Gegenteil. Wort-Kunststücke, so lesen wir
ralure in Earlier Se\euteenth Cen-
tury (1600— 1660). Oxford 1945 (vor
bei Mahood, <werden von der heutigen Kritik als Zeichen hoher
allem p. IOLIO. sowie Itrat Hussain. dichterischer Begabung anerkannt). A u c h darin sind sich das
The Mvslical Element in the Meta-
physical Poet) of the Seventeenth
17. Jahrhundert und das 20. J a h r h u n d e r t ähnlich. Die soziologi-
Century. Edinburgh—London 1948. schen G r ü n d e liegen auf der H a n d : im 1 7. J a h r h u n d e r t Verteidi-
Darin (wie hei Sona Baiziss o.e.) er- gung einer aristokratischen Kultur gegen revolutionäre Verschie-
schöpfende Bibliographie.
bung der Stände, im 20. J a h r h u n d e r t Verteidigung einer Eliten-
Kultur gegen Massenzivilisation. Was nicht ausschließt, daß die
damaligen Verteidiger der Aristokratie arge Libertins und die Ver-
teidiger der heutigen Eliten-Kultur aggressive Revolutionäre (ge-
gen alles u n d jedes) sein k ö n n e n .
Shakespeares M e t a p h o r i k ist vielfach assoziativ, im Sinne einer
Vereinigung des Disparaten. Aber es offenbart sich in Shakespea-
res Werk (das D r a m a galt i h m als <ausgedehnte Metapher>) für uns
mehr. Sein Trieb zur Zwei- u n d Mehrdeutigkeit der Sprache ist ein
Ausdruck tiefen sprachlichen Zwiespalts, einer unsicher geworde-
nen sprachlichen Unschuld, eines tiefen Skeptizismus, der ganzen
Zeit damals eigen, einer Zeit im Ü b e r g a n g . Wie in der Moralistik
Graciäns — k n a p p eine G e n e r a t i o n später - ist alles doppeldeutig
geworden. Hamlet zerdreht, zerspielt Wörter u n d Sprache min-
destens n e u n z i g m a l im L a u f e seines problematischen B ü h n e n -
schicksals. Timon, eine der vielleicht modernsten Gestalten Shake-
speares, nicht weniger häufig. König Lear, eine Figur, die Shake-
speare Aischylos verbrüdert, sprudelt ü b e r vor alogischen, defor-
mierten M e t a p h e r n , in extremer seelischer Situation. Shakespeare
stand an einem sprachlichen Höllen-Kreuzweg zwischen heute
und morgen. Die kabbalistische u n d auch neuplatonische Über-
zeugung, ein Wort bezeichne absolut ein Ding, und ein Wort sei
daher so gut wie ein Ding, w a r von Shakespeare, wenn wir n e u e n
englischen Forschungen folgen, zeitweise aufgegeben worden.
Eine Generation von Skeptikern versuchte, der konventionellen
Sprache das zu verleihen, was wir <Illusionsperspektive> g e n a n n t
haben. Worte werden, in diesem Skeptizismus, anamorphotisch.
Im Umformen sieht m a n i h r e n G r u n d . Wieder wird der Einfluß
des Nominalismus spürbar, u n d wir werden daran erinnert, daß
Francis Bacon mit der realistischen Tradition gebrochen hatte, u m
neue Beziehungen von Wort, D i n g u n d Subjekt aufzudecken. <Ein
Wort liebem, schreibt Bacon, Wittgenstein u . a . vorwegnehmend,
<heißt ein Bild lieben.> <Worte sind nicht Zeichen der Dinge selbst. >
Die Sprache erliegt bei den Besten dieser unerhört tiefgründigen
Zeit einer <reductio ad absurdum>.
Doch Shakespeare, u n d das ist einer seiner tiefsten Wesenszüge,
stand mit geradezu b e g n a d e t e r Überlegenheit mitten in diesem
Taumel einer sich selbst ent-wortenden u n d gleichzeitig ver-wor-
tenden Welt. E r stand in der S p a n n u n g , aber er verfiel weder dem
nihilistischen H y p e r - M a n i e r i s m u s m a n c h e r seiner Zeitgenossen
noch der Kompromißbereitschaft der stets als Ausweg vorhande-
nen klassizistischen <Augusteans>. Im Spätwerk findet er den Aus-
gleich. Die sprachliche L a n d k a r t e entspricht wieder stärker einer
weisen M e n s c h e n k u n d e . D o c h bleibt — w e n n m a n Shakespeare
hört — i m m e r wieder, seitdem der Zweifel erwacht ist, auch die
r r a g e lebendig, welche die Sprache an sich selbst zu richten
scheint: <Who is it that can teil m e who I am?>
Die literarische M o d e r n e w a r längst vor der Renaissance in vie-
len Ansätzen vorbereitet w o r d e n . In Shakespeare bricht sie vulkan-
artig aus. Das Bardenbild Shakespeares, das Modell für Kraft-Ge-
nies, ist endgültig z u s a m m e n g e b r o c h e n . Schon Friedrich Schlegel
stellte fest, d a ß m a n <Shakespeare nicht m e h r für einen rasend tol-
len S t u r m - u n d - D r a n g - D i c h t e r , sondern für einen absichtsvollen
Uichter> zu halten beginne. Die neue Forschung drückt immer
wieder ihr E r s t a u n e n ü b e r das <learning>, über die handwerkliche
Meisterschaft Shakespeares aus. E r gehört in das E m p y r e u m der
größten Ingenieure u n d O p e r a t e u r e der Dichtung. Aber er ist we-
der Attizist noch Asianer, w e d e r Manierist noch Klassizist. E r ist
nur S - H - A - K - E - S - P - E - A - R - E , u n d keiner weiß genau, was dieses
Kryptogramm bedeutet. H u n d e r t e von B ü c h e r n , wie gesagt wur-
den geschrieben, u m in <Chiffren> seines Werkes seinen Namen
sein Antlitz zu suchen. Von seiner Identität bleibt als sicher nur
übrig d i e Folge dieser elf umstrittenen Lettern, die Chiffre für
höchste, für delphische Kunst.

Die <Metaphysicals>
Schon z u Lebzeiten Shakespeares wirkte eine Schar von Dichtern,
die —wie so oft — aus bloß polemischen Bezügen den N a m e n erhiel-
Aus ambivalenter Polemik ent- ten: metaphysical poets.1' Shakespeare wird in E n g l a n d , was seine
standen auch tlie Ausdrücke: Gotik,
Barock. Romantik, und erst recht Lyrik angeht, ihnen zugeordnet. Die M e t a p h e r n der <Metaphysi-
viele der heutigen <lsmen>. cals> sind von herausfordernder elementarer Kraft wie von syllogi-
stischer Geistesschärfe. Ihre Dichtung w u r d e b e w u ß t n u r für einen
Kreis von happy feiv geschrieben. Veröffentlicht w u r d e n diese
Verse zu Lebzeiten der Autoren n u r selten. Von diesem Kreis von
rund dreißig Dichtern sind die ältesten geboren 1564 (Shake-
speare), die jüngsten gestorben u m 1669 (Henry King), also in der
uns vertrauten manieristischen Epoche. J o h n Lilly, der Verfasser
der gespreizten u n d preziösen <Romance Story>, <Euphues, the
Anatomy of Wit> (1578), gehört hingegen n o c h in jenen höfischen
Frühmanierismus, dessen erste vorsichtige A n k l ä n g e m a n bei Ca-
stiglione findet. Seine Gestik ist Tassos schon gewagter, aber stets
gebändigter Metaphorik verwandter als derjenigen Marinos oder
Göngoras. D e n n o c h wurde der Ausdruck <Euphuism> zu einem
Synonym für literarischen Manierismus in E n g l a n d . D a s ist jedoch
nur richtig im Sinn eines manieristischen Prologs, was unsere Lre-
nesis angeht. Die im <paralogischen> Sinne reicheren u n d die the-
matisch verwegeneren Motive findet m a n im Werke der metaphysi-
cal poets. Ihre N e u - E n t d e c k u n g u n d <moderne> Anerkennung
haben d e n literarischen R u h m E n g l a n d s g e r a d e h e u t e wieder ver-
größert.

<Der Welt letzte Nacht>


Die Metaphorik der John D o n n e , H e n r y King, Francis Quartes,
George Herbert, Thomas Carew, William Davenant, Richard
Crashaw, Abraham Cowley, Andrew Marvell u n d H e n r y Vaughan,
um nur einige zu nennen, ist unerschöpflich. C r a s h a w z.B. w a
nicht n u r Manierist, sondern auch Marinist. E r hat Marinos <La
Strage degli Innocenti> übersetzt. Doch das Ergebnis ist toteres
sant. Es führt zu einer lyrischen Vertiefung. Auch C r a s h a w Ü e °* e
A n a g r a m m e wie John Donne. So schrieb J o h n D o n n e beim gr°
ten Trauerfall seines Lebens: <John D o n n e , A n n D o n n e , Undone>
(d.h. etwa: J. D., A. D. zerstört in der früheren Einheit, da A. D-, i e
Frau, gestorben ist). Doch ist Crashaw (geb. 1612 oder 1613) nic
nur exuberanter; er scheint auch von tieferer mystischer Erregu g
ergriffen, von echteren persönlichen Motiven angeregt. Beru
ist sein H y m n u s auf die heilige Theresa. <Sie hatte nicht Blut,
schuldiges Schwert für sie erröten zu lassen.> <Ihre Liebe is
tausendfach kaltes Sterben in einer Schale> (Tasse, cup), an ei
b e r ü h m t e s Bild Rilkes über den Tod erinnernd. <Ein D o r n drang
dreimal ein in diese reiche Flamme>, <Liebessoldaten ^n^\
5^8 k o m m e n , u m an Dir ihre Bogenkünste zu erprobem. E m e s
großartigsten Gedichte der englischen Literatur dieser Epoche,
wie Lubranos Sizilien-Gedicht, wie Göngoras <Soledades>, wie
auch, es soll nicht vergessen w e r d e n , m a n c h e Strophen in Marinos
<Adone>.18 * Über den Manierismus in der
englischen Literatur des i-.Jahr-
hunderts: Rudolf Stamm in «Die
Kunstformen des Barockzeitallers>.
o.c.p.522ff. Stamm hat mit über-
zeugenden Analysen den Stil der
Herz = <roter Pavillon> <Metaphysicals> als <Übergangsstil>
bezeichnet. Dieser sei entstanden
durch die «Sprengung der elisa-
Der zeitgenössische <Problematiker> k a n n die <Gescheckte Schön- bethanischen Formenwelb. Das
heit> des sich <verquer> W a n d e l n d e n k a u m noch anders als in M e - habe mit dem ßarockbegriff wenig
zu tun. «Wir wollen für diesen Über-
taphern fassen. D a z u englische u n d amerikanische Beispiele: in gangsstil versuchsweise den Begriff
einem Gedicht <Gescheckte Schönheit) von G. M. Hopkins finden Manierismus einführen.> In Eng-
land bzw. in den Deutungen engli-
wir ein vollendetes M e t a p h e r n - C o n c e t t o mit typischen Oxymora: scher Dichtung hat. man kann es
<Alle Dinge verquer, ureigen, selten wunderlich; / was i m m e r ver- nicht oft genug wiederholen, die fal-
sche <kraftgeniale> Barockvorstel-
änderlich ist, scheckig (wer weiß wie?) / Mit schnell: langsam; süß: lung das kritische Urteil nicht ver-
sauer; blitzend: trüb; / Was er hervorzeugt, dessen Schönheit wan- engt, ebenso nicht jene Ästhetik der
Croce-Schule. die im Barock nur
dellos: / Preis ihm.> W. B. Yeats h a t eine Vision Caesars: l a n g b e i - eine barbarische Geschmacksent-
nige Fliege auf ihrem F l u ß , bewegte sich sein Geist ins Schwei- gleisung sah.
gern. In seinem <Wüsten Land> begegnet T. S. Eliot einem <toten
Bergmund aus h o h l e n Z ä h n e n , die nicht spucken können>, u n d
<dem Dschungel g e k r ü m m t in Schweigern. — Dort <barst das Zelt
des Flusses>. Die unerschöpfliche Francis T h o m p s o n empfindet
ihr Herz als <roten Pavillom. F ü r M a c Neice hingegen ist <Circe>
eine <unfruchtbare Schönheit, unseres eigenen Herzens G e d a n k o .
Südliche Landschaft preßt William Pionier in eine großartige M e -
tapher: <Heraldisch in der Hitze, ein Skorpion>.
Das ist purer M a n i e r i s m u s im Sinne Donnes u n d Crashaws, u n d
wir w u n d e r n uns d a h e r auch nicht, in einem Gedicht von Roy Fül-
ler ein metaphorisches Bekenntnis zu i h n e n zu lesen: <John Donne,
lebend in seinem Totenhemd>, / <Shakespeare in den Falten einer
Wolke>; / <ich b e n e i d e nicht n u r ihren (Donnes u n d Shakespeares)
schöpferischen M a n g e l an Gleichgewicht / sondern den Anschein
von Wahl in ihrer traurigen u n d schicksalsschweren Stimme>.
Doch ist auch wieder J a m e s Joyce - für E n g l a n d - der ingeniöse-
ste und phantastischste Metaphern-<Erfinder>. Seine Oppositions-
Metaphern h a b e n es jetzt wieder mit einer Kombinationskunst von
Gegensätzen zu tun, mit e i n e m intellektuellen Analogien-Wahn
von <Phantasiai>. Stuart Gilbert hat in seinem Essay über James
Joyce eine Tabelle solcher m e t a p h o r i s c h e n Analogien aufgestellt.
Verbunden w e r d e n darin z.B. <Kalypso, H a u s u n d Nieren>; <Aolus,
Zeitung, L u n g e r n ; <Theologie, Weiß-Gold, Erbe, Erzählung>;
Philologie, G r ü n , Flut u n d Monolog); <Rhetorik, Rot, Verleger u n d
Enthymem> (verkürzte Art der logischen Schlußbildung); <Sonnen-
ochsen, K r a n k e n h a u s , zehn U h r u n d Uterus>. Solche abstrusen
Analogienketten sind uns schon begegnet. Sie stammen aus der
hermetischen, alchimistischen Literatur der graeco-orientalischen
Magie.

Verschobener Schwerpunkt
Alles dieses ist nicht n u r Ausdruck auch für eine Zeit im Übergang.
£ s wird hier auch eine spezifische ingeniöse Poetik erprobt. <Was>,
ruft John D o n n e mit E m p h a s e aus, <was - wenn diese Gegenwart
der Welt letzte N a c h t wäre?> Apokalyptische Ellipsen dieser Art
erinnern uns a n L e o n a r d o d a Vincis Endzeit-Visionen. Sie gehören 359
jetzt nicht m e h r zum Instrumentarium n u r formaler Manierismen
Sie entsprechen manieristischen D e n k f o r m e n , ü b e r die wir Hin-
weise gegeben haben. Die wichtigsten stehen uns noch bevor.
T. S. Eliot hat die Metaphorik seiner Vorläufer im 17. Jahrhun-
dert, die uns u.a. aus Peregrini, Tesauro, Gracian vertraut ist, mit
den Worten bezeichnet: <An eccentricity of imagery, the far-fet-
ehed association of the dissimilar, or the overelaboration of one
metaphor or simile.> Logischer Begriff u n d lyrisches Bild interfe-
rieren. Das gilt vor allem - weit über die M e t a p h e r h i n a u s - für den
Concettismus. Wenn aber alogischer Sophismus u n d poetisches
(<ingeniös> gemachtes) Bild sich (wie in e i n e m Chiasmus) über-
schneiden? Berühren wir damit eines der <Geheimnisse> Kirchers,
Tesauros, Graciäns, Mallarmes? Das gespenstisch-<irreguläre> La-
boratorium des Manierismus, in Fällen eindeutiger Begabung,
wird uns seine Irrgänge bald n o c h tiefer erschließen.

Marionetten und Ziererei


<Ziererei> ergibt sich für Kleist, <wenn sich die Seele (vis motrix) in
irgendeinem andern P u n k t befindet als in d e m Schwerpunkt der
Bewegung). Der >Maschinist> h a t keinen a n d e r e n P u n k t in seiner
Gewalt als diesen. Schaut m a n in den Spiegel, verliert m a n die
S i c h e r h e i t der Grazie>. Ein <eisernes Netz> legt sich u m das freie
Spiel der Gebärden jenes M a n n e s , der sich spiegelt. E r verliert
seine <Lieblichkeit>. Manieristische M e t a p h e r wäre somit, nach
Kleist, endlose Spiegelung u n d damit Verzicht auf ein sich in sich
selbst spiegelndes Ge-Sicht. Der Schluß der einzigartigen Betrach-
tung Kleists <Über das Marionettentheater) lautet:
<,Mithin', sagte ich ein wenig zerstreut, , m ü ß t e n wir wieder von
d e m Baum der Erkenntnis essen, u m in d e n Stand der Unschuld
zurückzufallen.'
»Allerdings', antwortete er, ,das ist das letzte Kapitel von der Ge-
schichte der Welt.S
Victor H u g o , der sich unaufhörlich eine <seconde virginite>, eine
zweite Unschuld, wünschte, hat wie k a u m ein anderer, formalen
Manierismen und <verbotener> rhetorique folgend, Buchstaben,
Worte, Metaphern und Verse ver- dreht. D a m i t glaubte Victor
Hugo, nach Gide Frankreichs größter Dichter (Victor Hugo helas!),
seine lyrische Unschuld wiederzufinden.
Geistige Unschuld, wo liegt sie, in Urvergangenheit oder in my-
thischer Zukunft? Sie liegt wahrscheinlich im Gegenwärtigen, so-
fern es noch Schnittpunkt bliebe von Mythos u n d gläubiger, chiha-
stischer Endzeit-Vorstellung.
Wer glaubt, es sei dies noch Sinn des m e n s c h l i c h e n Daseins,
m u ß sich heute wohl damit abfinden, g e n a u s o verlacht zu werden
wie Calderön mit seinem Bild ü b e r die N a c h t : <Sie h a t die erste
Strophe ihrer Litanei gesagt> - oder wie Andreas Gryphius, als er
schrieb: <Nacht, heller als die Sonn'.>
io. BILDERWITZ

Auflösung und Freiheit


Manierismus in der geistigen Landschaft Deutschlands zeigt sich
früher in Kunst und Musik als in der Literatur. Erst die Nürnberger
mit Harsdörffer u n d seinen Pegnitz-Schäfern u n d die Schlesier mit
Lohenstein und H o f m a n n s w a l d a u verfallen geradezu der <Ver-
nunft-Kunst>. Diese deutsche Verspätung hat i m m e r wieder die
gleiche Ursache: Kriege u n d soziale U n r u h e n . Dichterische H ö h e -
punkte erreicht der <neue Stil> erst bei J e a n Paul, bei Brentano und
Heine, in der Ästhetik von Fr. v. Schlegel, bei E. T. A. Hoffmann, in
der heutigen M o d e r n e . F ü r J e a n P a u l (1 763 — 1825) ist<Naturnach-
äfiüng sterib. Es ergibt sich eine <unpoetische Repetierkunst der
großen Weltuhr>, womit wir ein weiteres Beispiel für unsere Meta-
p h e r n - S a m m l u n g h a b e n . Ferner: <Dichtung ist kein Kopierbuch
des Naturbuches.> Mit Tesauro, Novalis (<Poesie mub 1 i m m e r n u r
das W u n d e r b a r e sein>) u n d Breton erklärt Jean Paul: <Alles wahre
Wunderbare ist für sich poetische M e t a p h e r n sind für Jean Paul
nichts Geringeres als <Brotverwandlungen des Geistes>. <Die Eng-
länder u n d die D e u t s c h e n h a b e n m e h r Bilderwitz, die Franzosen
mehr Reflexionswitz.> <Der Witz gibt uns Freiheit, i n d e m er
Gleichheit vorher gibt.> D a r u m besteht die Notwendigkeit einer
deutschen <witzigen> Kultur.

Titelblatt zum 1. Teil von


Lohensteins <Arminius und
Thusnelda>. Leipzig 1689/90. Der
Kupferstich stammt von Joachim
v. Sandrart.

36l
tfl£)T-irt£4i£ui£
Jean Paul gebraucht das Wort <Witz> (ahd.: wizzi — Wissen Ver-
stand) im Sinne von irigerüo (Grariän), von itigegno (Tesauro), von
esprit im Sprachgebrauch der Preziösen u n d von englisch wit (<Eu-
phues, or the Anatomy of Wit>). Das lateinische ingenium heißt:
<Gabe geistreicher Erfindung.) D e r <Witz> allein erfindet, und zwar
unvermittelt. Witz in diesem etymologisch ursprünglichen Sinne
verbindet Entferntes und trennt Ähnliches auf überraschende
Weise. O h n e ingenium also kein stupore. D o c h z u m Witz m u ß sich
Scharfsinn gesellen, agudeza (Garciän), argutezza, acume, acu-
tezza (Tesauro). Im Lateinischen bedeutet acutus spitz, geschärft,
scharf, scharfsinnig, geistreich. W i r e r i n n e r n u n s : Graciäns manie-
ristische Literaturtheorie trägt den Titel: <Agudeza y arte de Inge-
n i ö s Tesauros Werk den Untertitel: <Idea dell' arguta e ingegniosa
elocutione>. Scharfsinn ist, nach J e a n P a u l , dazu da, <um die Un-
ähnlichkeit zu finden>. Der Witz findet m e h r <die ähnlichen Ver-
hältnisse in kommensurabler Größe>, also <er paart die entfernte-
sten Umstände> (Tesauro). Scharfsinn befähigt vor allem zu lo-
gisch-kombinatorischem D e n k e n . F ü r Novalis ist Witz <geistige
Elektrizität). Doch wir lernen von ihm Tieferes: <Humor (dieser
Art) ist willkürlich a n g e n o m m e n e Manier. D a s Willkürliche ist das
Pikante daran.) <Wo Phantasie u n d Urteilskraft sich berühren, ent-
steht Witz.) (Witz immer gemeint als Scharfsinn geistreicher Erfin-
dung.) <Witz zeigt ein gestörtes Gleichgewicht: er ist die Folge der
Störung und zugleich das Mittel der Herstellung. D e n stärksten
Witz hat die Leidenschaft. Der Zustand der Auflösung aller Verhält-
nisse, die Verzweiflung oder das geistige Sterben ist am fürchterlich-
sten witzig.y Mit diesen Sätzen werden <manieristische> Abgründe
blitzartigerhellt.
Zwei Grundbegriffe der manieristischen Literatur: Witz {agu-
deza) und Scharfsinn (ingenio)l Sie gilt es jetzt zu erklären, wieder
aus dialektischen Ausgangssituationen der europäischen Litera-
tur. Durch sie wird m a n zur Buchstaben-, Wort- u n d Silbenvertau-
scliung befähigt, zur künstlichen M e t a p h e r n b i l d u n g , zur Kombi-
nationskunst und, wie wir später sehen w e r d e n , a u c h zur Kunst der
Concetti.
Schon Quintilian tadelte den M a n i e r i s m u s Ovids, weil dieser
zwar <ingenium> habe, seine Erfindungskraft jedoch nicht durc
maßhaltendes üudicium) bändige. Diese u n d ähnliche Barbans-
men bringt auch Quintilian mit dem Asianismus bzw. Afrikarns-
mus und mit Spanien in Verbindung. Witz u n d Scharfsinn sin
Bekundungen manieristischer Denkformen. Sie erzeugen forma e
Manierismen. Witz (als ingenio, wit usw.) manifestiert sich, wie
Novalis so prägnant feststellte, vor allem in spannungsvollen Epo-
chen, in konfliktreichen Übergangszeiten, in dialektischen Sorge
und Angstsituationen. Witz und Scharfsinn dieser Art sind Eigen-
schaften problematischer N a t u r e n {Hamlet) in Zeiten, die aus den
Fugen geraten, und zwar seit d e m E n t s t e h e n großer literarisc ie.
Kulturen. Das Streben nach dem P a r a d o x a l e n entspringt dem Er-
leben eigener und fremder Paradoxien.
Der politische Absolutismus tadelt den <ingeniösen> u n d <a'U-
ten> Manierismus. Cicero sprach, wie wir wissen, für die ia e
sehe O r d n u n g , wenn er den manieristischen Asianismus ta ^
Das Moderne ist immer <akut>. Es w u r d e in allen zur geschlosse^
nen Repräsentation drängenden Nationalstaaten E u r o p a s sc o
früh als das Neuerungssüchtige, Schillernde, Gefährliche e m p un-
den. Witz und Scharfsinn sind die Eltern des Artifiziel e r j - *
Zwei- und Vieldeutigen, der verärgernden U n d u r c h d r i n g l i c h ^ .
dann der Libertins und geistig Subversiven. Im frühen i ••
hundert gefiel sich die Hofkultur noch an ihren Erzeugnissen, so-
fern es sich u m <Spiel> h a n d e l t e , doch waren die Zensurbestim-
mungen schon in elisabethanischer Zeit i m m e r enger geworden.
Man fürchtete die Dissonanzen des Scharfsinns u n d die verhüllt
aggressiven Verschnörkelungen des manieristischen Ingeniums
(u.a. Heines späteres Schicksal). Begabungen dieser Art waren in
<magischen>, unerforschten Labyrinthen zu H a u s e , nicht in from-
men Tempeln gutgearteter Traditionen. <Der Witz ist von Natur
ein Geister- u n d Götterleugner> (Jean Paul). F ü r Gracian macht
die agudeza <den M e n s c h e n z u m Adler, zum Engel, zum Mitglied
extravaganter Hierarchien).

Kants und Hegels Urteilssprüche


Jean Paul prägt die Formel: <Witz ist sinnlicher Scharfsinn und
Scharfsinn abstrakter Witz.> Kant (1724—1804) erklärt: <Verstand
ist erhaben, Witz ist schön.> <Schön> ist allerdings für Kant natürli-
che Gesetzmäßigkeit im S i n n e der <Zweckmäßigkeit>. Ihr Wirken,
ihr Sein wird bestimmt <von der logischen Vorstellung der Zweck-
mäßigkeit der Natur>. Schönheit m u ß <Lust> erzeugen, zweckfreies
Wohlgefallens <Schön ist, was bloß gefällt.) <Schöne Kunst ist eine
Kunst, sofern sie zugleich N a t u r zu sein scheint.) Wenn <schöne
Kunst) als <Natur> a n z u s e h e n ist, so m u ß der schöpferische Künst-
ler (das Genie) eine <Intelligenz> sein, welche <wirkt wie eine Na-
tur). Dennoch gibt es <keine objektive Geschmacksregel, welche
durch Begriffe bestimmte, was schön sei).
Wenn auch Klassik als sublimierte Natur für Kant mit einem
starken rationalistischen Vorzeichen ein <Ideal> blieb, so hat er
dennoch durchaus Sinn gehabt für das <Unregelmäßige>, für das
Irreguläre als ein E l e m e n t des Schönen, für harmonische Künst-
lichkeit, ja, sogar für Darstellungen des Häßlichen und des Grau-
ens, sofern sie nicht <Ekel> erwecken. Kant stand, im Gegensatz zu
Hegel, wie wir sehen w e r d e n , d e m <Manierismus> neutral gegen-
über. U m so erbarmungsloser verurteilte er das manieristische
Epigonentum, die N a c h a h m u n g des Subjektiven, das Manierieren
oder Manierierte. <Das M a n i e r i e r e n ist eine Art von Nachäffung),
schreibt er, <nämlich der bloßen Eigentümlichkeit (Originalität)
überhaupt, u m sich ja von N a c h a h m e r n soweit wie möglich zu ent-
fernen, ohne das Talent zu besitzen, dabei zugleich musterhaft zu
sein.) <Manier> als <modus aestheticus> wird anerkannt, nicht aber
<manierierte> <Kunstprodukte>, <die auf Sonderbarkeit angelegt
und nicht der Idee angemessen) sind. Und an Kleist erinnert die
Verurteilung des <Prangenden (Preziösen)\ des <Geschrobenen
und Affektierten, u m sich n u r vom G e m e i n e n zu unterscheiden).
Es sei <dem B e n e h m e n desjenigen ähnlich, von dem m a n sagt, daß
er sich sprechen höre, oder welcher steht u n d geht, als ob er auf
einer B ü h n e wäre, u m angegafft zu werden, welches jederzeit ei-
nen Stümper verrät). M a n sieht es, den falschen <Witz> des Pseudo-
Spiegelmenschen hat Kant genauso erkannt u n d verurteilt wie
Schopenhauer.
Hegel ( 1 7 7 0 - 1 8 3 1 ) , der auf G r u n d seiner klassisch-idealisti-
schen Ästhetik die <Manier> des Witzes als subjektive Fabrikation)
tadelt, lehnt die <barocken> <Kombinationen> J e a n Pauls ab. Er
habe n u r äußerlich das <Heterogenste> zueinander gebracht, so
z.B. «brasilianische Pflanzen u n d das alte Beichskammergericht).
Es sei dies <Manier). <Wahre Originalität schließt solche Willkür
aus.> Wir k o m m e n damit auf den hegelianischen Ursprung der
antibarocken Ästhetik Croces und seiner Schule.
Der idealistische, klassische Kunstkanon G. P. Belloris
19
Archäologe und Kunst-Traktatist, (1615-1695) 1 9 verschließt Hegel den Blick für die tieferen Ur-
v oit l'oussin beeinflußt, schrieb sprünge des Manierismus. Metaphorismus (<Zwiefaches in eines
(klassizistische) <Vite de' pittori,
scultori ed architetti modemi> fügen>) wird relativ einfach, n u r psychologisch gedeutet, nämlich
(1672). Von Goethe geschätzt <als Bedürfnis, sich nicht mit d e m Einfachen, G e w o h n t e n , Schlich-
ten zu befriedigem. Zweiter Grund: <der a n s c h a u e n d e Geist sucht
sich von der Äußerlichkeit verwandter G e g e n s t ä n d e zu befreien>.
Drittens: Metaphorismus entstammt der <bloß schwelgerischen
Lust der Phantasien dem <Witz einer subjektiven Willkür). Deswe-
gen wird <das Entferntliegendste überraschend kombiniert).
<Keine Manier zu haben war von jeher die einzig große Manier, und
in diesem Sinne allein sind H o m e r , Sophokles, Raffael, Shake-
speare originell zu nennen.) Das ist wohl unfreiwilliger <Witz> par
excellence. Dafür einer der vielen Genie-Blitze Hegels: <Der
Orient) u n d die <Moderne> seien es, die sich, im Gegensatz zur
griechisch-römischen Antike, des <uneigentlichen Ausdrucks be-
dienen). Doch vergessen wir nicht: auch Novalis schrieb in den
<Lehrlingen zu Sais> von der <uneigentlichen Sprache) der Dichter.
Aber er verteidigte sie — als Romantiker - als dieblichen Wahn-
sinn), und die Dichter k ö n n e n als Zauberer deswegen <bei weitem
nicht genug übertreiben).
Zur Willkür: wir wissen n u n , d a ß diese Willkür M e t h o d e hat.
Zur Antike und zum Orient: die griechisch-römische Antike ist al-
les andere als n u r attizistisch. Der Asianismus blühte auch in Groß-
griechenland auf. Der antike Asianismus (Europas) ist ebenso von
Metaphorik besessen wie die in diesem Z u s a m m e n h a n g von Hegel
allein zitierten Spanier, wie Shakespeare u n d J e a n P a u l .

fragmentarische GenialitäU
Wir stehen vor einer Renaissance des kritischen Werkes Friedrich
von Schlegels ( 1 7 7 2 - 1 8 2 9 ) . Mit Recht! M a n beginnt jetzt erst,
seine Tiefe, seinen Scharfsinn u n d seine Universalität zu begrei-
fen. Friedrich Schlegel ist n u r zwei Jahre später geboren als Hegel.
Aber wie weit überragt er, was Differenziertheit des ästhetischen
Urteils und tiefe Kenntnis der gesamten europäischen Literatur
angeht, seine Zeitgenossen, ja, in bezug auf Sensibilität u n d <Witz>
sogar Hegel!
Schlegel hat, im Gegensatz zu Hegel, die (Vorschule der Ästhe-
tik) von Jean Paul begeistert gelobt, dessen Definition der Witzkul-
tur als neues Aufschlüsselungsmittel für die Literatur zwischen
Renaissance u n d Barock ü b e r n o m m e n u n d - n e b e n Goethe - zum
Friedrich Schlegel, nach einer ersten Mal einen <Manierismus im h ö h e r e n Sinne> e r k a n n t und
zeitgenössischen Kreidezeichnung anerkannt, bei schärfstem Tadel gegen epigonale Manieriertheit.
Fassen wir die verstreuten B e m e r k u n g e n Schlegels zu diesem
T h e m a kurz zusammen.
<Vernunft-Dichter> werden positiv gewertet. Sie sind Manifesta-
tionen einer d y n a m i s c h e n Rhetorik) (wir sagen Para-Rhetorik)
des Zeitalters. Werner, A d a m Müller u n d Fouque z. B. bezeichnete
Schlegel als <im höchsten Sinne des Worts Manieristen>. J e a n Paul
rechnet er dieser Gruppe in diesem Sinne zu. Sie unterstehen dem
Einfluß des <Orients>, den H e r d e r n e u erschlossen h a b e . <Unsere
Kunst ist d a h e r eigentliche Kunstpoesie, d.h. m e h r durch die
364 Theorie und die begeisterte Nachbildung fremder Genialität als
Illustration von Tony Johannot zum
<Don Quijote.. 1856

durch eigene Originalität erzeugt.) D i e Begeisterung reißt Schlegel


hin. Er schreibt: <Die d e u t s c h e Kunstpoesie ist die Vorläuferin ei-
ner höheren Kunstepoche.> E r stellt Klassik u n d R o m a n t i k gegen-
über. In der Klassik <herrscht das Sein, in dieser das Werdern.
Nun aber zu u n s e r e m jetzigen Motiv, z u m <Witz>, wir wiederho-
len: in seiner etymologischen B e d e u t u n g . H i e r z u v e r d a n k e n wir
Schlegel Formeln, welche die A b g r e n z u n g des M a n i e r i s m u s z u m
<Barock> hin erleichtern. Schlegel urteilt ganz anders über die
<Witz>-Definitionen J e a n P a u l s als H e g e l . E r bezeichnet sie als das
<Beste und Befriedigendste, w a s wir ü b e r diese G e g e n s t ä n d e ha-
ben). Im <Lyceum> (1797) schreibt er: <Witz ist ein u n b e d i n g t gesel-
liger Geist oder fragmentarische Genialität.) M a n findet in ande-
ren Schriften d a n n weitere scharfe P r ä g u n g e n : <Witz ist eine Ex-
plosion von g e b u n d e n e m Geist.) E s gibt einen <alexandrinischen
Witz im Stil). D e r Witz h a t e i n e n <Hang zur Mystik). U n d d a n n
überraschend, b l e n d e n d : <Witz ist die E r s c h e i n u n g , der ä u ß e r e
Blitz der Phantasie. D a h e r seine Göttlichkeit u n d das Witzähnliche
der Mystik.) Er sagt: <Die M y t h o l o g i e ist ein solches Kunstwerk der
Natur.)

Symmetrie von Widersprüchen


Hier haben wir es also g e r a d e z u m i t e i n e r Mythologisierung der
Vernunft-Kunst zu t u n . Schlegel findet eine Ähnlichkeit zwischen
Mythologie als <Kunstwerk der Natur> u n d . . . Cervantes u n d Sha-
kespeare: <Diese künstlich g e o r d n e t e Verwirrung, diese reizende
Symmetrie von Widersprüchen, dieser w u n d e r b a r e ewige Wechsel
von Enthusiasmus und Ironie — scheinen m i r schon selbst eine in-
direkte Mythologie zu sein.> <Das ist der Anfang aller Poesie, den
G a n g und die Gesetze der vernünftig d e n k e n d e n Vernunft aufzu-
heben, und uns wieder in die schöne Verwirrung der Phantasie, in
das ursprüngliche Chaos der menschlichen N a t u r zu versetzen, für
das ich kein schöneres Symbol bis jetzt k e n n e , als das bunte Ge-
wimmel der alten Götter.> H i e r l ä ß t der <naive Tiefsinn den Schein
des Verkehrten und Verrückten d u r c h s c h i m m e r n ) . Und: <Im
Orient müssen wir das höchste Romantische suchen.> Insofern be-
zieht sich der <wahre Witz auf das Spiel mit d e m Absolutem. <Witz>
m u ß deswegen Produkt sein der <materialen Logik>, der <absoluten
logischen Willkür). Also sind: <die ältesten D e n k m ä l e r der Witz-
kunst ... die Götter>. Witz ist <Universalchemie>.
Zur Erkenntnis von <Manierismus im h ö h e r e n Sinne>, in diesem
Sinne einer mythischen und subjektiven Irregularität, kreist Fried-
rich Schlegel immer wieder u m das Massiv Shakespeare. <Seine
Manier>, schreibt er, sei <die größte, seine Individualität die inter-
essanteste, welche wir bis jetzt kennen>. Schlegels Auffassung ent-
spricht an diesem P u n k t genau der subjektiven Manierismus-Äs-
thetik von Marsilio Ficino und Zuccari, w e n n er schreibt: <Unter
Manier verstehe ich in der Kunst eine individuelle (subjektive)
Richtung des Geistes und eine individuelle S t i m m u n g der Sinn-
lichkeit, welche sich in Darstellungen, die idealisch sein sollen, äu-
ßern. > Die <Herrschaft des Manierierten, Charakteristischen und
Individuellen) erklärt <die ganze ästhetische Rildung der Moder-
nen aufs Interessanteste). Schlegel stellt das <Manierierte> dem
<Objektiven> gegenüber.
An dieser Stelle setzt seine Kritik ein. Der M a n i e r i s m u s gleitet,
wenn das u n n a c h a h m b a r e Subjektive eines schöpferischen Künst-
lers nur nachgeahmt wird, in bloße Manieriertheit ab. <Nur Ma-
nier) ist kein v o l l k o m m e n e r Stil) mehr. Insofern hat — verglichen
mit der Poesie des klassischen Griechenland — die <Moderne> ver-
sagt. <Im strengsten Sinne des Worts hat auch nicht ein einziges
modernes Kunstwerk, geschweige d e n n ein ganzes Zeitalter der
Poesie den Gipfel ästhetischer Vollendung erreicht.) <In der chao-
tischen Anarchie der Masse der m o d e r n e n Poesie (sind) alle
Elemente der schönen Kunst vorhanden), aber auch: <die entge-
gengesetzten Arten des ästhetischen Verderbens, Rohigkeit neben
Künstelei, kraftlose Dürftigkeit neben gesetzlosem Frevel).

Epigonentum und Clownerie


Das ist eine Anti-Khmax. Es ist die Anti-Klimax, der wir immer
begegnet sind, wenn wir es mit M a n i e r i s m u s in e i n e m höheren
Sinne zu tun haben. Seltene Gipfel der Vollendung im Irregulären
-""Das Wort <Clown>, aus der Zir- sind umgeben von zahllosen Abgründen des Scheiterns. Das <Ob-
kussprache, hat das altere Wort <Ba- jektive> der Klassik erlaubt <Nachahmung>, das <Subjektive> des
}azzo> und 'Harlekin» verdrängt Ks
wurde im ii).Jahrhundert aus dem Manierismus läßt auch nur den Versuch der <Mimesis> zur Bur-
Englischen übernommen und leske entarten. Die <Natur> k a n n m a n kopieren, das Individuelle
stammt vom lat. Wort ailtmus =
Bauer, Int. cohm = Siedler. Daraus nicht. Deswegen m u ß als das Symbol des n u r n a c h a h m e n d e n Ma-
englisch down. In der älteren engli- nieristen in einem ebenso skurrilen wie wehleidigen Sinne die Fi-
schen Bühnensprache ist ein Clown
ein .tölpelhaft Witzigen. Zur Ver-
gur des Clowns gelten. Das Synonym für E p i g o n e n t u m im Bereich
herrlichung der Clown-Figur und des Klassischen heißt im Umkreis des Manieristischen: Clowne-
des Seiltänzers vgl. das Cedicht <Le 20
Saut du Tremplier. von Th. de Ban- ne
ville in .Ödes Hunambulesques>. Vielleicht wird unsere Literatur auch wieder humorvollen Witz
haben, wenn wir zahllose Manifestationen unserer heutigen Dich-
tung, Kunst und M u s i k als C l o w n e r i e begreifen. Wir werden dann
aber nicht allzuviel zu lachen h a b e n , sofern es sich nicht m e h r um
nur naiv-manierierte commedia delVarte h a n d e l t . Schlegel hat
schon zu s e i n e r Z e i t d a r a u f h i n g e w i e s e n , d a ß der Verlust an geisti-
ger religiös-mythischer S u b s t a n z der M e n s c h h e i t von heute die
bloß manierierte G e b ä r d e so vieler D i c h t e r erkläre. Das ist soziolo-
gisch richtig. Der Stumpfsinn der M a s s e n erträgt den antikonfor-
mistischen Dichter k a u m n o c h . Dichter u n d Künstler werden in
eine Arena ohne Z u h ö r e r und Z u s c h a u e r h i n e i n g e z w u n g e n . Unter
diesem leeren Zirkuszelt spielen die b l o ß e n N a c h a h m e r sich ge-
genseitig ihre <Clownerie> vor. W e n n m a n eine Art vierdimensio-
naler Kritik m a n c h e r h e u t i g e n Lyrik schreiben w ü r d e , so könnte es
sich ergeben, d a ß viele P o e t e n von h e u t e eine Chiffre-Sprache für
sehr private Beziehungen u n t e r e i n a n d e r h a b e n , ein Kodesystem
für eingeweihte kritische A u g u r e n . W ü r d e m a n diese zahllosen
Vöhe dann auf e l e m e n t a r e m e n s c h l i c h e Aussagen zurückführen:
es ergäbe sich nicht viel Geheimnisvolles>.

Goethes Reflexionen
Schlegel hat die historische S t e l l u n g u n d F u n k t i o n des Manieris-
mus auch innerhalb der d e u t s c h e n <Vernunft-Kunst> erkannt, aber
mehr noch: seinem kritischen Scharfsinn entging die spätere D e -
kadenz nicht, die sich aus d e m Abstieg von M a n i e r i s m u s zu M a n i e -
riertheit ergeben sollte. G o e t h e h i n g e g e n w a r — aus seiner o l y m p i -
schem Perspektive — viel weniger vi sionär, aber sicherlich auch viel
weniger polemisch. E r s a h . . . P h ä n o m e n e . U n d wie über so viele
andere Erscheinungen, so h a t er sich a u c h über diese wohlwollend
geäußert. <Das Manierierte), schreibt er, <ist ein verfehltes Ideelle,
ein subjektiviertes Ideelle, d a h e r fällt i h m das Geistreiche (Witz)
nicht leicht.> Der Manierist <macht sich selbst eine Sprache, in wel-
cher sich der Geist des S p r e c h e n d e n u n m i t t e l b a r ausdrückt u n d
bezeichnet;-. Goethe will also d a s Wort <Manier> <in e i n e m h o h e n
und respektablen Sinne> g e n o m m e n wissen. D e r M a n i e r i s m u s
wurde anerkannt, aber — wie das R o m a n t i s c h e — noch als etwas
<Krankes>. <Romantisches>, <Saturnisches>. So ist für ihn das <Ro-
mantische>: <Einsamkeit, A b w e s e n h e i t , Abgeschiedenheit). Goe-
the hat sich zahllose M a n i e r i s m e n erlaubt (<Faust Eh), aber— selbst
im höchsten Alter, wo er mit allen F o r m e n der d a m a l i g e n europäi-
schen Literatur souverän spielte, blieb i h m <das S c h ö n e eine M a n i -
festation geheimer Naturgesetze). D i e <Idee>. so e r k e n n t er, <kann
uns in eine Art W a h n s i n n versetzen>. B e o b a c h t u n g der Natur> —
aus fast göttlicher Perspektive — rettet vor solchen Exzessen. E r
weicht letztlich dieser i h m im g a n z e n L e b e n stets b e w u ß t e n P r o -
blematik mit einem etwas v e r d ä c h t i g <weisen> H u m o r aus. Wo das
Spannungsverhältnis von <Natur> u n d <Idee> i h m u n g e m ü t l i c h zu
werden beginnt, <flüchtet> er sich <in die S p h ä r e der Dichtung) u n d
<erneuert> <ein altes L i e d c h e n mit einiger Abwechslung): <So
schauet mit b e s c h e i d e n e m Blick / der ewigen W e b e r i n Meister-
stücke
Schlegel ist also in b e z u g auf dieses europäische <Phänomen>
durchdringender, aggressiver u n d k o n s e q u e n t e r gewesen. E b e n s o
Herder in seinen <Anmerkungen ü b e r das griechische E p i g r a m m ) .
Herder hat die epigrammatisch-concettistische Vereinigungskunst
deutlich erkannt. (<Zwei wirklich g e t r e n n t e G e g e n s t ä n d e werden 367
im Gesichtskreis des Dichters v e r b u n d e n e ) In dieser Beziehung
hätten wir <viele nachgeahmt: d e n n wir fanden viel Vortreffliches
nachzuahmen. Wer zuletzt k o m m t , täte sehr unrecht, wenn er
nicht nachahmten Wie Schlegel h a t H e r d e r die historische Konti-
nuität des <Manierismus> erkannt, die Tradition des <Witzes> im
europäischen Concettismus, in der deutschen Vernunft-Kunst.

Romantik und Manierismus


Jean Paul! E r stellt fest, den D e u t s c h e n fehle es zwar an <Ge-
schmack> für den <Witz>, aber nicht an <Anlage zu ihm>. <Da dem
Deutschen z u m Witz nichts fehlt als die Freiheit, gebe er sich
diese.> Jean P a u l hat ingegno u n d acumen wie wenige deutsche
Schriftsteller zu einem u n e n d l i c h e n Netz von g e h e i m e n und ge-
heimsten sprachlichen Beziehungen gewoben. E r gehört mit Bren-
" cf. Vorwort zur «Prinzessin Brain- tano. Heine u n d E. T. A. Hoffmann - 1 in die manieristische Tradi-
l)illa>. Darin auch I linweis au!'<Cal-
lols Manien als «Basis des Ganzen>. tion Europas, allerdings mit viel e i n s c h r ä n k e n d e r Selbstkritik, mit
ausgleichendem H u m o r , mit tieferem Wissen vor allem u m den
kastalischen Quell großer Dichtung. E r weiß u m die Teurigen
Engelräder des Propheten) u n d k e n n t die Gefahr bloßer Kombina-
tionen mit den <Rädertierchen der Silbern. E r romantisiert und
vertieft die manieristischen Überlieferungen Deutschlands, dieje-
nigen nämlich des 17. J a h r h u n d e r t s . U n d das ist typisch... für die
deutsche Romantik! Sie unterscheidet sich darin stark von der Ro-
mantik in romanischen L ä n d e r n u n d in E n g l a n d .

Autogramm
von Charles Baudelaire

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^68
Die romanische u n d angelsächsische R o m a n t i k hat m a r k a n t e
manieristische Z ü g e . Die d e u t s c h e R o m a n t i k will selbst in ihren
<ingeniösen> F o r m e n einer ironischen <Witz>-Kultur (Schlegel,
Jean Paul, Brentano, H e i n e ) , einer h o c h g e s p a n n t e n <Vernunft-
Kunst> (Novalis) oder einer b e r e c h n e n d e n Phantastik (E. T. A.
Hoffmarin) I n g e n i u m , Ratio u n d P h a n t a s i e i m m e r wieder vom Ge-
fühl beherrscht wissen. D a s ist ein wesentliches M o m e n t zur U n -
terscheidung in b e z u g auf manieristische E l e m e n t e gerade in der
deutschen Romantik. D e r C o n c e t t i s m u s der S h a k e s p e a r e - Z e i t u n d
der abstruse <Sensationalismus> der lateinischen Romantik such-
ten in erster Linie das <Neue>, das <Seltsame>, das <Wunderbare>,
das antiklassisch Zukünftige, a u c h w e n n m a n m a n c h e F i g u r e n in
Rittergewänder steckt. Die d e u t s c h e R o m a n t i k historisiert. Sie ent-
deckt das christliche Mittelalter, sie sehnt sich n a c h einer <absolut>
gebliebenen Gefühlswelt. Diese S p a n n u n g e n m a c h e n die aben-
teuerlichen W i d e r s p r ü c h e in der so reichen, so abstrusen Welt J e a n
Pauls aus. In der lateinischen R o m a n t i k wird das Psychopathische
Mode, vor allem das Sexualpathologische — wie schon im M a n i e -
rismus der Shakespeare-Zeit. D i e Per-version lockt — wie die Re-
version. Sie gilt als h e r v o r r a g e n d <anti>-klassisch. In der deutschen
Gefühls-Romantik (Schlegel bildet wie B r e n t a n o u n d H e i n e eine
Ausnahme) gehört das <Ungewöhnliche> z u m <Neuen Stib, selten
aber das Pervertierte, u n d w e n n es <Mode> wird, so m e h r im krimi-
nell (Sturm u n d Drang) als i m sexuell P a t h o l o g i s c h e n . Die lateini-
sche Romantik spielt mit d e m Gefühl, bleibt aber in die Vernunft-
Künste des Scharfsinns verliebt. D i e d e u t s c h e n R o m a n t i k e r erfah-
ren Elementares: das Erlebnis. Sie verabsolutieren es bald, auch
wenn sie es — manieristischen Traditionen folgend — i m m e r wieder
ironisieren. M a r i n o sucht das N e u e wie ein M a t h e m a t i k e r - auch
in der Dunkelheit. B a u d e l a i r e will in A b g r ü n d e t a u c h e n , gleich-
gültig, ob solche des <Himmels> oder der <Hölle>. E r will <in der
Tiefe> das <Neue finden>. B a u d e l a i r e will erleben u n d erschüttern.
Marino will konstruieren u n d verblüffen. D i e deutsche <Erlebnis>-
Romantik will ent-führen, in T r a u m l a n d s c h a f t e n . Sie will verzau-
bern. Sie will d e m hyperindividualisierten Subjekt einen Welt-Ur-
grund durch Verzauberung, d u r c h M ä r c h e n , d u r c h oft äußerst raf-
finierte Volkslied-Melismen n e u vermitteln, u m «Ursprüngliches>
zu schenken. Gewiß, a u c h b e i d e n R o m a n t i k e r n Deutschlands
fehlt es nicht an Bewußtheit, Intellekt, W a c h h e i t . Meist wird aber
das Über-Bewußte als G e g e n s a t z z u m L e b e n d i g e n e m p f u n d e n .
Wir wollen damit das P r o b l e m <Manierismus> u n d <Romantik>,
anläßlich unserer H i n w e i s e auf Schlegel, Novalis u n d J e a n Paul,
wenigstens kurz k e n n z e i c h n e n . D a ß die europäische Romantik,
mit allen E i n s c h r ä n k u n g e n a u c h die deutsche, der manieristischen
Tradition zuzuordnen ist, k a n n schon aus bisherigen Belegen ein-
leuchten. Wir hoffen, d a ß dieses P r o b l e m - wie das P r o b l e m Ba-
rock-Manierismus - im folgenden n o c h e n g e r u m g r e n z t wird.
Überzeugung wird m a n n u r aus d e r i m m e r wiederholten Begeg-
nung mit dem vermutlich K o n k r e t e s t e n der Welt erfahren: mit d e m
dichterischen Wort.
ii. D E U T S C H E
VERNUNFT-KUNST

<Zirkel ohne Maß>


Der Arbeitsplatz des deutschen Dichters im 17. J a h r h u n d e r t ist
eine < Wortwerk statte >. Die Pegnitz-Schäfer m a c h e n <tonmalende
Hieroglyphen>. intellektuelles Gedankenspiel u n d echte Mystik
fließen ineinander. Sie eröffnen der gnostisch-kabbalistischen Ge-
dankenwelt einen Zugang. Bilderreihen u n d M e t a p h e r n aus den
Schatzkammern einer bewährten Topik streut die Zauberlampe
des Dichters über das ganze J a h r h u n d e r b (Richard Newald). Im
deutschen Manierismus wirkt sich die Problematik des Daseins in
einem eigenartig verinnerlichten magischen wie mythischen Hell-
dunkel aus. In einem oft konventionellen Dickicht einer Dichtung,
welche die Bilder der Welt mit der Welt selber zu verwechseln be-
ginnt, kann m a n hin und wieder <irreguläre>, <moderne> Blumen
finden. So die Verse von Harsdörffer aus e i n e m Blumengedicht:

Es traut / Die Raut / U n b e k a n n t e n / A m a r a n t h e n /


Und Ranunkeln / Die in b r a u n e n Schatten funkeln.

Hier blüht aus der Vernunft-Kunst schon die blaue B l u m e der Ro-
mantik auf, der Symbolismus in einem erst witternden geistigen
Vorfrühling. Dazu noch zwei Beispiele aus Versen Harsdörffers. In
seinem <Schwulst> k a n n m a n Halbedelsteine finden, so in dem Ge-
dicht über <Violenzucht>:

Ordenskleinod des Fürsten August


zu Anhalt mit dem Sinnspruch der
«Fruchtbringendes Gesellschaft):
• Zu seiner Zeit der Sieghaftem
Es rufet der Violen Z u c h t / D e r Schlüssel - B l u m e n schnelle
Flucht / Tulipen den N a r z i s s e n . . . / Ach L e i d / D a s Kleid /
So den Reben / Ist gegeben / W i r d mit allen / Gleich den
müden Jägern / Fallen.

<Experimente> Harsdörffers k ö n n e n concettistische D i c h t u n g wer-


den:

Ein O oder Zero in den Zahlen

Ich bin bald viel bald nichts, b a l d w e n i g in d e n Z a h l e n ,


Nach dem der Meister m i c h an e i n e m Ort will m a h l e n :
Ein Ring ist zwar gering, wie dieser Welt Gestalt,
Die voller Eitelkeit hat einen leeren Halt.

Der deutsche u n d englische M a n i e r i s m u s des 17. J a h r h u n d e r t s


verbindet das, was Graciän als agudeza bezeichnet, mit d e m , was er
über intellektuelle K o m b i n a t o r i k h i n a u s empfahl: <escribir con
alma>, also nicht n u r mit Scharfsinn u n d mit Witz schreiben, son-
dern auch mit <alma>, mit Seele, H e r z . Solche <alma> h a b e n Calde-
rön, englische <Metaphysicals> u n d einige der besten d e u t s c h e n
<Barock>-Dichter.
Titelblatt des <Pegnesischen
Schöfergedichtes, in den
berinorgisehen (= .Nürnbergischen)
Gefilden angestimmt von Strefon
(= Harsdürtier) und Clajus>.
Nürnberg 1644

Der Schönheit Schönheit


<Der Schönheit Schönheit), fragt G. R. Weckherlin, was ist sie? Er
gibt darauf eine manieristische Antwort (Summationstechnik):

Wer recht k a n n eure Form, Färb, Wesen, W i r k u n g , Kraft


Der kann der Engeln Stand, Schein
Schönheit, Tun und G e h e n
Der kann der wahren Lieb Gewalt u n d Eigenschaft,
Der Schönheit Schönheit selbst, der
Seelen Freud und Flehen
U n d der Glückseligkeit u n d Tugend Freundschaft
In Euch (der Natur Kunst bestehend) wohl verstehen.

Der <Natur Kunst>! Wieder spannt sich ein Bogen von den <Phanta-
siai> der antiken Asianer über den spätmittelalterlichen Manieris-
mus, über Graciän, Tesauro, Zuccari, über Schlegel u n d Novalis,
über Oscar Wilde, Hugo Ball bis Breton u n d Aragon, der den Sur-
realismus definierte als <die in U n o r d n u n g gebrachte u n d leiden-
schaftliche A n w e n d u n g des Rauschgiftes Bild>.
Der deutsche Manierismus des 17. J a h r h u n d e r t s findet jetzt m e -
taphorische Weltzusammenhänge, welche diese Vernunft-Kunst
einer allerdings auch abstrusen Mystik verbindet. So metaphori-
siert Christian Knorrvon Rosenroth:

Das Verleugnungsmesser

Willst Du den Tod vermeiden,


So m u ß m a n Dich beschneiden;
Mein Herz, vor Gottes Angesicht
372 Taug deine harte Rinde nicht.
Erduldst du das Verleugnungsmesser,
So geht dir's hier und ewig besser.
Das alte Fleisch, was faul, m u ß billig dran,
Damit dafür ein neues wachsen kann.

Lyrisches Esperanto
Im Begegnen deutschen Geistes des 1 7. Jahrhunderts mit europäi-
schen Manierismen ergibt sich, immer mehr die <existentielle>
Thematik des deutschen 20. Jahrhunderts vorwegnehmend, eine
Einheit von formalen und denkerischen Manierismen, ähnlich wie
in England. T. S. Eliot meint, die <Metaphysicals> des 17. Jahrhun-
derts hätten <Gedanken> erlebt wie den <Duft einer Rose>. Gerade
im 17. Jahrhundert lehnten sich die Dichter, wie wir sehen werden,
gegen das nur Lehrhafte und Deskriptive auf. T. S. Eliot entdeckt
darin, wie wir schon sagten, eine <dissociation of sensibility>, und
darin besteht die größte Ähnlichkeit zwischen der Poesie des 17.
und des 20. Jahrhunderts. T. S. Eliot vergleicht ein Gedicht Jean
Epsteins mit Versen John Donnes: <0 Geraniums / diaphanes,
guerroyeurs sortileges / Sacrileges monomames! / Emballages, de-
vergondages, douches! / O pressoirs / Des vendanges des grands
soirs!> Das ist, was Buchstaben- und Klang-Kombination einer sol-
chen verlängerten Metapher angeht, unübersetzbar. Alle großen
Manieristen waren polyglott. Daher ihr Traum von einem lyri-
schen Welt-Esperanto, den Joyce mit hinreißend nüchterner Ver-
rücktheit zu verwirklichen versucht hat. <Finnegans Wake> kom-
biniert etwa 20 Sprachen. Die jeweils national eigentümlichen
<Manierismen> der europäischen Nationalliteraturen werden dem-
jenigen, der, außer zu Hebräisch, Griechisch und Lateinisch, nicht
mindestens zu den fünf europäischen Hauptsprachen Zugang hat,
nur unvollkommen verständlich werden. Auch das ist ein Charak-
teristikum des Manierismus: polyglotte Esoterik, Vertauschung
(Beversibilität) der Nationalsprachen, Kombinatorik mit lingui-
stisch <Entferntem>. Das gibt es auch im deutschen <Barock>. Ge-
dichte, welche zahlreiche europäische Sprachen kombinieren, wa-
ren damals nicht selten, ebensowenig wie zwischen 1880 und 1950.

<Übergelbes Weiß>
Beenden wir unsere Hinweise auf die deutsche < Vernunft-Kunst>
des i 7. Jahrhunderts mit letzten Beispielen. Zunächst Laurentius
von Schnüffis:
Alle meotische, / Wendisch und gothische / Nächte sind nur /
Eine noch glänzende / Morgen angrenzende / Lieblich
bemalte, / Sonnenbestrahlte / Schattenfigur / Gegen der
schwarzen Nacht/ So mir die Sünde gebracht.
Ganz im Stile Marinos <bildet> Hofmann von Hofmannswaldau:
<Der Schultern warmer Schnee.> Er bedauert denjenigen, der den
<Zuckerstrom> (des Kerns der Welt) <unbeschifft verschießen> läßt.
Kuß ist ihm <ambrierter Saft>. Johann Klaj läßt, ähnlich wie Lu-
brano, der <Linden weitstreifende Schatten... sich gatten>; vor den
Brunnen <ist die Begrünung geronnem. Für Quirinus Kuhlmann
gibt es <übergelbes Weiß>, und der <Tag> wird <Nacht vernünftiger
Vernunft). Und dann fragmentarisiert sich im <simultanischen>
Summationsstil die Metapher zu einem Mosaik (bei Kuhlmann, in
dem Gedicht: <Der Wechsel menschlicher Sachem):
Was gut, stark, schwer, recht,
lang, groß, weiß, eins, ja, Luft, Feuer.
hoch, weit genennt,
Pflegt bös, schwach, leicht,
rkumm, breit, klein, schwarz, drei, neun,
Erd, Flut, tief, nah zu meiden.
Auch Daniel Casper von Lohenstein ist überreich an marinisti-
schen Metaphern. (Menschen) sind <Verwürflinge des Himmels>.
(Schönheit ist Magnet>. Als Verfasser eines Gedichts (Aufschrift
eines Labyrinths>, von dem wir später einige Verse zitieren werden,
hält Lohenstein Gott für <einen Zirkel ohne Maß>. Das Alter aber
ist <ein falschgesetzter Wahn>. Die Zeit schließlich ist für Harsdörf-
fer ein (kugelrundes Haus>, während Johann Klaj die Zeit als
(schneeicht> empfindet. (Zeit ohne Zeit> aber gilt Johannes Rist als
(Ewigkeit>.

Zeitgenössische <Monstren>
Auch die zeitgenössische deutsche <Moderne> bekundet, wenn sie
auch wie die poesia nuova des 17. Jahrhunderts besonders Frank-
reich und England viel zu verdanken hat, eine unverwechselbar
eigene Linie des manieristischen Duktus. Expressiver Trieb und
ingeniöses Machen ergänzen sich auf faszinierende Weise, bei den
Schöpferischen. Die alte (Vernunft-Kunst> taucht auf, aber nuan-
cenreicher, differenzierter. Auf den Inseln des Abstrusen entwik-
kelt sich in Deutschland, nach 1945, vielfach ein Sinn für expres-
siv-ingeniöse Miniaturen, für Gewebe oft angestrengter, aber nicht
selten wertvoller Wortkostbarkeiten. Doch schwankt alles - wie
stets im vielschichtigen Reich der deutschen Literatur - zwischen
dem Präzisen und dem... Monströsen. Karl Krolow stellt fest: (Ein
Gedicht aktiviert sich durch seine Metaphern. Sie sind Fleisch und
Sensorium des Gedichts zugleich. Eine Metapher muß das Präzi-
seste sein, was man sich denken kann.> Aber: Metaphern können
ein Gedicht auch zu einem (Monstrum> machen. Imgagines insa-
nes? Monstren? Auch sie gehören bekanntlich zu Lieblingswesen
manieristischer Landschaft.
Gottfried Benn ist der deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts, der
nicht nur der jüngste Großvater der allerjüngsten (Verwegenen)
und (Zornigen> ist. Er stand in der Tradition der Irregulären, der
Spätmanieristen, ja, der decadents, und er gab es zu. (Merkwürdi-
gerweise), schreibt er, eigenwillig und herausfordernd wie so 01t,
an Kasimir Edschmid, sind es allein (die großen französischen Ly-
riker des ig. Jahrhunderts, die auch heute noch lebendig sind>. Er
gab auch zu, daß ein (Zusammenhang) von meuer>, speziell von
(expressionistischer) Lyrik (mit dem Barock) bestehe. Diese Darle-
gungen hätten (immer etwas Überzeugendes gehabt). An dieser
Stelle formuliert Benn das Wort, das uns zu einem heuristischen
Prinzip geworden ist: <Im Verlaufe einer Kulturperiode wiederho-
len sich innere Lagen, es treten gleiche Ausdnickszwänge wieder
hervor. > Ist Expressionismus (und neue Lyrik überhaupt) nichts an-
deres als (fäkales Barock)? Eines ist (für Benn) sicher: diese Dich-
tung (die neue) ist (Auflösung der Natur, Auflösung der Ge-
Titelbild zu Lohensteins Tragödie
<Epicharis>. 1665

schichte>. Er sieht es sehr genau, Gottfried Benn, der gerade, wenn


er Attacken ritt, äußerst luzid war. <Nur auf den Olymp gelangte er
(der Expressionismus) nicht, oder auf anderes klassisches Ge-
ländes Damit ist — in antiakademischer Verve — von dem scharfsin-
nigsten (<Witz> im etymologischen Sinne) Dichter deutscher Spra-
che nach Hofmannsthal die Anti-Klassizität der <irregulären> deut-
schen Lyrik des 20. Jahrhunderts so wünschenswert wie möglich
formuliert. Sie steht in einem mehr als zweitausendjährigen Tradi-
tionsstrom, und es gleiten auf ihm sehr wenige Brobdingnags, da-
für aller zahllose Liliputaner.
Die Quellen dieses Stroms liegen in den antiattizistischen, sonn-
verbrannten graeco-orientalischen Landschaften, in denen Men-
schen in einem unaufhörlichen <Paradox> stehen. Sie bewegen sich
immer zwischen zwei Welten. Die eine ist voll vom Duft der Kame-
lien, des Haschischs, der Ziegenböcke und Maulesel, der Minze,
aber auch des Lavendels, der von Frauen erfundenen bitter rie-
chenden Aphrodisiaka. Die andere ist hinreißend <anti>-natürlich.
Kubisch. Kalkweiß. Abstrakt. Aufs Transzendente lenkend. In Ge-
heimnisse entführend, aber nicht auf Zirkuspferden der Sentimen-
talität. Auf bösen, harten, kleinen, potenten, intelligenten und un-
gebändigten Hengsten. Das ist eine discordia Concors des moder-
nen europäischen Asianismus — Manierismus. Daher bestimmte
Stiltendenzen. Benn nennt sie - großartig - : <Transzendenz der
schöpferischen Lust.> <Drang, sich auszudrücken, zu formulieren,
zu funkeln auf jede Gefahr und ohne Bücksicht auf die Ergeb-
nisses Das ist eine Formel zur Erkenntnis der modernen asia-
nisch-europäischen, der manieristisch-antiklassischen Dichtung
im 20. Jahrhundert. In Berlin? Am Alexanderplatz, so sagen nicht
n u r die Franzosen, berühren sich Asien u n d E u r o p a . < Lyrik >, meint
Beim, <ist eine anachoretische Kunst.>
Benn war in Berlin ein <Anachoret> zwischen West u n d Ost. Zeit-
weise verachtete er die Juden. Das paßt z u m <büffelhirnigen Pöbel>
(Harsdörffer). Zu Benn paßt es schlecht. B e n n war zeitweise ein
<nationaler> Dichter. Er bekämpfte die Geschichte, aber er wußte
nur wenig von ihr. <Krankenhäuser> lagen i h m n ä h e r als die <An-
tike>. Doch seltsam beziehungsvoll bleibt es: in Hofmannsthal und
in Benn berühren sich europäische u n d asiatische Mittelmeerge-
stade ... und zwar g e r a d e . . . in M e t a p h e r n . Etwas <mischt der Sän-
ger im Blut> / <Was?> <Keime, Begriffsgenesen / Broadways, Azi-
m u t h / Turf- und Nebelwesen / mischt der S ä n g e r im Blut / Immer
in Gestaltung / Immer dem Worte zu / n a c h Vergessen der Spal-
tung / zwischen ich u n d du>. Gottfried B e n n ist selbst eine Meta-
pher: neomanieristische discordia Concors zwischen Preußen
u n d . . . Asien. Die Grenze liegt nicht weit.

<Labor der Träume>


Braucht m a n zu dieser metaphorischen Situation des deutschen
Manierismus im 20. J a h r h u n d e r t noch viele Beispiele? Im deutsch-
sprachigen B a u m überkreuzen sich Attizismus u n d Asianismus in
<expressionistischer> Weise. Wir geben dazu n u r noch einige Bei-
spiele in <abstruser> Sinnbildlichkeit. Bei Kuno R a e b e r (Schwei-
zer), in dessen Versen sich <alma> u n d <agudeza> gut vereinen, fin-
den wir in einem Gedicht über <Bornarzo>: <Ehe das Moos den vom
Efeu schon überwachsenen Schrei schließt / tritt hinein in den offe-
nen Steinmund.> Z u m Spiegel-Motiv E r w i n Jaeckle: <Die Netz-
haut saugt a m Spiegelbild der Angst / Die blaue Fliege geht als
Schatten ein.> Zu Begriff und Bild der Zeit (auch E. Jaeckle): <Sand
aus den oberen H ä n d e n / r a n n in die P a u s e der U h r / wohnende
Augen fanden / hinter Ginstergeländen / keine Spur.> Dazu Paul
Celans Metaphern, speziell als Genitiv-Metaphern aus dem
S t a m m b a u m Marino-Apollinaire, in der n e u e s t e n deutschen Ly-
rik Mode geworden: <Kreidefelsen der Zeit>, <Weißhaar der Zeit>,
<Steinhaube Zeit>, <Schwarze Milch der Frühe>. Ferner Oxymora:
<Die lebendige Schwermut), <das Messer des Glücks>. Höchst ma-
rinistisch: <Der Schatten laubgrünes Herz>, <Aus H e l m e n schäumt
der Sommer>, <Gehölz der G e f ü h l o , <Quell deiner Augen>, T o n -
nen des Todes>. Zur Hieroglyphik: Ingeborg B a c h m a n n : <Geheim
ist der Mund, mit dem ich morgen rede.>
Gibt es Hypermonstren? Vielleicht! Was ist M a x Hölzers: (Him-
melfahrt der Tollkirschen <Wärme des Zufalls wird aus Absidian-
schalen strömem? Dies aus einer <Ode an A n d r e Breton>. Produkte
aus einem <Labor der Träume>: <Im Labor der T r ä u m e wird das
Lied dieser Stunde g e h ä m m e r b . Alles <vereint> sich, speziell in der
nachexpressionistischen Lyrik, oft in einer eigenartigen, sich selbs
kommentierenden Weise. Es ergibt sich eine metaphorische und
änigmatische Programmatik. So J o h a n n e s P o e t h e n s Verse: <Ein
Fuß schreibt Zeichen unlesbar / In die Hoffnung des Wegs.> Bei
Carl Guesmer finden wir: <Blutsturz der Pfirsichblüte> / <Kreuzver-
hör der Straßen>, und - wieder programmatisch - : <Die Geheim-
schrift ihrer Blicke ist nicht zu entziffern>, u n d <Mein Herz ist ein
zierlicher Fächer in der H a n d des Todes>. <Wo die Sprache an ihre
376 Grenzen kommt, springt die M e t a p h e r ein.> <Angesichts der un-
überstei "baren M a u e r n g e w i n n e n die M e t a p h e r n an Eindringlich- Zur <Probiematik) der zeitgenös-
sischen deutschen Literatur vgl.
keit), lesen wir in einer a u f s c h l u ß r e i c h e n Anthologie neuester u.a.: Max Buhner. Vom l ingaug
deutscher Lyrik. J e «eindringlicher) sie w e r d e n , desto abstrakter mit Göttern. In: Zeitgenössische Li-
teratur. Zürich 1947; Wiedergeburl
müssen M e t a p h e r n werden.
der deutschen Barocklyrik. In: Well
und Wort. Zürich 1949; Deutsche
Weltliteratur. In: Sphären der Bü-
cherwelt. Zürich 19").!: Uer unzeit-
gemäße Jean Paul. In: Araclme. Zü-
Nonsense rich 1957. Friedrich Sieburg, Nur
für Leser. Stuttgart 1955. Robert
Mülller (i.e.: H, E. Hollhuseii. Ja
Nonsense aller Art finden wir vor allem bei Arp. Dort h a b e n die und Nein o.e.. Walter Muschg. Die
Zerstörung der deutschen Literatur.
Bäckerinnen <endlos lange N a s e n / wie die M ä a n d e r k n a b e n / her- Bern io,}(>: Curt Hoholf. (ieist und
ausfordernde N a s e n / A n a b a s e n n a s e n / Vasennasen>. Das ist <Le- Ursprung. München H)I~- h. A.
Horst. Die deutsche Literatur der
porismus> des 20. J a h r h u n d e r t s , ganz a b g e s e h e n davon, d a ß es im
Gegenwart. München 195": Walter
17. Jahrhundert viele abstruse, groteske N a s e n g e d i c h t e gibt. H a n s Jens. Statt einer Literaturgeschichte.
Arp kippt gern, wie T h e o p h i l e d e Viau, alles u m . M a n findet daher: Pfullingen 1957: Walter Höllerer,
Zwischen Klassik und Moderne.
<Ein alter M a n n / sitzt v e r k e h r t auf e i n e m Stuhl. / Die Beine nach Stuttgart ly^H: (i. Blöcker. Die
oben / die Arme n a c h u n t e n . / Auf seinen F ü ß e n trägt er sorgfältig neuen Wirklichkeiten. Berlin iyr>ft:
Wladimir Weidle. Les Aliedles
ein kleines Stück Himmel.> d'Aristee. Paris J 9^4 (dt.: Die Sterb-
Sammlungen alter u n d h e u t i g e r <Nonsense>-Gedichte erschlie- lichkeit der Musen. Stuttgart 1959).
ßen uns wieder antiklassische L a n d s c h a f t e n E u r o p a s . In der Non- 23
cf. Hans Arp, Auf einem Bein.
sense-Lyrik werden abstruse M e t a p h o r i k , Kombinations- und Wiesbaden 195=,. Zur JVorasense-Li-
leratur in der neuen und früheren
Wortvertauschungskunst vereint. Manieristische Wort-Grotesken
Lyrik: Pietro Citali. La Poesia e il
dieser Art sind in E n g l a n d p o p u l ä r geblieben. Gelehrte Spezia- caso. <Paragone> 1957, \ r . i ) j . sowie
listen sammeln sie mit m e t h o d i s c h e m Eifer. Ihr Nonsense-Klassi- Texte: <The Penguin Book ol Comic
and Curious Verse>. Harmonds-
ker ist Edward L e a r mit seinen <Limericks> (1846). Wer <Stupore>- worth 19^2. und <More Comic and
Artistik dieser Art erleben will, sollte eine der vielen englischen Gurions Verse>. 1956

Sammlungen lesen. M o r g e n s t e r n , schon zitiert, darf als hinrei-


chend bekannt vorausgesetzt w e r d e n . (<Das E i n h o r n lebt von Ort
zu Ort / nur noch als W i r t s h a u s fort.>) D e r Tief sinn ergibt sich aus
<Uber-Springungen>. I m E n g l i s c h e n sieht das so aus, u m n u r ein
Beispiel zu geben: <Thus t h r o u g h r o a d / Becomes rough road / And
curves dangerous / are t r a n s f o r m e d to curves anger us.> (Weitere
Beispiele im Anhang.)
Jedem Interessierten w ü r d e es n a c h e i n e m S t u d i u m der n e u e n
Nonsense-Literatur k l a r w e r d e n , d a ß sie formale M a n i e r i s m e n der
Vergangenheit, speziell abstruse M e t a p h e r n - B i l d u n g anwendet.
Der Einfluß des traditionellen Nonsense auf die zeitgenössische
Lyrik kann nicht ü b e r s e h e n w e r d e n . Was m a n a u c h über diesen
neuen und alten Nonsense d e n k e n m a g , d e m L i e b h a b e r der Spra-
che bietet er G e n ü s s e an S p r a c h e u n d Witz. Ingenio u n d acumen
haben hier ihre freien g r o ß e n J a g d g e b i e t e .

Die russische Brücke


• lehr als eine S c h l u ß b e m e r k u n g zu diesem Kapitel: eine der
achtbarsten L a n d s c h a f t e n n e u e r europäischer Lyrik, die russi-
sche von 1880 bis 1925, ist fast n u r n o c h K e n n e r n b e k a n n t . D a s
^deutet für Westeuropa e i n e n schweren Verlust. Wer den euro-
päischen M a n i e r i s m u s s t u d i e r e n will, wird, o h n e die Verbindungs-
ri
>cke zu k e n n e n , die R u ß l a n d zwischen d e m Westen u n d Alex-
nen sowie Byzanz geistesgeschichtlich bildet, wenigstens in
r
er eminenten k u l t u r - v e r k e h r s t e c h n i s c h e n B e d e u t u n g , k a u m zu
e
f o l g e n d e n E r g e b n i s s e n g e l a n g e n . D a s gilt für die m o d e r n e
st wie für die <moderne> L i t e r a t u r von h e u t e . U n s e r e m a n i e r i -
•sche Kulturgeographie wird, o h n e K e n n t n i s d e r großartigen Be-
1 un
gen Rußlands während der Jahrhundertwende, immer 377
schlimme weiße Stellen aufweisen. Wir wollen, auf Grund de
<Monumenta Guanda>, dieser universalen Anthologie und Über
setzerleistung zur neuen europäischen Lyrik, wenigstens in Stich
Worten auf diese Zusammenhänge hinweisen.

Alexandrinische Gesänge
Erinnern wir hier nur an folgendes: Kuzmin schrieb <Alexandrini-
sche Gesänge>, Erdmann erschöpfte alle erdenklichen (lipogram-
matischen) formalen Manierismen der Zeit des Kallimachos. Ma-
jakowski bewegte sich <wie ein Gulliven in einer trunkenen Flut
von asianischen Metaphern. Solowjow, einer der Anreger <neuer>
russischer Lyrik, gehörte einer russischen Gesellschaft an, die
Nonsense im Sinne Shakespeares und Edward Lears trieb. Beliebt
waren dort Wortspiele, kunstvolle Metaphern, verwegene Concetti.
Das Mystische und das Groteske wurden vermengt. Iwanow galt
als ein <alexandrinischer Magien, seine Frau (Lydia) als eine <asia-
tische> Dionysos-Priesterin. Belyj kann als Vorläufer Gottfried
Benns gelten. Die Deformation ist total, frenetisch, aber meist
dichterischer, zumindest überzeugender als in anderen Wort-Fa-
briken. Alexander Blök, der gefallene Engeh aus Petersburg,
empfindet sich selbst - wie Mallarme - als neuer Hamlet.

Imaginismus
Ab 1910 entsteht in Rußland eine Laboratoriums-Lyrik, aber mit
seltsam schweren östlichen Kunststoffen. Dichter werden auch
dort zu philologischen Ingenieuren), sie nehmen das rhetorische
Instrumentarium wieder vor, aber sie streben gleichzeitig nach ei-
ner adamischen Universalsprache. Vitalität und Naivität verbinden
sich mit Wollen und Kalkül, Wirkenwollen mit verängstigter Reli-
giosität. Der Manierismus erhält im damaligen Rußland bald
tragische Akzente, apokalyptische Züge. Pasternak, der Shake-
speare-Übersetzer, wurde (in Rußland) mit John Donne und
Mallarme verglichen, aber er bleibt einer nur ihm eigenen hiero-
glyphischen Wirklichkeit verbunden, einem transzendenten Sym-
bolismus. Ein bedeutungsvoller <Imaginismus> entsteht, eine letzte
Bildhoffnung zwischen einer entschwindenden Überrealität und
der neuen grausamen Realität des Massen-Totalitarismus. Dut-
zende von <sprachsprengenden> Schulen entstanden in Moskau,
allein zwischen 1920 und 1922. Gedichte aus dieser Zeit gleichen
asianischen Metaphern-Katalogen. Schon den damaligen russi-
schen Kritikern fiel immer wieder die Nähe zum 17. Jahrhunde
auf.

Proletpoesia
Dann folgte die <Proletpoesia>. Sie allegorisierte allerdings nur
noch. Wie schlechte mittelalterliche Kirchendichtung. Das <Bi
wurde säkularisiert. Es entstand eine praktische lyrische Industrie
Metaphorik. Die Rebus-Metapher galt wieder einmal als gefahr-
lich. Eine der großartigsten geistigen Blütezeiten Rußlands ging zl
Ende. Für unseren Z u s a m m e n h a n g m u ß z u m i n d e s t deutlich wer-
den, daß der n e u e schöpferische <Asianismus>, der sich einst in
Großgriechenland aus d e m O r i e n t entwickelte, u m 1900 n a c h Pa-
ris. Berlin, L o n d o n u n d New York a u c h stark von R u ß l a n d aus ein-
drang, in einem halb zeitgenössischen, halb altertümlichen Ge-
wände. Das Slawentum, in seiner M i s c h u n g aus Scharfsinn und
Mystik, aus Vitalität u n d M e l a n c h o l i e , aus Formfreude und E h r -
furcht (auch vor <Kunst>) h a t zur Vergeistigung und Verinnerli-
chnng alter formaler M a n i e r i s m e n u n d manieristischer Denkfor-
men in Europa stark beigetragen. M a n spürt es in m a n c h e n jünge-
ren lyrischen Schöpfungen n o c h h e u t e ; m e h r als dreißig Jahre,
nachdem sich der nächtliche V o r h a n g b l o ß e n Z w e c k d e n k e n s , wie
der Fall Pasternak e r n e u t b e w i e s e n hat, erstickend über eins der
begabtesten Völker E u r o p a s g e s e n k t hat. P a s t e r n a k ! Wer kann die
zynische Frage Alexander Bloks ü b e r h ö r e n , diese urasianische
Frage, die heute für West wie für Ost gilt?

Wer ist das? Wallende M ä h n e ,


Und er zischt d u r c h die Z ä h n e :
Verräter!
Rußlands Vernichter!
Wahrscheinlich ein D i c h t e r —
Schwebt im Ä t h e r . . .
DRITTER TEIL

Para-Ähetorik
und Concettismus

12. A L C H I M I E UND
WORTZAUBEREI

Orientalischer Hermetismus
~T / T 7" enn der Mensch Wertsysteme, in denen er lebte, gefähr-
I / I / det sieht, beginnt er meist neue geistige Weltbezirke zu
V f entdecken. Diese Begegnung mit neuem Weltstoff regt den
Uaidalos, den <Erfinder> im <Problematiker> auch und gerade zu
neuen sprachlichen Ausdrucksmitteln und zu neuen dichterischen
Formen an. Buchstabenkünste, Wortkonstruktionen, paralogische
Kombinatorik und Metaphorismus sind dafür nur einige Sym-
ptome. Es ist vor allem der <Concettismus>, der zu einem Höhe-
punkt sprachlicher Artifizialität führt, und zwar in besonderer
Weise zu Beginn der Neuzeit, von Italien ausgehend, in ganz Eu-
ropa. Um diesen bis heute nachwirkenden Concettismus besser zu
verstehen, darf man einen historischen Vorgang nicht übersehen,
die Entstehung einer Para-Rhetorik in der Spätrenaissance. Mit
ihr haben wir uns zunächst zu beschäftigen, mit historischen Bele-
gen aus dem Manierismus von Tasso bis Harsdörffer. Es wird uns
dann auch möglich werden, den Manierismus nicht nur vom Klas-
sizismus, sondern auch vom Barock schärfer zu unterscheiden.
Gehen wir also vom Anfang der Neuzeit aus, von der Renais-
sance, um das weitere entscheidende Element des Concettismus zu
begreifen, denn er wird, außer durch paralogische Wortkombina-
torik, auch und gerade, wie nachzuweisen sein wird, durch das
Entstehen dessen gekennzeichnet, was wir hier zunächst einmal
als Para-Rhetorik bezeichnen wollen. Doch müssen wir uns zu-
mindest das Panorama dieser historischen Landschaft wieder be-
wüßt machen. In der Renaissance, also schon zwischen 1450 und
1550, wurden, wie wir schon erklärt h a b e n , a u ß e r der griechischen
und römischen Antike auch die graeco-orientalischen Kulturen in
neuer Bewußtheit erfaßt. Es entstand ein spezifischer philoso-
1
Esoterisch (griech.) = mach innen phischer <Hermetismus>, der zunächst von der Kirche und dann
zu>. Bezeichnung tiir eine Lehre
oder Dichtung, die zu ihrem Ver-
später vom klassischen H u m a n i s m u s u n d vom liberalen Rationa-
ständnis Eingeweiht-Sein, Wissen lismus wieder verdrängt wurde. In E u r o p a ergab sich eine esoteri-
um spezifische Symbole und Be-
griffe erfordert. Man mußte, um in
sche Kultur>. F ü r diesen Teil unserer Darstellung, der historisch
«esoterische» (geheime) Lehren ein- ist, aber durch die Hervorhebung von Strukturverhältnissen auch
dringen zu können, erst «würdig» die grundlegende Problematik des m o d e r n e n M e n s c h e n mit um-
sein. Roger Baron (1919-1304)
schreibt in seinen .Opus tertium\ es faßt, ist und bleibt es entscheidend, daß d u r c h die Begegnung mit
sn Wahnsinn, dem Ksel Salat zu ge- diesen neuen geistigen Landschaften, mit d e n <Geheim>-Gründen
hen, da er mit Disteln glücklich sei.
Das einfache Volk verderbe tiefe der Kabbalistik, der hermetischen Alchimie u n d der okkulten Wis-
Weisheiten, die «Bösen» verfälschten senschaft, wieder eine bezeichnende D e n k - u n d Gefühlsspannung
sie. Weisheit müsse «geheim» blei-
hen. Vor jedem I )enklahoratorium entsteht. Sprache und dichterische Formen m u ß t e n daher, im An-
müsse ein Engel mit einem r'euer- sturm antiklassischer Denkweisen, verändert, ja, verbogen werden.
sihvverl stehen, (cf. Serge Hutin.
I. Alchimie. Pressea Universitaires,
Das spezifische magisch-alchimistische A n a l o g i e - D e n k e n der Re-
Paris 1951, |>- ii).) — Hermetisch = naissance findet seine ästhetische E n t s p r e c h u n g in den <corre-
von /Irrnirs THsmegUtoS. — Okkult
spondencias> der <Concetti> der Shakespeare-Zeit, d a n n wieder im
(von lat. occultum = das Verbor-
gene). Zunächsl was die Geheimleh- romantischen, im <magischen Idealismus> Novalis' u n d anderer
ren religiöser Mysterien angeht, spä- Romantiker sowie in der später zu erörternden Evokationstechnik
ter erst «Okkultismus», Terminus der
Parapswhologie. der <esoterischen>, <hermetischen> u n d <okkulten> Lyrik. 1

«Corpus H e r m e t i c u r n ;
Im Anfang des n e u e n europäischen M a n i e r i s m u s als Denkform
steht Marsilio Ficino ( 1 4 3 3 - 1 4 9 9 ) mit seiner <Idea>-Lehre. In sei-
ner <Theologia Platonica> erneuert er den alexandrinischen Neu-
platonismus. E r übersetzt das <Corpus Hermeticum> oder den <Poi-
mandres> des Hermes Trismegistos, des ägyptischen <Gottes> der
Schrift und der Weisheit, Thoth, 1471 ins Lateinische. D a m i t geht
vom damaligen Florenz ein geistiger H e r m e t i s m u s aus, der in
späteren Zeiten der europäischen Geschichte i m m e r wieder ver-
sinkt und neu auftaucht. Ernst u n d Tiefe dieses florentinischen Re-
naissance-Hermetismus sind allerdings später selten erreicht wor-
cf, Über kabbalistischen Esoteris-
iiiiis und harmonisierende Schola-
den." Ficino bleibt, wenn auch Alexandriner, so doch Grieche. Für
stik im spanischen Spatmittelalter den Dichter u n d Literaten M a r i n o gilt er ebenso wie für die Kunst-
Minende/ Pelavo o. c. Bd.l. D.541 ff.
traktaüsten zwischen 1550 und 1650, wie schon kurz erwähnt, als
Über Esolerismus in der Renais-
sance: Eugenio Garin, Considera- <Geheimkämmerer Gottes>; es sei i h m gelungen, <die schöne Weis-
zioni sull.i Magia del runascimento. heit nackt zu sehen>.
\iti del ll.Congr. Int. Stud. Umani-
stici. Koma, Milano 1955, p.^i^f. Für die Wiederbelebung der alten orientalischen Kultur, insbe-
Über die Geschichte der jüdischen
Mvslik Scholem o.e.
sondere der hebräischen, wurde Giovanni Pico della Mirandola
(1463-1494) z u einem der sinnmächtigsten europäischen Vorläu-
fer. Auch er wirkte in Florenz. Wie Ficino veranlaßte ihn seine
heterodoxe theologische Anthropologie zur höchsten (hermeti-
schen) Vorsicht. Von der Kirche w u r d e er angefeindet. Kurz vor
seinem Tode wurde er von Savonarola z u m rechtgläubigen Chri-
stentum bekehrt. Auch Pico ist - wie Ficino - als E r n e u e r e r <ma-
nieristischer> Denkformen in der R e n a i s s a n c e . . . Alexandriner. Er
greift in erster Linie die Alchimie auf, die im antiken Alexandrien,
diesem vorchristlichen Schmelztiegel von Ägyptern, Griechen und
Juden, ihre erste moderne Systematisierung erfahren hatte.
Wir erfahren, daß Pico della M i r a n d o l a über eine sprachliche
Methode verfügte, u m das <Arcanum>, das G e h e i m n i s , zu erfassen.
So leitet er aus dem ersten Wort der Genesü <Im Anfang> (hebräisch
^82
<Beresith>) eine ganze Kosmologie ab, i n d e m er die Buchstaben
dieses Wortes kombinatorisch zur H e r s t e l l u n g logisch-phantasti-
scher Bezüge b e n ü t z t . ' M a g i e ! F ü r Pico della Mirandola heißt die
Wunder der N a t u r begreifen d u r c h a u s n o c h christliche meraviglia
erzeugen. Die Welt wird <hieroglyphisch>. Hieroglyphen sind aber
<Bilder> der <Ideen>, u n d er schöpft hier aus d e m ersten Buch der
Kabbala, aus dem Sepher Jetzira, in d e m die Symbolik der Zahlen
und Buchstaben eine zentrale Rolle spielt. E r schreibt selbst: <Der
uralten Theologie des Hermes Trisrnegistos, der chaldäischen und
der pythagoreischen L e h r e r u n d d e n d u n k l e n Mysterien der H e -
bräer habe ich m a n c h e s bis d a h i n U n b e k a n n t e e n t n o m m e n und
durch eigenes Forschen N e u e s erdacht.) 4 F ü r uns ist das Analogie-
Verfahren Picos e n t s c h e i d e n d , weil es, wie W . E . P e u c k e r t richtig
hervorhebt, noch ingeniös war, scharfsinnig, geistig, im Gegensatz
zu den <magischen> Vulgarismen des späten 17. J a h r h u n d e r t s .
Givanni Pico della Mirandola
Dieses <esoterische> Analogie-Verfahren führt zu Geheimspra- (1465-1494)
chen in der Philosophie, in der Wissenschaft, in der Dichtung, dies
um so mehr, als m a n sich vor Verfolgungen seitens der Kirche in
acht n e h m e n m u ß t e . W i e d e r w e r d e n wir — soziologisch — auf das
Entstehen von formalen M a n i e r i s m e n u n t e r d e n Druck von abso- 3
cf. <Etaplo>. ital. Übers. Florenz
lutistischen Staatsformen gelenkt. D e r esoterische <Manierismus> 1942. Ferner Drummond. PJudae-
wird in den <Untergrund> g e d r ä n g t , der Klassizismus wird zur äs- us. London 188K: Serge Hutin o.e.
p. 32IT.: Chochod o.e.; Eranos-Jahr-
thetischen Ideologie erfolgreicher M a c h t s y s t e m e . Gegen öffentli- buch 1955. 1956: N.Ferger. Magie
che <exoterische> A k a d e m i e n entstehen g e h e i m e <esoterische> und Mystik. Zürich 1935. Pico wie-
derholt die Bemühungen des neu-
Akademien. 3 I m d a m a l i g e n E u r o p a e n t s t e h e n <Geheimsprachen> platonischen (jüdischen) Philo-
durch <heterodoxes> D e n k e n . N e t z e von d e n k e r i s c h e n u n d forma- sophen Philo, geh. etwa 25 V.Chr.,
der damals schon eine Synthese von
len <Manierismen> breiten sich ü b e r E u r o p a aus. Sie beeinflussen griechischen, ägyptischen und he-
Kunst und Literatur. bräischen Mysterien erstrebte.
Welches waren die Mittel eines derartigen Verbergens, Verstek- 4
Zitiert nach Will Erich Peuckert,
kens? Es sind die gleichen, die (speziell) in der orientalisch-afri- Pansophie. Stuttgart 1936. Ein ver-
kanischen Antike, im u r a l t e n Streit zwischen Orthodoxie u n d dienstvolles Werk für die Erfor-
schung des <Esoterismus> im 16. und
Heterodoxie, a n g e w e n d e t w u r d e n : B u c h s t a b e n - u n d Wortvertau- 1/.Jahrhundert. Doch fehlen darin
schung, Symbole, Allegorien, n u r für K e n n e r verständliche Con- philologische Untersuchungen der
alten semitischen Quellen, die wir
cetti und E m b l e m e . Sie b r a c h t e n nicht etwa n u r <politische>, son- bei Dornseiff finden. Hingegen hat
dern in erster Linie theologische, philosophische u n d ästhetische Peuckert o.e. die esoterische Spra-
che wenigstens der deutschen Lite-
Antagonismen z u m A u s d r u c k . In spannungsvollen Krisenzeiten je- ratur des 1 7.Jahrhunderts geprüft.
der Art wird also die (reversible) S p r a c h e aus d e m Zielfeld unmit- Eine vorzügliche Ergänzung dazu:
telbarer Mitteilung in ein i m a g i n ä r e s Feld mittelbarer Zeichenge- Wolfgang Kayser. Böhmes Natur-
sprachenlehre und ihre Grundlagen.
bung gerückt. Es entstehen i m m e r w i e d e r schärfste Konflikte.'' Der Euphorion. Bd. 5. Stuttgart 1930, so-
Hermetismus hat d a h e r schon früh die N e i g u n g gehabt, sich aus wie - ideengeschichtlich - : Alex-
andre Koyre. Mysliques. Spirituels el
satanischer Verdammnis abzuleiten, bei allem Streben nach meta- Alchimistes du XVI. Siede Alle-
physisch-magischer W e l t o r d n u n g sui generis. D i e Vorfahren aller mand. Paris 1955.
Esoteriker sind, d e m ältesten griechischen Alchimisten Zosimos
'Alchimistische Geheimbünde wur-
zufolge, Engel, die sich in irdische F r a u e n verliebten u n d ihnen den unter Papst Paul III. verboten,
Naturgeheimnisse verrieten {Genesis V). Sie w u r d e n aus d e m H i m - cf. G.F. Hartlaub. Giorgiones Ge-
heimnis. München 1925.
mel verjagt. Aus ihren ü b e r i r d i s c h - i r d i s c h e n B e z i e h u n g e n entstan-
den die Giganten. Hier h a b e n wir d e n S t a m m b a u m der peintres ' Dieser Vorgang läßt sich schon in
der vorchristlichen jüdischen Kultur
und poetes maudits von P o n t o r m o bis R i m b a u d . All dies klingt vor verfolgen. Das Alte Testament galt
allem nach alexandrinischer Mythologie, die in ihrer Bilderspra- den vorchristlichen Juden, in ihrer
che <pansexuell> ist. A l e x a n d r i e n ist also in e i n e m doppelten Sinne Mehrheit, allerdings als alleinige
Offenbarung des monotheistischen
Ursprungsort späterer e u r o p ä i s c h e r M a n i e r i s m e n , nämlich hin- Gottes. Magische helerodoxe Prak-
sichtlich des manieristischen <asianischen> Stils u n d manieristi- tiken waren ihnen daher verhaut. In
den prophetischen Büchern der Bi-
scher Denkformen. Die A l c h i m i e wird z u m Spiegel des geistigen bel (u.a. Jesaja. 2. 61 wird vor «östli-
Synkretismus Alexandriens u n d seines Kosmopolitismus, seines chem) Aberglauben, vor 'fremder»
Magie gewarnt. Die hebräische Ma-
auch für heutige e u r o p ä i s c h e G r o ß s t ä d t e typischen Völkerge- gie und Alchimie, die zur späteren
mischs. Kabbala führt (neueren Forschun-
gen zufolge jetzt früher datiert), ist
somit ebenfalls heterodox. Sie ver-
bindet sich, vor allem in Alexan-
drien, mit ägyptischen und griechi-
schen Hermetismen.
Sprache als <Mantram>
Vom Florenz Marsilio Ficinos breitet sich die Wiedergeburt des
hermetischen Alexandrinertums über ganz E u r o p a aus. Hier nur
einige wenige Hinweise: Agrippa von Nettesheim (<Occulta philo-
sophia>), der sogenannte Dürer-Kreis, R e u c h l i n (<De verbo miri-
fico>), der 1492 in Florenz Pico k e n n e n g e l e r n t hatte, Paracelsus
von H o h e n h e i m als <neuer Hermes> u n d phantasievoller Deuter
kabbalistischer Esoterismen, Lobpreiser des <intellectus magicus>
und des <secretum magicum>, Beherrscher aller Geheim-Signatu-
ren der Welt. 1520 erschien in Venedig eine erste n e u e Ausgabe
des <Babylonischen Talmuds>, kurz d a n a c h der Palästinensische
Talmud>. Die Restauflagen w u r d e n 1553 u n d 1559 auf Befehl des
Papstes verbrannt und der <Talmud> auf d e n Index gesetzt. G.B.
della Porta galt in Italien mit seiner g e h e i m e n <Zeichen>-Lehre als
<Maestro> der <Signatologie>, ebenso T h o m a s C a m p a n e l l a , der 27
Jahre lang wegen politischer und religiöser Heterodoxie eingeker-
kert blieb. Sein Werk <De sensu r e r u m et magia> erschien erst 1620
in Frankfurt. F ü r England ist vor allem der tiefsinnige John Dee
(1527—1608) zu nennen, mit seinen schon <okkultistischen> Zah-
len- u n d Buchstaben-Kombinationen, Symbolismen, paralogi-
schen Metaphern und magischen D i a g r a m m e n .
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Eigenhändige Urkunde Rabelais*


über die Erlangung seiner
medizinischen Doktorwürde

Bei ihm, John D e e , m ü s s e n wir kurz verweilen. Buchstaben,


Worte, (Laute) h a b e n für ihn b e s t i m m t e Eigenschaften. Sie wer-
den zu <mantram>, d.h. sie <vibrieren> u n d h a b e n d a h e r evokative
Kraft. Kombiniert m a n sie n a c h esoterisch-magischem Verfahren,
so ergibt sich eine kosmisch-evokative W i r k u n g . M a n k a n n auf
diese Weise Engel herbeirufen. H i e r ist ein H ö h e p u n k t der U m -
wandlung sprachlicher F u n k t i o n erreicht! N u r durch Klangkombi-
nationen alogischer Art, i m Verhältnis zur <gemeinen> U m g a n g s -
sprache, macht m a n sich ä t h e r i s c h e W e s e n zu D i e n e r n , von — ver-
zauberten — M e n s c h e n ganz zu schweigen. D e r Alliterations-
<Wahn> der n u r <parnassischen> M a n i e r i s t e n Neapels, Nürnbergs,
Breslaus und des späteren W a g n e r h a t hier n o c h demiurgische
Tendenzen. Kein W u n d e r , d a ß die metaphysical poets E n g l a n d s
John Dee mit Ehrfurcht lasen! Bei i h m wird M a g i e als weiße Magie
in einem höheren S i n n e schon w i e d e r Mystik. ' Die <schwarze> Magie wird in Sha-
kespeares <Sturm> durch die Hexe
Damit berührt ein <Hermetiker> wie J o h n D e e , im Gegensatz zu Sycorai und durch Caliban verkör-
so vielen Manieristen, (sprachlich) ebensowohl biblische wie kab- pert: die <weiße> Magie durch Pro-
spero und Ariel. Das Wort Srcorar ist
balistische Überlieferungen, d e n n a u c h die Bibel enthält, wie wir gebildet aus <sy> = Schwein und -co-
wissen, viele Wort-<Spiele>, so d e r P s a l m o h n e d e n Buchstaben rax) = Rabe. Caliban ist ein Ana-
<Zain>, als Schutzmittel g e g e n Waffen. D e m g e g e n ü b e r erscheint gramm von «Canibab.

der esoterische m e t a p h o r i s c h e B e z i e h u n g s w a h n des hochmanieri-


stischen 17. J a h r h u n d e r t s — wie in vielen Ü b u n g e n ähnlicher Art
des 20. J a h r h u n d e r t s — n u r n o c h als p s e u d o m a g i s c h e r Analogie-
Wahn, so etwa, w e n n m a n n u n Jupiter folgende Attribute verleiht:
Honigkuchen, N u ß ö l , Z u c k e r , M e h l , Safran, Tisch mit Dreifuß,
Räucherpfanne, M o s c h u s , K a m p f e r , Aloe, Mastix, L a m p e , Brot.
Wein, kaltes Fleisch, Basilikum. D a z u die alogischen Worte: <De-
hamos Armas Hilis, M a k s Adsis Tamis Foros. D e h i d a s . Efraus
Figkidos.> M a n stelle sich n u n , m i t alogischen Kombinationsmit- Für «alchimistische. Kombinatio-
nen hier ein weiteres Beispiel. Kür
teln, aus diesen E l e m e n t e n ein G e d i c h t vor, etwa ü b e r das T h e m a : die Alchimie gelten das hebräische,
<Ich stehe vor Gericlrb. Jupiter ist b e k a n n t l i c h (astrologisch) griechische und lateinische Alpha-
bet. A ist der Anfangsbuchstabe aller
<Glücksbringer> bei <Behörden>. W e n n m a n <dreimal Holz klopfb, Alphabete. Z der Schlußbuchstabe
ruft man Jupiter u m Glück an, d e n n a u c h H o l z ist eines seiner Attri- des lateinischen. O des griechischen
und TH des hebräischen Alphabe-
bute. Die Kombinationsmöglichkeiten sind unerschöpflich. Sie er-
tes. Aus der Kombination der An-
möglichen u n e n d l i c h e <correspondencias>... bis zu lettristischen, fangs- und Endbuchstaben der drei
evokativ-abstrakten Klangformeln. 8 Alphabete entsteht das Wort
<AZOTH>. In der .Alchimie bedeutet
Magische, alogische, abstruse B u c h s t a b e n - F o r m e l n , wie unter es «Anfang und Ende. Einheit». Aus
R.Bemoulli. Seelische Entwicklung
den astrologischen J u p i t e r - A t t r i b u t e n , findet m a n vor allem an ei- im Spiegel der Alchimie. Eranos-
nem weltgeschichtlichen H ö h e p u n k t einer n u n schon wahn-sinni- Jahrbuch. Zürich 1935, P--*3' ff-
gen, grotesk-kombinatorischen Sprach-Alchimie, i m <Finnegans
Wake> von James Joyce (1939). Bei e i n e m Gewitter schlägt Ear-
wicker die T ü r zu, und es ergibt sich die sprachliche Klangsym-
bolik: <Lukkedoerendunandurraskewdylooshoofermoyportertoo-
ryzooysphalnabortansporthaokansakroidverjkapakkapuk.> Jupiter
beherrscht Blitz und Donner! E i n e riesige Klangmetapher, eine
polyglotte Kombination des Wortes <Tür> symbolisiert den Zorn
des Götterherrn: linguistische T ü r e n knallen zu, u n d Jupiter ver-
läßt in diesem Buchstaben-Gewitter die Welt. Was sollte er sonst
tun? Die Säkularisierung der magisch-alchimistischen Buchsta-
ben- und Wortvertauschungen ist vollkommen, u n d doch ergibt
sich bei Joyce etwas anderes als bei Rabelais, der ähnliche Wort-
ungetüme aufzuweisen hat, so z. B. im <Pantagruel>: <morderegrip-
pipiaeirofreluchamburelurecoquelurinpimpanenens> (alogische
Kombination für <verhauen>). W ä h r e n d Rabelais, ähnlich wie
m a n c h e <Modernen> von heute, grotesken Wort-Nonsense bietet,
b e m ü h t sich Joyce u m ein alogisches System, u m kombinatorische
Gesetzmäßigkeiten — wenigstens noch i m Sprachlichen. In dieser
poetisch-polyglotten Montage soll magischer Sprachgeist <evo-
ziert> werden. Es handelt sich u m eine Art vierdimensionaler
Sprachkonstruktion, nicht, wie bei Rabelais, u m ein übermütiges
Wortspiel. Solche Poesie wird allerdings n u r d e n Sprachkenner
und den Liebhaber von Rätseln entzücken k ö n n e n . Jn ihr m a g sich
für ihn dann vermischen: ruchlose Vieldeutigkeit u n d magisch-
triumphale Einheit der Welt.

Art m a g i q u e
Der Surrealismus hat mit vollen H ä n d e n aus Quellen der <Magie>
geschöpft. W i r finden es erneut bestätigt i m letzten Werk von
Andre Breton, <L'Art magique>, u n d in e i n e m Buch des surrealisti-
schen Malers Kurt Seligmann, <Le Miroir de la Magie>, einer lehr-
reichen Kompilation der wichtigsten alten Esoterismen. Breton
geht von dem Wort von Novalis aus, es sei <Magie der Kunst, die
Sinnenwelt willkürlich zu gebrauchem. Breton entwickelt aus den
Paracelsus- u n d Swedenborg-Interpretationen des Novalis seine
Neo-Pansophie einer <magischen Kunst> i m 20. Jahrhundert.
Hugo, Nerval, Baudelaire, Lautremont, R i m b a u d , M a l l a r m e wer-
den als die großen Wahlverwandten des Novalis bezeichnet, des
Vorläufers jenes Neo-Magismus aus der Tiefe der deutschen R0_
mantik und der versunkenen europäischen P a n s o p h i e . Die <m 0 .
derne Sensibilität sei mit solchen <Esoterismen> <durchtränkt>,
Breton unterscheidet anläßlich Novalis' dabei zweckbestirnrnte
und zweckfreie Magie. D e r zweckfreien M a g i e gehöre die geistig e
Zukunft. Die Musterautoren Andre Bretons heißen a u ß e r Novali s .
Plotin, Paracelsus. <Hohe> Magie, Erlösungsmagie, Magie a } s
Form einer uralten heterodoxen Religiosität w e r d e n n e u entdeckt
Der unermüdliche Doktrinär des Surrealismus zitiert e m e Brief_
stelle Mallarmes: <Der Okkultismus ist d e r Anfang d e r reinen 2 e ^
chen, denen jede Literatur gehorcht; Urkraft des Geistes.> M a g i e
in diesem Sprachgebrauch, erhält wieder etwas von der Ti e f e
orientalischer Urkulturen zurück. Sie wird wieder Weltschlu S s e j
zur Vereinigung alles Gegensätzlichen. D i e m a ß g e b e n d e Techr^r
der Magie, so wiederholt für uns Breton, sei <die Theorie der K o r r ^
spondenzem, Ewigkeitswert habe die Rätsel-Liebe des < H o m o ^
dens>. Das Kunstwerk erhalte aus der <Magie reinen H e r z e n
11
seine tiefste Kraft. Als <Quellen> für diese spiritualisierte Magie Als •magische» und damit vorbild-
liche <Maler der Zukunft) nennt
werden ägyptische Texte, alexandrinische Autoren, die Kabbala Breton u.a.: Eliphas Lew und Ho-
und immer wieder Maler der Spätrenaissance und Dichter der Ro- belt Fludd mit ihren Zeichnungen
zum kabbalistischen Sohar. viele
mantik, insbesondere der deutschen Romantik, zitiert.9 Andre Bre- <alchimistische) Kmblematiker. fer-
ton kündet in dieser neuen Phase des Surrealismus von einem be- ner Hans Baidung Grien. H.Bosch,
Rembrandts <Faust>. Außerdem u.a.
merkenswerten Streben nach Spiritualisierung einer nur noch ver- Leonardo. Dürer. Grunewald, Ca-
bilderten Welt.10 Das Umgreifen von Geschichte, der Drang nach ron, Arcimboldi. Desiderio Monsü.
Absolutem, in allerdings mehr archäologisierender Religiosität, ist Gauguin. Rousseau, Kubin. Mumli.
Braque, Picasso. Derain, Chirico,
symptomatisch für die unaufhörliche Spannung in allen manieri- Max Ernst. Picabia. Duchamp. Ma-
stischen Epochen Europas: 1. Beschleunigung des Zerfalls, gritte.

2. Streben nach neuer <Einheit> und <Ordnung>. '"Über den Triumph der (weißem
Immer wieder tritt in manieristischen Denkformen dieses spezi- Magie bei Shakespeare <i. Paul Ar-
nold o.e.
fische Einheitsstreben auf, auch im gelegentlich heillos erschei-
nenden Heterodoxen. Jakob Böhme (1575-1624) findet, auch auf
kabbalistischen Pfaden wandelnd, vor Pascal die erste Stufe der
Überwindung. Er versucht, der damaligen europäischen <Alchi-
mie>, die seit Pico della Mirandola immer mehr <vulgarisierte> (for-
mal und gedanklich), neue Tiefe, neue Einheit zu geben. Seine
«Aurora > beginnt 1612, m e i n e m Jahr, in dem das damalige manie-
ristische Europa die großen antik-orientalischen Überlieferungen
ebenso zu bloß artistischen Zwecken zu benützen beginnt wie die
späteren Klassizisten die griechische und römische Antike. Buch-
stabe) wird wieder <Geist>, wie in den ältesten orientalischen Kultu-
ren, wie bei Piaton. Auch Böhme gefällt sich noch in Silben- und
Buchstabentausch u. ä., aber er wagt sich wieder an eine Rheolo-
gie der Sprachen Adams Sprache vor dem Sündenfall soll wieder-
gefunden werden. Alles hat eine <Gestaltnis>, eine Signatur, d.h.
einen <Behälter des Geistes>.

Deformierte Regeln
Wenn aus solchen Überlieferungen derartige Ansprüche an die
Sprache gestellt werden, so kann sie sich einem anderen traditio-
nellen Regelzwang nicht mehr beugen. Die reißenden Gedanken-
strome, die sich, vom damaligen Florenz aus, gleichzeitig mit den
völlig anderen Harmonie-Bildern der <Klassik>, über ganz Europa
ausbreiteten, mußten also zu einer Umgestaltung der sprachlichen
Mittel und der dichterischen Formen führen. Die <klassische> Bhe-
tonk, wir wiederholen es und kommen damit zum Kernstück die- ^r
ses Kapitels, gerät ins Wanken. Sie wird zum ersten Mal, sie, die im
Mittelalter noch unangetastet blieb, deformiert. Damit erwachsen,
sprach- und formgeschichtlich, die Voraussetzungen, um Einwän-
en klassizistischer Literaturkritik zu begegnen, es lasse sich die
zeitgenössische Literatur bzw. der zeitgenössische Manierismus
nur bedingt mit demjenigen des 16. und ^ . J a h r h u n d e r t s ver-
dienen, man müsse sich also mit unüberbrückbaren epochalen
erschiedenheiten begnügen. Wir werden immer wieder auf die
er
echtigte Sorge um <Unterscheidungen> zurückkommen. Wir
<?n hier nur um Geduld, nach diesem Hinweis auf so starke hi-
nsehe Impulse, deren soziologische Voraussetzungen wir ange-
mutet haben.
^ach Michelangelos Tod entstand in Italien eine höchst aggres-
Vjenie-Lehre. Ihr Verfasser ist der heterodoxe Philosoph, der
aem Lampo de' Fiori zu Rom verbrannt wurde: Giordano
DHU
,1548-1600). Er hielt Vorlesungen in Wittenberg. Hamlet
on
nte ihn gehört haben. Er ist eine der modernsten, hamletisch- 387
sten Figuren im damaligen Europa. G e r a d e in E n g l a n d wurde er
früh bekannt. Seine Ästhetik, der b e r ü h m t e Dialog: <Degli Eroici
furorh wurde in London geschrieben u n d 1585 in Paris veröffent-
licht. Mit dieser Schrift hat er die esoterische Lyrik Englands
ebenso angeregt wie mit seinem s o g e n a n n t e n P a n t h e i s m u s die Li-
bertins Frankreichs. Das beseelte Abgründige, das was m a n heute
<onta> — Wesen — n e n n e n würde, soll in geheimnisvoll gespannten
Sinnfiguren (concetti) sichtbar werden. Bemerkenswert ist für uns,
daß auch Bruno der merkwürdigen Welt des B a y m u n d u s Lullus
manches zu verdanken hat u n d d a ß er vor allem äußerst wirksame
Elemente einer antiklassischen Polemik schuf, die bis in die euro-
päische Bomantik hinein wirkten. Bruno beruft sich nicht nur auf
Piaton. Er findet in seinem Kampf u m Befreiung der Dichtung von
klassizistischen Begeln Vorbilder in der M a g i e der Chaldäer. En-
thusiasmus, Tod und Liebe sind ewige Q u e l l e n der Poesie, sofern
diese nicht durch <Begeln> gefesselt wird. Die <Mania> Piatons wird
zum Urfeuer dichterischer Inspiration. W e n n die manieristische
Poesie zwischen 1600 u n d 1650 eine n e u e Tiefe erhält, und zwar
damals fast ausschließlich in E n g l a n d , so ist dies u. a. auch dem
raschen damaligen englischen Verständnis für die mystische Uner-
gründlichkeit dieses einzigartigen Dialogs zu v e r d a n k e n . Wir hal-
ten hier zum formengeschichtlichen P r o b l e m n u r fest: <Begeln in
der Dichtkunst gelten n u r für diejenigen, die m e h r n a c h a h m e n als
erfinden können.> Wer n u r im Sinne der Begeln großer klassischer
Kunst dichtet, ist ein n a c h a h m e n d e r <Affe der M u s e von anderem.
Klassizisten sind Konformisten, tatsächlich <nur W u r m e n . Der
wahre Dichter singt <frei> von <Tod, Zypressen u n d Höllen>.
Der Aufstand gegen den <Klassizismus> der Spätrenaissance
nimmt bald noch heftigere Formen an. D e r Zeitgenosse u n d Kol-
lege Galileis in Padua, Paolo Beni (1552 — 1625), schreibt 1612 eine
<Anticrusca> (gegen die klassizistische A k a d e m i e gleichen Na-
mens). These: <Die Sprache der Alten ist ungebildet u n d rauh.> In
einer anderen, damals b e r ü h m t e n Schrift l e u g n e t Beni die Größe
Dantes und preist den <modernen> Tasso gegen die Konservativen
der <Crusca>, gegen die <Attizisten>. Der alte Gegensatz von <lako-
nischen> Attizisten, solchen also, die klar, kurz, präzis schreiben,
und den <Asianern>, welche die N u a n c e n , die Hyperbel, die sprach-
liche Ornamentik, die W e n d u n g e n und W i n d u n g e n lieben, wird -
in einer neuen Situation - i m m e r deutlicher. D a m a l s , im 17. Jahr-
hundert, wird es Brauch, daß die konservativen H u m a n i s t e n die
Marinisten als <Asianer> bezeichnen. Auch Gracian unterscheidet,
wie wir wissen, zwei Stilformen: d e n <estilo a s i a t i c o u n d den <estilo
conciso, laconico>. In beiden G r u n d a r t e n gibt es g r o ß e Dichter,
doch empfindet Gracian die stärkere Sympathie für <Asianer> in
seinem Sinne, für Asianer, die Wortreichtum mit Scharfsinn ver-
binden. Der lakonische (attizistische) Stil ist natürlich, Graciäns
<asianischer> Stil wird kultistisch.

388
13. D l E BEWUSSTEN
TÄUSCHUNGEN
<Unterhalten>. . . mit <Seltsamkeiten>
Eines der ersten E r g e b n i s s e dieses Anti-Attizismus stellt sich buch-
stäblich als eine Revolution d e r attizistischen Rhetorik dar. Wir
sagten es schon: in der S h a k e s p e a r e - Z e i t wird die Rhetorik als
bloße Technik des Ü b e r z e u g e n s u n d Relehrens von einer spezifi-
schen Technik des U n t e r h a l t e n s u n t e r s c h i e d e n , die sich rhetori-
scher Figuren zwar b e d i e n e n k a n n , aber in e i n e m ganz anderen,
viel weniger zweckhaften S i n n . <Unterhalten>... allgemein wird
n o c h - traditioneller Diktion folgend - <delectare> gesagt. Aber die-
ses Streben nach <delectare>, u n d zwar mit d e n Mitteln n u r ganz
bestimmter rhetorischer F i g u r e n , ist ebenso n e u a r t i g wie die Tat-
sache, daß Dichter u n d Traktatisten des M a n i e r i s m u s - wie vor
allem Tesauro — die Delectare-Techxuk der Rhetorik als Vorbild
nehmen, nicht m e h r also n u r die attizistischen Poetiken der Antike.
<Unterhalten> will m a n n u n nicht m e h r mit a n m u t i g e r Schönheit
und mit Idyllik, s o n d e r n vor a l l e m m i t Seltsamkeiten, Effekten,
überraschenden, s t a u n e n e r r e g e n d e n W e n d u n g e n , mit dem W u n -
derbaren, Seltenen, G e h e i m n i s v o l l e n , H i n t e r g r ü n d i g e n usw. Die-
jenigen rhetorischen F i g u r e n , welche insbesondere die antiken
Sophisten schätzten, w e r d e n vorgezogen. Sie w e r d e n mit der eben-
falls sophistischen Technik d e r Fehlschlüsse, der Paralogien, ver-
bunden. Spezifisch sophistische rhetorische F i g u r e n , sophistische
Paralogismen b e g e g n e n sich (erst z ö g e r n d noch) in der manieristi-
schen Programmatik von Tassos Zeit bis h i n zu Tesauros u n d Gra-
ciäns damaliger, in jeder H i n s i c h t hyperbolischer Endzeit. Einer
der ersten <Surrealisten> i m E u r o p a des 19. J a h r h u n d e r t s , Isidore
Ducasse (Lautreamont) schrieb: <Die poetischen Seufzer dieses
Jahrhunderts sind nichts a n d e r e s als Sophismen.> D a m i t meinte er
die Romantiker.

Topoi fallaci
ks muß uns d a r ü b e r h i n a u s diese a u f s e h e n e r r e g e n d e , positive
Neueinschätzung der seit P i a t o n vielfach zu U n r e c h t getadelten
Sophisten der Antike a u c h a u s a n d e r e n G r ü n d e n nachdenklich
summen. Die Sophisten sind — wie die m e i s t e n Manieristen aller
iten ~ Vertreter eines e n t s c h i e d e n e n Subjektivismus u n d einer
relativistischen M o r a l . Sie sind A n r e g e r , Zerstörer des Morschen,
jegner falscher K o n s t r u k t i o n e n , geistige Unruhestifter, Söhne des
errnes, geistige Erzväter aller <Zornigen>, <Zersetzer> innerhalb
europäischen A v a n t g a r d e n von h e u t e . I h r oft intelligenter und
scharfsinnigen Skeptizismus ist zu e i n e m u n e n t b e h r l i c h e n geisti-
gen Salz geworden. Nietzsche ( u n d vor i h m Hegel) h a t bekanntlich
™e Sophisten u n d Skeptik er w i e d e r v e r s t a n d e n . D a ß Nietzsches
Pigramme (concetti) von G r a c i ä n beeinflußt worden sind, ist
nachgewiesen.
vir erinnern uns d a r a n , d a ß Tesauro P a r a l o g i s m e n lobte. Es
letzt für uns interessant festzusTeltenTwie er von der attizisti-
c
hen Rhetorik a b r ü c k t e . E r , d e r Pico della M i r a n d o l a als Stilmu-
r
obt, macht einen d e u t l i c h e n U n t e r s c h i e d zwischen evidenten
Cesare Ripa: Poesia (aus der
<Iconologia>, 1593)

(euklidischem Sentenzen etwa u n d <spitzfindigen) Concetti, d.h.


Concetti, gemacht mit <paralogismi>. M a n m u ß d e m n a c h <Topici
fallaci> suchen, trügerische, t ä u s c h e n d e Topoi, d e n n diese <überra-
schen» den Geist. Insofern besteht, wie wir schon e i n m a l zitiert ha-
ben, die Größe des Scharfsinns darin, <gut lügen zu können>. Die
bewußten Täuschungen der Dichter (auf G r u n d sophistischer Ver-
eitelung von bestimmten manieristischen Topoi der Rhetorik)
sind also nichts anderes als Paralogismen, widervernünftige
Schlüsse, Trugschlüsse, sind nichts als b e w u ß t konzipierte und for-
mulierte irrationale Figuren, also intellektuell gewollte surreale
Sprachgebilde. Ihre logisch widerspruchsvolle Struktur erzeugt
rneravißlia, ihre sprachlich artistischen Figurationen, in denen vor
allem Konträres vereint wird, k ö n n e n auch kraft der bloßen musi-
kalischen Klangwirkung S t i m m u n g e n erzeugen, die d e n Leser fas-
zinieren. Ovid nennt das Labyrinth des Daidalos eine <willentliche
Täuschung). F ü r Marino war Musik die Zwillingsschwester der
Dichtung. Viele seiner Verse h a b e n keinen a n d e r e n Sinn als den
der Verzauberung durch Klang, durch L a u t m u s i k wie bei Verlaine.
Es gibt, Tesauro zufolge^ einen entscheidenden Unterschied zwi-
schen dialektischer Rhetorik (Zweck = Ü b e r z e u g e n ) , Dialektik
(Zweck = Belehren) u n d Poesie (Zweck = Erfreuen <ohne
Hinder-
nis des Wahrem). Das Suchen n a c h e i n e m gewählten Stil, den
schon Aristoteles in einem viel gemäßigteren Sinne als Gegensatz
zur <Geheimsprache> empfiehlt, wird im <Aristotelischen Fern-
rohr) des Tesauro zu einer M a n i e des <Suchens>. Tesauro verzerrt
Aristoteles in seinem <Fernrohr>, genau wie P a r m i g i a n i n o sich
selbst in einem Konvexspiegel entstellt. E r verzerrt, er deformiert
die gesamte attizistische Rhetorik. I m m e r wieder stellt er fest, dar)
durch Paralogismen und Oppositions-Metaphern <das Edelste des
Geistes> entsteht, <den Rhetoren u n b e k a n n t , von i h n e n nicht ge-
39° nannt), und dieses W u n d e r ergebe sich <in der Wiedergabe last
unvergleichbarer D i n g o . Die <Topoi>, älteste kunstvolle Sprach»-
gureil der Menschheit, w e r d e n , wie in Bildern der <Anamorphoti-
becxrin eine a n d e r e D i m e n s i o n gedrängt, sie d i e n e n hier wie dort
einer totalen, also nicht n u r optischen T ä u s c h u n g . <Die Rhetorik ist
Anstifterin zu Kniffen>, liest m a n schon in den Sprüchen Heraklits.
Vergikschreibt anläßlich des daidalischen Labyrinths von <List>.
Tesauro steht mit dieser Konstruktion einer ersten Para-Rheto-
rik, die für die weitere E n t w i c k l u n g der <modernen> Literatur ent-
scheidend wurde, keineswegs allein da. Schon Camillo Pellegrün
hat in einer Schrift <Del C o n c e t t o Poetico> (1598) gemeint, der
Redner wolle u n d solle n u r ü b e r z e u g e n , der Dichter hingegen habe
es mit dem W a h r s c h e i n l i c h e m zu t u n , aber n u r u m ein einziges zu
formen, das <dem Bild entspricht, das er sich in seiner Phantasie
geschaffen hat, u n d n u r u m zu entzückern. Gregorio Comaninis
Kunsttheorie (1591), laut w e l c h e r das M a l e n eine <fmitazione fan-
tastica> ist, entspricht g e n a u dieser literarischen Para-Rhetorik.
Der zuerst auf die Kunst a n g e w a n d t e Ausdruck einer subjektiven
und auch antiklassischen maniera wird tatsächlich (im 1/.Jahr-
hundert) schon früh auf die L i t e r a t u r ü b e r t r a g e n . In seiner >Ghir-
landa> (1625) schreibt A n t o n i o Bruni von einer n e u e n <maniera
spiritosa di concettare>, der Historiker Agostino Mascardi gar (aus
Vergleichen mit der b i l d e n d e n Kunst) von einer n e u e n besonderen
und persönlichen maniera des D e n k e n s u n d Schreibens. Das <pa-
ralogizzare> wird ebenso M o d e wie das <metaforeggiare>.
Das starre S c h e m a der L e h r e , a u c h die Poesie m ü s s e zumindest
außer <delectare> <docere> = <belehren>, wird m i t h i n in der Litera-
tur in einer e n t s c h e i d e n d e n Weise preisgegeben. Ist also die These
richtig, die europäische D i c h t u n g zwischen Renaissance u n d Ba-
rock unterscheide sich — bei allen <modernen> E l e m e n t e n — funda-
mental von der neuzeitlichen e u r o p ä i s c h e n D i c h t u n g seit der Ro-
mantik, weil sie n o c h ganz u n d gar rhetorisch g e b u n d e n bleibe?
Die manieristische D i c h t u n g v o n 1550 u n d 1650 ist genausowenig
<
nu£_rhetorisch>, wie die m a n i e r i s t i s c h e D i c h t u n g von 1820 u n d
1950 nur antirhetorisch ist. Beide treffen sich (in formenkundli-
cher Hinsicht) in einer spezifischen p a r a r h e t o r i s c h e n Tradition,
deren Aspekte wir n o c h n ä h e r b e l e u c h t e n w e r d e n .

<Konditionalstil der Angst>


Kenner der Spätrenaissance h a b e n sich b e m ü h t , diese Re-volution
und Re-version der attizistischen Rhetorik m i t <tiefen>-psychologi-
schen Gründen zu erklären. F ü r die Vorgeschichte des Manieris-
mus in der frühen S h a k e s p e a r e - Z e i t bieten in dieser Hinsicht Ul-
rich Leos U n t e r s u c h u n g e n ü b e r «Torquato Tasso u n d die Vorge-
schichte des Seicento> vorzügliche E r k e n n t n i s m i t t e l . Tasso schon
empfindet sich als ein aus O r d n u n g e n Vertriebener. Seine noch
vorsichtige Formauflösung e n t s t a m m t einer f u n d a m e n t a l e n <Le-
bensangst> u n d <Melancholie>. Tasso bereitet d e n <Konditionalstil
der Angst> vor. Sein <Angst-Wald> ist A u s d r u c k von Welt-Angst in
einer aus den Fugen g e r a t e n e n Welt, u n d wir d e n k e n an die <Ima-
gines insanes> (Quintilian) des Angst-Waldes von Bomarzo, w e n n
Alr
lassos Verse lesen ü b e r die angstvollen B e s u c h e r des <Zauber-
walds> im <Befreiten J e r u s a l e m s
0
™ r c hteten sie, o h n e zu wissen, was
Uas Wesen dessen sei, w a s sie so entsetzte;
ks sei denn, daß die Furcht i h r e n S i n n e n
Größere W u n d e r v o r g a u k e l t e als C h i m ä r e u n d Sphinx.
Wie jemand trübe Träume hat,
Im Dösen Krankes, Ungesundes s i e h t . . .

Ein heimlicher Terror bringt


Die Funken (des Muts) zum Erlöschen.
Schon Tassos literarisches P r o g r a m m h e i ß t b ü n d i g : <Dichtung ist
G e n u ß und Verblüffung.) Intellekt u n d Vernunft h i n d e r n den <fu-
ror poeticus>. Kunst will das <meraviglioso>, das <miracoloso> ein-
fangen, u n d m a n weiß, daß M a r i n o seine <Meraviglia-Theorie>
dem ohnehin größeren Tasso verdankt. Tasso empfiehlt in seiner
stets zwischen Verzückung u n d E r n ü c h t e r u n g schwankenden
Denkweise sogar das <meravigliosissimo>. M i t Recht stellt Ulrich
Leo auch aus sprachlichen U n t e r s u c h u n g e n im W e r k e Tassos fest:
<Hier ist ausgerufen die endgültige Befreiung der D i c h t u n g aus der
cuitik überlieferten Gemeinschaft mit der Rede-Kunst, ihr unein-
geschränkter Irrationalismus, ihre i m m a n e n t e Autonomie auf dem
Gebiete der Form.>
Doch haben Wandlungen der Rhetorik a u c h in anderer Bezie-
h u n g zum Entstehen des <vorromantischen Irrationalismus) beige-
tragen. Die Überbetonung derjenigen rhetorischen Qualitäten, die
mehr das Gefühl ansprachen als die Vernunft, m e h r die Leiden-
schaften erregten als die Urteilskraft, m e h r Affekte erzeugten als
Besonnenheit, hat nicht n u r das P r o b l e m der ästhetischen Wir-
! kung beeinflußt. Sie hat auch z u m E n t s t e h e n einer n e u e n Wert-
ordnung beigetragen. Der Sinn für das attische M a ß der Renais-
sance-Rhetorik schwindet vor der Neigung z u m Affekt-Übermaß
des Pathos, des Grauens, des G r a u s a m e n schon zu Beginn der Sha-
kespeare-Zeit. M a n wählte aus den Vorschriften Ciceros und
Quintilians die besonders drastischen Mittel des <Bewegens> (mo-
vere) und <Aufreizens> (concitare) anstatt diejenigen des <Uberzeu-
gens> (persuadere) und <Belehrens> (docere). Doch wissen wir, daß
in der poetischen Ingenieur-Kunst des M a n i e r i s m u s , in der g e -
machtem Poesie, das rhetorische I n s t r u m e n t a r i u m deswegen nicht
- etwa zugunsten einer bloßen <Inspirationskunst> — aufgegeben
wird. Im Gegenteil.

<Phantasiai> u n d Rhetorik
Para-Rhetorik in der Shakespeare-Zeit! H i e r wieder ein schon zi-
tierter Kronzeuge, auch von U. Leo hervorgehoben: Camillo Pelle-
grini. Sein Dialog <Del Concetto Poetico> ist für die Geschichte der
Para-Rhetorik im Concettismus ebenso wichtig wie Comaninis
Traktat für die manieristische Kunstgeschichte, w ä h r e n d Tesauro
sich eher mit seinem Vorläufer Zuccari vergleichen läßt. Nach Pel-
legrini gibt es zwei ästhetische <Concetti>. D e r eine, der <concetto
universalem dient der rhetorischen, rationalen Überredungskunst;
der andere, der <concetto poetico formato nella fantasia>, der Poe-
sie. Der <concetto poetico> heißt auch <idolo>, d. h. das in der P h a n -
" Henri Bergson hat eine Schulaus- tasie des Dichters vorgeformte Bild (einer Dichtung). W i r erinnern
gäbe des Lukrez gemacht. Gerade u n s a n Quintilians <Phantasiai>. <Phantasiai> sind bestimmte <Ei-

^ S L ^ J ^ M ^ Ä dola>, bestimmte Manifestationen der Vorstellungskraft, meist


s.ine besondere Aufmerksamkeit. krankhafter oder halb-krankhafter Art, jedenfalls sozusagen anti-
i w v r W r der .Donuees Imme- n a t u r a i i s t i s c h e «Erscheinungen» im Bewußtsein. Quintilian nannte
diätes d e la Conscience> m u ß t e von UUHIIHIWM™«. >-,
der -Simulacra-Lehre des Lukrez sie auch dmagines rerum> (vgl. Teil I). Titus Lucretius Carus wid-
.eie.sei,»enhn ,f. .Kxtmi.sdeLu- di < s i m u l a C r a > (Buch IV des <De R e r u m Natura>) wichtige
r r e c e . . Parts 10.2 j ( i , . Auflage!!). .. ' , •• i i T
p.68ff. Teile seines Werkes. 1 1 Die <simulacra> tauschen zwar, nach Lu-
ALLER G L O C K E N HELLES TONEN RÜHRT MICH AN GAR WUNDERBAR

Max Ernst: Illustration zu: Ernst


FÜHL EIN STILLES MACHTGES SEHNEN WEH ALS KIND ICH GLOCKNER WAR
G u i l l a u m e Tempel. Maximilians ou
l'Exercise illegal de l'Astrononiie.
Paris L964
|EDEN LICHTEN FRÜHEN MORGEN STIEG ICH ZU DEM TURM HINAUF

P&? M C * * » * ? « * «tf~ * £ Sät gi«OP


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krez, aber sie sind faszinierend. Solche P h a n t a s i e g e b i l d e k ö n n e n


(besonders im erotischen L e b e n ) ü b e r u n s m e h r M a c h t gewinnen
als die n a t ü r l i c h e Wirklichkeit). Simulacra sind <Illusionen>, aber
sie können uns stärker b e h e r r s c h e n als die Welt der bloß h a n d -
greiflichen Dinge. Die <Phantasiai> der Antike w e r d e n also, im
Manierismus der S h a k e s p e a r e - Z e i t , zu <Concetti>, in der P h a n t a -
sie des Dichters gebildet. D i e s e <imagines>, so sagt unser uner-
schöpflicher Kronzeuge T e s a u r o , k a n n m a n in m a n c h e r maniera
dichterisch ausdrücken, so vor allem d u r c h M e t a p h e r n , Impresen
(Losungs-, Denk-, W a p p e n - u n d W a h l s p r ü c h e ) , E m b l e m e n , Epi-
grammen, Concetti. D a s G r u n d p r i n z i p , dieser Welt der P h a n t a s i e -
Bilder Herr zu w e r d e n , heißt: <Questa cosa e similissima a quella>.
Also: in den <Phantasiai> k a n n ein T u r m zu e i n e m schlafenden Rie-
sen werden, Rot zu G r ü n , eine Nachtigall zu e i n e m t ö n e n d e n
Atom, ein M e n s c h <Insekt> (Ensor), <blicklose Maske> (Picasso),
<hohle Marionette> (George Grosz), <Apparat> (de Chirico), <Robo- i
Diese Liste ist e n t n o m m e n einer
ter> (Archipenko), <Maschine> ( D u c h a m p ) , <Chimäre> (Max Ernst), lehrreichen Studie von Hans Sedl-
mavr. Art du Demoniaque et D e m o -
<Monstrum> (Picasso, M o o r e , Dali), <Dämon> (Ernst, Dali usw.). 1 2 nie de l'art. In Atti Il.Congr. Int.
Diese <Idea-(Idola-Phantasiai-)Ästhetik, n u n in der Literatur, ent- Studi Umanistici. o.e. p.285f. cf.
auch Otto L u s r h n a t . Die atomisti-
spricht dem Idea-Concetto C o m a n i n i s für die b i l d e n d e Kunst, u n d sche Eidola-Poroi-Theorie in Philo-
wir haben damit w i e d e r ein Reispiel für die kopernikanische Wen- d e m s Schrift De Morte. Prologome-
na II. Ferner: Fritz Wehrli. Die an-
dung, die sich d a m a l s in der K u n s t wie in der D i c h t u n g vollzog, für tike Kunsttheorie und das Schöpferi-
jene Wendung, die zur h e u t i g e n M o d e r n e führt, in e i n e m nicht n u r sche. M u s e u m Helveticum 1956.
<äußeren>, sondern in einem tiefen, revolutionären, geistigen
Sinne. Der Welt der <Mimesis> steht die Welt der <Phantasiai> ge-
genüber. Sie hat, wie wir sehen werden, auf den Gipfeln ihren auch
tiefen religiösen Sinn.

Rhetorik
nur noch Mittel
Die Figuren der Rhetorik sind n u r noch Mittel für die <Sehönheit
des Concetto>, so sagtB.Graciän. Was für die Rhetorik einen abso-
luten Wert hat, wird für den Concettismus, für die Kunst der Sinn-
figuren, die keine bloßen Sentenzen sein dürfen, n u r <Materie>.
Die Dialektik hat es mit logischer, die Rhetorik mit rednerischer
Wirkung, der Concettismus mit ästhetischer Suggestion zu tun.
Concettistische Kunst ist der rhetorischen überlegen. Der Dichter
m u ß sich nicht u m Klarheit, sondern u m Subtilität b e m ü h e n . Ma-
rino, <der Göngora Italiens>, wird wegen dieser M i s c h u n g von Au-
genscheinlichem und Disparatem gelobt. Concettistische Kunst
besteht darin, die rhetorischen Grundformen d u r c h <Künstlichkeit
umzukehren^
Künstlichkeit der Rhetorik u n d Künstlichkeit des Concettismus
müssen unterschieden werden. Das ist eines der Geheimnisse der
<grande manera>, der <modernen Bildung>. Die <Moderne> hat
mehr Neuheiten, m e h r <Seltsamkeit>. Die heutige <grande manera>
ist reizvoller als die antike. Graciän findet a u c h in der Antike Lehr-
meister, aber nur solche, welche die <Fußschellen> einer angeket-
teten Rhetorik nicht geduldet h a b e n . Das sagt Graciän von dem in
Spanien gebürtigen Martial, d e m <Erstgeborenen der agudeza>.
Andere Vorbilder in der manieristischen Latinität sind u.a.: die
Poesie der L u k a n u n d Statius, die <asianische> Prosa der Petronius,
Seneca, Tacitus und Plinius.
Menendez Pelayo hat die W a n d l u n g , welche die Rhetorik in
Graciäns <Kodex der intellektuellen Poesie> erfährt, als das Entste-
hen einer <ideologischen> Rhetorik bezeichnet. A n e r k a n n t wird
also der - damalige - Versuch, die formale Rhetorik zugunsten ei-
nes tieferen Mitteilungsdränges, einer verwickeiteren Ausdrucks-
gebärde zu überwinden. Auch Benedetto Croce h a t die Tatsache,
daß Graciän der Antike vorwirft, die Kunst der agudeza verkannt
zu haben, nicht übersehen, aber er hat die B e d e u t u n g einer solchen
Kritik unterschätzt. Die Z u s a m m e n h ä n g e h i n g e g e n hat Ernst Ro-
bert Curtius bemerkt. Sein diesbezüglicher Beitrag ist für das Be-
greifen einer Grundstruktur der manieristischen M o d e r n e von
Göngora über Flopkins bis zu Mal]arme u n d Benn von entschei-
dender Bedeutung. Graciän hat, nach Curtius, das System der anti-
ken Rhetorik für u n g e n ü g e n d erklärt. F ü r Quintilian, den Lehr-
meister der attizistischen Rhetorik, artet die G a b e geistreicher
Erfindung aus, wenn sie nicht mit Urteilskraft (iudicium) gepaart
ist. Bei Graciän ist es genau umgekehrt: die Erfindungskraft (inge-
nio) darf nicht durch Urteilskraft g e h e m m t werden. I m Gegenteil-
Zuviel <normal>-logische Urteilskraft h e m m t die
Erfindungskraft-
Wir können einen Schritt weitergehen u n d sagen: anormale, para-
logische Syllogismen ermöglichen ü b e r h a u p t erst Schönheit im
manieristischen Sinne. Anstatt durch <normale> Syllogismen zu
überzeugen, k a n n m a n n u n m e h r durch paralogische Rhetorik ver-
blüffen. Wir wissen aus der Kunstgeschichte, wie das <Irreguläre>
394 die Manieristen von Rosso Fiorentino bis Greco faszinierte. Docn
galt es, dieses <Irreguläre>, d.h. total Widersprüchliche aller den-
kerischen und emotionellen Situationen zu bannen in eine neue
paralogische Form, die in der heutigen Moderne zu einer alogi-
schen Form wird.

14. M E C H A N I K DES
EFFEKTS

Abend = narkotisierter Patient


Esoterische Para-Logik des 17. Jahrhunderts und hermetische
A-Lo gik des 20.Jahrhunderts, wir können und werden Unter-
schiede nicht übersehen. Der Manierismus von 1520 bis 1650 ist
vor allem in der Form subjektiv, selten nur ist er es im Gefühl, in der
Offenbarung des ganz und gar Persönlichen, im differenzierten
Ausdruck eigener Sensibilität, im sogenannten expressionistischen
Schrei, obwohl man manches davon bei den englischen <Metaphy-
sicals> und bei einigen deutschen Dichtern der späteren <Barock>-
Literatur finden kann, von den Tragödien und Sonetten Shake-
speares ganz zu schweigen. Dennoch überwiegt von 1520 bis 1650
noch die Form-Artistik, und sie bleibt gebunden an konventionelle
Metrik und Strophenform; demgegenüber treten (vergleichsweise)
Bekenntnis und Aufsässigkeit ebenso zurück wie die romantischen
Meditationen eines lyrischen <Ich>. Wir müssen deswegen immer
wieder auf formale Werte achten, wenn wir dem unverwechselba-
ren Eigentum schöpferischer Dichter und auch schöpferischer
Epochen gerecht werden wollen. Den Unterschied spürt man z. B.,
wenn man Katachresen (Bildvermengungen) eines Dichters des
1/.Jahrhunderts mit denen eines Dichters des 20.Jahrhunderts
vergleicht. Für John Donne wird ein Mann, der vieles empfindet
und es nicht sagen kann, zu <einem Grabe eigener Gedanken>. T. S.
Eliot vergleicht den Abend mit einem <narkotisierten Patienten>,
oder er erklärt, <sein Leben mit Teelöffeln ausgemessen zu ha-
ben...^ Donne <verblüfft>, auch schon auf Grund der von Eliot den
<Metaphysicals> zuerkannten, bereits modernen <dissociation of
sensibility>, aber Eliot möchte, verblüffend, mehr: er suggeriert an-
dere Daseinsebenen in einer nicht nur alogischen, sondern jetzt
schon antilogischen Katachrese.
Für formengeschichtliche Zusammenhänge ist es jedoch ent-
scheidend, daß gerade die Katachrese, einst wie heute, eines der
beliebtesten pararhetorischen Mittel geblieben ist. Wenn in dem
einen Fall ein alogisches, im anderen ein antilogisches Bild ent-
steht, so handelt es sich in beiden Fällen um Dissonanzen, um je-
nes Irreguläre, das auch die Bewegungskurven bei Greco von de-
nen Raffaels unterscheidet. Insofern hat T S . Eliot recht, wenn er
speziell von den <Metaphysicals> meint, sie <hätten die gleiche
Qualität) der <Modernen>, wenn sie - auf Grund ihrer Para-Rheto-
rik - ddeen in Gefühle verwandeln und Beobachtungen in Be-
wußtseinszustände>, also in <Phantasiai>.
Lieblings-Figuren
Es gibt pararhetorische Lieblings-Figuren des Manierismus in der
gesamten europäischen Literatur: a u ß e r Katachresen die uns
schon bekannten Oxymora (Verbindung des Gegensätzlichen); das
Vprosdoketon (unvorhergesehenes Wort anstatt des zu erwarten-
den - Pointe!); die Synekdoche (Wahl des engeren Begriffs anstatt
des umfassenden oder umgekehrt); die Hyperbel (Übertreibung)
und die Ellipse (Verkleinerung). Sie alle d i e n e n d e m pararhetori-
schen <delectare> mit den Mitteln der Verblüffung. L.Rubel findet
in Dichtungen der elisabethanischen Zeit (1558 — 1603) die be-
wußte und geläufige A n w e n d u n g von 64 rhetorischen Figuren;
in der Zeit Jakobs I. (1603—1625) w e r d e n die pararhetorischen
Figuren vorgezogen. Im Werke von J a m e s Joyce h a t m a n die An-
wendung von 96 (!) rhetorischen F i g u r e n festgestellt. Sie stehen
eindeutig im Dienste einer P a r a - R h e t o r i k . <Künstlichkeit> und
<manieristischer> Stil überwiegen i m m e r m e h r .
Können wir verstehen, daß mit solchen rationalen oder irratio-
nalen Sprachmustern gedichtet w u r d e u n d wird? Wir vergessen
nicht, daß Poesie, Logik u n d Rhetorik e i n m a l e n g verschwisterte
Lehrfächer waren. Wir übersehen aber a u c h nicht, d a ß diese (und
andere) Grundfiguren heute gleichsam in Sprache u n d Sprachge-
brauch verborgen liegen. Viele verwenden diese traditionellen Mu-
ster, ohne es zu wissen; a m meisten jene <intelligenten> Dichter,
deren logisches Talent (Ingenium) ebenso groß ist wie ihr poeti-
sches. So liegt denn <Manierismus> schon in u n s e r e r Sprache, auch
in der deutschen also, als versunkenes Traditionsgut, als vergesse-
ner, aber stets weiterwirkender F o r m e n z w a n g .

Conclusio per absurdum


Schon im 17. Jahrhundert w u r d e die Kritik gegen das, was wir die
Mechanik des Effekts n e n n e n möchten, scharf u n d bitter. Man
prägte in Italien, wie wir wissen, polemische Begriffe wie paralogiz-
zare, metaforeggiare, concettizzare, proteizzare. Allmählich rekon-
stituiert sich die <attizistische> Front in ganz E u r o p a gegen die
<Chamäleons>, die <Camaleonti>. Aus ihr stärkt sich der franzosi-
sche Geist. Die neue Linearität einer späten Klassik bereitet sich
vor. Der französischen Ratio w a r schon i m 16. J a h r h u n d e r t der
A = ttaerit \ . genemtiter, erstes Mißbrauch formaler M a n i e r i s m e n unerträglich geworden. M°J^-
<0> = negat <C)>, sed particulciriter. taigne tadelt die d o p p e l d e u t i g e , buntscheckige, aufgeknöpfte
/weites .()> = logische Folgerung,
eine b e s o n d e r e negative Proposi- Welt> jener Extremisten. Mit verschmitzt-zorniger Polemik stelltet
tion. <B> erinnert daran, dal! diese fest: das alles ist <Baroco u n d Baralipton>. E i n oft
S c h h i ß l i g u r der ersten syllogisti-
schen Schlullfigur <Barbara> ange-
mißverstandenes
nähert werden kann, indem m a n sie Wort! Es beweist uns nur, daß dieser Ausdruck <baroco> schon irrt
mit <C», d . h . mit einer Contraposi-
16. Jahrhundert aus rein polemischen Bezügen gegen den dania s
tion verkehrt, cf. Georg H a g e m a n n ,
DyToff. Logik u n d Noetik. Freiburg vielfach noch spätmittelalterlichen, scholastischen Manierismus
199 h P-l 1 '• Für Croce steht es fest, entstanden ist. Und zwar im Hinblick auf einen paralogischen, so-
dati das Wort <Barock> von diesem
<absurden> Schlußverfahren abzu- phistischen Tmgschluß, eben (vor allem) auf jenes Kennwort
leiten ist. n i r h t also vom portug. <baroco> für den vierten M o d u s in derzweiten Schlußfigur, Syrnbo -
Wort <barocco = unregelmäßige,
schiefe P e r l e , cf. • Etä barocco in Ita- zeichen für eine <conclusio per absurdum>. 1 5 Beispiele: Die Men-
I1.1 • o.e. p. 20ff., und <Die Kunstfor- schen sind Vemunftwesen. Das Kind ist kein vernünftiges Wesen-
m e n des Barockzeitalters>, p. 15.
Also ist das Kind kein Mensch. Oder: Alle W a r e n h a b e n ihren Preis-
14
cf. a u c h Teil II zur Kombinations- Einige Dinge haben keinen Preis. Also sind einige Dinge keine
kunst: Z u r antiken Kritik an der
Waren. Oder: Was m a n nicht verloren hat, h a t m a n noch. D u has
Sophistik cf. Piaton. Euthydemos,
Pmtagnrns u n d Gurpuis. H o m e r nicht verloren. Also hast D u H o m e r . 1 4 Was ich bin, bist Du
nicht. Ich bin ein Mensch. Also bist D u kein M e n s c h .
Titelblatt zu Montaignes <Essays>
Rouen 161g

Schon Protagoras bezeichnet die Sophistik als <eine alte Kunst>.


Huizinga stellt ihr Abgleiten v o m Heiligen in die Verspieltheit fest,
den späteren Rätselcharakter der Fallstrickfragen mit H i n w e i s auf
die Theorie der Rätsel (Griphos) des Klearchos, eines Aristoteles-
ochülers. <Das Feld logischer Gültigkeit^ schreibt H u i z i n g a , <wird
auf einen Spielraum b e s c h r ä n k t e Allerdings: die so beliebte Anti-
logie oder doppelte B e d e u t u n g <hat... die Absicht, die ewige U n b e -
stimmtheit des m e n s c h l i c h e n Urteils in p r ä g n a n t e r Weise auszu-
drücken: M a n k a n n es so s a g e n u n d a u c h so>. D a s alles, Skepsis,
Kasuistik, Reversibilität, D o p p e l d e u t i g k e i t im Krisenbewußtsein,
ist manieristisch, typisch manieristisch, seit d e n Anfängen der eu-
ropäischen Geistesgeschichte.

397
Manierismus und Barock
Wir sind ebenso historischen wie kontinuierlichen Elementen in
einer Geistesgeschichte des europäischen M a n i e r i s m u s begegnet
Sie geben uns an dieser Stelle - bevor wir u n s d e m Concettismus
zuwenden und schließlich untersuchen, wie der Mensch als Thema
des Manierismus erscheint - Möglichkeiten an die H a n d , den Ma-
nierismus vom Barock schärfer abzugrenzen. Die Abgrenzung des
Manierismus zur Klassik h a b e n wir im L a u f e dieser u n d in unserer
Darstellung über manieristische Kunst häufig versucht. Sie ist rela-
tiv leicht. Es ist viel schwieriger, M a n i e r i s m u s u n d Barock vonein-
ander zu trennen, u n d zwar so, daß ebensowohl die Eigenart der
beiden <Stile> wie ihre A n n ä h e r u n g zur G e l t u n g k o m m e n . Diese
Auseinander-Setzung ist unentbehrlich, will m a n Konfusionen
vermeiden, die heute noch die eindeutige E r k e n n t n i s höchst
schwieriger Übergangsphänomene der europäischen Geistesge-
schichte belasten. Wir bieten mit diesem notwendigen Exkurs
keine apodiktischen Sätze, sondern n u r Hinweise, die zur weiteren
Diskussion beitragen mögen. W i r m e i n e n jedenfalls, daß die Ab-
grenzung des Manierismus vom Barock die simultane Prüfung
künstlerischer, dichterischer u n d musikalischer D o k u m e n t e erfor-
dert. In einem späteren Abschnitt über manieristische Musik kom-
m e n wir auf diese Aufgabe weiterer konkreter Differenzierungen
noch einmal zurück. G e h e n wir zunächst von pararhetorischen Be-
zügen aus.
Die Trugschluß-Figur <baroco> diente schon im 16. Jahrhundert,
bevor es <barocke> Kunst im spezifischen Sinne gab, der kritischen
Charakterisierung für spezielle formale Manierismen- Am Anfang
des 17. Jahrhunderts wurde der Ausdruck <argomentare in baroco>,
bzw. <barocco>, zur Kennzeichnung nicht n u r von Trugschlüssen,
sondern auch zur polemischen D e u t u n g von <seltsamen> Bildern,
für Verstiegenheit, Gesuchtes, ja, für schlechten Geschmack, hi-
storisch gesehen also: für formale M a n i e r i s m e n des antiken Asia-
nismus verwandt. Erst im 18. J a h r h u n d e r t b e g i n n t <Barock> als ein
Kunststil angesehen zu werden, u n d zwar bezeichnenderweise m
der Enzyklopädie Diderots, ebenfalls mit negativen Vorzeichen:
<Baroque, adjectif en architecture, est u n e n u a n c e de bizarre. II en
est, si l'on veut, le raffinement, ou s'il etait possible de le dire,
Tabus, il en est le superlatif.> Auch hier w e r d e n also spezifische
<Manierismen> (negativ) gewertet, auf Architektur begrenzt. Die
ablehnende Beurteilung dessen, was m a n — höchst verworren - als
<barock> bezeichnete, blieb bis etwa 1900 b e s t e h e n . Mit dem Ent-
stehen der <modernen Kunst> tritt d a n n eine Barock-Schwärmerei
ein, aber sie beruht vielfach auf Mißverständnissen. D i e <moderne>
Avantgarde sieht und anerkennt im <Barock> eigentlich die manie
ristische Ausdruckswelt, das damalige G r o ß b ü r g e r t u m , die
schwungvolle, repräsentative <Kraft> des Barock (Wilhelmmrs
raus!). Erst seit 20 Jahren wird m a n d e m spezifischen Barock
seiner Sonderart gerecht.
<Barocke> Kunst, Literatur u n d Musik b e n u t z e n zwar forma ß
Manierismen und auch manieristische Ausdruckszwänge, ö
steht das G e s a m t p h ä n o m e n <Barock> schon in e i n e m n e u e n geis
gen und politischen <Ordnungs>-Streben, bedingt d u r c h die
gen der Gegenreformation u n d durch die Konventionen der si
neu festigenden absolutistischen Hofkultur u n d ständischen
Seilschaft. Barocke Kunst, Literatur u n d M u s i k h a b e n noch manie-
ristische Elemente, ja, noch starke subjektive Ausdruckswe
aber sie werden durch n e u e klassizistische Vorstellungen wi
gebändigt. Im <Barock> berühren sieh Manierismus und Klassizis-
mus. Man kann den Barock füglich geistesgeschichtlich als eine
Art von <Manierismus> ansehen; man kann aber nicht darauf ver-
zichten, die sehr spezifische Eigenart der barocken Gegenwirkun-
gen anzuerkennen. <Barock> ist eine Mischform von <Manieris-
inus> und <Klassik>, wobei der Grad der Vermengung in europäi-
schen Landschaften und Zeiten sehr verschieden ist. Der reine
Manierismus, der neben, in und unter dem <Barock> weiterwu-
chert, bleibt immer subjektiv, heterodox, antikonformistisch, auch
dann, wenn er, auf seine Weise, mystische oder magische Weltsyn-
thesen sucht. Barocker Geist strebt, oft mit manieristischen Aus-
drucksmitteln (Jesuiten), zu objektiven Ordnungen (Kirche, Philo-
sophie, Staat, Gesellschaft), d.h. zu ihrer Darstellung. Die vielge-
riihmte <Dynamik> des <Barock>! Wer empfindet andererseits nicht
seine eigenartige, durchaus stellvertretende Starre bei der äußeren
Bewegtheit gegenüber besten Werken Tintorettos und Grecos!
Wer hat nicht schon die eigentümliche Würde-Gebärde der gro-
ßen barocken Bewegung empfunden, ihre brillante Äußerlichkeit,
ihren Willen zu überzeugender Beredsamkeit und zur Repräsen-
tanz? Im Barock wird die manieristische Urgebärde zu einer volun-
taristischen Uberzeugungsgebärde. Berninis Grabmal für Papst
Urban in der Peterskirche bringt diese Gebärde, eine restaurative
Gebärde, großartig zum Ausdruck. Wer manieristische Dichtung
mit spezifischer Barock-Poesie vergleicht, wird eine weitere Erklä-
rung finden. Die manieristische Para-Rhetorik wird gegenrefor-
matorisch restauriert zu einer neoklassischen, caesarischen Rheto-
rik des <persuadere>, des Überzeugens, und des <docere>, des Be-
lehrens zugunsten der neuen <Roma triumphans>. Mit beiden will
man keineswegs nur <delectare>, erfreuen, sondern vor allem be-
kehren. Das paralogische Concetto verwandelt sich in die morali-
stische Sentenz, in religiöse oder politische Spruchweisheit zurück.
Aus der ästhetisch autonomen Sinnfigur wird der erbauliche Sinn-
spruch. Für den concettistischen Ingenieur aber bleiben Para-Rhe-
torik und Para-Logismus immer die wichtigsten Instrumente.
Es erweist sich somit als berechtigt, will man die historische
Funktion einer doppelten konstanten Stilgebärde zur methodi-
schen Grundlage für eine Phänomenologie der europäischen Gei-
stesgeschichte nehmen, das Begriffspaar Manierismus und Klassik
als <Generalnenner> (E. R. Curtius) zu wählen und es mit den histo-
risch ebenso legitimen Begriffen Asianismus und Attizismus zu
kombinieren. Das Wort <Barock> ist ein künstliches Wort und es
taucht, wie wir jetzt wissen, erst spät auf. Die Begriffe Asianismus
und Attizismus haben schon die antiken Literaturtheorien be-
herrscht, das Wort <classicus> ist zwar auch alt, aber die übertra-
gene Bedeutung <klassisch> ist viel jünger. Auch der Begriff <Ma-
nierismus> ist (in der Kunsttheorie) älter (ab etwa 1520), er hat aber
noch den Vorteil, als konkretes lateinisches Wort mit einer seiner
Bedeutungen, nianns — <Kunstarbeit>; manu = <von Menschen-
hand, durch Kunst>, viel sachgerechter zu werden. Der Begriff Ma-
nierismus, sofern er nicht a priori polemisch genommen wird, was
ja nicht immer geschah, löst in bezug auf Kunst, Literatur, Musik
viel näherliegende Assoziationen aus als das Wort Barock. Wir
können somit weder den 22 Barock-Arten von Eugenio d'Ors zu-
stimmen noch der angeblich periodischen und oft sehr breiten
Wiederkehr barocken Formgepräges im Laufe der Geschichte> im
Sinne von Fritz Alexander Kauffmann. Es sei denn, man identifi-
ziere Barock und Manierismus ganz, und das ist unmöglich.
Neuere Literatur hilft da weiter. So etwa Victor L. Tapie: Klassik- 399
Elemente im Barock als Ausdruck einer n e u e n religiösen, sozialen
und politischen Ordnung, sowie Erich Trunz: barocker Ordo-Ge-
danke, Autoritätsdenken des Barocks, sein Repräsentationsstil, Ty-
pik der barocken Rhetorik usw. D e r M a n i e r i s m u s n ä h r t sich geistig
aus anderen Strömen als das, was m a n Barock n e n n t . In einem
Falle knüpft m a n immer wieder an die esoterischen Traditionen
an, im anderen erneut an die Überlieferungen der mittelalterlichen
Theologie und Kirche.
Die weniger <ingeniösen> Manieristen lieben die Hyperbel, die
' ' E n t h v m e n (griech.) = G e d a n k e . bloß scharfsinnigen die Ellipse bzw. das E n t h y m e m . l D D e n schöp-
E i n e verkürzte Art der logischen
S c h l u u b i l d u n g . Berühmt <Ciceros> ferischen Manieristen kann m a n — kritisch — d a r a n erkennen, daß
E.: <Wenn ich ZU H a u s e so gefürch- er Ellipse und E n t h y m e n in einer einzigartigen Weise vereint.
tet wäre wie Du in der Stadt, würde
ich mein H a u s verlassene Kernaus- Bloße Hyperbel und <wuchernde> syllogistische Formeln weisen
sage: 'Verlasse die Stadt!> (Cicero in auf <Barock>. Peregrini zitiert das von u n s schon angeführte Bei-
i (".atilinarische Rede, i 7.)
spiel (Corydons Ausruf, als m a n i h m zu schwarzes Brot brachte):
<Bring mir keins mehr, sonst wird es Nacht. > G e r a d e das lobt unser
Zeuge: Vermittlung des <Seltenen> in der ä u ß e r s t e n intellektuellen
Zusammenziehung. Insofern sind abstruse Allegorie u n d alogi-
sches E m b l e m auch elliptisch; sie h a b e n d e n C h a r a k t e r eines Bild-
Epigramms und eines <ingeniösen> Concetto.
Alles das ist für den geistig-elementaren M a n i e r i s m u s , wenn
dieses Paradoxon erlaubt ist, typisch. H i e r h a b e n wir wieder eine
Unterscheidung zum <Barock>. Barocke S p r a c h k u n s t will nicht das
Seltene, sondern das Universal-Gültige n e u auf-zwingen, u n d das
nicht mit den Mitteln der E m p h a s e , der Amplifikation, des Über-
betonens, Überwältigens, des kunstvoll Propagandistischen. Ba-
rock ist propagandistisch-rhetorisch. M a n i e r i s m u s ist antipropa-
gandistisch, antirhetorisch, d.h. gegen die klassische, attizistische
Rhetorik, aber für Para-Rhetorik. Der M a n i e r i s m u s k e n n t das Un-
m a ß der elliptisch-hyperbolischen Vereinigungskunst, der Barock
das Ü b e r m a ß der hyperbolischen Forcierung. D e r Manierismus
verachtet also die Kunst der Hyperbel keineswegs, aber er geome-
trisiert sie immer wieder durch das Contra der Ellipse, w ä h r e n d der
Barock der elliptischen Konzentrierung eindeutig abhold ist. Das
Gebäude des größten Zentralinstituts der gegenreformatorischen
«Propaganda Fide> in Born ist vom <barocken> Bernini entworfen
worden. Gregor XV. hat es im J a h r e 1622 eröffnet. K ö n n e n wir ei-
nen so vitalen wie antirationalen Künstler wie Bernini jetzt nicht
besser begreifen? Tasso bildet den Ü b e r g a n g von der Hochrenais-
sance zum Manierismus, Bernini den Ü b e r g a n g vom Manierismus
zum Barock.

Para-Rhetorik,
Gefühl und Romantik
Die Berührungsflächen von M a n i e r i s m u s , Barock, Romantik und
heutiger <Moderne> sind, wie wir schon berichtet h a b e n , nicht
übersehen worden. Im Z u s a m m e n h a n g m i t der Para-Rhetorik
wird es uns ebenfalls leichter, den W ä r m e - oder Kältegrad solcher
Berührungen näher zu bestimmen. D e m M a n i e r i s m u s der Shake-
speare-Zeit ist die Kombination von Reflexionen u n d Gefühl ei-
gen, ähnlich der europäischen Romantik. D i e <moderne> Art wird
von Graciän auch als <escribir con alma> bezeichnet. <Alma> heißt
<Geist>, aber auch <Seele>. Graciän weiß, d a ß <agudeza> ohne
<alma>, Scharfsinn ohne Seele, o h n e <Geheimnis>, o h n e <Tiefe>, zu
einer bloßen Wortakrobatik wird. W e n n sich Graciän gegen die
40O bloß äußerliche Anwendung der Rhetorik wendet, so auch gegen
einen nur künstlichen und kultistischen Stil. Concettismus ohne
<alma> wird <ärgerlich>, leer, von nutzloser Affektiertheit. Die <mo-
derne Art> heißt also <escribir con alma> und <con agudeza>, mit
Seele und Geist, mit Gefühl und Intellekt schreiben. Gefühl? Ge-
wiß! Wie hätte man den dolce stil nuovo Dantes vergessen können,
die Revolution der Lyrik schon im 13. Jahrhundert, das Dichten <da
dentro>? Wer will leugnen, daß man bei Göngora und bei John
Donne <Gefühl> findet? Es handelt sich allerdings um sehr bewuß-
tes, um sehr vergeistigtes Gefühl, um eine Art vorläuferischer intel-
lektueller Romantik jener Art, die uns wieder in knappster und be-
ster Art Novalis definiert:
<Ein Kunstwerk ist ein Geisteselement.> <Der Verstand ist der
Inbegriff der Talenten <Denken und Dichten also einerlei). <Af-
fekte sind schlechterdings etwas Fatales.) <Alles Unwillkürliche
soll in ein Willkürliches verwandelt werden.) Allerdings: <Nur im
Gefühle gleichsam kann die Reflexion ihre reine Form aufstellen:

Pablo Picasso: Guillaume


Apollinaire, 1916

4OI
neues D a t u m des überall herrschenden Wechselverhältnisses zwi-
schen dem Entgegengesetzten^
Der Unterschied zwischen manieristischer Para-Rhetorik und
manieristischer (intellektueller) R o m a n t i k liegt also, bei der glei-
chen Auffassung, es sei <Erdenken D i c h t e m (Novalis), in der fort-
schreitenden Eroberung tieferer u n d weiterer Gefühlssphären bis
zur Romantik und bis zum Symbolismus. Ü b e r s e h e n wir aber
nicht, daß auch für Novalis <die Seele aus reinen Vokabeln be-
stehe, <daß die Sprache ein musikalisches I n s t r u m e n t ist und daß
die <Musik es mit kombinatorischer Analysis zu tun hat>, und daß
es deswegen einer allgemeinen <Dechiffrierungskunst> bedarf.
Doch bleibt die merkwürdige S p a n n u n g zwischen Geist und Seele,
zwischen Scharfsinn und Gefühl bestehen, die wir schon aus der
bildenden Kunst kennen. Novalis: <Form ist A n t i t h e s o Sie kann
zu einer Art von Wahnsinn, von schöpferischem W a h n s i n n führen.
Nicht nur Tesauro, auch Graciän lobt d e n <Wahnsinn>. Sind es
nicht die <Phantasiai insanes> des Quintilian? Schon in der intel-
lektuellen Romantik spitzt es sich zu. D i e Seele des Kunstwerks
m u ß für Novalis in <überspannten, u n n a t ü r l i c h e n Bewegungen
und Modifikationen des Stoffs, in Karikatur, sich zudringlich zu
erkennen geben. Aus dieser <Synthese> entstehen <wunderbare
Worte u n d Formeln>, <partielle H a r m o n i e n der Wahnsinnigem,
gemeinschaftlicher W a h n s i n n n a c h R e g e l n u n d mit vollem Be-
wußtseim. Das Lob der <Paranoia> ist uns b e k a n n t . Die Extreme
berühren sich. Stark u n d fruchtbar jedoch n u r in den zu ihnen pas-
senden Epochen.

20. Jahrhundert: Zerstörung


der Logik mit Logik
Wahnsinn nach Regeln! Apollinaire n e n n t diese Discordia <style
ideogrammatique>. Gottfried Benn unterscheidet ausdrücklich
den eindringlichen, knappen Stil> (Attizismus) v o m <expressiven
Stil> (Asianismus). Bei diesem k o m m e es n u r auf <Faszination> und
<Ausdrucksprägung> an. Im expressiven Stil <zelebriert die Sprache
sich selbst>. Es handle sich u m <Krisenstil>. <In der Kunst gilt das
Außere>... <Artistik! Stil!> <Neues> m ü s s e m a n s c h r e i b e n . . . <ohne
Konformismus und Klassizität^ In seiner Geschichte des Surrealis-
m u s stellt Alain Bosquet fest: <Man zerstörte, Stein für Stein, mit
logischen Mitteln die Logik.> Kein W u n d e r , d a ß eine der wichtig-
sten Zeitschriften der Surrealisten <Minotaure> hieß, Sinnbild des
Zerstörerischen im Unentwirrbaren!

15. F O R M E L N D E R
SCHÖNHEIT
Lyrik der Peripetie
Die dichteste, vollkommenste, begehrteste Form manieristischer
Dichtung ist das <Concetto>. Im Concettismus findet der literari-
sche Manierismus seine höchste Erfüllung. In i h m fügt sich das
z u s a m m e n , was wir bisher erläutert h a b e n : M e t a p h o r i s m u s , Para-
Rhetorik und Para-Logismus. Wieder stoßen wir auf ein histori-
sches Phänomen, das sich als erneuerungsfähig erweist, in der so
differenzierten und so schwer deutbaren Umwelt des Manieris-
mus. Da wir jedoch historisch konkretem Stoff begegnen, können
wir auch und gerade jetzt — immer wieder im Hinblick auf heutige
Problematik - spezifische lyrisch-architektonische Strukturen er-
kennen und in und an ihnen wieder den Duktus der manieristi-
schen Urgebärde ablesen.
Was sind <Concetti>? Was ist Concettismus? Für die Shake-
speare-Zeit: eine neue <Art des Sagens>. Die Quintessenz der
neuen Poesie! Man glaubt, ein neues Universum der Schönheit
entdeckt zu haben. In ihm strahlen diese magischen lyrischen For-
meln. Denn um solche handelt es sich zunächst im allgemeinsten
Sinne. Die Spanier nennen sie conceptos, die Engländer conceits,
die Deutschen Sinnfiguren oder auch Schimmerwitz, die Franzo-
sen (des i 7. Jahrhunderts) wie die Italiener concetti. (Die Pointe ist
die <Spitze> des Concetto.) Concetti sind oder sollen sein magische
Formeln der Schönheit, die durch irrationale Trugschlüsse und
durch die Verwendung irregulärer rhetorischer Figuren <gemacht>
werden. In der attizistischen Ästhetik waren sie verpönt. Doch setzt
das <Machen> Geist (Ingenium: Ingenieur) und Talent voraus,
Scharfsinn, Wissen, Beobachtungsgabe, zugreifende Erlebnisfä-
higkeit. Gesucht wird das <concetto poetico>, die lyrische Sinnligur,
die knappste Verschmelzung von Begriff und Bild, so wie in winzi-
gen großgriechischen Münzen Gold und Zeichnung eine Einheit
von zwei verschiedenen <Werten> darzustellen scheinen, in weltge-
schichtlich wohl einmaliger Weise. <Das Concetto, so urteilt Bau-
delaire, <ist ein Meisterwerk.>
Im besten Concetto handelt es sich um eine glückliche Hochzeit
von Inspiration und Intelligenz, von Intuition und Scharfsinn, von
Einfall und Konstruktion, von Idee und Architektur, um drama-
tisch-lyrische Antithetik. (Beispiele für europäische Concetti findet
man im <Anhang> dieses Buches. Sie sind als Muster und Belege
für die Interpretationsversuche in diesem Abschnitt gedacht.)
Kein Wunder, daß die manieristischen Traktatisten die Überra-
schungs-Eleganz von Trugschlüssen preisen, die Schockwirkung
unerwarteter Wendungen. Vor allem aber loben sie, und gerade
das gehört zu den alchimistischen Geheimnissen dieser höchst
konzentrierten Literatur, die Peripetie, das <plötzliche Umschla-
gen), das also, was man in der Tragödie als unerwartete, überra-
schende, atemraubende Reversion im Schicksal des Helden be-
zeichnet. Jäher Umschwung heißt auch Krise. Graciän gebraucht
tur Peripetie (und nicht er allein) das Wort <crisis>. Concettismus ist
Uichtung, die - formal - den Zenitpunkt der Peripetie {crisis) spie-
gelt und die zugleich Ausdruck höchst krisenhafter Zeitläufte ist.
Diese Vereinigungskunst führt auch zu einem besessenen philo-
sophischen Synkretismus. Marino will Piatonismus und Aristote-
hsmus vereinen, Pythagoreismus und Epikureismus, christliche
Lrlösungslehre und Magie, Sinnlichkeit und Erbauung, Verzweif-
!ung und Trost, Hell und Dunkel, Wahr und Falsch, Gewißheit
und Ungewißheit. Alles das soll nicht nur in Spannung zueinander
bleiben. Es wird alles miteinander vertauscht. Es ergibt sich ein
e
gnjfsjJ}azar, der einer ebenso entfesselten wie kunstreichen
»ort-Idolatrie dient. Man wäre versucht zu sagen, daß über allen
istorischen Epochen, aus denen plötzlich solche <Sophismes ma-
Pques) sprühen, schon die Gewitterwolken der Untergänge la-
gern. In concettistischen Zeiten wollen die Dichter, welche Baude-
aire Leuchttürme der Menschheit nannte, in finsterer Umwelt 403
lebend, nur noch einen erlösenden <Stein der Weisem anstrahlen.
Extreme, konzentrierte Schönheit s u c h e n sie, oft u m g e b e n vom
Brüllen der Affekte und des physischen Schmerzes, vom sinnlosen
Tod von Millionen Schuldiger u n d Unschuldiger. Sinn und Schön-
heit wollen sie d a n n vereinen in einer labyrinthisch irr-sinnigen
Weise.
Sinn- oder Irr-Sinns-Figuren dieser Art sind n u n , w e n n wir sie in
ihrer literarischen Struktur begreifen wollen (und bevor wir Bei-
spiele geben), nicht so leicht zu definieren, wie m a n es versucht
Ih
<Concetto>, vom lateinischen con- hat. 10 Concettismus ist auch eine <Vereinigungskunst> im Sinne
cipere, umfaßt sowohl die Sphäre des von Novalis. Denken u n d Dichten, Schönheit u n d Logik sollen
Intellekts (<befreil'en>) als auch die
der Phantasie (einen Zusammen- miteinander verbunden werden. Sinnfiguren sind, elementar gese-
hang «schauet» oder <planen>). Es hen, Metaphern von Begriffen bzw. Ideen. Was heißt das? Die Me-
hat aktiv ausgreifenden und passiv
empfangenden Sinn, auch im mate- tapher wird als eine überraschende concordia discors von Bildern
riellen und physiologischen Bereich: empfunden. Das Concetto bietet eine ü b e r r a s c h e n d e concordia dis-
als Fassungskraft eines Gefäßes, als
Empfängnis im Geschlechtsakt.
cors von Ideen. In beiden Fällen wird also E x t r e m e s vereint. Aber,
und das ist das Irritierende, ein gutes Concetto stellt sich nicht nur
als Konkordanz antithetischer Begriffe dar; es vermengt gleichzei-
t i g . . . Bilder. Es werden also ebenso h e t e r o g e n e Begriffe wie hete-
rogene Bilder vereint. Der alchimistische <Stein der Weisem ergibt
sich aus Doppeltem: aus P a r a - L o g i s m u s u n d Oppositions-Meta-
pher, aus paralogischem Sophismus u n d metaphorischer Evoka-
tion. Abstruse Dialektik wird mit den u n s n u n b e k a n n t e n paralo-
gisch-rhetorischen Mitteln <ausgeschmückt>. In vielen, allzu vielen
Fällen wird dabei die Erfindungskraft d u r c h ein bloß irrationales
Disponieren in dieser höchst künstlichen Weise ersetzt.

Abstruse Allegorik
Bevor wir unsere Definition zu E n d e führen u n d im Anschluß
daran eine Miniatur-Anthologie europäischer Beispiele von ge-
stern und heute bieten, wollen wir uns k u r z mit e i n e m Beispiel
aus der berühmten A l l e g o r i e n - S a m m l u n g von Cesare Ripa
(1560-1625) beschäftigen. Sie erschien u n t e r d e m Titel dconolo-
gia> im Jahre 1593 zu R o m und erlebte d a n n viele Ausgaben, bis
zur fünfbändigen M o n u m e n t a l - A u s g a b e von P e r u g i a 1764 bis
1767. Das Werk hat einen e n o r m e n Einfluß auf die manieristische
Kunst und Literatur ausgeübt. Seine erste W i r k u n g hatte es in der
Blütezeit Shakespeares, Göngoras u n d M a r i n o s .
Die Allegorik Ripas ist besonders sinnreich, weil sie noch der
tieferen Emblematik und Hieroglyphik v e r b u n d e n ist, die für das
Cesare Ripa: Melancholie auf
Zeitalter ebenfalls charakteristisch sind. (Einzelheiten darüber im
Erden (aus der.Iconologia». 1593)
nächsten Abschnitt.) Ein Beispiel heißt <Melancholie auf Erden>.
In dieser Allegorie (zu gr. allegorein = anders reden, bildlich reden)
wird das Disparate rebusartig kombiniert. D a s offene Buch in der
linken H a n d der Figur, die, nach Ripa, eine <düstere> Farbe haben
soll, bedeutet: der Melancholiker liebt G r ü b e l n , Wissen, For-
schung. Der Knebel versinnbildlicht Schweigsamkeit, denn der
Melancholiker hat, nach Ripa, ein kaltes, trockenes Temperament.
Der Vogel (Sperling) auf dem Kopf soll E i n s a m k e i t darstellen,
denn der Sperling lebt laut Ripa an e i n s a m e n Orten <und meidet
" Es handelt sich nicht um den den geselligen Verkehr>. 17 Die g e b u n d e n e Börse weist auf Ver-
durchaus geselligen Sperling, son- schlossenheit hin, auf seelischen Geiz. Also: Buch, Knebel, Sper-
dern umdetKpassersolitarius'. Leo-
pardi widmete ihm ein Gedicht ling, verschlossene Börse b e d e u t e n Melancholie. In der Dichtung
können diese Attribute einer Allegorie zu M e t a p h e r n werden, die
404 nun paralogisch kombiniert werden. Obwohl die Bedeutungsbe-
zü^e, zumindest für den Kenner, meist noch rational erklärbar
bleiben, werden die einzelnen Attribute bereits im 17. Jahrhundert
vielfach derart alogisch und sinnsprengend kombiniert, daß sich
damals schon Vieldeutigkeit und Sinn-Losigkeit ergaben. Der
Concettismus wird <heteroklitisch>, d.h. unregelmäßig, von der
Re^el abweichend, seltsam, wunderlich. Es entsteht also die P o e -
sie heteroelite>.

Anti-Natur
Tesauro erinnert daran, daß schon Aristoteles die <Schemata) (lat.
figurae) empfahl, jene geistvollen Abbreviaturen, welche auch
<Sentenzen> heißen. Doch sind die <Concetti> keine <Sentenzen> im
attizistischen Sinne. Das echte Concetto muß hieroglyphischen
Charakter haben, es darf keine allgemeinverständliche Morallehre
formulieren, es muß — wie Tesauro wiederholt sagt — im Halbdun-
kel des Orakelspruchs verharren. Um sie zu machen (fabbricare),
geht man von einem <Kategorien-Index> aus. Man sammelt Ideen
und Bildergruppen, <Ähnlichkeiten> und <Verschiedenheiten>,
Grundelemente also für die uns bekannte Große Kombinations-
kunst. Aus diesem Material baut man mit den Instrumenten der
<Topici fallacb, der täuschenden rhetorischen Figuren, die uns be-
kannten Stupore-Metaphem. Diese aber dienen dann der sprachli-
chen Fassung von paralogischen <argutezze>, von einfallsreichen,
scharfsinnigen Trugschlüssen, durch die Begriffe (Ideen), die ein-
ander auszuschließen scheinen, vereint werden. Aus diesen Korre-
spondenzen von Ideen und Bildern erhält man <göttliche Concettb,
denn, wie schon zitiert, Gott hat sich in geheimnisvollen Concettb
geoffenbart. Schön sind Dichtung, Kunst, Musik nur dann, wenn
sie derart arkane Sinnfiguren vermitteln, das concettistische Genie
wird gottähnlich.
Man kann sich den Ruhm damaliger Concettisten von Rang
heute kaum noch vorstellen. Sie wurden gefeiert wie Helden. Man
verglich sie mit Adlern und Engeln. Sie schrieben Inschriften für
Triumphbogen und Embleme für Könige, Epitaphe für die Gräber
der Fürsten, Devisen für die Wappen aller Vornehmen Europas.
Sie erhielten ehrenvolle Aufträge, sie waren unermüdliche Arbei-
ter. So manches man gegen die Manieristen der Nachrenaissance
einwenden kann, Dilettantismus kann man ihnen nicht vorwerfen,
ks hat kaum eine Zeit nach dem Mittelalter gegeben, wo Schrei-
bende sich so um eine Verfeinerung ihres Handwerks bemüht
haben. Zwischen Renaissance und Aufklärung gibt es einen Ma-
nierismus der handwerklichen Form, nicht also nur der Weltan-
schauungen, Empfindungen und Ideen. Man kann den Manieris-
mus zwischen 1530 und 1660, ohne diese Voraussetzungen zu he-
chten, ebensowenig verstehen wie die moderne Musik, wenn man
ie Harmonie- oder <Disharmonie>-Lehre nicht kennt. Die Litera-
ur im Manierismus dieser Epoche verlangt auch (und fast in erster
Linie) handwerkliches Können. Valery: <Perfection, c'est travail.>
an muß die <Künste> kennen, Regeln darf man verachten. Man
tollte antiklassisch, aber nicht barbarisch sein. Der <schöpferi-
C e>
^ i s t wurde nur mit den Attributen der artistischen Ge-
Clultnei
t , der <virtuositä>, verherrlicht. Wenn man Welt, Mensch
Ul
n g stilisierte, so konnte dies nur wissend, bewußt gesche-
n Das <Naturgenie> ohne <virtuositä> hätte als eine der vielen
tsamkeitem der <natura naturans> gegolten. Seiner plebeji-
Cn o d e r
Weinbürgerlichen Erscheinung nach hätte es schon al-
lein dem aristokratischen Geschmack d e r Zeit nicht entsprochen.
M a n fürchtete sich weniger vor dem E p i g o n a l e n als vor dem Dilet-
tantischen.
Die <Mysteres> (Mallarme) dieses H a n d w e r k s erscheinen aller-
dings von höchst verwickelter Natur, w e n n m a n sich nicht immer
wieder über seine ebenso <ingeniösen> wie einfachen Mechanis-
m e n klar wird. Die dialektische Poesie des Concettismus, die das
Paradoxale in einer extremen Situation der Peripetie zur Einheit
bindet, verzichtet nicht n u r auf B e l e h r u n g (docere) u n d Überzeu-
gung (persiiadere), sondern auch auf das Wahrscheinlichkeitsprin-
zip. Nicht die <inventio> (Erfindung) ergibt die Einheit, sondern die
manieristische <dispositio> (Gliederung). E s wird demzufolge auf
das Wahrscheinliche zugunsten der <wunderbaren> Gedanken-
gliederung verzichtet. Dabei erreicht dieses <Wunderbare> ver-
schiedene Grade, von dem einfachen ü b e r r a s c h e n d e n Kontrast bis
zur schockauslösenden Konstruktion des Monströsen: wie in der
bildenden Kunst.
Nach 1850 wird die klassische N a t u r n a c h a h m u n g vollends auf-
gegeben, ebenso aber die Konventionen des sogenannten gesun-
den Menschenverstandes, die in politischen u n d religiösen Ord-
n u n g e n geltenden <Gemein>-Plätze, die Sammelbegriffe und Ge-
brauchs-<Büder> der öffentlichen M e i n u n g . Die Ver-stellung wird
Gesetz, das Gesetz verstellt. Es wird Ereignis die reine Form des
gegenstandlos Alogischen, die n u r n o c h ästhetische Beschwörung
des Nichts, die Autonomie der abstrusen Form. Der extreme Extre-
mismus ist erreicht: der A u f n e h m e n d e wird allmählich n u n nicht
n u r nicht belehrt, nicht n u r nicht überzeugt, er wird n u n auch nicht
m e h r ergriffen, im Gefühl bewegt (movere). Die Gefahr des nur
Befremdenden liegt darin, daß die Mittel, es zu erzeugen, sich end-
los wiederholen (wie eine stereotype Schreckgebärde) u n d daß sie
deswegen, wie die ebenso endlosen Knorpelbildungen des späten
Ornament-Stils, n u r noch unfruchtbare Langeweile erzeugen,
besser: völlige Entfremdung. Kein W u n d e r , daß in concettistischen
Zeiten Schauerdramen u n d S c h a u e r r o m a n e so h o c h in Blüte ste-
hen. Shakespeare bewegt sich auf der ganzen Skala, von seinen
subtilen Sonetten bis z u m perversen Sensarionssrück: <Titus An-
dronicus>.

Das alexandrinische Epigramm


M a n hat sich oft die Frage gestellt, wo in E u r o p a der Concettismus,
w
cf. u.a. Meozzi o.e., Tagliabue etwa um 1550, zuerst aufgetreten ist. 18 Tesauro n e n n t die spani-
o.e. und E.Norden o.e. Bd.I. p.68f..
280f.. —"f- Nach Norden war der schen Prediger in Neapel als erste Neu-Erfinder, u n d er hat selbst
berühmteste <Concettist> der Antike wohl — wie Croce a n n i m m t — Graciäns Traktat gekannt. Doch wei-
Oorgias von Leotitini. Satirisch
sen die gesamten Traktatisten auf antike Autoren als Vorbilder,
imitiert von Piaton in .Protagoras>,
537-33»- wenn auch, insbesondere von Tesauro, e r k a n n t wird, d a ß der äqui-
: voke Concettismus (Graciän) ein M e r k m a l der Neuzeit ist. Starken
j Einfluß auf den concettistischen Stil hatte die <Griechische Antho-
! logie> mit ihren etwa 3700 E p i g r a m m e n . Ursprünglich <knappe In-
schrift), wurde das E p i g r a m m erst in Alexandrien zu einer eigenen
lyrischen Gattung. M a n n a n n t e es eine <abgekürzte Elegie>; es
wurde bald auch zu einer avantgardistischen Form, zu einem
sprachlichen Gewand der Aufsässigkeit, der Aggression, der Hete-
rodoxie. Gute Epigramme wurden in Alexandrien gesammelt wie
seltene Münzen. Sie wurden d a n n in der nianieristischen silbernen
406 Epoche der Latinität (Martial) wieder g r o ß e M o d e . Besonders be-
liebt waren Epigramme mit hebräischer Isopsephie, also mit äu-
ßerstkomplizierten Wort- und Zahlenspielen. Als größter Erfolgs-
autor auf diesem Feld in neronischer Zeit wird Leonidas von Ta-
rent genannt. Im frühen Mittelalter hütet Byzanz die preziöse
Kleinform. Typisch ist für das Epigramm: ein Exzeß des Konzisen,
und auch das ist typisch manieristisch; man kann mit der Hyperbel
übertreiben, aber auch mit der Ellipse. Es handelt sich also um
äußerst preziöse elliptische Kalligraphie, aber in der Antike behält
sie einen rationalen, vielfach sogar einen höchst realistischen Sinn.

Concettistische Zeitenwende
Die litararischen Nachwirkungen der hellenistischen Kulturen im
frühmittelalterlichen (Kirchenväter) und im spätmittelalterlichen
Europa (Spanien) sind — in ästhetisch-formalgeschichtlicher Hin-
sicht—noch zu untersuchen. Zweifellos hat das spätmittelalterliche
Spanien als Drehscheibe zwischen Asianismus und Attizismus hin-
sichtlich formaler Manierismen große Bedeutung gehabt. Die
Wurzeln des <modernen> Concettismus liegen jedoch unserer Mei-
nung nach in Italien, im Italien Ficinos und Picos della Mirandola,
als in Florenz der Mensch als <Deus in terris> entdeckt, als auch
danach der Heliozentrismus naturwissenschaftliche Tatsache
wurde, als die Entdeckung der Unendlichkeit der Welt den Men-
schen von damals ähnliche Probleme aufbürdete wie uns heute die
Quantentheorie. Italien hat einen geistig-zeitlichen Vorsprung.
Nicht nur das. Wir finden eine <existentielle> Theorie des Concet-
tismus, längst vor Graciän und Tesauro, im Werke eines der faszi-
nierendsten prämodernen Dichter Europas, im Werke Torquato
Tassos.
Außerdem sollte man nicht übersehen, daß in Italien die großen
Dunkelheiten Dantes unvergessen blieben. Haben einzelne Terzi-
nen-Gruppen nicht schon concettistische Form? Petrarca steht -
wie auch Dante - noch dem rätselverliebten trobar clus der Minne-
sanger nahe. Der <Petrarkismus> hat sich schon früh in Spanien wie
in Frankreich ausgebreitet, zumindest als preziöse Diktion. Ma-
nno bezeichnete Petrarca als Vorbild für concettistische Kunst.
lasso (1544-1595) steht als Persönlichkeit und mit seinem Werk
in der ersten neuen Wende der Zeit.

Übergang
zur poetischen Immanenz
lese besondere italienische Situation hat übersehbare geistesge-
schichtliche Ursachen. Als der toskanische Frühmanierismus in
orenz entstand, jene Einheit von <Armut und Geheimnis>, etwa
530, war Tasso noch nicht geboren. 1520 starb Baffael, in dessen
patwerk bereits manieristische Züge entdeckt wurden. Die Dich-
*g lassos bildet den Übergang von der literarischen Spätrenais-
nce zum er
sten literarischen Manierismus in dieser Zeit. Tassos in-
nere Zerrissenheit, sein <Wahn-Sinn>, ist wie ein Symbol für diese
ischenstellung. Seine Dichtung ist reich an Bezügen, die auf
Übergänge weisen.
ir begreifen damit nicht nur die frühe Vorzugsstellung, die der
oncettismus gerade in Italien erhielt, denn das bleibt für unsere 407
Fragestellung eine untergeordnete Frage. W i r k ö n n e n vor allem
dem Begriff Concetto hinsichtlich Tassos eine n e u e Tiefendimen-
sion verleihen. Wir begegnen auch erneut e i n e m für jeden Manie-
rismus typischen Vorgang: die noch mythisch g e b u n d e n e Urge-
bärde oder ihre, in mythischen Vorstellungen von Spätzeiten,
erneuerte mythische Sinngebung wird wieder säkularisiert. Das
Spiel mit den formalen Hülsen beginnt.
Tassos Concettismus steht noch in unmittelbarer Beziehung zur
<Idea>-Lehre Marsilio Ficinos. W i r erinnern u n s , d a ß das Wort
<Concetto> in seiner Bedeutung <Begriff> schon mit d e m Wort
<Idea> in Verbindung gebracht w u r d e . <Concetto> = <Idea> hat al-
lerdings für Tasso, sehr im Gegensatz zu Zuccari etwa, der seinen
Traktat <L'Idea de'Pittori, Scultori ed Architetti> im J a h r e 1607
veröffentlicht, also zwölf Jahre n a c h Tassos Tod, noch absoluten
Charakter. F ü r Tasso hat die Concetto-Idea — im platonischen
Sinne — noch ihren Ort im absolut Jenseitigen. Bei Zuccari wird sie
auch zu einem psychologischen Begriff, zu einer subjektiven Vor-
stellung, zum <Disegno Interno>. Tasso faßt noch die Idea (Con-
cetto) als ein transzendent Absolutes auf, das sich in der Dichtung
Torquato Tasso ( 1 5 4 4 - 1595)
spiegeln k a n n u n d m u ß . Das Concetto bleibt somit <Idea> im objek-
tiven, nicht im subjektiven Sinne. Tasso ist also noch nicht <Concet-
tist> im Sinne des subjektiven <Concettismus>, aber das <Concetto
steht schon in der Mitte seines Dichtertums u n d seiner Dichtungs-
lehre>. Tasso hat <dem Concettismus die W e g e geebnet>. Tatsache
ist, daß in späteren Schriften Tassos, so z.B. in den <Discorsi del
P o e m a eroico>, das Concetto bereits als ein <inneres Sprechen) be-
zeichnet wird. (<I1 Concetto, il quäle e quasi u n parlare interno.>)
Dadurch ist <das Concetto n u n fast zu d e m geworden, was wir in-
nere Sprachform nennen>. Der <Wortstoff wird in den Concetti ge-
formt).
Bei den n e u e n geistigen Spannungskräften der Zeit hält es Tasso
jedoch in diesen topoi uranioi nicht aus. Motive seiner Dichtung
und Manifestationen seines Lebens beweisen, d a ß sich schon in
ihm und in seinem Werke die W a n d l u n g vollzieht, der Ansatz der
Säkularisierung des Concetto, einst reine metaphysische Idee, bald
n u r noch immanentes Sprachbild der <poesie pure>. Tasso ist Melan-
choliker wie Pontormo, er zerdehnt schon die attizistischen For-
men der Rhetorik, er wählt schon asianische Kunstgriffe, so u. a.
etwa Anapher (Wiederkehr derselben Folge der Satzteile in meh-
reren Sätzen) u n d Paronomasie ( Z u s a m m e n s t e l l u n g gleichlauten-
der oder ähnlicher Wörter von verschiedener oder entgegengesetz-
ter Bedeutung). Als formale M a n i e r i s m e n m a g er solche Figuren
der lateinischen Literatur des Mittelalters e n t n o m m e n haben.
Aber das Erschütternde im Werk u n d im persönlichen Schicksal
Tassos besteht darin, daß manieristische Formalismen u n d manie-
ristische Denkweise sich zum ersten Male in einer dichterisch und
geistig legimiten Weise <modern> begegnen. Ulrich L e o spricht in
seinen Untersuchungen über Tasso als Vorläufer des manieristi-
schen <Secentismo> schon in bezug auf Tasso von einer <modernen>
<Überrhetorik>. Auch Tasso verzichtet also schon auf das L e h r - und
Nutz-Element der Rhetorik; auch er zieht das bloße <delectare>
oder <piacere> d e m Belehren u n d Überzeugen vor. Aber das <delec-
tare> mit rhetorischen Künsten erhält bei Tasso den tieferen Sinn,
den dann Shakespeare d e m pararhetorischen Concettismus gab.
Pararhetorische Künste bringen <einen irrationalen Erregungszu-
stand des Dichters oder seiner Personen z u m Ausdruck). Erinnert
Tirsis' nur unvollkommen übersetzbares W ö r t e r g e s c h m e i d e (we-
«J8 gen der Wortspiele mit sapere, cercare, piacere) nicht schon an die
A L L E G O R I A -
LAprigioniad'Adonecon tutti gli ftratij che fopportada FaHirena,cififcorgcre gli
effetri dclla Supetbia, quando per effer difprezzata entra in furorc;& la vita tribulata
del peccacore, quando addormenrato nel vitio, & impigrko nellaconfuctudine.fi
lalcia legire dallc catenc dclle pericolofetentationi. 11 cangiarfiin recetto e miftcro
dclla leggerezza giouanile,che vaneggiando, non lu ne'fuoi aroorofi pcnficri giamai
feimczza La Fontana, in virtü dclla cui acqua cgli ritorna al fuo primo efTcre, allude
alla diuina gracia , laqual col mezo dclla penitenza rdtituifce all' huomo la fua Vera
iniaginc,giä cor rrafatra per lo peccato. Vulcano e {Imbolo di Satana,zeppo per lapri-
uatione d'ogni bcne.brutto per la perdita de" doni della gratia,habitatorc di cauerne
per laftanzadelle tenebre infernah, deltinato all'cfjfcrcitio del fuoco per lo miniftc-
rio dclleflammeeternc. L' vno dopo l'haucrt incatenato Adone, cerca d'vccidcrlo.
Et htlrro dopo l'hauer fottopofto l'huomo alla lua tirannidc, procura inrutro di
darmortc all'anima. Senonche Mercurio.figura dclla eclefte cV: vera Sapicnza,
lo configlia, l'aiuta,& rende vanc tuttequantc le diabolichc iniidtc. La noce '
d"oro,eh'aperta fomminiftra akrai lautillimemcnfe,oltre 1'efler fimbo-
lo della perfettione , & della bonta, vuol fignificare , che l'oro fi fi
abondanza in qualfi voglia luogo.ancorchc fterile, & che al rieco
non manca da viuere rnörbidamentc ncllc penurie mawgiöri.
V lntercffc con l'orecchieafiniIi,che non gode dclla dol-
cezza dell'armonia ,anzi l'abhorre.ci rapprefenra 1"A-
uaritia,& Ilgnotanza, chenon fi cutanodlPocfie,
ne 11 compiacciono di Mufichc. La trasforma-
tione dclla Fata & fue donzclle in bifee
adombra 1" abomincuole conditionc
delle bellezzc terrcne,& delle dc-
liric tcmporali, Icquali paiono
altrui in vifta belle , ma
fon piene di dirfornü-
ta, Sc, dl vcleno.

köstlichen c o n c e t t i s t i s c h e n P r e z i o s i t ä t e n n i c h t n u r i n Marinos
<Adone>, s o n d e r n a u c h i n < R o m e o u n d J u l i a > ?

E poco p a r ti q u e s t o ?
Credi t u d u n q u e ?
...Eforse ch'ella
II sa, n e p e r ö v u o l c h ' a l t r i r i s a p p i a
C h ' e l l a ciö s a p p i a ; or, s e ' l c o n s e n s o e s p r e s s o
C e r c h i di lei, n o n v e d i c h e t u c e r c h i
Ciö c h e p i u le d i s p i a c e ? O r , d o v e e d u n q u e
Questo tuo d e s i d e r i o di p i a c e r l e ? . . . '
'9 cf. <Aminla> II. 5. <Poesie> o.e.
Doch steht T a s s o a n e i n e m K r e u z w e g e c h t e r S p a n n u n g e n — i n s i c h p.601. Übersetzung: <Und wenig
scheint Dir das? / Glaubst Du also? /
selbst. K e i n m a n i e r i s t i s c h e r D i c h t e r I t a l i e n s i m 1 7 . J a h r h u n d e r t , ... Und vielleicht weiß sie es / Aber
erst r e c h t n i c h t M a r i n o , e r l e b t e i n e n ä h n l i c h e n , w a h r h a f t d ä m o n i - sie will nicht, daß andere es zu wis-
sen wissen / Daß sie es weiß; / Nun,
schen Konflikt. S o p a r a d o x es k l i n g e n m a g : n u r T a s s o u n d M i c h e l - wenn Du enthülltes Einverständnis/
angelo s i n d sich i n d i e s e r H i n s i c h t ä h n l i c h ; sie g e h ö r e n in I t a l i e n z u Von ihr suchst, erkennst Du. daß Du
das suchst, / Was am meisten ihr
Jen wenigen <Manieristen> v o n ü b e r z e i t l i c h e m W e r t e . D a n e b e n mißfallt? / Wo also / Ist dein Wunsch
m u ß m a n für I t a l i e n n o c h T i n t o r e t t o u n d M o n t e v e r d i n e n n e n .
zu gefallen?)

409
<Das G r a u e n wird schön>
<Das Suchen nach n e u e n Wegen>, so schreibt Tasso einmal, <bringt
m e h r Tadel ein als Lob.> In jäher Ver- und Besessenheit schreibt er:
<Dichtung ist Verblüffung; die freie P h a n t a s i e b e r a u s c h t sich im
Niegeschehenen; Unwahrheit ist dichterischer als Wahrheit, Ge-
schichte, Intellekt und Vernunft h i n d e r n n u r den Furor poeticus.)
<Das Grauen wird schön.>
Also: das <Widervemünftige> verschmilzt m i t d e m Idea-Begriff.
Damit neigt sich tatsächlich der platonische Idea-Goncetto schon
hinüber, hinüber in das n e u e J a h r h u n d e r t M a r i n o s . D a s steigert
sich bei Tasso. Bald liest man: <Der G e g e n s t a n d des Dichters muß
das Wunderbare sein, u n d zwar n u r das W u n d e r b a r e . ) Wir erin-
nern uns wieder an die fast wörtliche Formel von A n d r e Breton und
vielen anderen. Doch bleibt das W u n d e r b a r e bei Tasso noch Stoff,
bei allen formalen Manierismen, die er verwendet. Bei Marino, im
<säkularisiertem Concetto, soll in erster Linie die b l o ß e Form das
<Wunderbare> erzielen, wie auch i m m e r M a r i n o in <staunenerre-
genden> Mythen herumgesucht hat, u m a u c h stofflichen <Meravi-
gRoso> darzubieten. Diese Bruchstelle bei Tasso g e h ö r t zu den in-
teressantesten Ereignissen der europäischen Literaturgeschichte.
Tasso ist auch und vor allem ex profundis <modern>, mit seiner
Neigung zu <vorgängiger Angst>, zu erschütterter Preisgabe an das
Subjektive, zur Selbstaufgabe im H a l b d u n k e l eines schon dämoni-
schen Bildes der Schönheit. Dazu findet m a n in der Studie Ulrich
Leos viele Beispiele. Zwei davon wollen wir wenigstens zitieren, m
der Hoffnung, daß gerade durch eine n e u e Tasso-Lektüre die
<Moderne>, sofern sie noch Erschütterungen aus seelischen liefen
kennt und anerkennt, einer ihrer großartigsten historischen Legiti-
• A u s <Incertezza nel timore>.
U. L e o o.e. p. 14. Erinnert a n B a u d e - mationen zu begegnen vermöchte. Z u m Angsterlebnis:
laires <Sur le Tasse en prison d" E u -
gene l)elarroix>. Übersetzung: <Ich Io so che, n o n temendo
weiß, daß ich keine Angst h a b e n d /
Non avrei che temere,
Nur G r u n d zur \ n g s t hätte / Soviel
Wert iti e d l e m H e r z e n ich wohl Tanto valor in regio cor comprendo!
berge! / Aber d u r c h m e i n e n Willen
M a per lo mio volere
getrieben / H a b e ich m a n c h m a l
Angst / l ' n d d a n n b e r e u e ich, Angst Mosso, temo talvolta, e poi mi pento
g e h a b t zu h a b e n , und ich fühle / In D ' a v e r t e m u t o ; e sento
der Mitte m e i n e r Angst Trost entste-
h e n . / So stehe ich i m m e r in d e r In mezzo al mio timor nascer conforto;
Mitte zwischen Tod und Leben.» Cosi mezzo mi sto tra vivo e morto. 2 0
Der Mensch, das Symbol geradezu des Problematischen, D e n n ^ e
sich, wie Ebbe und Flut, in ewiger U n r u h e , in einem unbegrei 1
chen Wandlungsprozeß zwischen Geist u n d Natur. E r ist wie
Wasser. Nicht sein N a m e , sein Wesen ist < auf Wasser geschrieben)
(Keats). Und wer treibt dieses ewig bewegte Wasser.
"' Aus M o n d o creato>. U . L e o o.e.
p. .2^8. Übersetzung: «Und wer treibt E chi la spinge avanti,
es (das Wasser) voran. / W a r u m hört
es nie auf u n d hält nie ein? / W e l c h e s Perch'ella m a i cessi e n o n s'arresti?
sind seine G e f ä ß e u n d inneren H ö h - Quai sono i vasi e le spelonche interne,
len / Aus welchen es s t a m m t ? Und
wohin / Treibt es auf ewig so eilig Da cui deriva? E d a quäl loco affretta
seinen Lauf.'- Mai sempre il corso? 21

41O
16. M A N I E R I S T I S C H E
P R O GRAMMATIKER
Lyrik und Essayistik
Wir können allerdings die Kontinuität von <Manierismus> nicht
überzeugend belegen, wenn wir die damaligen Traktatisten nicht
kennenlernen, zumal damals — wie heute — Lyrik und Essayistik
verschwistert waren. Ein Bewunderer Tassos, Camillo Pellegrini,
uns schon bekannt, hatte, in einer älteren Schrift von 1584 (<I1 Ca-
raffa owero del epica Poesia>), zwar Tasso gegen die Attizisten der
<Crusca> verteidigt, aber ebenso die noch platonisierende Auffas-
sung des Concetto. Vierzehn Jahre später veröffentlicht Pellegrini
eine zweite Schrift, die wir schon genannt haben: <Del Concetto
Poetico> (1598), in welcher, wie wir uns erinnern, Marino als Ge-
sprächsleiter auftritt. Drei Jahre nach Tassos Tod ist die Wendung
vollzogen. Die Säkularisierung des Concetto zur sprachlichen Im-
manenz, zum dnneren Sprechen), ist nahezu vollendet. Wir stehen
auf einer Brücke zwischen Tasso und Marino, zwischen einem
noch transzendenten und einem immanenten Manierismus. Ver-
gessen wir nicht, daß diese Schrift um eine Generation älter ist als
die Traktate Graciäns und Tesauros. Sie steht zu beiden im glei-
chen zeitlichen Verhältnis wie etwa Rimbaud zu Apollinaire oder
Eluard. Fassen wir Forschungsergebnisse von Ulrich Leo zusam-
men: <Hier ist ausgerufen die endgültige Befreiung der Dichtung
aus der antik überlieferten Gemeinschaft mit der (attizistischen)
Redekunst, ihr uneingeschränkter Irrationalismus, ihre imma-
nente Autonomie auf dem Gebiete der Form.> Aus dem metaphysi-
schen Idea-Concetto ist ein <innersprachliches> Concetto gewor-
den, genau wie bei Zuccari aus der <Idea> ein <Disegno Interno.
Empfohlen wird jetzt, man solle (beim Lesen oder Betrachten)
bloße Gefühlsein drücke vermeiden, denn, so sagt es schon Camillo
1 ellegrini, <die Ergriffenheit verhindert das Bewundern>. Nur noch
die in artifizieller Weise gegensätzlich gespannte Sentenz (manie-
nstisches Concetto) wird zum Bindemittel des Wunderbaren, nicht
also die logisch <vernünftige> <Disposition> einer inhaltlich kohä-
renten Aussage und erst recht nicht die <Erschütterung> Tassos.222 22
Die Schrift <Concetti Divinissimi>
von Girolamo Gerimberto (Venedig
1562) wird man vergebens nach
«Manierismen» durchsuchen. Con-
cetti bleiben bei ihm kurze Formeln
einer rein rhetorischen Uberzeu-
Das <Seltene verhindern gungstechnik. AJle Versuche, den li-
terarischen Manierismus der Shake-
speare-Zeit gegenüber dem Manie-
e
s das findet sich - allerdings noch mit kritischen Vorbehalten - rismus in der bildenden Kunst, was
die Zeit von 1520 bis 1650 angeht.
Jeder vor Graciän und Tesauro. Der concettistische Manierismus <vor-zu-datieren>. schlagen fehl. Das
r
m Europa durch die bildende Kunst schon verbreitet worden, ist der Grund, warum wir in 'Die
wir erinnern uns an Parmigianinos Selbstbildnis und an die Welt als Labvrinth> zunächst den
Manierismus in der Kunst dargestellt
unsttheorie Zuccaris. Unser Hinweis auf diese Traktatisten-Lite- haben.
r
hat einen anderen historiographischen Sinn: immer wieder
e
n. zu belegen, daß unsere <Moderne> ihre <mittlere> Wurzel im
" anierismus zwischen Renaissance und Barock hat, ihre tiefste vi
aber in den graeco-orientalischen Kulturen der Antike.
ie Schrift, die wir noch erwähnen wollen, ist von Matteo Pere-
Me heißt <Delle Acutezze, che altrimenti Spiriti, Vivezze e
Coneetti si appellano>. Sie erschien zu Bologna und Genua im
wäre 1639, a\so m n d z e h n J a h r e
vor den berühmteren Traktaten
cians und Tesauros. Dieser Text löst für uns, ähnlich wie für 41 1
Archäologen, w e n n sie auf <archaische> u n d nicht auf <klassische>
Tempelreste stoßen, Entdecker-Freude aus. Wir wollen daraus,
da der Leser sich in dieser Begriffswelt n u n leichter zurechtfindet,
nur literarhistorische Concetti-<Fragmente> zitieren: L o b der <de-
formitä> (p.go), <gusto per la novitä>, A b n e i g u n g gegen das Mas-
senurteil (<guidicio populare>) (p. 12). Es gibt, wie schon zitiert,
sieben Quellen der acutezze: <Das Unglaubliche, das Zweideu-
tige, das Gegensätzliche, die dunkle M e t a p h e r , die Anspielung,
das Scharfsinnige, den Sophismus.> M a n m u ß das <Seltene> su-
chen, das Unerwartete. M a n m u ß : ein Konzert von Dissonanzen
schaffen. Die anormalen F i g u r e n der Rhetorik verhelfen uns zu
einem solchen <raro entimematico legamento>, zu einer solchen
antinaturalistischen Vereinigung des sich W i d e r s p r e c h e n d e n . Ge-
lobt wird das <nicht-wahre Wahrscheinliche^ das <künstliche Bild
des W a h r e m (p.113). Künstliche Vereinheitlichungen ergeben
wirkungsvolle <Deformationen> (p. 115). <Dinge soll m a n sagen,
die nicht n u r in den Worten liegem (p. 1 ig). E s gibt <maniere> des
Findens, durch welche <die Redekunst künstlich verändert wird>
(p. 120). Zu beachten ist <virtü entimematica>, die Kunst des En-
thymem.

Pestilenz des Unmaßes


War m a n sich auch damals bewußt, in einer Kontinuität der euro-
päischen Geistesgeschichte zu stehen, wie a u c h i m m e r m a n sie
werten mochte? Kehren wir zurück zu e i n e m so wichtigen Kron-
zeugen wie Matteo Peregrini. Wir begegnen bei i h m einer uns jetzt
schon vertrauten Dialektik wieder. Peregrini greift wamend'va alte
historische Bezirke zurück, als zögernder Literat einer Übergangs-
zeit. Damit schenkt er uns einen weiteren wertvollen Beleg. Er
stellt knapp u n d bündig fest, i n d e m er das M o d e r n e kritisch mit
dem Antiken vergleicht, schon die <Asianer> h ä t t e n das <giudicio>
vernachlässigt, also die Folgerichtigkeit rationaler Syllogismen
(p. 153). Er zitiert tadelnde Ä u ß e r u n g e n von Kaiser Augustus ge-
gen diese beunruhigenden Gesellen. Auch Petronius führt er an,
da er schreibt: <ex Asia commigravit>, aus Asien w a n d e r t es ein.
Was? <Die Pestillenz des Unmaßes!> (p. 154). H i e r wirkt wieder das
Urteil Quintilians weiter, der das Auseinanderfallen von <inge-
nium> und <iudicium> als eine Ursache für die Exzesse der Anti-
Attizisten ansah. Das ist wieder eine entscheidende Feststellung.
Das pararhetorische Concetto verzichtet nicht nur, wie wir wissen,
auf <persuadere> und <docere>, sondern auch auf <iudicium>, auf
Urteilskraft. Deswegen entsteht für Quintilian <das Affektierte),
<Geschwollene>, <Weithergeholte>, <Gesuchte>, <Extravagante>usw.
Unser konformistischer Essayist Peregrini ist also, ganz im Ge-
gensatz zu dem sich selbst verzehrenden Tasso, vorsichtig gewor-
H
Die Inquisition im älteren Sinne den. Diese Vorsicht hatte auch a n d e r e G r ü n d e . Inquisition ° und
wurde in Italien erst 1859 beseitigt.
Zensur paßten auf, und wir wissen u n d w e r d e n n o c h hören, dab die
Sie besteht heute nur noch als ober-
ste Instanz in Glaubenssachen (Kar- Kirche (Nachwirkungen des Konzils von Trient) allzu k ü h n e ästhe-
din.ilskongregation des hl. Offi- tische Extremisten als Ausdruck gefährlicher heterodoxer Glau-
ziums).
bensformen ansah. Peregrini h a t Grenzbezirke berührt- Lr obt
bald wieder Cicero u n d Quintilian, Erzattizisten. E r entwirft eine
antimanieristische, <schwarze Liste> von zehn <lasterhaften> acu-
tezze: <Kalte, verdrehte, infantile, leere, geschmacklose, untaugli-
che, törichte, verknotete, unverschämte, lächerlichem Zeitgenossi-
412 sche Dichter, die gerade diese <Fehler> für gut halten, seien einem
<Wahnsinn> verfallen. Doch steht es für ihn fest: <Künstlichkeit ge-
biert das Wunderbare>, es m u ß gesucht werden: die seltene Pro-
portion. Dafür gibt es <varie maniere>, so etwa Para-Logismen.
Wesentlich ist, daß man <schöne Dinge nicht findet, sondern
macht>. Im übrigen unterscheidet sich Peregrini dann nicht mehr
von Tesauro und Graciän. 24 Auch er lobt vor allem das logische 24
Matteo Peregrini (1595-1652),
Tesauro (1591—1667), (iraciän
Phantasieren mit Analogien, auch wenn ein Erzmanierist wie (1601-1658).
Francesco Fulvio Frugoni noch meint, er, Peregrini, biete Salz,
aber zuwenig Pfeffer. In einer späteren Schrift findet man Pere-
grini hingegen schon viel gepfefferter. Peregrini untersucht die
Quellen des <Ingeniums>. Es sind die <Ideen>. Aber jetzt haben sie
ihren überirdischen Ort endgültig verlassen. Die <Ideen> der Dinge
liegen <in unserem Busen>. Wie in einer großen <Mustermesse> la-
gern sie dort, oder wie Bleibuchstaben in einer Setzerei. Sie heißen
<Immagini> (Bilder) oder <Fantasmi>. Eindeutig begegnen wir hier
den <Phantasiai> Quintilians. Hier decken sich die Programme der
manieristischen Literatur wieder mit denen der manieristischen
Kunst. Auch er tadelt jetzt die antiken Autoren, weil sie die <Ur-
quellen> des Scharfsinns vernachlässigt hätten. Die Mode hat ge-
siegt, sie hat auch Matteo Peregrini besiegt. Von antiken Autoren
ist, wie für Tesauro und Graciän, Martial zum bevorzugten Mu-
sterautor geworden. Dessen Epigramme hätten die Architektur des
Concetto vorweggenommen: innere Gespanntheit, Kürze, Dunkel-
heit, Scharfsinn, Bilder der Logik. Allerdings ist der neue Concet-
tismus intellektuelle, aber arationale Epigrammatik. Martial er-
blickte das Licht der Welt im spanischen Bilbilis. In der Nähe, in
Belmonte beim Calatayud, wurde Graciän geboren. Mit Graciän
wollen wir einen kurzen europäischen Vogelflug über diese ebenso
hintergründige wie problemreiche manieristische Traktatenlitera-
tur - von damals — beginnen, wobei auch die nationalen Unter-
schiede zu ihrem Recht kommen sollen.

Vat er der m od ernen Bild ung

baltasar Graciän, der scharfsinnigste aller Traktatisten des


17.Jahrhunderts, empfiehlt <hieroglyphische> Concetti als Sinn-
bild der Schönheit schlechthin, der Schönheit allerdings, die man
mit dem Verstand genießen muß. Graciän hat den Concettismus
nicht anders als die uns bekannten Traktatisten definiert, doch ist
seine Originalität aus vielen Gründen unverkennbar, vor allem
dank der geistig so reichen Hintergründe des spanischen <Siglo de
ro>. Graciän hat die Begriffe der <künstlichen Korrespondenz>
korrespondencia) des Sich-Widersprechenden eingeführt, der <ge-
leimnisvollen Abwägung>, der <Konkordanz von Extremem. Von
ihm stammt die berühmte Definition des Concetto: <Es un acto del
endinnento, que exprime la correspondencia que se halla entre
•os objetos.> Graciän schuf die Ästhetik der <contraposiciön> und
<aisonancia>, die Lehre der <artificiosa conexion de los objetos>.
r
hatte allerdings das Glück, zu seiner Zeit unter seinen Lands-.
euten bedeutende Poeten zu finden. Bei diesem Reichtum con- Baltasar Graciän (1601 -1658)

iscner Lyrik in Spanien, an Hand der poetischen Labyrinthe


Vuevedo und Göngora, um nur diese zu nennen, konnte er sich
eher von Hemmungen befreien. Sein Traktat <Agudeza y arte de
i nio> ist insofern souveräner, entschiedener, klarer als diejeni-
seiner italienischen Vorläufer und Zeitgenossen, und dies er-
ucn, warum dieser Traktat immer wieder Forschung und
413
E i g e n h ä n d i g e r Brief von
Baltasar Graciän

:79 /*>¥*
c^u^ $Q <V/,/ ^ s ^ , , ^

Im Gegensatz zu seinen a n d e r e n
Schriften, so z.B. in Deutschland <E1
Politico> von Lohenstein 1672.
• H a n d o r a k e h von Sauter 1687. d a n n
1711, 1715, 1723 usw. bis 1838.
S c h o p e n h a u e r s Übersetzung 1862.
/.ahlreiche neue Auflagen bis h e u t e .
«Griticon 1708, 1710, 1721. von
Casp. Gottschling aus d e m französi-
schen Text. 1957 die hervorragende
Übersetzung von H.Studniczka. die
erste deutsche Übersetzung aus der
spanischen Originalausgabe (Ro-
wohlts Klassiker Bd. 2, H a m b u r g
1957). Zur Literatur: Fritz Schalk,
B.Graciän u n d das E n d e des Siglo
d e oro. Zeitschrift f. Rom. Forsch.
1940/41. B.Croce, I Trattatisti Ita-
liani del Coticettismo. In: Problem) Nachdenken angeregt hat u n d d a ß er zu e i n e m Katechismus des
di Estetica. o.e. p.309ff.: M e n e n d e z Manierismus geworden ist, w e n n er auch seltsamerweise, soweit
Pelavo, o.e. II. 555ff. Karl Borinski.
B.Graciän u n d die Hofliteratur in
wir sehen, in extenso noch nie übersetzt w o r d e n ist. 25 Graciän hat
D e u t s c h l a n d . Halle 1894. A n d r e vor allem durch seine anderen Bücher E u r o p a erobert. Er gilt
Rouveyre, Pages caracteristiques de
B. G r a c i ä n . Paris 1925. Z u Nietzsche
heute als der Vorläufer der e p i g r a m m a t i s c h e n u n d psychologi-
u. G r a c i ä n a u c h E. Eckertz. Nietz- schen Moralistik der La Rochefoucauld, L a Bruyere, Galiani, Jou-
sche als Künstler. M ü n c h e n 1910.
bert, Rivarol, aber auch Schopenhauers u n d Nietzsches. F ü r den
A E G . Bell. B. Graciän. Oxford
1921. Karl Vossler, Einleitung zum französischen Literaturhistoriker A n d r e Rouveyre ist Nietzsche zu
<Handorakel>. Stuttgart 1951. Paul seinem aphoristischen Stil von Graciän angeregt worden. Dieser
H a z a r d . Die Krise des europäischen
Geistes (1 ti8o— 1715). Hamburg <Homo Europeus> (Baldensperger) sei deswegen der <Vater der
1939. F ü r die U m w a n d l u n g , welche Moralisten). Borinski n e n n t ihn d e n <Vater der m o d e r n e n Bil-
die attizistische Rhetorik durch Gra-
ciän erfährt, vor allem E . R . Curtius dung).
o.e. p. 2 9 5 f r Geistesgeschichtlich Mit den kirchlichen Behörden hatte dieser v o r n e h m e , manch-
wichtige E r g ä n z u n g e n dazu in ei-
n e m n e u e n , a n r e g e n d e n Werk von mal blasierte Jesuit immer wieder Schwierigkeiten, ähnlich wie
Miguel Batllori. Graciän y el Ba- Göngora. Beide verhielten sich heterodox, schon deswegen wäre es
roeco. R o m 1958, p. 101 ff. Nach
Batllori hat G r a c i ä n die schon <ma-
falsch, Graciän oder Göngora als <barock> zu bezeichnen. Graciän
nieristische- Rhetorik der <Ratio hat ein modernes L e h r b u c h des M a n i e r i s m u s geschrieben. Darin
Studiorum» der Jesuiten von 1599
noch stärker <barorkisiert>. Die <Ra-
bietet er uns, außer einer Fülle von n e u e n konzisen Formeln - <p a "
tio S t u d i o r u m ) bleibt noch der radojas monstruos, agudisimos sofismas, crisis irrisorias, equivo-
N a c h a h m u n g s t h e o r i e treu. Graciän
cos, agudeza enigmatica, misteriosas alusiones, correspondencia
ersetzt sie d u r c h <agudo>. <ingenioso>
u n d «concepU». Ein Vorläufer Gra- nascosta> und <artificiosa discordancia> - a u c h ein P a n t h e o n ma-
ciäns ist der S p a n i e r Ximenes Patön. nieristischer Autoren. Als Vorbilder hat er a m häufigsten zitiert.
Sein Werk (1621) heißt bezeichnen-
derweise: <Mercurius Trismegistus>. Martial, Seneca, Göngora, M a r i n o , Guarini, Quevedo, J u a n Ma-
Auch G r a c i ä n erfuhr d e n Einfluß nuel, Mateo Alemän, Lope de Vega, Garcilaso, Luis d e Leon. Au-
des N e u p l a t o n i s m u s .
ß e r d e m hat er uns in seinen Z u s a m m e n h ä n g e n wieder auf den
Stildualismus hingewiesen, auf d e n attizistischen u n d den a s i a t i -
schen Stil, und sie zur G r u n d l a g e einer <modernen> Bildung ge-
macht. Graciän weiß a u c h d e n Wert des <lakonischen>, matürli-
chen> Stils zu schätzen. Seine Vorliebe gilt jedoch eindeutig dem
<asiato>, dem <künstlichen> Stil, d e m <Extrem> der <künstlichen
Schönheit> des <conceptuar>. D i e <Novitä> des M o d e r n e n wird also
mit ganz bestimmten Traditionen, die in der europäischen Kultur
nachwirken, in V e r b i n d u n g g e b r a c h t . <Der Asianismus ist die erste
Form des europäischen M a n i e r i s i n u s , der Attizismus die des euro-
päischen Klassizismus.> W i r berücksichtigen aber, d a ß der M a n i e -
rismus des 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t s im literarischen Asianismus
der Antike bestimmte Vorbilder fand, d a ß er in entscheidender
Weise von b e s t i m m t e n <Asianismen> angeregt w u r d e , insbeson-
dere von semitischen u n d a u c h arabischen Esoterismen, u n d d a ß
er unter dem m ä c h t i g e n D r u c k solcher I d e e n s t r ö m e das F o r m e n -
erbe der Antike in e n t s c h e i d e n d e r Weise veränderte. D a m i t w u r d e
der literarische M a n i e r i s m u s zwischen Renaissance u n d H o c h -
barock zum Vorläufer der zeitgenössischen <modernen> D i c h t u n g .
<Nichts ist poetischen, schreibt Novalis, <als die Ü b e r g ä n g e u n d
heterogenen M i s c h u n g e n . ) <Es k o m m t alles auf die Weise an, auf
die künstlerische W ä h l u n g s - u n d Verbindungskunst.>

Magazin
von <Denk-Manierismen>
Ober französische Traktatisten der Preziosität wird m a n bei R e n e
Brav Material finden, d o c h stellt die <Preciosite> n u r ein E l e m e n t
des literarischen M a n i e r i s m u s dar, n ä m l i c h das E l e m e n t der S u b - Athanasius Kircher
tilität, der gesuchten preziösen W e n d u n g . Concettismus gibt d e m (1601-1680)
französischen Esprit eine n e u e literarisch galante M e t h o d e , dieje-
nige der eleganten P o i n t e . F r ü h schon w e r d e n , wie Bray überzeu-
gend nachweist, in F r a n k r e i c h spanischer u n d italienischer Extre-
mismus durch klassizistische Vorstellungen gebändigt. D e r con-
cettistische Furore dämpft sich zur verspielten P o i n t e n k u n s t der
Salons, der H i r t e n g e d i c h t e u n d H i r t e n r o m a n e , bis er in der klassi-
schen Epoche des <Grand Siecle> w i e d e r S e n t e n z e n k u n s t i m attizi-
stischen Sinne wird. E i n e n T h e o r e t i k e r des d a m a l i g e n M a n i e r i s -
mus vom R a n g e Tesauros o d e r G r a c i ä n s h a t Frankreich im
26
1". Jahrhundert nicht gehabt. 2 6 G r ö ß e r e Tiefe wird m a n in der my- Nur einige Hinweise: P. Bou-
hours, La Maniere de bien I'enser.
stischen religiösen L i t e r a t u r des vorklassischen Frankreich finden. 1668. und Pensees ingenieuses.
Für England sind in erster L i n i e Joseph B e a u m o n t zu n e n n e n 1688. R. Francois. Essay des Mer-
veilles. 16^0,. Jean de Bussieres. Ca-
(1616-1699), vor allem seine <Psychodia Platonica> (1642), Bacons binetdes Muses. 1619. und Les Des-
<Essays> (1597 u n d 1625) u n d <De Sapientia Veterum> (1609); fer- criptions poetiques. 1649. Le
\lovne. Devises heroiques et mora-
ner William Cornwallis, <Essaies of C e r t a i n Paradoxes> (1616), les. 164g. und Entretiens poetiques.
und Robert J o h n s o n , <Essaies> (1601). 1665. Desmarets, Les Visionnaires.
Desaccords o.e. Vgl. auch Jean
Für die E r n e u e r u n g kabbalistischer Traditionen in diesen Zu- Rousset o.e.
sammenhängen w a r weit ü b e r D e u t s c h l a n d h i n a u s das seltsame
Werk P. Athanasius Kirchers zu e i n e m Ereignis geworden. Sein
Hauptwerk: <Oedipus Aegyptiacus>, erschien zwar erst 1652 bis
1655 i n Rom. g r o ß e Teile w a r e n a b e r vorher b e k a n n t . Im zweiten
Band: <Hieroglyphisches Gymnasium>, erfährt m a n alles Wissens-
werte über orientalische <Mysterien>, ü b e r eine spezifische m a n i e -
ristische Symbolik, ü b e r kabbalistische Schrift- u n d G e d a n k e n -
künste. <Die mystagogische Sphinx> (Band III) hingegen enthält
alle <dunklen> A u s s p r ü c h e d e r <Weisen>, des Zoroaster, Orpheus,
Tnsmegistos, P y t h a g o r a s u s w . D i e Kabbala, die Religionsge- 4*5
schichte der Hebräer und Araber werden erläutert, die <Weltsy-
steme> der Chaldäer, Syrer, Ägypter ausgebreitet. Im vierten Band
entfaltet sich das <hieroglyphische Theater>, alle Formelnkünste
der Geheimwissenschaften, der Inschriften, Amulette, Sphingen,
der magischen Beherrschungs- und Heilkünste, der Wundergär-
ten, <asianischer> Kulturgeschichte. Was Graciän uns für die
schwierige Literaturtheorie des Manierismus in formaler Hinsicht
gibt, bietet uns sein jesuitischer Ordensbruder Kircher in bezug auf
manieristische Denkformen. Eine alte und immer neue Aus-
gleichssituation von <Romania> und <Germania> in Europa ergibt
sich: die <Romania> entwickelt stärker die formalen Künste des
Manierismus, die <Germania> mehr die inhaltlichen Bezüge. Ro-
manischer Manierismus bildet vor allem die Künstlichkeit der
Form aus, germanischer Manierismus die Künstlichkeit der In-
halte. Romanischer Manierismus mündet in Sprachgeometrie, ger-
manischer in ekstatischen Expressionismus, in Traum- und Phan-
tasielandschaften. Kein Wunder, daß Kircher, wie schon erwähnt,
einen <Iter extaticum> schrieb, eine ebenso <kombinatorische> wie
<expressionistische> Weltraumfahrt. In Amsterdam erschien 1665
Kirchers <Mundus subterraneus>. Gesammelt werden darin Phä-
nomene eines mythologischen Untergrunds. Berggeister, Unge-
heuer, Riesen, apokalyptische Tiere, Sternbilder-Symbole, alles
Schattenhafte, Nächtliche. Seltsame Mythen! Der abenteuerliche
Geist Kirchers dringt bis China vor. Dieser unermüdliche manieri-
stische Enzyklopädist des 17. Jahrhunderts schrieb eine <Chinae
monumenta> (1667), und es ist sicher kein Zufall, daß er eine M a -
thematische Orgel> entwirft (1668), die in der Lage ist, alle Gegen-
sätze zu binden, so wie Arcimboldi mit einem ersten Farbenklavier
Farben mit Musik in <Korrespondenz> bringen wollte. Kirchers
Werk hatte damals Weltruf. Er hat für uns <Archontologien> (Ne-
bentitel seines <Turris Babeb von 1679), manieristische <Denkfor-
men> gesammelt, ähnlich wie Graciän, in unübertrefflich scharf-
sinniger Weise, die damaligen formalen Manierismen gesammelt
hat. Wie Graciän wurde Kircher verdächtigt. Er bewegte sich in
heterodoxen Grenzsituationen, doch auch er war ein Meister der
<ehrlichen Verstellung>. Seine Werke wurden von Päpsten und
Kaisern finanziert. Noch ließ man in exklusiven Gesellschaftskrei-

Babvlonischer Turm und


Pvramidenlanclschaft, aus <Turris
Babel» von Athanasius Kircher
sen seine Interpretationen <wunderbarer Esoterismen> gelten. Mit
der Aufklärung sank er in die geistesgeschichtliche Unterwelt. Die
Liberalen h a b e n das <Kirchermuseum> in R o m v e r k ü m m e r n las-
sen. Es war die großartigste <Wunderkammer> E u r o p a s .

Der Deutschen
<Poetischer Trichtern
Aber auch die deutsche <Essayistik> des 17. J a h r h u n d e r t s bietet
manche Beispiele für formale M a n i e r i s m e n . Sie sind allerdings aus
der Romaniguübernommen w o r d e n . J o h a n n Christoph M ä n n l i n g
haben wir bereits gewürdigt. Z u n e n n e n sind n o c h Schotteis «deut-
sche Sprachkunst> (1641) und P h i l i p p von Zesens <Norddeutscher
Helikom (1651). Dort erfahren wir z.B., d a ß das <Buchstabenspiel>
<ein Spiel mit den D i n g e n selbst> sei, da <Wort u n d D i n g in magi-
schem Bezug stehen>. Z e s e n b e z e u g t ausdrücklich (in <Rosamund>
von 1651), die <Kabbala> sei die Quelle für manieristische Sprach-
künste. Das H e b r ä i s c h e ist — wie für Kircher u. a. - die elementare
<Natursprache>. Dichter sind —für Zesen— alchimistische Scheide-
Künstler. Die deutsche S p r a c h e gilt als m i t der hebräischen zutiefst
verwandt. - In f o r m e n k u n d l i c h e r H i n s i c h t ist Schotteis «Ausführ-
liche Arbeit von der d e u t s c h e n Hauptsprache> für die Literatur
Deutschlands in dieser Zeit als eine <Sumrna philologica> zu be-
trachten. Auch M ä n n l i n g s <Expediter Redner> (1718) ist eine
Fundgrube. Die G r a m m a t i k wird zu einer m a g i s c h e n Logos-
Lehre. — Kronzeugen im d e u t s c h e n Sprachbereich sind für uns je-
doch die literarischen B e z i e h u n g e n von C a s p e r von Lohenstein
und diejenigen des P r ä s i d e n t e n des Breslauer Ratskollegiums,
Hofmann von Llofmannswaldau, sowie, vor allem, die ästhetischen
Traktate von Harsdörffer. L o h e n s t e i n hat, wie schon berichtet, ,
Graciäns <Politicon> (167g) übersetzt, H o f m a n n s w a l d a u M a n i e r i -
sten der Romania. I n e i n e m Vorwort dazu erklärt er: <Kein Volk in
Europa (hat) so zeitlich die P o e s i e zur A n n e h m l i c h k e i t u n d in An-
sehen gebracht wie die Welschen.> Sein Idol ist M a r i n o . D o c h ist
für das Deutschland dieser Z e i t der unerschöpfliche Traktatist des
Manierismus: G e o r g Philipp Harsdörffer (1607—1658) mit seinem
berüchtigten, aber leider viel z u w e n i g g e l e s e n e n u n d in extenso
noch immer nicht r i e u g e d r u c k t e n : <Poetischen Trichter, die Teut-
sche Dicht- u n d R e i m k u n s t o h n e Behuf d e r lateinischen Sprache
in sechs Stunden einzugießen> (drei Teile: 1647, 4 8 , 55). Graciäns
Traktat erschien (I.Teil) 1642; Tesauros <Aristotelisches Fernrohr>
im Jahre 1654. Harsdörffers W e r k steht zeitlich also g e n a u zwi-
schen den Werken seiner s p a n i s c h e n u n d italienischen Kollegen,
und das ist— a u c h w e n n wir s c h o n i n der tiefsten D ä m m e r u n g des
damaligen europäischen M a n i e r i s m u s stehen — für Deutschland,
für Nürnberg, kein schlechter T e r m i n .

<Deutscher Gegend
lieblicher Saft>
TDer Grund> der S i n n b i l d e r ist für Harsdörffer ein <Gemähl oder
eine verblümte B e s c h r e i b u n g ) . <Die E r f i n d u n g m u ß aus e i n e m
reinen Hirne fließen>. W i r wollen hier n u r einige bezeichnende
Formeln von Harsdörffer s a m m e l n , sozusagen P r o g r a m m p u n k t e
seiner Ästhetik. Diese müssen d a n n im Z u s a m m e n h a n g mit der
bisher dargestellten Traktatenliteratur beurteilt w e r d e n . Harsdörf-
fers <Poetischer Trichter> steht in einer geistesgeschichtlichen Be-
ziehung zu den Traktaten Graciäns und Tesauros. Seinem Werk
fehlt jedoch die geistige S p a n n u n g Graciäns u n d die universelle
Bildung Tesauros. Es hat weltmännische Z ü g e , aber einen provin-
ziellen Grundton. M a n könnte hier von e i n e m deutschbürger-
lichen, häuslichen, geradezu <innigen> M a n i e r i s m u s sprechen für
<teutsch-gierige> Leser.
Dichtung entsteht zunächst aus <poetischen Erfindungen), <von
den Worten her>. So könne m a n aus <Reymund> <reines Munds>
oder <Reyens Mund> machen. Die meisten u n s n u n bekannten
formalen M a n i e r i s m e n w e r d e n empfohlen, so Paronomasie,
Buchstabentausch (<Letterwechsel>), u n d es lasse sich dies <auf
mancherley Weise machem, so z.B. k ö n n e m a n , u m Namens-
A n a g r a m m e zu finden, <die Buchstaben des N a m e n s auf kleine
Hölzlein schreiben u n d so lange verrücken, bis eine halbe oder
ganze M e i n u n g herauskommt). So wird d u r c h Letterwechsel aus
<Die Fruchtbringende Gesellschaft) zu N ü r n b e r g , der unser hoch-
achtbarer Harsdörffer angehörte, <Deutscher G e g e n d lieblicher
Saft>. Solche <Wortgrifflein> oder <Worträthsel> in <Lustgedichten>
aus Buchstaben- und Z a h l e n - K o m b i n a t i o n e n h a b e n es mit (geo-
metrischen Meß-Künsten> zu t u n . Sie sind eindeutig kabbali-
stischer Herkunft.
In der <zehnten Stunde) der Trichter-Ästhetik Harsdörffers wird
für die poetische <Drexelbank> die M e t a p h e r verherrlicht, <aus wel-
cher viel hellschemende G e d a n k e n herfließen> (zu <hellschemen>:
helles, schemenhelles Schattenbild). <Das R a t s e h ist eben <dunkles
Gleichnis). Es führt z u m <Sinnspiel>. Dazu g e h ö r e n auch <Gesichte
und Traumgediehte>, also P h a n t a s i a i , M e r k m a l e der <Vernunft-
Kunst>, die <büffelhirniger P ö b e h , weil es sich u m <tiefsinnige P o e -
terey> handelt, nicht versteht. <Poeterey> u n d <Redkunst> sind <mit-
einander verbrüdert). <Seltene W o r t e n w e r d e n gelobt. P o e t e n sind
<Aenigmatores>. Das <Gleichnis> ist die <Königin> aller <Tropi>, be-
sonders wenn es sich u m eine <Gegenhaltung gleichständiger Sa-
chen) handelt (concordia discors). Seneca wird als <Meister in den
Gleichnissen) gelobt.
Harsdörffer bietet ein g a n z e s System von m e t a p h o r i s c h e r Künst-
lichkeit in alphabetischer Liste. N u r ein Beispiel: Metaphernfolge
zum «Dichten, Gottfried Benn v o r w e g n e h m e n d : <Mit seltner Re-
densart auch seltne S a c h e n schreiben. Es findet, bildet, weitet,
mahlet, stellet, setzet der P o e t , was nie gewesen ist, zu fassen seine
Lehre, dahin er abzielt. In H y p o c r e n e - F l u ß h a t er sich voll gezecht,
er ist der M u s e n Freund, die i h n a u c h wider R e c h t gefragt, o h n '
Morgengab.> Hier hört der b ü r g e r l i c h - h ä u s l i c h e M a n i e r i s m u s der
beiden ersten Teile des <Trichters> auf. Harsdörffer n ä h e r t sich n u n
seinen besten e u r o p ä i s c h e n Z e i t g e n o s s e n . U n d schließlich folgt,
am Ende des <Trichters>, eine k l e i n e A u s w a h l von <Emblemen>, die Totenmaske von Gottfried Beim
Harsdörffer, die der d e u t s c h e M a n i e r i s m u s besonders liebte. (Foto: Horst Binder)

17. ElVEBLEMATIK ALS


RÄTSELKUNST

Bild der Chiffre


Emblematik! Lyrische Concetti in oder m i t einer bildlichen Dar-
stellung (Embleme) u n d D e v i s e n (Heroldskunst) u n d I m p r e s e n
(Lebensmaximen) h a b e n — n a c h M a r i o P r a z — die D i c h t u n g u n d
Kunst des 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t s m i n d e s t e n s so stark beeinflußt
2
wie die Bibel. 2 ' Concettistische Zeitalter sind a u c h emblematische ' cf. Mario Praz. Studi sul Concet-
tismo. o.e. In englischer Sprache fiir
Epochen. Diese h e u t e fast vergessene L i t e r a t u r hat d u r c h Tau- die Warburg-Forschungen schon
sende von verborgenen Z u f l ü s s e n a u c h der D i c h t u n g u n d Kunst 1957 unter dem Titel: Stndies in
17th Century Imagery. Über histori-
von 1850 bis 1950 Motive, vor allem wichtige M e t h o d e n zur Rät- sche Zusammenhänge noch immer
selkunst, vermittelt. D i e drei Begriffe: E m b l e m , Devise u n d Im- ausgezeichnet: Ludwig Yolkmann.
prese stammen aus der i t a l i e n i s c h e n u n d spanischen Renaissance- Bilderschriften der Renaissance.
Leipzig 1925. Auch F..FV Curtius
Literatur. Graciän, Tesauro u n d Kircher empfehlen E m b l e m e , o.e. p. 350. Die philosophische Pro-
Sinnbilder mit oder o h n e Worte, i m m e r wieder. blematik der Embleme (auch des
Metaphorismus) stellt G.B. Vico
Bekannte E m b l e m e (als Bilder o h n e Worte) sind z.B. ein Öl- (i 668-1 744) dar in seiner 'Scienra
zweig für den Frieden, eine P a l m e für Beständigkeit. Ein Bild zu Nuova>. Ausg. Nicolini. Bari
1914-1941.
einem Sinnspruch k a n n a b e r komplizierter a u s s e h e n . Text: <Meine
Tränen offenbaren m e i n Feuer.) Bild: E i n A m o r schürt einen al-
chimistischen H e r d , d a r a u f eine Retorte, aus ihr fließen die Trä-
nen. Einfach gesagt: <Ich w e i n e aus g l ü h e n d e r Liebe.) Devisen
bzw. Impresen sind elliptische, k o n z e n t r i e r t e Concetti, die ein Ziel.
Wirken, Wollen einer P e r s o n o d e r einer Gemeinschaft meist in
Rätselform z u s a m m e n f a s s e n .
Einfaches Beispiel: suum cuique. Zahllose E m b l e m e u n d Devi-
sen fassen in gelegentlich a u ß e r o r d e n t l i c h sinnreicher Art Über-
zeugungen, Schicksale, g a n z e L e b e n s g e s c h i c h t e n und L e b e n s - 4*9
Die beflügelte Hand
Wenn man sich unbescnriftete Embleme der Shakespeare-Zeit
ansieht und sich vorstellt, daß auch manche damaligen Zeitgenos-
sen ihre literarischen Bezüge, d. h. den dazugehörenden Text nicht
immer kannten, so muß man zugeben, daß damals wie heute eine
sehr speziell manieristische Emblematik den Betrachter immer
wieder vor kaum noch auflösbare Anigmen stellte, wenn auch die
Eingeweihten immer Bescheid wußten und wenn auch die <Rätsel>
-damals-immer als Rätsel gedacht waren, auf die es eine konven-
tionelle Antwort geben mußte. Beispiel: Auf einer Wiese sieht man
lauter lächelnde Kinderköpfe. Ein beflügelter Amor läßt aus der
linken Hand etwas zunächst nicht Erkennbares aufs Gras gleiten.
Der dazugehörende Text würde schlicht lauten: <Wunderbarer Sa-
men der Liebe>. Aus diesen Emblemen haben im 17. Jahrhundert
aber viele Dichter nicht nur ihre <obskuren> Metaphern bezogen.
Sie haben damals schon gemalte Embleme zu lyrischen Concetti
zurück- und umgeformt. In einem Sonett von Thomas Campanella
findet man die Verse: <Und wenn mich manchmal das große Ge-
wicht niederzieht, so reißen mich die Flügel hinweg vom harten
Boden.> Flügel? Welche Flügel? Schon in einer der ersten großen
Emblemensammlungen Europas, in den <Emblemata> (1534) des
Andreas Alciatus, findet man zu dem Text: >Paupertatem summis
ingeniis obesse, ne provehantur> eine menschliche Figur, die eine
Hand an einen schweren Stein gekettet, die andere, erhoben, mit
Flügeln versehen. J. B. Bouhard bringt in seiner <Iconologia> (1759)
ein ganz ähnliches Bild, mit folgendem Text: <Armut, für das Ta-
lent nicht förderlich). Was ist auf diesem langen Weg geschehen?
Die Literaturhistoriker, welche die emblematische Literatur nicht
kannten, haben an dieser <beflügelten Hand> lange herumgerät-
selt. Sie blieb für sie ein Rätsel, pure A-Logik, ein unauflösbarer
<misterioso equivoco> (Graciän). Bei Alciatus ist das Emblem noch
Sinnbild für den notleidenden Geistigen, der sich jedoch immer
durch seine Phantasie aus dem Alltag befreien kann. Bei Cam-
panella, der von diesem Emblem angeregt ist, werden die Nur-
Flügel und das Nur-Gewicht zum Symbol des eingekerkerten
Menschen, der durch geistigen Aufschwung seine Eingesperrtheit
innerlich immer überwinden kann. Nicht nur die Beziehung Con-
cetto-Emblem wird durch solche Gegenüberstellung klar. Es wird
vor allem deutlich die weitere Verrätselung der Dichtung durch die
Aufnahme von Emblem-Fragmenten. Dieser Prozeß aber hat für
die zeitgenössische moderne Dichtung zentrale Bedeutung.
Sinn und Zweck? Ursprünglich Differenzierung der Aussage,
Streben nach ungewöhnlichen Korrespondenzen, vor allem Befrie-
digung eines uralten Menschheitstriebs: Rätselstellen und Rätsel-
lösen. Aber auch mehr: durchaus beschwörende Kraft allein schon
der Rätselfrage und persönliche <Erlöstheit> bei Rätsellösung. Hui-
zinga hat überzeugend nachgewiesen, daß der kosmogonische
Rätselwettstreit ursprünglich zum religiösen Kult gehörte. Fried-
rich Schlegel verteidigt das <Unverständliche> des Rätselhaften ge-
radezu leidenschaftlich. <Wahrlich>, so schreibt er in einem Essay
über die <Unverständlichkeit>, <es würde euch bange werden, wenn
die ganze Welt, wie ihr es fordert, einmal im Ernste durchaus ver-
ständlich würde. >
In der Shakespeare-Zeit mischen sich in der Emblematik Magie,
Mystik, Gesellschaftsspiel, literarische Didaxis und religiöse Er-
bauung. Und heute? Auch Sinnbild- und Heroldskunst sind säku-
larisiert worden. Wir finden sie - außer in Kinderbüchern und in 421
Nonsense-Versen vor allem in der Publicity, im Reklamewesen.
Was aber ist der <traumhafte> C h a r a k t e r (in e i n e m Teil) unseres
zeitgenössischen Werbe- u n d Abwehr-Wesens? Werbezauber ge-
genüber d e m Käufer, Abwehrzauber g e g e n ü b e r der Konkurrenz.
Wodurch wirkt er <magisch>, formal gesehen? Meist durch seine
überraschende, <stupore>-erzeugende elliptische Form, also durch
<wunderbare> (meraviglia), schockerzeugende Abkürzung, Zu-
sammenziehung, verrückende Z u s a m m e n p r e s s u n g . Wieder fes-
selt das <Abstruse>, die elementaren Vereinigungen entferntester
Gegensätze. I m Falle alter u n d n e u e r E m b l e m a t i k heißt die discor-
dia Concors jedoch nicht 2 X 2 = 5, sondern 2 X 2 = 3.
Die erste poetisch-manieristische D a r s t e l l u n g der orientalisch-
antiken Hieroglyphik: die <Hypnerotomachia Poliphilb von Fran-
cesco Colonna ist 1499 bei Aldus M a n u t i u s in Venedig erschienen.
Ein T r a u m r o m a n mit Holzschnitten, ein Bericht über Traumbil-
der, die der verliebte Poliphilus erlebt. In der Shakespeare-Zeit galt
das Werk als eines der faszinierendsten B ü c h e r E u r o p a s . Hinzu
k o m m e n die <Hieroglyphica> des Horus Apollo, angeblich aus dem
Ägyptischen übersetzt; Zeit: 4. bis 2. J a h r h u n d e r t vor Christi. Die
Auslegungen der Hieroglyphen sind zwar falsch, aber der Manie-
-'* Willibald l'irkheimer übersetzte rismus fand an den <emblematischen> Beispielen Gefallen. 2 8 Diese
de«. 1 _|üro,H,llo. ins j ^ ^ j D » " » Werke wirken - unterirdisch - bis h e u t e weiter. Sie gehören zu den
illustrierte das Werk. ct. vmkmann o
o.e. Dwu das <Geheunbild> Maxi- Musterbüchern des M a n i e r i s m u s .
miKan» von Dürer. Beispiele für <emblematische> P s e u d o - H i e r o g l y p h e n aus dem
y^Horapollo: <Biene = Volk>, <Auge = Gott>, T l i e h e n d e r Kranich =
Mensch, der u m göttliche Dinge weiß>, <Schlange, die sich in den
Schwanz beißt = Welt>. Der so oft g e n a n n t e Marsilio Ficino, der
Begründer der <Idea>-Lehre, hat die emblematische Hieroglyphik
aufmerksam studiert. 1483 gab er eine verkürzte Übersetzung des
Werkes des Jamblichus über die ägyptischen Mysterien heraus. Fi-
cino meinte, Hieroglyphen seien Abbilder der göttlichen Ideen der
Dinge. Damit haben wir eine weitere Beziehung: die <Idea>-Lehre
wird nicht n u r durch den alexandrinischen N e u p l a t o n i s m u s ange-
regt. Sie erhält entscheidende Impulse d u r c h die damalige Begeg-
n u n g mit der rätselsüchtigen <asianischen> Antike. F ü r Blaise Pas-
cal, einen der ingeniösesten Geister Frankreichs, erst Erfinder,
dann unvergleichlicher u n d nicht m e h r übertroffener religiöser
Deuter der Mysterien im <Herzen> der M e n s c h e n , ist das Alte Te-
stament eine <Chiffreschrift>.
Rätselschriften, Rätselbilder eroberten u n d b e z a u b e r t e n das Eu-
ropa der Shakespeare-Zeit! U m 1600 erreichte die Poliphilus-
M o d e einen H ö h e p u n k t . Bezeichnenderweise erschien 1600 in
Frankreich das Werk unter d e m Titel: <Les riches Inventions>, wo-
mit das Werk als Schatzkammer für abstruse emblematische Kom-
binationen schon damals hinlänglich charakterisiert ist. Von E m -
blemen und Devisen schwärmt m a n an allen intellektuellen Höfen
Europas, so wie m a n heute in Salons oder B o h e m e - S t u b e n über
ihre t r a n s p o n i e r e n d e m Nachfahren in E n t z ü c k u n g gerät. P.Bou-
hours schrieb in seinem Buch <Ariste et Eugene> (1671), es sei die
Devise so reizvoll, weil sie den Geist <mit d e m Essentiellen n ä h r b .
Im gleichen J a h r 1600 fügt Beroalde de Verville seiner Überset-
zung der <Hvpnerotomachia> eine Liste von Symbolen bei, die er
nennt: <Receuil Stenographique>. Stenographie? . . . W i r erinnern
an unser elliptisches <Concetto>: 2 X 2 = 3. E i n e tiefe seelische Er-
schütterung k a n n demzufolge in e i n e m elliptischen, rebusartigen
E m b l e m so abgekürzt werden, d a ß es uns h e u t e <surreal> erschei-
nen könnte. In H e r m a n n H u g o s <Pia Desideria Emblematis> (Ant-
422 werpen 1624) findet m a n die emblematische Illustration eines my-
<Sklavische Willkür>
Besser als Novalis k a n n es für u n s n i e m a n d sagen: <Dem freien
Willen steht die Grille, die sklavische Willkür, der Aberglauben,
die Laune, die Verkehrtheit, die d u r c h lauter Zufälligkeiten b e -
stimmte Willkür g e g e n ü b e r : d a r a u s g e h t die T ä u s c h u n g hervor.>
Auch Schopenhauer h a t ü b e r vergewaltigt E m b l e m a t i s c h e s (und
Allegorisches) sein g r i m m i g e s Urteil gefällt: <So wird es vollends
unerträglich, w e n n es so weit abführt, d a ß die Darstellung gezwun-
gener und gewaltsam h e r b e i g e z o g e n e r D e u t e l e i e n in das Alberne
fällt. >5Ü Dabei war S c h o p e n h a u e r kein <Klassizist>. Bekanntlich
50
cf. <IJie Welt als Wille und Vor-
stellung). Ausg. Brockhaus. Leipzig
liebte er Baltasar G r a c i ä n . D e n <Criticön> bezeichnete er als (un- 1958, Bd.I. p. 281. Auch eine War-
vergleichlich). W a r u m ? Weil er der <Einkleidung> von <Wahrhei- nung an die neuen Interpreten des
nicht nur noch zur Belustigung der
ten> diene. W i r m ü s s e n u n s d a r a n g e w ö h n e n : A u c h der <Manieris-
Künstler <Interpretierten>. «Hinein-
mus> unterliegt d e m K r i t e r i u m der W a h r h e i t u n d Echtheit. G r o ß e interpretiertem.
manieristische Vernunft-Kunst u n d Vernunft-Dichtung h a b e n
eine Gesetzlichkeit des K ü n s t l i c h e n g e k a n n t u n d a n e r k a n n t .
Bevor wir zu e i n e m n e u e n H a u p t t e i l ü b e r g e h e n , wollen wir die
einzelnen Glieder dieses Abschnitts n o c h e i n m a l verknüpfen, den
Leser an unsere concettistische B e i s p i e l s a m m l u n g im A n h a n g
erinnernd. P a r a - R h e t o r i k u n d M e t a p h o r i s m u s (im Sinne vor allem
der alogischen O p p o s i t i o n s - M e t a p h e r ) führen z u m Concettismus.
Er geht von Italien aus u n d verbreitet sich ü b e r ganz E u r o p a . Es
gibt im 17. J a h r h u n d e r t eine auffallende Ähnlichkeit concettisti-
scher Ästhetik in m a n i e r i s t i s c h e n Traktaten ü b e r Kunst u n d in m a -
nieristischen Traktaten ü b e r L i t e r a t u r . Sie bezeugt die epochale
Tiefe und Weite dieser geistigen P h ä n o m e n e , sie erklärt ihre Wei-
terwirkung bis h e u t e . Die Verwandtschaft von Concetto u n d
Emblem im d e m S i n n e , d a ß ein Concettto zu e i n e m E m b l e m u n d
ein Emblem zu e i n e m C o n c e t t o w e r d e n k a n n , h a b e n wir durch
knappe Umrisse a n g e d e u t e t .
Für unsere U n t e r s u c h u n g e n ü b e r G r u n d e l e m e n t e des Manieris-
mus in bezug auf die P r o b l e m a t i k des jeweils <modernen>, d. h. be-
wußt antitraditionalistischen M e n s c h e n , ist - was Concettismus
wie Emblematik a n g e h t — das Verbergen unmittelbarer, matürli-
cher> Bezüge ein e n t s c h e i d e n d e r Wesenszug. W e n n (im kunstphi-
losophischen Sinne von Weischedel) <im G a n z e n des Seienden u n -
ter die Unverborgenheit i m m e r Verborgenheit gemischt> ist, so
ergibt sich, an H a n d von C o n c e t t i s m u s u n d E m b l e m a t i k , eine ent-
sprechend wesentliche U n t e r s c h e i d u n g von Klassik u n d Manieris-
mus. Das Sein lichtet sich für d a s <klassische> Seinsverständnis i m
Augenfälligen, Natürlichen, verbirgt sich aber in der A n w e n d u n g
des Nicht-Natürlichen. I m M a n i e r i s m u s ist es g e n a u umgekehrt.
Das Sein lichtet sich für das m a n i e r i s t i s c h e Seinsverständnis im
nicht unmittelbar Sichtbaren, i m A n t i - N a t ü r l i c h e n , da m a n glaubt,
es verberge sich im N u r - N a t ü r l i c h e n . Allerdings ist Klassik bzw.
Attizismus nicht n u r <Lichtung> u n d M a n i e r i s m u s bzw. Asianis-
mus nicht n u r <Verbergung>. Beide <erhellen> u n d <verbergen>
gleichzeitig, jeder auf seine W e i s e .
Die manieristische A u s d r u c k s g e b ä r d e erschöpft sich nicht in ly-
rischer Vernunft-Kunst. Sie entfaltet sich in e i n e m vielfältigen
Reich der P h a n t a s i e . D i e <reine> P h a n t a s i e wird ihr T h e m a - die
Musik; der M e n s c h in fiktiver F i g u r ebenso - auf der B ü h n e , im
Roman - u n d schließlich der l e b e n d i g e M e n s c h a u ß e r h a l b aller
Fiktionen. D a m i t sind u n s e r e n ä c h s t e n Schritte angedeutet.

425
VIERTER TEIL

Der Mensch
als künstlerische
Mktion

18. M U S I Z I S M U S

Musik:
<Aus sich selbst Erfinderin)
"T IT 7" er vor allem Freiheit sucht, wird bald extreme Freiheit
1 / 1 / wünschen, aber er wird sich allmählich, je mehr seine
V V Freiheitsphantasie sich entfesselt, nach dem Zauber stren-
ger, ja geradezu übermenschlicher, unmenschlicher Ordnungen
sehnen. Diese Mischung von hitzigem Übertreiben und eiskalter
Reduzierung ist ein Grundgesetz manieristischer Musik. Aber es
führt uns die Begegnung mit manieristischer Musik, zu der wir uns
jetzt anschicken, um eine weitere Stufe hinaus aus den Zusam-
menhängen der expressiven Wortgeometrie, die wir als ein Kenn-
zeichen manieristischer Lyrik definiert haben. In der poetischen
Vernunft-Kunst aller Zeiten tritt uns ein artifizielles Zwischenreich
entgegen. Zwischen Natur und Geist bewegt sich, in dieser Wortal-
chimie, der Mensch oft nur noch wie ein Schatten. Gelegentlich
verschwindet er vollends in diesen dann nicht selten mystischen,
einzigartigen Wort-Figurationen. Diese Wortreigen glitzern dann
wie Sternbilder in einem Kosmos ohne Mensch. In der Musik mag
die Freiheit der Phantasie größer erscheinen, sie hat es aber mit der
Sinnlichkeit des Gehörs zu tun, sie muß sich zwingen, der Gefahr
bloß tönender Abstrakta auszuweichen, wenigstens in gesellschaft-
lich noch homogenen Situationen. Solange Menschen Tonkompo-
sitionen ihrer selbst noch so problematischen Subjektivität sinnvoll
anpassen müssen, solange Kombinationen von Tönen das
Menschliche zu spiegeln haben, und zwar so, daß es überhaupt 427
noch erkennbar werde, behält die Musik also einen elementaren
anthropogenen Sinn.
Mit einer Darstellung über <manieristische> Musik nähern wir
uns dem Kernraum des Labyrinths, s e i n e m Schöpfer, d e m Ur-Er-
finder, dem dngenieur damne> Daidalos, also e i n e m Menschen
wenn auch einem mythischen. Dieser gleichfalls ebenso histori-
sche wie phänomenologische Exkurs über d e n <Musizismus> der
manieristisehen Welt leitet über, wie bereits angedeutet, zum
Menschen ah fiktive Figur auf der manieristischen B ü h n e und im
manieristischen R o m a n . Im Schlußteil w e r d e n wir d a n n nur <äs-
thetische> Bezüge verlassen: der l e b e n d e , a t m e n d e Mensch, wir
wiederholen es, soll d a n n als <Thema> des M a n i e r i s m u s in einer
bestimmten <Spiegelkammer> sichtbar w e r d e n , die wir hier noch
nicht näher kennzeichnen wollen. Auch die Labyrinthik hat, wir
sagten es, Methode. H ö h l e n k u n d e o h n e Systematik w ü r d e den im-
m e r strapazierten Besucher solcher <magischen> Unterwelten un-
nötig überfordern. Jetzt stehen wir auf e i n e m n e u e n breiten Pfad.
Die unterirdischen Landschaften, die sich u n s jetzt erschließen,
werden uns i m m e r vertrauter werden, w e n n wir a u c h auf manche
Überraschung gefaßt sein müssen.
Die Musik lehrt den Dichter zaubern u n d verzaubern. Das ge-
hört schon z u m ästhetischen Credo M a r i n o s . Von der Musik, so
legt er im <Adone> dar, dernt m a n Akzent u n d Wort u n d Auflocke-
r u n g der Fabeb. <Ohne sie bleibt das Concetto inhaltsleer, bar der
Anmut und arm an Gefühl.> Musik ist die höchste der Künste, sie
ist <aus sich selbst Erfinderin>. Sie ist die Zwillingsschwester der
Poesie. Die Dichtung erhält d u r c h sie <Fug u n d Maß>. Gute Ge-
dichte sind Verse von musikalischer M a g i e . M u s i k h a t einen v e r -
zaubernden und magischen Sinn>, u n d sicher sind die besten Verse
Marinos diejenigen, die, u n a b h ä n g i g von i h r e m Inhalt, durch ih-
ren Klang m e h r <Musik> sein wollen als <Poesie>. F ü r Richard Cra-
shaw, den marinistischen <Metaphysical> E n g l a n d s , ist das ganze
Universum Musik (<AU things that a r e . . . are m u s i c a b ) . Es ist dies
so gemeint: alles Klingende, M u s i k u n d Sprache, ist expressiv, es
gibt Affekte wieder, es spiegelt, nicht etwa n u r in Melodie und Har-
monie, sondern schon als reines T o n - P h ä n o m e n , akustisch Stim-
mungen, Träume, Leidenschaften, Schmerz u n d Freude der Men-
schen, und gerade dies wird damals <entdeckt>: die Expressivität
des Klanges. <A11 things are m u s i c a b weist hier also nicht im pytha-
goreischen Sinne aufklingende S p h ä r e n h a r m o n i e .
Die Idee der Klang-Poesie aus d e m Geiste der M u s i k hängt mit
der Umwälzung zusammen, die sich —wie diejenige im Rereich der
Kunst —in der Musik des 16. J a h r h u n d e r t s vollzog, a u c h w i e d e r v o n
Florenz aus. Diese Verschwisterung von Wort u n d Klang im Sinne
Marinos hat den lyrischen <Musicisme> angeregt, der von Baude-
laire über Rimbaud u n d M a l l a r m e bis Joyce die <abstrakte>, <evo-
kative> Dichtung entstehen ließ, diejenige Poesie also, die ohne
Rücksicht auf Mitteilung und Inhalt d u r c h d e n bloßen Sprach-
klang im Leser besondere Bewußtseinszustände erzeugen will.
<La Musique souvent m e prend c o m m e u n e mer!> So lesen wir in
Baudelaires Gedicht <La Musique>, aber sie, die Musik, ist dann
auch wie eine <ruhige Fläche>, wie <ein großer Spiegel der Ver-
zweiflung^ W i e Crashaw hört R i m b a u d überall Musik. Verlaine
verlangt: <Musique avant toute chose>, u n d M a l l a r m e bekennt mit
einem lakonischen Satz: <Ich m a c h e Musik.> E b e n s o kategorisch
stellt einer der scharfsinnigsten D e u t e r der n e u e s t e n deutschen Ly-
rik, Hans E g o n Holthusen, fest: J e d e s Gedicht (zielt) auf ein freies,
zweckloses, motivisch nicht m e h r g e b u n d e n e s Figurenspiel der
Sprache, ist d e r lyrische A u s d r u c k von allen poetischen Kunstfor-
raen, am engsten b e n a c h b a r t d e m reinen Form-Sein der Musik.>
James Joyce h a t m i t allen e r d e n k l i c h e n musikalischen Mitteln
sprachlich <komponiert>. I m Kapitel XI des <Ulysses> wird, in d e r
Höhle der Sirenen, eine F u g e per canonem mit sprachlichen L a u -
ten reproduziert. Sie e n t h ä l t <Triller, Staccati, Glissandi, Martel-
lati, Portamenti, Pizzicato.
Halten wir H o l t h u s e n s A u s d r u c k fest: D i c h t u n g als motivisch
«nicht mehr g e b u n d e n e s F i g u r e n s p i e l d e r r e i n e n Musik>. Analog
hierzu könnte m a n a u c h die Revolution des musikalischen M a n i e -
rismus als ein motivisch nicht m e h r g e b u n d e n e s Figurenspiel d e r
reinen Poesie b e z e i c h n e n . Sie wird a m stärksten sichtbar in d e r
Madrigal-Kunst, d e r d a m a l i g e n manieristischen musikalischen
Kunstform, die echtem <irregulärem> A u s d r u c k s z w a n g gehorchte.

Madrigalistik
Das poetische u n d d a s m u s i k a l i s c h e M a d r i g a l sind concettisüsch.
Bleiben wir zunächst bei d e r poetischen Form. U m 1500 findet
man in Italien erste M a d r i g a l - G e d i c h t e . 1 Sie w e r d e n aus zwei bis 1
Der Ursprung des Namens ist
unklar. <Mandriale> zu onandriai
drei Terzetten von elfsilbigen Versen gebildet. D i e R e i m o r d n u n g (Herde) stellt Vossler in Frage. Viel-
ist variabel. D i e d e h n b a r e F o r m wird i m m e r freier. I m 16. u n d leicht aus verballhornt •materiale>.
17. Jahrhundert gehört M a d r i g a l - D i c h t u n g zur M o d e des m a n i e r i - d.h. als Materie zu musikalischen
Figuratioiien! cf. Karl Vossler. Die
stischen Zeitalters — wie das lyrische Concetto, wie die damalige Dichtungsformen der Romanen.
manieristische M a d r i g a l - M u s i k , die n u n alle E l e m e n t e d e r Stuttgart 1951, p. 207 ff.
menschlichen P h a n t a s i e zu v e r e i n e n sucht: v o m E r h a b e n e n bis
zum Grotesken, von der p h a n t a s t i s c h e n A r a b e s k e bis z u m surrea-
len Traumbild, v o n d e r g a u k l e r i s c h e n Tier- u n d M e n s c h e n s t i m -
men-Imitation bis zur m y s t i s c h e n <Incantatio>, u n d all dies findet
man u. a. in W e r k e n Ravels u n d Strawinskys wieder." Lyrische und 2
cf. Maurice Ravel. Histoires Natu-
musikalische M a d r i g a l - K u n s t sind concertistisch, also in erster Li- relles (1906). und Igor Strawinsky,
LeChant du Rossignol (1914).
nie virtuose Kombinatorik, artistische Vernunft-Kunst. Musikali-
sches und lyrisches M a d r i g a l g e h ö r e n z u r manieristischen Kunst
des gewollt Irregulären, d . h . d e s Labyrinthischen. Das h a t m a n
schon im 16. J a h r h u n d e r t e r k a n n t . D a z u sagt Vossler das b e m e r -
kenswerte Wort: <Man darf d a s M a d r i g a l geradezu als den leibhaf-
tigen Übergang von d e r s t r o p h i s c h e n zur völlig freien Dichtungs-
form bezeichnen.) Leibhaftig! M a n verzeihe das Wortspiel. Musi-
kalische M a d r i g a l - K u n s t ist, w a s o r n a m e n t a l e Verspieltheit u n d
dämonische P h a n t a s t i k a n g e h t , f ü r w a h r Kunst des Leibhaftigen.
Diese Kunst des lyrisch-musikalischen <Figurenspiels> fällt zeit-
lich zusammen m i t d e m florentinischen F r ü h m a n i e r i s m u s in der
Malerei, mit d e m Ü b e r g a n g v o n d e r klassischen Rhetorik zur m a -
nieristischen P a r a - R h e t o r i k in der D i c h t u n g Tassos. E i n e r der ver-
wegensten M a d r i g a l - K o m p o n i s t e n , D o n Carlo Gesualdo, Fürst
von Venosa (1560—1614), ist ein F r e u n d Tassos. Robert H a a s
rühmt seinen «unerhört h i n r e i ß e n d e n Klangzauber, die Affektge-
walt und Bildhaftigkeit in s e i n e n genial-bizarren Werken>. Im
Werke des drei J a h r e n a c h P o n t o r m o s Tod g e b o r e n e n L u c a M a -
renzio ( 1 5 6 0 - 1 5 9 9 ) findet m a n e i n e n weiteren H ö h e p u n k t des
madrigalistischen M a n i e r i s m u s . W i e G ö n g o r a für die Dichtung, so
wird er <der süße Schwan> d e r M u s i k g e n a n n t . D i e Struktur des
Madrigals wird in F r a g m e n t e aufgesplittert u n d durch n e u e
Tonfigurationen w i e d e r z u s a m m e n g e s e t z t , o h n e erkennbaren
Mittelpunkt, in s c h w e b e n d e r , v e r s c h w e b e n d e r Affekt-Spiegelung.
Kühne Akkorde u n d v e r w e g e n e M o d u l a t i o n e n klingen erstaunlich
429
<modern>. Die neue Farbchromatik Pontormos ähnelt der Ton-
chromatik Marenzios. Beide gleichen sich auch als <saturnische>
Typen. War Pontormo einer der ersten <peintres maudits>, so Ma-
renzio einer der ersten <musiciens maudits>.
Der esoterische Madrigal-Kult entstand in Italien also zur Zeit
der Pontormo, Rosso Fiorentino, Parmigianino und Beccafumi,
und er entwickelt sich bald zu einer hochartifiziellen <musica reser-
vata>. Wenn Marino sagt, es seien Musik und Poesie Zwillings-
\ schwestern, so meint er madrigalistische Musik und concettistische
Poesie, manieristische Kompositionen und manieristische Dich-
tungen, und diese Beziehung wiederholt sich im 20. Jahrhundert
von Strawinsky bis zu seinen Epigonen. Auch damals standen sich
<stylus antiquus> und <stylus modernus) gegenüber. <Musica an-
tica> und <musica moderna> bekämpfen sich. 3 Der <stile concitato>
5
Vincenzo Galilei schrieb 1581 ei-
nen Traktat (Dialogo della musica
Urtica e tnoderna>. cf. auch: A.Ein- (aufreizender Stil) eroberte sich mit <Capricci stravaganti> und
stein, Augenmusik im Madrigal. mit <Consonanze stravaganti> die Herzen der jungen Generation.
Zeitschrift für Int. Musikgesch. XIV',
191 i-191 ^, und Th. Kroyer, Die An- Dissonante Melodiensprünge, verwegene Chromatik, kühne
fange der Chromatik im italieni- Dissonanzen, willkürliche Instrumentierungseffekte, Synkopen-
schen Madrigal d. 16. Jahrhunderts.
1902.
Rhythmik, verminderte Tonschritte und gesuchte querständige
Wendungen erregen an allen Fürstenhöfen Europas Aufsehen.

Musica Poetica>
Einer der Komponisten, die zur sogenannten <Accademia Came-
rata>, dem Kreis um Giovanni de'Bardi in Florenz, gehörten, Giu-
lio Caccini, schreibt <Nuove musiche> (1601). Der Erzmarinist
Chiabrera liefert ihm dazu lyrische Texte. Caccini erklärt im Vor-
wort zu diesen Kompositionen, er habe dediglich die Concetti der
| Sprache nachahmen wollen>. Diese <buona maniera> <diene vor al-
lem dem Geist des Concetto>. Musik ahmt die Sprache nach und
umgekehrt. Wieder das typische Prinzip der Reversibilität! Zeitge-
nossen berichten, daß all dies natürlich mit großem <stupore> erlebt
wurde, und aus der Schule Bardis kommen etwas später dann
schon die ersten höchst sur-realen Theatermaschinen, auch sie
Meraviglia-Instrumente. Marinos <Adone> machte Furore. Teile
daraus gaben zahlreichen Melodramen Nahrung.
Auch eine bestimmte Art des Generalbasses, der <Basso segu-
ente>, von Lodovico Grossi da Viadana um 1596 in Rom zum ersten
Mal experimentiert, gehört zum <novo modo> des revolutionären
Stils. Darin bilden die Gesangstimme und der Instrumentalbaß be-
ständige Konsonanzen und <motettisch-reguläre Dissonanzen>.
Auch dadurch wird eine Psychologisierung der Musik und eine
Steigerung dichterischer Affektgehalte erzielt. Es ergibt sich rever-
So hie« ein Kompositionsbuch des
Rostocker Kantors Joachim Burmei- sible <Musica Poetica>4 - wir können auch sagen, reversible <Poesia
»«« (1602). cf. Eggebrecht o c musicale>. Wie die Katachrese für den <Musicisme> die rhetorische
p. 18t.
Hilfsformel bildet, so die Hypotyposis-Figur (bildhafte Darstellung
von Wortinhalten) die Hilfsformel der <Musica Poetica>. Es wird
also mit Tönen gedichtet (oder gemalt) wie mit Worten musiziert.
Auch hier handelt es sich um raumzeitliche Verschiebungen, um
illusionistischen Perspektivismus. Doch i s t - w i r betonen es erneut
- das Effetti-Figurenwesen jeder Art im Manierismus pararheto-
risch im Sinne des bloßen <delectare>, auch mit grotesken, phanta-
stischen Mitteln. Das barocke Figurenwesen wird, auch in der Mu-
sik-wie wir noch sehen werden-, rhetorisch im augusteisch-klas-
sizistischen Sinne, d.h. im Sinne einer machtbewußten Rhetorik
430 des <persuadere>. Manieristische Musik <übersteigt alles Erkhn-
gende und stellt d a h e r etwas akustisch nicht W a h r n e h m b a r e s dar>.
Man singt, e n t s p r e c h e n d d e r subjektivistischen Idea-Ästhetik Fici-
nos und der G e n i e - L e h r e B r u n o s , <senza misura>, <ä discretion>, <ä
libre volonte>! Aus d e m S o l o g e s a n g entwickelt sich die Arie in ihrer
frühen Form. Sie wird <zum Spiegel des Spielwerks der Affektes>.
Monteverdi unterschied zwei A r t e n n e u e r M u s i k , eine <prima> u n d
eine <seconda prattica>. W i r k ö n n e n die erste <prattica> als manieri-
stisch, die zweite als <barock> b e z e i c h n e n . <Spiegel der Affekte> -
wieder steht vor u n s e r e n A u g e n d a s Selbstbildnis des P a r m i g i a -
nino im Konvexspiegel, u n d wir begreifen i m m e r besser, w a r u m es
damals ein derartiges A u f s e h e n erregte. D e r M e n s c h hatte ein
neues Universum entdeckt: sich selbst, als <Deus in terris>, sich
selbst, aber in G r e n z s i t u a t i o n e n des E r l e b e n s , sich selbst a l s o . . . im
magischen Weltspiegel Saturns, des Ur-Individualisten.

Stilus phantasticus>
Wie Zuccari für die m a n i e r i s t i s c h e b i l d e n d e Kunst seiner Zeit vom
<Disegno fantastico> spricht, so b e z e i c h n e t A t h a n a s i u s Kircher in
der Musik dieser G e n e r a t i o n e i n e n <Stilus phantasticus> als eigene
Gattung unter d e n <neun Stilformem m u s i k a l i s c h e r Kompositio-
nen, die es seiner Ansicht n a c h gibt, d e m N e u n e r - S c h e m a t i s m u s
von Raymundus L u l l u s folgend: <Stilus phantasticus> ist die vierte
maniera. Die fünfte h e i ß t : <Stilus madrigalescus>. D e r uns aus der
Welt anamorphotischer K u n s t s t ü c k e b e k a n n t e P. M a r i n M e r s e n n e
hat in seiner <Harmonie Universelle) (1636/37) bezeichnender-
weise die Kunst d e r m u s i k a l i s c h e n D i s s o n a n z e n gelobt; seine Uni-
versal-Harmonie w a r eine H a r m o n i e des Irregulären.
Wenn Marino e i n m a l sagt, die P o e s i e u n d die Musik k ä m e n
<sich entgegen), so h a t er für diese manieristische wie für unsere
jetzige Zeit recht. E s gibt in d e r S h a k e s p e a r e - Z e i t emblematische
Verdunkelung der M u s i k , concettistische K l a n g - S o p h i s m e n u n d
metaphorische <Ton-Symbole>. R h e t o r i s c h e F i g u r e n werden auf
die Musik ü b e r t r a g e n . W i r k ö n n e n wiederholen: im pararhetori-
schen und paralogischen S i n n e . U m g e k e h r t wird die grenzenlose
Phantasie-Kunst der alogischen <Koloraturen> i n der Dichtkunst
angewendet. D a s m a n i e r i s t i s c h e S t r e b e n n a c h d e m Absurden (ab-
surdum = ungereimt, sinnlos; i m G e g e n s a t z zu surdus = lautlos,
still, verschwiegen) findet E r f ü l l u n g in der intellektuellen E h e von
<Stilus madrigalescus> u n d <Concettismus>. Das P r o d u k t ist ein
<Stupore>-Kind, ein <verblüffendes> W e s e n .
In der manieristischen M u s i k fehlt es a u c h nicht an Kryptogram-
men und Buchstabenspielen m i t u n d d u r c h Musik. Z u eins: Jos-
quin des Prez ( 1 4 5 0 - 1 5 2 1 ) z . B . h a t für H e r z o g Ercole I. von
Ferrara eine M e s s e g e s c h r i e b e n , m i t d e m Tenor <Hercules dux
Ferrariae> gleich: re u t re u t re fa m i re (d c d c d f e d). Hier wird also
ein Devisenspruch d u r c h seine Vokale m i t Hilfe der Solmisations-
silben ut mi ut re r e sol m i - krypto-akustisch dargestellt. 0 W i r fin-
1
tf. Heinrich Besseler. Die Musik
des Mittelalters und der Renais-
den Buchstabenspiele in K l ä n g e n , so etwa in e i n e m Werk Giacomo sance. In: «Handbuch der Musikwis-
Carissimis (1604—1674), w e n n er darin m i t Folgen von Ton-Meta- senschaft). Potsdam 1951. p.ai^ff.
Die Messe wurde im Rahmen der
phem die Wörter <Venerabilis b a r b a Capucinorum> buchstabiert. internationalen Festspiele für mo-
Formale M a n i e r i s m e n d e r L i t e r a t u r verbinden sich mit solchen derne Musik 1958 in Venedig wie-
der Musik! A u c h b l a s p h e m i s c h e Spiele sind beliebt, damals wie deraufgeführt.

heute. So schrieb der gleiche Carissimi ein <Requiem jocosum>.


Der Baß paßt sich i n l a n g e n T o n w e r t e n d e m kirchlichen Text an,
während <zwei als K a n o n geführte S o p r a n e in französischen Ver- 431
sen und im Volkston die Angst einer Ehefrau vor der Heimkehr
ihres M a n n e s schildern^ Adirano Banchieri ( 1 5 6 5 - 1 6 3 4 ) schrieb
einen <Contrapunto bestiale alla mente>.
Ist das <barock>? Die Kirche hat w ä h r e n d des Tridentiner Konzils
Musik dieser Art verboten! W i r h a b e n es mit M a n i e r i s m u s zu tun,
und wir finden solche <Tricks> in der ganz u n d gar unbarocken
<modernen> Musik von heute, so etwa, w e n n ein heutiger Kompo-
nist in einem pseudoabstrakten A n d a n t e ä la <Sole mio> im Orche-
ster plötzlich einen Wecker rasseln läßt. Stupore! Kunst, die dazu
zwingt, <die Augenbrauen hochzuziehem, ä laArcimboldi und ä la
Bracelli, Musik der intellektuell b e r e c h n e t e n Schockwirkung,
paraakustische Musik! Pararhetorische D i c h t u n g , parastatische
Plastik und parachromatische Malerei entsprechen ihr. Der Kreis
manieristischer Künste u n d Kunststücke wird sich bald schließen.
Historisch gesehen handelt es sich also u m alles a n d e r e als u m Of-
fenbarungen <einerneuen Ontologie>. Spiele also, aber keineswegs
n u r verdammenswerte, wie kleinbürgerliche Verärgerung urteilt,
indem sie sich auf mißverstandene <attizistische> Grundsätze be-
ruft. <Kunst> dieser Art hat nicht n u r einen außerordentlichen do-
kumentarischen Wert, in soziologischer Hinsicht, ob m a n sich ge-
gen Versteifungen des barocken Absolutismus richtet oder gegen
Erstarrungen der spätbürgerlichen U n d u l d s a m k e i t . Sie bezeugt
auch Tieferes, wir wiederholen es: die Säkularisierung uralter for-
maler Manierismen, die — auch in der M u s i k — einst mythisch ge-
b u n d e n waren. Das heute vielfach n u r n o c h grotesk-charmante
Spiel mit formalen Manierismen diente einst dazu, das Mysterium
zu preisen, so z. B. in alten Alleluja-Gesängen, wo das fromme Ara-
beskenspiel von Tönen auf und m i t einem Vokal in einer ganz an-
deren weise für <stupore> zeugt. E s h a t t e d e n Sinn eines ständig
<verwunderten> Lobpreises Gottes, des Z u s a m m e n f a l l s aller Ge-
gensätze, des beängstigenden <Urkristalls>.

Das <dunkle F i n d e r n
Wenn m a n die historischen Z u s a m m e n h ä n g e der manieristischen
Musik von Pontormos erstem Auftreten (um 1520) bis z u Berninis
Tod (1680) abgrenzen will, also den M a n i e r i s m u s von der Benais-
sance und vom <Barock>, so m u ß m a n weiter zurückgreifen in die
Geschichte der europäischen Musikkultur. D e n M a n i e r i s m u s von
der attizistischen Benaissance abzugrenzen ist, wie wir sahen,
leicht. Ihn vom Barock zu unterscheiden, ist schwieriger, allein
schon deswegen, weil <Barock> in E u r o p a zeitlich differenziert und
national verschieden auftritt (z.B. Berninis, 1 5 9 8 - 1 6 8 0 , <Frühba-
rock> und Andreas Schlüters, 1 6 6 0 - 1 7 1 4 , <Hochbarock>). Manie-
rismus in der Literatur und in der Musik erleichtert diese Unter-
scheidung. Die Geschichte der manieristischen M u s i k m a c h t die
Eigenart der so faszinierend eigenartigen E p o c h e zwischen Be-
naissance und Barock besonders deutlich. Dazu, an H a n d der
Fachliteratur, n u r kurze Hinweise auf b e z e i c h n e n d e historische
Filiationen.
Die zeitgenössische Musikwissenschaft h a t d e n orientalischen
Ursprung der komplizierten Melismatik in der europäischen Mu-
sik, insbesondere der Kirchenmusik, nachgewiesen. Geistesge-
schichtlich k a n n n u r i m m e r wieder auf die e l e m e n t a r e Tatsache
hingewiesen werden, daß das C h r i s t e n t u m sich von Vorderasien
432 her über Kreta und über das einstige großgriechische Süditalien
Kalligraphischer Text von Johann
Neudörffer. aus: <Eine gut Ordnung
und kurzer Unterricht». Nürnberg
1538. — Der Beginn des Textes
dieses Labyrinths liegt in der Mitte
nach Europa ausbreitete. D e r <Asianismus> im C h r i s t e n t u m hat und lautet: «Nachdem vor zeitten
schon im gregorianischen, liturgischen G e s a n g zu einer kompli- Gott manchmal und mancherlev
zierten, expressiven, a n t i n a t u r a l i s t i s c h c n Spielgebärde in der Ton- weiz.. .>
phrase veranlaßt. E i n Vokal g a b G r u n d zu evokativen Klangbe-
schwörungen, die wir — optisch — in ü b e r z e u g e n d e r Weise in der
manieristischen I n i t i a l e n - M a l e r e i von Neudörffer u n d seiner
Schule wiederfinden. W i e in d e r M u s i k j e d e r Vokal unendlich ara-
beskenhaft charakterisiert w e r d e n k a n n , so dort jeder Buchstabe.
<Musik> und <Schrift> e n t w i c k e l t e n sich aber d a n n , aus diesen
<asianischen> Ü b e r l i e f e r u n g e n h e r a u s , sozusagen u m ihrer selbst
willen. Der mythische H i n t e r g r u n d der <evokativen>, v e r s c h n ö r -
keltem Gebärde w u r d e b a l d n u r n o c h g e a h n t u n d sank d a n n
schließlich in nicht m e h r e r k e n n b a r e historische A b g r ü n d e zurück.
Es ergab sich eine erste <Katastrophe>, w e n n m a n von einer durch-
aus rationalen m y t h o s o p h i s c h e n Weltinterpretation ausgeht: reli-
giöse und profane M u s i k w u r d e n v e r m e n g t , die B ü h n e w u r d e m e -
chanisiert, die M a s k e individualisiert.
Es geschah dies in e i n e m m a n i e r i s t i s c h e n Sinne zuerst in der
Provence in der spätmittelalterlichen G e h e i m k u n s t der <Trouve-
res> (Finder, Erfinder), des <trobar clus>, des d u n k l e n Findens, des
geschlossenen Singens> j e n e r exklusiven, aristokratischen Dich-
ter- und Musikerzunft, die, w a s e r f i n d e r i s c h e n Musizismus>, was
die Vernunftehe zwischen P o e s i e u n d M u s i k angeht, die europäi-
sche Priorität b e a n s p r u c h e n darf.
In diesem Zipfel E u r o p a s f a n d — ä h n l i c h wie in Spanien zur Zeit
der arabischen E x p a n s i o n e n — e i n e der großartigsten Kontamina-
tionen des A b e n d l a n d e s statt: e i n e n e u e — musikalisch-lyrische —
Einschmelzung des A s i a n i s m u s . Alte musikalische Schranken
wurden niedergerissen, alle A n r e g u n g e n a u f g e n o m m e n , m a n n i g -
fache Formen vermischt u n d vertauscht, u n b e k ü m m e r t u m die
(liturgischen) Regeln. A s i a n i s m u s i n d e r Provence! Geographisch
allerdings kein Kunststück. D i e ersten a n t i k e n <Asianer> u n d So-
phisten waren Sizilianer, u n d v o m M o n t e Erice in Sizilien, dessen 433
Befestigungswerk einst Daidolos baute, sieht m a n an klaren Tagen
iYfrika. Südfrankreich hatte schon im Frühmittelalter rege Han-
delsbeziehungen zur asiatischen u n d afrikanischen Welt. Ver-
gessen wir nicht, daß Quintilian den asianischen Stil auch afrika-
nischen Stil> nennt, was nicht weiter verwunderlich ist: der
hellenistische Kreuzungspunkt Asiens, Afrikas u n d Europas war
Alexandrien. Es hat also auch die <dunkle>, <gesuchte> Poesie und
Musik der provenzalischenTroubadours alexandrinischen Charak-
ter: Exklusivität und Preziosität, Phantastik u n d logische Kälte
Dunkelheit u n d extreme geistige Wachheit, Vermischung nicht nur
der Gattungen, sondern auch u n d vor allem der Poesie und der
Musik! Der <dunkle> musikalisch-lyrische Stil der Troubadours hat
viele Namen: <trobarclus, serrat, cobert, escur, sotil>. Also: verheim-
lichtes Suchen, verkürztes, verdunkelndes, s u b t i l e s . . . Finden.

Krypto -Akustik
«Trobar clus> m u ß heißen: D u n k l e s finden d u r c h . . . Suchen. Im
<Musizismus> der Troubadours w e r d e n Musik u n d Dichtung
<Ideenkunst>. Wer umständlich suchte u n d Verwickeltes fand,
wurde <Don Doctor de trobar>, er erhielt also einen akademischen
Ehrentitel für krypto-akustische Labyrinthik! E i n e öffentliche Eh-
rung für das Irreguläre! Der dunkelste der Troubadours, Marca-
bru, sagt, Gesang (bzw. Dichtung) müsse enträtselt werden. Er lobt
denjenigen, der <mon chant devina>. Der H ö r e r oder Leser hat eine
Aufgabe. <Das Erleben> ist eine Sache für sich. Was zählt ist: <Es-
larzir paraul oscura>, ein dunkles Wort erhellen.
Ist das ein oder gar der Sinn manieristischer D i c h t u n g in ihrem
Z u s a m m e n h a n g mit <evokativer> Musik? M a n m a g d e n Klang der
Verse (evokativ) erleben, m a n steht im <trobar clus> von Kallima-
chos bis James Joyce immer wieder vor der a u c h für Hoch-Einge-
weihte nicht i m m e r leichten Aufgabe, sofern m a n kein Snob oder
pseudoexistentialistischer Kunst-Interpret ist: <Eslarzir paraul os-
cura>, Dunkles erhellen. G e r a d e das erstrebt jede <Vernunft-
Kunst>: Erschüttern durch Schock (stupore) u n d Anreiz zur Ent-
rätselung. Zwei Urtriebe der M e n s c h e n w e r d e n , manieristisch, auf
diese Weise gleichzeitig angesprochen: E r l e b n i s - S e h n s u c h t i m ex-
trem sensationalistischen Sinne, da Welt i m m e r n u r im Scheitel-
punkt der Krise erfahren, W u n s c h nach Rätselauflösung, da das
gesamte Mensch-Sein in der Welt d u r c h a u s e l e m e n t a r als Rätsel
schlechthin empfunden wird. Insofern b e k u n d e t es Beschränkt-
heit, wenn m a n den krypto-graphischen, krypto-optischen oder
krypto-akustischen Manieristen von R a n g vorwirft, sie hätten kei-
nen <Approach>, keine <Elocutio> im attizistischen Sinne. Ihre An-
rede ist ganz anderer Art: Sie w e n d e n sich auf ihre Weise auch an
<Ur-Instinkte>; sie wollen U r - E r s t a u n e n erregen, u n d sie wollen zur
Aufschlüsselung der Ur-Rätsel des m e n s c h l i c h e n L e b e n s anregen.
Dabei kann es geschehen, daß sie zu Verstaunen verführen und zu
heilloser Verrätselung. Insofern k a n n m a n verstehen, daß ein Da-
daist, der zum orthodoxen G l a u b e n zurückfand, nämlich Hugo
Ball, von <Teufelswerk> sprach. Kunst des <Leibhaftigen>? Ist Dan-
tes Hölle, wenigstens in bezug auf die völlig gnadenlose Verwir-
rung und Verirrung in der S ü n d e , nicht a u c h ein Labyrinth? Ent-
stehen aus den Tränen des <Alten von Kreta>, der Labyrinth-Insel,
nicht die vier Flüsse der Hölle? Ist Dantes Hölle nicht auch ein
Symbol für jede Art von moralischer Irregularität? U n d ist das Pa-
radies nicht das <attizistische> G e g e n b i l d , die Vision harmonischer
konzentrischer Kreise u n d ontologischer O r d n u n g im Spiegelbild
erlöster Seelen?
Folgen wir Vossler, u m d e n M u s i z i s m u s in e i n e m konkreten
Sinne zu definieren: <Der m u s i k a l i s c h e S c h e m a t i s m u s (der Trou-
badours^, so lesen wir, <erzeugt d e n begrifflichen G e d a n k e n . ) D a -
mit ist der lyrisch-musizistische C o n c e t t i s m u s ebenso gültig b e -
zeichnet wie der <Witz> von Schlegel, u n d wir w u n d e r n uns nicht,
wenn Vossler, wie Croce zu nationalistisch), verärgert, seiner G e -
neration entsprechend, ausruft: <Frostige Witz- u n d G e d a n k e n -
spiele!) Gewiß, es h a n d e l t sich w i e d e r u m W a h n - S i n n , besonders
in der spätprovenzalischen <Vernunft-Kunst>. Leporismus (auch
im Sinne von Brisset u n d Joyce) wird v o r w e g g e n o m m e n , w e n n
Marcabru derartig <groteske> Verse bietet, die, m a n vergesse es
nicht, auch mit musikalischer B e g l e i t u n g g e s u n g e n w u r d e n : <Las
baraitriz baratan / Frienz del b a r a t c o r b a r a n / Q u e fan Pretz e Joven
delir, / Baratan ab los baratiers / F u n d e n s ; qu'estiers lor deziriers /
Nom podon cesar de frezir.> (<Mit T r ü g e r i n n e n t r ü g e n sie / U m a r -
mend geile Trügende, / D i e Khr u n d Freud vernichtigen / I m Trü-
gen mit den T r ü g e n d e n / Sich gattend; a n d e r s k ö n n e n sie / D a s
Beben ihrer Brunst n i c h t still'n.>)
<Ein Hexensabbat von Begriffen u n d Bildern>, urteilt Vossler.
Aber er stellt — zu solcher Klanglyrik — a u c h fest, d a ß die Trouba-
dours doch <Erfinder von dichterischen u n d wohl a u c h von m u s i -
kalischen Gedanken> waren. E i n e L i e d f o r m h e i ß t sogar <Descort>.
In ihr will m a n : <desacordar los m o t z c; 1 sos e; 1 lenguatges> (<die
Wörter, Töne u n d S p r a c h e n v e r s t i m m e n >). A u c h Musik u n d Dich-
tungbilden eine discordia Concors. Folgerichtig charakterisiert sich
der Troubadour A r n a u t selbst m i t d e n Worten: <Ich b i n Arnaut, der
die Luft einhascht, d e n H a s e n m i t d e m Ochsen jagt u n d gegen den
Strom schwimmt.) Wie definiert Royere den <Musicisme>? Als
Klangspiel von Alliteration u n d K o n s o n a n z e n , von R e i m e n u n d
Assonanzen, vor allem als Technik d e r W i e d e r h o l u n g und der Ka-
tachrese, d.h. des G e b r a u c h s eines Wortes in uneigentlicher Be-
deutung, der O p p o s i t i o n s - M e t a p h e r , der Bildervermengung, der
Vermischung des D i s p a r a t e n — a u c h in b e z u g auf dementspre-
chend mögliche effektvolle K l a n g w i r k u n g e n . Kein W u n d e r also,
daß einer der verwegensten alogischen T r o u b a d o u r s wie Arnaut
sich selbst durch K a t a c h r e s e n definiert: <als einen, der den H a s e n
mit dem Ochsen jagt>.

19. V O N G E S U A L D O DA
VENOSA ZU STRAWINSKY

D a s <Ricercare>
Einen weiteren Ü b e r g a n g z u m M a n i e r i s m u s in der Musik von
1520 bis 1650 bildet die m u s i k a l i s c h e Hofkultur Burgunds, trotz
ihres starken Konservativismus, w e n i g s t e n s was die Verwendung
dissonanter Intervalle a n g e h t . So w u r d e - im Gegensatz zur Antike
- in Burgund die Terz n i c h t m e h r als dissonant empfunden. Die
Musik wurde preziös u n d gleichzeitig algebraisiert. D e n preziösen
Stil auch in der Kunst u n d in den höfischen <Manieren> Burgunds
darf m a n für die Entwicklung des europäischen Manierismus si-
cher nicht unterschätzen, aber die b u r g u n d i s c h e Phantasiekunst
des Motetts blieb letzthin in alten F o r m a l i s m e n stecken, sie ver-
kümmerte, ähnlich wie der M a n i e r i s m u s der mittellateinischen
Poesie im barocken J e s u i t e n - D r a m a , in e i n e m wehmütigen
<Herbst des Mittelalters). M a c h a u t s <seconde rhetorique> war asia-
nisch, aber n u r in einem ä u ß e r e n Sinne. D e n n o c h wurde dies
schon damals als ein Ergebnis v e r s e t z e n d e r K r ä f t o empfunden.
(Freies Linienspiel der Melismatik, Affekt-Symbolismus, Auflok-
kerung des rhythmischen Gefüges durch häufigen Taktwechsel,
D e h n u n g u n d Verkürzung des G r u n d z e i t m a ß e s u n d Übereinan-
derlegen verschiedener R h y t h m e n in d e n einzelnen Stimmen,
Synkopenketten, Triolierungen, ausgeschriebene Rubati und
Ritardandi, frei eingeschobene Koloraturen.) Was d e n burgun-
dischen Manierismen fehlte, war die E r n e u e r u n g durch die sub-
jektive <Idea>-Ästhetik, die erst i m Florenz der Platonischen Aka-
demie auch die Musik zu weiteren <modernen> Entwicklungen an-
regte.
Die junge Generation, unmittelbar n a c h der Renaissance-Zeit,
strebt in Florenz, im Kreise Bardis, wie wir es schon angedeutet
haben, nach verwickeiteren formalen G l i e d e r u n g e n . A u ß e r <Rät-
selformem, <Phantasie-Spielen> u n d <Groteske> (Madrigalistik)
verstärkt sich in bezug auf musikalische Kompositionen die ebenso
subjektivistische wie intellektuell-methodische Kombinatorik. Die
Virtuosität des musikalischen Kornbinierens w u r d e i m sog. <Ricer-
care> (Inversion von <trobar>) b e w u n d e r t wie die concettistischen
Künste der Dichter, wie die <Bizzarrie> der Maler, die Perspektiv-
Spiele der Architekten u n d die Illusions-Kunststücke der Anamor-
photiker, die Maschinerien der B ü h n e n b i l d n e r u n d die verwickelte
Prosa der preziösen Romanciers. U n d es m u ß erneut hervorgeho-
ben werden: es geschah dies für exklusive Kreise in politischen und
geistigen Krisenzeiten nicht wie im späteren Barock im Hinblick
auf weite propagandistische W i r k u n g e n z u g u n s t e n der Gegenre-
formation oder des n e u e n fürstlichen Absolutismus. D a s <Subjek-
tive> dieser manieristischen Künste richtete sich an Individuen oder
an kleine Clans, nicht an größere G r u p p e n . I m Gegenteil. Hiero-
glyphische Formen m a n c h e r manieristischer Kunstwerke bekun-
den nicht nur einen oft verzweifelten Spieltrieb, sie zeugen nicht
selten auch für eine ebenso verzweifelte M e n s c h e n v e r a c h t u n g .
Wir wiederholen: ab etwa 1530 verdrängt die Madrigal-Kunst
Italiens die im wesentlichen n o c h symmetrischen Traditionen Bur-
gunds u n d der Niederlande. Die <irregulären> Erstlingswerke von
Philipp de M o n t e (1554) u n d Jacobus de Kerle begeistern diese
verwöhnte, nach starken geistigen Reizen s u c h e n d e Elite Europas.
Wie die Malerei und Dichtung, so wird auch die M u s i k internatio-
nal, d.h. sie verliert nationale Eigentümlichkeiten. Die stärkere
Akzentuierung des Musikalischen im Wort m a g auch in der Kom-
positionskunst zu einer schärferen H e r v o r h e b u n g des Sprachlauts
geführt haben, zur antipolyphonen Solo-Methodik u n d z u m melo-
dramatischen Rezitativ, manieristischer Vorstufe der barocken
Oper. Auch das ist ein E l e m e n t für U n t e r s c h e i d u n g e n : kleine,
hochgekünstelte M e l o d r a m e u n d gewisse P a r t i e n des frühen Ora-
torienstils sind manieristisch. Die Oper ist, m i t ihrer prunkvollen
rhetorisch-festlichen Gebärde, barock, w e n n sie a u c h , besonders
in ihrer Frühzeit, noch viele Meraviglia-Elemente enthält wie jede
barocke Kunst. Sie unterscheidet sich jedoch, wie wir wiederholt
unterstrichen h a b e n u n d - in b e z u g auf die damalige Musikkultur
-noch näher ausführen werden, durch ihre Intentionen, durch ih-
ren sozialen Hintergrund vom Manierismus ebenso wesentlich wie
der Manierismus von der Renaissance. Manieristische Musik
bleibt <Musica reservata> der <Moderni>. Musik für viele und Musik
für wenige wird bezeichnenderweise in der reichen essayistischen
Literatur unterschieden.
Kennzeichnend für die manieristische Musik ist auch ihre Vor-
liebe für sozusagen heterodoxe Kleinkunst, für folkloristische Mo-
tive, die dann, oft mit viel Intelligenz und Charme intellektuali-
siert, in höhere Bereiche der Tonkunst hineingezwängt werden,
nicht selten allerdings auch aus Mangel an eigenen Einfällen. So
benutzt man im Aufstand gegen die angeblich steife, plumpe, nie-
derländische Polyphonie Passamezzi, Saltarelli, Pavanen, Galliar-
Claudio Monteverdi
den, Allemanden, Branles, Couranten und Moresken. Mit einem (1567-1645)
Wort, man verschwätzt, man <ver-jazzt> die Musik auch damals
schon. (<Jazz> vermutlich von franz. <jaser>, womit französischspre-
chende Siedler in den amerikanischen Südstaaten die typische
Freude der Neger an endlosem Plaudern bezeichneten.)
Italiens größtes manieristisches Genie neben Tintoretto, Clau-
dio Monteverdi (1567—1643), faßt alle diese Ansätze dann in sei-
nen ersten Werken zusammen. Mit Recht weisen Musikhistoriker
daraufhin, daß die Geschichte der Oper 1607 beginnt, mit dem
Orpheus-Spiel von Monteverdi, verfaßt für ein Festspiel in Mantua.
Auffallend darin vor allem: Wechsel zwischen Dur und Moll, terz-
verwandte Rückungen, chromatische Führungen, dazu vermin-
derte Gesangsspannungen.
Das <Ricercare> im Frühwerk Monteverdis ist manieristisch. Für
das Barock ist die Fuge kennzeichnend - wie die aus der Antike
Festspiele von Florenz beim Einzug
des Fürsten von Urbino. Stich von
Jaques Callot (1592-1655)

IS Tlrt.\/r \Kl.LA
IM 'Xj-tt, ^ **„.r~,:t~j>~r 0-g
stammende Orgel. Das frühe, nichtbarocke <Ricercare>, als inge-
niöse Kombinationskunst, ist gegenüber der Fuge viel alogischer.
Es beruht auf einer lockeren Aneinanderfügung mehrerer melo-
disch-musikalischer Gedanken, deren jeder von mehreren Stim-
men im imitatorischen Stil entwickelt, aber vor seiner Vollendung,
vor Erreichung eines <Mittelpunkts> also, von dem nächsten ab-
gelöst wird. Im Gegensatz dazu wird im Barock <Ricercare> zum
Ausdruck für ein einheitliches, nach strengsten imitatorischen Ge-
setzen durchgeführtes Prinzip. Es gleicht jetzt schon der Fuge, ver-
zichtet jedoch bewußt auf die arabesk verspielten Elemente durch
ein viel strafferes Ordnungsgefüge.
Im England Shakespeares haben die <Moderni> zu einer Musik-
freude und vor allem zu eigenen Musikschöpfungen angeregt, wie
sie später dort kaum noch zu beobachten sind. Musikalische Ma-
drigal-Kunst wurde ebenso berühmt wie concettistische Dichtung

Nach Ariimboldi adaptierte


Reproduktion des Gemäldes
• Der Bibliothekar»

438
von Shakespeare bis C r a s h a w . W i l l i a m Byrd ( 1 5 4 5 - 1 6 4 3 ) u n d vor
allem John Wilbye (1574—1638), u m n u r diese zu n e n n e n , h a b e n in
exklusiven Kreisen v i e l b e w u n d e r t e madrigalische <Fancies> ge-
schaffen, die h e u t e noch <modern> klingen. Arabeskenreiche Kla-
viermusik (Virginials) u n d k ü h n artifizielle Kompositionen für
kleine I n s t r u m e n t e n g r u p p e n (Consorts) weisen geradezu chemisch
absolute manieristische E l e m e n t e auf. Was S p a n i e n angeht, so hat
Menendez Pelayo auf einen <Graciän der Tonkunst> hingewiesen,
auf Pedro Cerones W e r k <E1 M e l o p e o (Neapel 1613). Darin wer-
den musikalische <Änigmen> e m p f o h l e n u n d <mysteriöse Kanons>.
Bezeichnend für d e n e p o c h a l e n G l e i c h k l a n g ist a u c h das Werk von
Don Juan IV., gleichzeitig in s p a n i s c h e r u n d in italienischer Spra-
che veröffentlicht. E s heißt: <Defensa de la M u s i c a Moderna> u n d
erschien im J a h r e 1649, also u n g e f ä h r gleichzeitig mit d e n be-
rühmten manieristischen L i t e r a t u r t r a k t a t e n von Graciän, Tesauro
und Harsdörffer. A u c h dieses W e r k k ü n d e t e , n a c h der M e i n u n g
von Menendez Pelayo, von e i n e r <modcrnen musikalischen Revo-
lution).
In Deutschland w u r d e vor a l l e m g a n z folgerichtig das N ü r n b e r g
Harsdörffers zu e i n e m M i t t e l p u n k t a u c h manieristischer Musik-
iibung. Gottlieb S t a d e n (1607—1655) schrieb eine modisch-irregu-
läre Musik zu Harsdörffers G e s p r ä c h s s p i e l e n , mit g e b ü h r e n d e n
«Künsteleien u n d K o l o r a t u r e m , also im Stile der, wie m a n damals
sagte, <welschen Manieren>. D a b e i finden wir in Harsdörffers G e -
sprächsspielen (Band II) i m b e z e i c h n e n d e n J a h r e 1647 eine adap-
tierte Reproduktion von A r c i m b o l d i s <Bibliothekar>, von jenem Ar-
cimboldi, Hofmaler Rudolfs IL in P r a g , der h e u t e als Vorfahr des
Surrealismus gilt. Adaptiert insofern, als im Buch-Kopfschmuck
des Bibliothekar-Porträts u n s e r e s n a c h N ü r n b e r g importierten ita-
lienischen Prager R e i c h s g r a f e n n u n d e u t s c h e W ö r t e r eingefügt
sind: <Das Schauspiel t e u t s c h e r Sprichwörter>, sowie an den Buch-
rücken, die das G e w a n d dieses M o n s t r u m s bilden, Verfasserna-
men solcher S a m m l u n g e n . A r c i m b o l d i w u r d e nicht im Rom des
20.Jahrhunderts, s o n d e r n s c h o n i m N ü r n b e r g des 17. J a h r h u n -
derts neu entdeckt!

20. M U S I K - K A B B A L I S T I K

L e t t r i e u n d <Tapl-Music>
Musikalischer L e t t r i s m u s , das ist in u n s e r e r Gegenwart extremer
Ausdruck des lyrisch-musikalischen <Musicisme>. D e r <Lettrisme>
oder die <Lettrie> der Isidore Isoü (geb. 1925) u n d Sarane Alexan-
drian (geb. 1927) ist g l e i c h s a m atomisierter manieristischer M a -
nierismus, w e n n er a u c h in g a r k e i n e r Weise originell ist, denn
Hugo Ball hat b e k a n n t l i c h schon i m ersten Z ü r c h e r D a d a - J a h r
«lettristischo G e d i c h t e g e s c h r i e b e n . Allerdings war all dies bei Ball
und seinen F r e u n d e n n o c h p o l e m i s c h g e m e i n t , vielfach sogar n u r
als Ulk gedacht, u n d H u g o Ball h a t später diese Praktiken verwor-
fen. Bei Isoü u n d seinen F r e u n d e n liegt das P r o b l e m tiefer. Sie
wollen durch lyrisch-musikalische K o m b i n a t i o n e n bloßer Sprach-
laute nicht etwa n u r r e v o l u t i o n i e r e n . Sie wollen auf diese Weise 439
auch nicht n u r akustische, ästhetische Reize auslösen. Sie wollen
Rhythmen und Klänge eines t r a n s z e n d e n t a l e n Seins beschwören
und dieses dem Hörer, sofern er nicht bloß skandalisicrt ist, ma-
gisch annähern. Wir erinnern u n s , anläßlich unserer Bemerkun-
gen über die alte <Poesia Alfabetica>, d a ß i m Orient Gott und die
Götter durch bloße Buchstabenlaute b e s c h w o r e n u n d gerufen wur-
den. Im koptischen, spätgnostischen Buch <Pistis Sophia> (3. Jahr-
hundert) wird Jesus Christus ein magisches Beschwörungsgedicht
in den M u n d gelegt. Es enthält, bis zur U n k e n n t l i c h k e i t verunstal-
tet, ägyptische, hebräische u n d persische S p r a c h e l e m e n t e . Es ban-
delt sich um eine <lettristische> Zauberformel, von der wir hier we-
nigstens zwei Zeilen zitieren wollen: <AEEIOUO JAO AOIOIA psi-
nother therinops nöpsither zagoure>. W e r aus der Ferne die be-
tende Stimme der Moscheen-Priester g e h ö r t hat, wird vielleicht
besser verstehen, welcher Z a u b e r in rhythmisierten, melismati-
schen Sprachlauten liegt, vor allem w e n n m a n die rezitierten Texte
nicht kennt. Isoü stammt aus R u m ä n i e n , Alexandrian aus Bagdad.
Der <Asianismus> der nachsurrealistischen <Lettrie> wird im euro-
päischen Neu-Alexandrien, in Paris, h e u t e nicht n u r wieder modi-
sches Ereignis, sondern auch erregender demier cri, letzte (?) Ma-
nifestation dieses Weiterwirkens graeco-orientalischer Kulturen.
Tatsache ist, daß Isoü u n d seine F r e u n d e bloß rhythmisierte
Sprachlaute als <Lautsymphonie> öffentlich rezitiert h a b e n wollen.
Sie haben, wie Isoü schreibt, <das Alphabet aufgeschlitzt^ das seit
Jahrhunderten in seinen verkalkten vierundzwanzig Buchstaben
hockte, sie haben in seinen Bauch n e u n z e h n n e u e Buchstaben hin-
eingesteckt (Einatmen, Ausatmen, Lispeln, Röcheln, Grunzen,
Seufzen, Schnarchen, Rülpsen, H u s t e n , Niesen, Küssen, Pfeifen
usw.). Also: bloßer Laut wird Musik und M u s i k ist bloßer Laut.

Reliefkarten des Elementaren


Genau dem entspricht die letzte E n t w i c k l u n g u n s e r e r zeitgenössi-
schen abstrakten Malerei. Zahllose Bilder der jüngsten europäi-
schen Malergeneration sind nicht n u r <gegenstandslose> Bilder.
Sie haben auch keine <konkreten> Titel m e h r . Sie heißen jetzt meist
noch: Komposition oder Form oder Figuration. D a n n findet man
u. a.: <Ereignis I> (bis unendlich), <Räumlicher Begriff I>, U n t e r s u -
chung XCI>. Weiter: Variation, P h a n t a s i e , R a u m b i l d , Vertikale
und Horizontale Landschaft, R h y t h m u s , M a t e r i e , Arabeske, Ge-
nesis, Motiv, Gewebe, Notiz I — bis u n e n d l i c h u n d schließlich..-
<Bild> schlechthin: eine weiße Fläche. D o c h das ist meist Literatur,
und auch nicht so sehr neue. Wenn m a n dazu übergeht, sich einige
der besten gegenstandslosen Bilder a n z u s e h e n , so wird m a n zu
merkwürdigen Erkenntnissen gelangen. Sie wirken - n a h e gese-
hen - gar nicht m e h r abstrakt. Sie erscheinen wie <Kompositionen>
mit dem Konkreten, nämlich mit allerlei sehr greifbaren <Stoffen>:
mit Metallen, mit Steinen, mit Asche, m i t Bast, S t a u b , Leinen, mit
Geweben aller Art, mit Glas, mit Holz, m i t E r d e sogar. Wir stehen
vor einer <Wendung>. Die <gegenstandslose> Kunst wird in ihrer
<Abstraktheit> wieder <konkret> in b e z u g auf ihren <Stoff>. <Ab-
s t r a k t o Bilder dieser Art erscheinen also gar nicht m e h r g e g e n -
standslose Sie sind <gebildet> aus K o n k r e t e m dieser Art, sie bilden
damit allerlei Landschaften, die P a n o r a m e n oder Ausschnitte ei-
ner Welt vor der Erschaffung der M e n s c h h e i t sein k ö n n t e n oder
44O einer Welt nach der möglichen Selbstzerstörung der Menschheit,
Landschaften o h n e M e n s c h , Tier, Pflanze, ja, ohne Bazillen. Wir
meinen, Reliefkarten des E l e m e n t a r e n vor oder nach d e m Auftre-
ten der M e n s c h h e i t auf d i e s e m P l a n e t e n vor uns zu sehen. M a n
nimmt also, wie a u c h i m m e r m a n ästhetisch solche erdachten
Aspekte einer vor- oder n a c h k r e a t ü r l i c h e n E r d e beurteilen mag,
zumindest eine n e u e W a r n u n g wahr. Vergessen wir nicht, daß die
echte Revolution der <modernen> Kunst u m 1910 h e u t e vor allem
als sensible V o r w e g n a h m e der Katastrophe von 1914 betrachtet
wird, als Vorahnung des E n d e s Alteuropas. W i r wollen nicht <alar-
mistisch> wirken, aber u n s scheint, d a ß die Besten und Sensiblen,
wenn sie der oft t r ü g e r i s c h e n Fülle h e u t i g e r <Bilder> (Film, Photo,
Publicity aller Art, P r o p a g a n d a usw.) offenbar zu m i ß t r a u e n schei-
nen, auch von e i n e m Gefühl entsetzlicher Weltverlorenheit ergrif-
fen sind, von einer Angst vor d e m gottähnlichen M e n s c h e n , inso-
fern dieser noch in e i n e m ä u ß e r l i c h e n S i n n e gottähnlich zu sein
glaubt, aber auf jede h ö h e r e Verantwortung verzichtet. D a h e r - bei
den Besten - die F l u c h t in Ur-Stoffwirklichkeit, die keine Illusion,
keine Verfälschung m e h r erlaubt, die n u r n o c h ist: ausgebranntes,
aber doch noch — im totalen N u l l p u n k t - farbiges Sein. D a h e r an-
dere bezeichnende Titel von Bildern: Fels, Gestein, Erosion, Trok-
kenheit, Weißer L e h m , N u r - n o c h - W e i ß , Schwarze M a t e r i e , U n -
förmliche Form, Eisen, Feuer, S t u r m , A b g r u n d . <Lettrie> in der
Malerei = optische W i r k u n g d u r c h inartikulierte Werte des op-
tisch W a h r n e h m b a r e n .

<Tote Poren der G e s c h i c h t o


In einem Gedicht Isoüs sieht diese Re-Version des Abstrakten zur
bildlosen Materie (sprachlich) so aus:

Vianvigian p e d o u p i n n e d e s c h t e
Piangouppgan g o l d o u b i n v e c h t e
Doussee! Souf scouipiienne l o u n a
SOUSSE Kroulciientrouna Vrousse!
Botoschan, yachch, yach, b e l o i g a n n e !
Vraschh!

Die sogenannte <Musique concrete>, g e b o r e n 1948 im <Club d ' E s -


sai> in Paris, bietet dazu die m u s i k a l i s c h e E n t s p r e c h u n g . Z u s a m -
menhanglose) T ö n e w e r d e n m i t G e r ä u s c h e n vermengt. <Musik>
wird zu einem losen A g g l o m e r a t von b l o ß e n L a u t e n . Paraakusti-
sche Musik wird <elektronisch>. E s entsteht die <Tapl-Music>, ein
fetischistischer Objektivismus> (Adorno). D e r Belgier Karel Goy-
vaerts nennt eines seiner W e r k e <Numero 4, aux sons morts>. Sons
Morts! Tote Töne! In seiner Ballettmusik <Agon> (1957) hat Stra-
winsky (besonders in d e n Duos) diesen musikalischen <Lettrisme>
zu einem gespenstischen a b s t r a k t e n Tanz solcher <toter Töne> ver-
wendet. Doch wir w e r d e n s e h e n , d a ß e r s i e h damit von der desinte-
grierenden Versuchung entfernt.
Wir meinen, d a ß der L e s e r in der L a g e sein m ü ß t e , d e n bloßen
pseudomythischen L e p o r i s m u s P a r i s e r G a m i n s aus allen Provin-
zen Europas, vor allem der östlichen, jetzt richtig orten bzw. <osten>
zu können, wobei n i e m a n d d e n tragischen Unterton m a n c h e r die-
ser <Reduzierungen> ü b e r h ö r e n sollte, die protestierende Noblesse
gegen unseren h e u t i g e n A t o m - M a c h i a v e l l i s m u s , gegen die Atom-
Fronten unserer h e u t i g e n <Welt-Politik>, gegen die unheilbrin-
gende ideologische E r s t a r r u n g u n s e r e r h e u t i g e n Stützen der Poli- 441
tik, gegen den Stumpfsinn der heutigen M a s s e - vom Landarbeiter
bis zum Generaldirektor. All dies ist jedoch sozusagen doppelt
schlimm: Unsere heutigen n u r noch a n a r c h i s c h e n Geräusch-Mu-
siker, Lettristen und M a t e r i e n - M a l e r beschwören keinen Gott und
keine Götter mehr. Sie zeigen n u r noch Z u s t ä n d e . Sie photogra-
phieren n u r noch die hoffnungslose Welt. <Vorbei die Zeiten der
Troubadours, übrig bleiben die luftigen W o r t r e u s e n . . . die ver-
brauchten Worte aus den Großstädten des Intellekts... Worte,
Worte, nichts als Worte, letzte Zeichen eines M ü ß i g g a n g s unseres
Intellekts, keine Bedeutungen mehr, aber offengehaltene tote Poren
der Geschichte.> So Max Bense ganz ehrlich über Francis Ponge.
Es ist, als wäre Goethes <Iphigenie> nie geschrieben worden.

Barocke Antithese
Die maniera in den <Nuove musiche> (i 602) von Giulio Caccini, die
bis 1585 zurückreichen, ist von der späteren Barock-Musik, von
Händel etwa, so unterschieden wie P o n t o r m o von Rubens, wie
John Donne vom älteren Milton, wie G ö n g o r a von Calderön, wie
Zuccari von Bellori, wie Giambattista della P o r t a von Bernini. Ein
erster musikalischer H ö h e p u n k t des n e u e n machtpolitischen, re-
präsentativen Barock-Stils entsteht nicht zufällig a m Hofe des
mächtigsten europäischen Herrschers dieser Zeit, a m Hofe Lud-
wigs XIV., mit den Kompositionen des Florentiners Jean-Baptiste
Lullv (1632 — 1687). Dafür gibt es ein großartiges Beispiel: das <Bal-
let Royal de l'Impatience> von Lully, das Seine Majestät selbst tanz-
ten. Das Tempo heißt <Grave>, der R h y t h m u s (4/4-Takt) ist feier-
lich, getragen, eine geordnete, solare, astro-akustische Klangfigu-
ration für den Sonnenkönig, ein E m b l e m der W ü r d e , des Strebens
nach neuer rationaler Weltordnung, wobei die n e u e n expressiven
Mittel der heterodoxen Manieristen weiterwirken. Dynamische
Logik! Aber antigroteske Dynamik u n d e r n e u e r t e rationale, anti-
sophistische Logik — also Barock! Die g r o ß e Predigtkunst entwik-
kelt sich. Gern bedient sie sich noch der P a r a d o x i e n , Hyperbeln,
Paralogismen der manieristischen Grands Nerveux, aber werbend.
Werbend für die n e u e absolute E i n h e i t von Weltkirche u n d Abso-
lutismus, von überirdischer und irdischer O r d n u n g . Die Deklama-
tion wird wieder feierlich im stellvertretenden Sinne, die Rhetorik
pathetisch. Logos, Dynamik u n d Pathos verbinden sich in neuklas-
sischen Klammern, die <melodische Wucherung> ist verpönt. Mu-
sik wird zu einem majestätischen P r u n k g e w e b e . Sie löst sich vom
Subjektiven, Individualistischen, objektiviert sich wieder im ganz
neuen Sinn für staatliche und kirchliche M a c h t u n d O r d n u n g , wie
auch immer — und das war häufig so — in der hinter- u n d unter-
gründigen Welt der Libertins <zersphtterte Ton-Motive>, ver-
wegene Pasticcio-Kunst weiterwuchern. W i r e r i n n e r n uns: Manie-
rismus ist für uns eine Ausdrucksgebärde, die n a c h E r n s t Robert
Curtius in allen Zeiten zu finden ist, <die der Klassik entgegenge-
setzt ist, m a g sie vorklassisch oder nachklassisch oder mit irgend-
einer Klassik gleichzeitig sein>.
Das theophanische Opfer
Johann Sebastian Bach aber schließt in sich die Welten des manie-
ristischen Experiments und des barocken Ordnungsstrebens, sou-
verän über beiden stehend. Es geschah dies durch eine Verschmel-
zung seines gefühlsmäßigen, individualistischen Pietismus mit
seinem hochentwickelten Sinn für prästabilierte Harmonie, die
Leibniz - etwa 40 Jahre vor Entstehen von Bachs <Musikalischem
Opfer» - dem Kosmos abgelauscht zu haben glaubte. Vor den Men-
schen werden nach Jahrhunderten wieder <unsichtbare Tempeb in
der Musik <hörbar>.
In der theo-logischen Kombinatorik des <Musikalischen Opfers>
von Johann Sebastian Bach (1 747) erklingt für die Welt neben ei-
nem anderen Höhepunkt des Schaffens von Bach, der <Kunst der
Fuge>, eine nicht mehr relativierbare Urordnung, auch in einem
äußerst verschlüsselten, verwegen komplizierten Tongewebe. Ein
König, Friedrich IL, gab Bach das Motiv. Der Künstler improvi-
sierte in Potsdam, war mit sich jedoch nicht zufrieden und verfaßte
über das <Thema regis> in wenigen Wochen eines seiner kühnsten
wie tiefsten Werke, ließ es auf seine Kosten (er hat zeitlebens nie
einen Verleger gefunden) drucken und schickte es dem König. Die
Widmung des Werkes an Friedrich IL hat bezeichnenderweise
akrostische Form:

fiegis Jus su
Cantio -Et iteliqua
Cononica/trte
.Resoluta
Die ersten Buchstaben dieser Worte bilden den Ausdruck <Bicer-
car>.
Die Komposition ist <von äußerster konstruktiver Künstlichkeit>,
dabei <fließt die Musk jedoch frei und natürlich). Das Kunststück
scheint zunächst raffinierte Technik als Selbstzweck) zu bekun-
den. Es stellt einen <bis dahin ungeahnten Vorstoß in das Gebiet
chromatischer Durchgangsharmonie dar>. <In allen erdenklichen
Metamorphosen ist das königliche Thema das einzig Beharrende
in einem kaleidoskopischen Wechsel von Erscheinungen.) Im
sechsten Kanon findet m a n sogar einen <Krebsgang>, einen Bück-
ling) im Sinne Männlings, im Sinne der hochmanieristischen
Krebswort-Kunststücke zur Zeit Harsdörffers... und der Antike. Y
Uie Trio-Sonate bekundet kühnste Ornament-Stil-Spiele grotesk-
eleganter Art, reine Manierismen also. Aber immer wieder: Bück-
gevvumung des Mittelpunkts auch im kaum noch überbietbaren
Extrem eines <Bätselkanons>, so vor allem im sechsstimmigen Ri-
cercar (jetzt Fuge), <das weihevollste), aber sicherlich auch k o m -
plizierteste) Musikkunstwerk, das vielleicht je geschrieben wurde,
'neo-logische Kombinatorik wird hier und jetzt (Absolutismus
und religiöse Ordnung) wieder theophanisch.
Hier hat das Kunstwerk im Extremismus seine tiefere innere
" Über die <Kunst der Fuge> schreibt
Einheit in sich und mit der Welt gefunden. Musik, Dichtung, Erich Przywara: <ln sirh selbst to-
I U n s t a u f ihren höchsten Gipfeln, Schöpfungen derer, die Baude- nende Analogie.- - In diesem letz-
aire a s ten Schön als Analogie liegt offenbar
' Leuchttürme der Menschheit) bezeichnete, vereinen - in ein immanent Religiöses, sei es im
^vergleichbar rätselhafter Gnade stehend - beide Urgebärden, objektiven Sinn einer Erscheinung
e des Göttlichen im Schön lals religa-
nianieristische und die klassische. Diese völlige Konvergenz, lio Dei). sei es im subjektiven Sinn
e man als vereinigende Gebärde mit dem Bild betender Hände einer Hinwendung ins Göttliche (als
^gleichen kann, macht das Mysterium der unverwechselbaren retigatio in Oeum\.< cf. Aufsat?.:
<Schön. Sakral. Christlich-. In: La
. a u s -'' Solche <Leuchttürme>, solche Konkordanzen von Ma- Filosofia dell' Arte Sacra. Padua
lle 1957. p. 20.
nsmus und Klassik, waren Sophokles, Vergib Dante, Shake-
c***

ML
Calderön-Autogramm auf einer
Seite des Manuskriptes des «Tesoro
Escondido>

speare, Calderön, Racine, R e m b r a n d t , G o e t h e und J o h a n n Seba-


stian Bach. Sie stellen das dar, was m a n als das schöpferische
Mysterium Europas bezeichnen k a n n . Sie gaben — durch diese
Integration — dem europäischen Geist seinen unverwechselbaren
Charakter.

Zeitgenössische Vereisung
Strawinsky griff das manieristische <Ricercare> wieder auf, u. a. in
der <Kantate> von 1952. Im <Canticum Sancti Marci Nonunis>
(1956) wird das kombinatorische Reversibilitätsprinzip (Krebs-
gang. Rücklinge) zum Prinzip einer n u n fast n u r n o c h <geometn-
sierenden> Musik-Kabbala im Sinne Schönbergs, d e r - w i e Monte-
verdi - aus Schriften der esoterischen M a g i e u n d Alchimie Anre-
gungen schöpfte. J. S. Bach stand hier mit d e m <Musikalischen Op-
fer> Pate, aber auch ein Erzmanierist wie der von uns hervorgetio
bene Gesualdo da Venosa. Als Strawinsky an d e m <Canticum> ar
beitete, ließ er sich aus der Bibliothek von N e a p e l Photokopien der
<Sacrae Cantiones> von Gesualdo da Venosa schicken (verölten
licht in Neapel 1603). D e n H ö h e p u n k t einer daidalischen Musik-
geometrie findet m a n in d e m Werke Strawinskys, das 1 9 5 " i n
von Tintoretto mit Fresken ausgeschmückten g r o ß e n Saal
Scuola di San Rocco zu Venedig uraufgeführt w u r d e , in <Threni, 1
est Lamentationes Jeremiae Prophetae>.
Den Klang-Kombinationen mit einer Zwölfton-Serie entspre-
444
chen jetzt unmittelbar hebräische Buchstaben-Kombinationen
(Isopsephien). D i e s e kompositorischen Beziehungen der para-
akustischen Ton-Serie werden geradezu von den mythischen
Buchstaben-Werten angeregt, die Jeremias jeweils an den Anfang
der einzelnen Versgruppen seiner Lamentationes stellt, wobei sich
(bei.Jeremias) ebenfalls Kombinationen ergeben, so z. B. in der drit-
ten Lamentatio, wo die Buchstaben des hebräischen Alphabets je
dreimal hintereinander folgen. <Diesen Buchstaben entsprechen in
Stravvinskys Tonarithmetik wiederum Zahlenwerte, nach denen er
jeweils die Töne seiner Notenreihe einsetzt. Die zwölf Versgruppen
des Mittelteils sind so angelegt, daß sie stets mit der nächstfolgen-
den Note der zugrunde liegenden Zwölftonreihe anheben.) Daida-
lische Künstlichkeit und große Kombinationskunst im Herzen des
manieristischen Venedig als musikalischer demier cri des Jahrhun-
derts! Kaum ein Werk der zeitgenössischen Musik hat sich der
<raeco-orientalischen Gemantie (cf. Teil I) so angenähert wie Pablo Picasso:
Strawinskys <Threni>, aber schon Francois Couperin schrieb 1713 Igor Strawinskv. 1920
<Tenebres> nach den Lamentationes des Jeremias, und auch er läßt
seine <vocalises> von den Akrosticha des Urtextes ausgehen. Die
Musik ist zu einem puren Destillat alchimistischer Ton- und Wort-
Laboratorien geworden. Auch hier vereint sich — daidalisch — das
Unvereinbare. Schon 10,52 gab H.H. Stucken-
scbmidt einem Essay über Stra-
Gerade die Kombinatorik der Zwölfton-Musik wird man ohne winskv den für die gesamte abend-
die uns nun aus der Literatur hinlänglich bekannten kabbalisti- ländische Tradition des Manieris-
schen Esoterismen zumindest in formaler Hinsicht kaum richtig mus typischen Titel: <Strawinsk\
oder die Vereinigung des Unverein-
würdigen können. Dazu ist Schönberg, wie bereits angedeutet, ein baren/. In: «Anbruch,. Prag. XIV. j . .
unentbehrlicher Ausgangspunkt. Schönberg ging vielfach von ei- Vgl. auch die hervorragende Mono-
graphie von Roman Vlad. Stra-
ner manieristischen Zahlenmystik aus, und es ist aus der Polemik winsky. Turin 1958.
zwischen ihm und Thomas M a n n (zum <Dr. Faustus>) bekannt,
daß es grundsätzlich u m eine Abgrenzung von <weißer> und
<schwarzer> Magie ging. Schönberg bekannte sich zur <weißen>
Magie, zur Theosophie. Doch verdient es, hervorgehoben zu wer-
den, daß Schönberg anfänglich einem arationalen Expressionis-
mus verbunden blieb oder gar dem bloßen Redigieren von <Traum-
Protokollem (Adorno). Komponieren wird zeitweise zum <automa-
tischen Schreibern. Anfangs lobt Schönberg den expressionisti-
schen <Ur-Schrei>, den <Rausch> usw., d.h. - wie wir im letzten
Abschnitt näher ausführen werden — dionysische Elemente. Später
bekennt er sich zur eingrenzenden und umzirkelnden Kraft des
Verstandes, d.h. zu dem, was wir als daidalisches Element bezeich-
nen und ebenfalls im nächsten Abschnitt näher erklären wollen.
Die Kombinatorik von Zwölfton-Serien wird für Schönberg bald
eine sublime Vernunft-Kunst, <metachronotopische> Musik. Auch
Roman Vlad weist in diesem Zusammenhang auf die magischen
<Vokal>-Melismen der graeco-orientalischen Antike hin, auf ihre
'Spiegelformen) (Adorno) und <Mäandergänge> (Schönberg). Bei
ochönberg werden damit durchaus Tendenzen einer mythischen
Reintegration spürbar. Diese mögen Strawinsky zu seinen letzten
Werken angeregt haben, und auch bei ihm dürfen wir von einem
durchaus echten Wunsch nach mythischer Rekonstruktion spre-
chen, zumal das Tonmaterial selbst bei ihm noch intakt bleibt.
Doch erfolgt diese <Integration> in einer derart paraakustischen Di-
mension, daß wir uns zwar an arachisch-liturgische Gesänge in
<asianischer> Kulturferne erinnern mögen, jedoch in einem allzu
künstlichen, allzu irrealen vorkirchlichen Raum. Viel zu wach
bleibt stets der nachrechnende Intellekt. Er wird durch diese Ton-
Kabbalistik überanstrengt. <Freiheit führt zur Monotonien Das
daidalische Element des Manierismus hat das dionysische Ele- 445
ment des Manierismus vereist. Welcher W e g vom dionysischen
<Sacre du Printemps> (1913) bis zur daidalischen kabbalistischen
Jeremias-Lamentatiol Der Daidalos-Mythos m a g uns in folgendem
zu erkennen geben, mit welchen archaischen Urkräften dieses
D r a m a des zeitgenössischen Geistes z u s a m m e n h ä n g t .

21. D A I D A L O S U N D
DIONYSOS

Vor d e m < K e r n r a u m >

Ist Daidalos der mythische A h n e der Manieristen? W e r d e n wir an


ihm, indem wir in einem a n d e r e n k o n k r e t e n Sinne auf den Men-
schen lenken, auf den M e n s c h e n als T h e m a u n d d a n n als Gegen-
stand des Manierismus, den D u k t u s der manieristischen Aus-
drucksgebärde aus anderen u n d tieferen U r s p r ü n g e n seines Aus-
druckszwangs klären können? D e r K e r n r a u m , zu d e m wir vordrin-
gen wollen, heißt: daidalisches Wesen. U m es zu erfassen, müssen
wir ein Dreifaches versuchen: eine D e u t u n g der Daidalos-Nlythen,
eine Darstellung ihrer Auswirkungen im T h e a t e r u n d Roman als
besonderen Welten menschlicher <Fiktion> u n d schließlich eine
Entfaltung des Bildes vom M e n s c h e n im manieristischen Denken
und Erleben, jenseits u n d unterhalb jeglicher künstlerischer Ge-
staltung. An u n d in einer Gestalt des 17. J a h r h u n d e r t s lassen wir
dann den historischen Manierismus nicht n u r in Agonie treten.
Durch sie erhebt sich die Frage, die auch das 20. J a h r h u n d e r t in
einem sehr ähnlichen Sinne bewegt, welche Mittel wir noch haben
mögen, durch geistige und seelische E n e r g i e der Hypostase des
Problematischen zu begegnen.
H ü t e n wir uns vor voreiligen Synthesen! H ü t e n wir uns davor,
auch nur eine einzige geologische Schicht zu überspringen! Unsere
Geschichte schenkt uns Zeichen, Symbole. L e s e n wir sie in neuer
Weise, ohne alte Lesarten zu v e r k e n n e n . W e n n wir jetzt zu dem
vordringen, was wir als K e r n r a u m bezeichnet h a b e n , so ist es nur
folgerichtig, w e n n wir in einer labyrinthischen Welt des Problema-
tischen auf den Schöpfer des uns b e k a n n t e s t e n labyrinthischen
Symbols stoßen, auf Daidalos. D e r daidalische Labyrinth-Mythos
von Kreta reduziert das Weltgeheimnis, wie wir sehen werden, auf
ein änigmatisches Schema. Dieses Symbol h a t t e eine außerordent-
lich anregende Kraft. E s verführte zu e i n e m Nachvollzug dieses
<Schemas> in ursprünglicher menschlicher Gestik, es bestimmte
die Physiognomik des manieristischen T h e a t e r s u n d Romans; in
ihnen wird das labyrinthisch-fixierte Weltgeheimnis in fiktiven
Gestalten vorgelebt. Das also ist der n e u e Ansatz. U m Daidalos in
seinem Wesen zu begegnen, m ü s s e n w i r . . . mit Ariadne anfangen,
d e n n sie war es ja, die aus d e m Labyrinth erlöste. Auf diese Weise
können wir aus <mythosophischen> U r s p r ü n g e n die geistige Lir-
landschaft des Manierismus erhellen.
Dädalus und Ikarus
(nach G.David)

A n a d n e im dD lonysos
Ariadne ist die Tochter des sagenhaften Kreter-Königs Minos, der
sich von einem Bildhauer, Architekten und Erfinder Daidalos (gr.
daidallein — <kunstreich arbeiten:») ein Labyrinth bauen ließ, und
ihr Gatte ist kein Geringerer als Dionysos, der Sohn des göttlichen
Zeus und der menschlichen Semele. Später wurde Ariadne, welche
Theseus den von Daidalos hergestellten, aus dem Labyrinth er-
lösenden Faden schenkte, von Dionysos in die Welt der Sterne
eingeführt. Auch sie, Ariadne, die <menschliche Aphrodite>, die
Gegensätzliches in sich vereint, ist eine der Lieblingsfiguren der
spezifisch-manieristischen Musik- und Theaterkultur des 17. Jahr-
hunderts.8 Wenn die Tragödie Nietzsche zufolge, den Rausch des
Dionysos mit dem Maß Apolls vereinend, aus dem Geiste der Musik 8
1608 wurde die «Arianna a Nasso»
geboren ist, so beweist dies den mythischen Ursprung der Tragö- von Otlavio Rinuccini (1592—1621)
die. Der dionysische Choreut lebt <in einer religiös zugestandenen aufgeführt. Musik von Monleverdi.
Davon nur erhallen der berühmte
Wirklichkeit unter der Sanktion des Mythos und des Kults>. Im <Lamenlo de Arianna». Ferner: 1606
Mythos des Dionysos können wir geradezu eine transzendentale <Ariane> von Alexandre Hardy: 16^2
«Ariane». Roman von J.Desmarets
Sinnfigur sehen für den graeco-orientalischen Bestandteil der de St. Sorlin: 1672 > Ariane» von Tho-
griechisch-römisch-europäischen Kultur, den <Asianismus>, im mas Corneille: 1670 Oper von Fer-
rari usw. usw., bis 7,11 Händel 1775
Mythos des Apollo das Entsprechende für den <Attizismus>. Diony- und zur Gegenwart (Massenet. Mil-
sos ist der Gott der mania, des Überschwangs, des Sexus, auch der haud. R.Strauss).
Schule des Finguerra:
Theseus und Ariadne

Melancholie, des Todes. Dionysos, Sohn eines Gottes u n d eines


Menschen, auftretend als Jüngling u n d als Greis, ist aber auch der
Gott der Widersprüche u n d der Verwandlungen, der endlosen Me-
tamorphosen, der rätselhaften Umrißlosigkeit des Daseins, der
Verzweiflung u n d ihrer Ü b e r w i n d u n g i m Rausch. D e r dionysische
Mensch hat n a c h Nietzsche Ä h n l i c h k e i t mit Hamleh. Beide haben
das Wesen der Dinge erkannt, u n d es ekelt sie zu h a n d e l n . Gegen-
über der Erkenntnis <grauenhafter W a h r h e i b <verfängt kein Trost
mehr>. N u r die Kunst k a n n retten, u n d zwar <das Erhabene als die
künstlerische Bändigung des Entsetzlichen u n d das Komische als
die künstlerische E n t l a d u n g vom Ekel des A b s u r d e m . Dazu möch-
ten wir zum manieristischen T h e a t e r vermerken: die Tragödie, die
n a c h Nietzsche aus einer Vereinigung des Dionysischen u n d des
Apollinischen entstanden ist, darf als attizistisch bezeichnet wer-
den.
Den Dionysos-Kulten sind in der griechischen Antike Ariadne-
Kulte zugeordnet. Der Ariadne-Kult auf Naxos w a r n u n <von auf-
fälliger Widersprüchlichkefb. <Er bestand zu e i n e m Teil in Freu-
defeiern, z u m anderen in Trauer u n d Düsternis.) <Darin erkennen
wir die Doppelseitigkeit alles dionysischen Wesens wieder.> Doch
spiegelt sich darin auch ein Wesenszug der Ariadne. Auch sie, die
Königin der dionysischen Frauen, ist voller W i d e r s p r ü c h e . Sie
stellt sich dar als ein mythisierter <Wechsel von Leid u n d Seligkeit).
Sie symbolisiert in ihrem Schicksal Grenzsituationen, u n d es ist
kein Zufall, daß sie während der Schwangerschaft stirbt, bevor sie
das Kind zur Welt bringen k a n n , das sie von Dionysos (schon vor
448 ihrer Ehe) empfangen hat. Nichts Menschliches ist ihr fremd, aber
sie lebt in ständiger Spannung zum Göttlichen. Sie war eine <Hei-
li<re>, die sich sogar erhängt haben soll. Sie wird geradezu zum
Spiegel für den Dualismus des Göttlichen und Menschlichen, von
Geist und Stoff, für jenen <Widerspruch>, der die bedeutendsten
Manieristen stets nicht nur zu phantastischen Grübeleien getrie-
ben, sondern auch zu unerträglichen Wesensspaltungen geführt
hat. Zum Kult dieser <menschlicheny4/9AVoii/te> gehört der Tanz.
Dieser Tanz wurde für sie geschaffen vom Erbauer des Laby-
rinths von Kreta, von Daidalos, von jenem ur-<ingeniösen> Erfin-
der, Bildhauer und Architekten, der in so vielem an Leonardo da
Vinci erinnert, von Daidalos also, dem Vater des mechanisch Artifi-
ziellen, der auch erste Automaten baute und sich und seinem Sohn
Ikaros Flügel verfertigte, von jenem Tngenieur maudit>, der wegen
der Ermordung seines Neffen (aus Künstlerneid) seine Geburts-
stadt Athen hatte verlassen müssen , der von Minos im von ihm Dieser Neffe hat den Zirkel erfun-
den. Pallas Athene verwandelte ihn
selbst geschaffenen Labyrinth eingesperrt worden war, weil er, in ein Rebhuhn (Perdrix).
Daidalos, die perversen sexuellen Neigungen der Königin Pasiphae
begünstigt hatte. Pasiphae, die Tochter des Helios, Schwester der
Circe und Gattin des Minos, hatte sich in den kultischen Stier <ver-
liebb, den Poseidon Minos geschenkt hatte. Wie in Ägypten, so
diente auch das von Daidalos erbaute Labyrinth von Knossos (auf
Kreta) dem Stierkult. Elemente des Stierkults findet man auch in
den dionysischen Kulten. Dionysos offenbarte sich seinen Gläubi-
gern vorzüglich in der Gestalt des Stiers, Symbol der Fruchtbar-
keit und der Zeugungsfülle>. lü Um Pasiphaes Heißhunger zur Er- 10
Walter F. Otto o.e. '/.um Problem
Labyrinth als <Irrwald> oder <Zau-
füllung zu verhelfen, baute ihr Daidalos eine Liebesmaschine, ein berwald> cf. Ludwig Radermacher,
fahrbares Gehäuse in Gestalt einer Kuh. In diese sperrte sich Pasi- Mythos und Sage bei den Griechen.
phae ein. So wurde sie auf die Wiese gefahren, wo der Heilige Stier Baden bei Wien, Leipzig io.',K.
p.252f.
weidete; er hatte nun keine Bedenken mehr, das ihm vertraute Ge-
bilde zu begatten. Aus diesem Wahn-Sinn entstand das Ungeheuer
Minotaums, Mensch mit dem Stierkopf, der von Minos dann in den Apoll von Nymphen gebadet.
Marmorgruppe von Girardon und
Regnaudin im Park von Versailles.
Antikisierende Darstellung des
«LeverduRoi Soleih
Mittelpunkt des Labyrinths gesteckt w u r d e . Dort m u ß t e es mit
Kindern gefüttert werden sowie mit den J ü n g l i n g e n u n d Mädchen
die Athen alljährlich Minos als Tribut schicken m u ß t e . Viele Jahre
später tötete Theseus den Stierköpfigen, der a u c h als <Moloch> galt

Daidalos als <Maudit>


Verfolgen wir das <Schicksal> des Daidalos weiter, einer <saturni-
schen> manieristisehen Figur geradezu <klassischer> Art! Phanta-
stische Beziehungen? Sie liegen im Faktischen der Geschichte, vor
allem in Hoch-Zeiten des göttlich-menschlichen Geistes in der
Geschichte, im Mythos, insofern Mythosophie als einzigartiges
Mittel zu ihrer Erhellung benutzt wird.
Daidalos war als <Maudit> a u c h unstet, wechselsüchtig, abenteu-
erhungrig. Obwohl Minos ihn eingesperrt hatte, empfand der Kö-
nig für diesen <Magier>, der i h m sein Reich in prunkvolle und ge-
heimnisvolle Wunderwelten verwandelt hatte, eine geheimnisvolle
Neigung. Minos hätte also Daidalos sicher bald aus d e m eingemau-
erten Winkel des Labyrinths befreit, doch dieser merkwürdige ra-
tionale Träumer u n d visionäre Intellektuelle hatte von Kreta ge-
n u g . Aus Wachs und Federn bastelte er sich und seinem Sohne
Ikaros Flügel. So entflohen sie d e m verwickelten G e b ä u d e . Doch
Ikaros flog— <aus Liebe zum S c h ö n e m — aus Ü b e r m u t der Sonne zu
nahe, das Wachs seiner Flügel schmolz, er stürzte in der Nähe der
Insel, die später Ikaria genannt wurde, ins M e e r .
Bruegel h a t diesen ersten <Flugunfall> der Weltgeschichte in ei-
ner seiner großartigsten Schöpfungen festgehalten. Leonardo ist
zu seinen Flugmaschinen durch diese E p i s o d e angeregt worden.
Kein W u n d e r , daß einer der lateinischen M u s t e r a u t o r e n für die
Manieristen aller späteren Zeiten, Ovid, u n s ausführlich die Kon-
struktion der Flügel, den F l u g u n d die Katastrophe schildert. Dai-
dalos habe, n a c h d e m er die Leiche seines Sohnes geborgen und sie
auf der Insel bestattet hatte, seine Kunst <verflucht>.
Danach irrte Daidalos lange verzweifelt u m h e r . Schließlich
wurde er von Kokalos, dem König von Sizilien, fürstlich aufgenom-
men. F ü r diesen baute Daidalos die v e r w e g e n e n Anlagen des
Aphrodite-Tempels auf dem Berge Eryx. F ü r die Göttin schuf er
eine künstliche goldne Honigzelle u n d für die Töchter des Königs
bildete er modischen Schmuck. Inzwischen w a r Minos von Stadt zu
Stadt durch Griechenland gereist, u m Daidalos wiederzufinden.
Überall zeigte er ein Schneckenhaus. H o h e n L o h n bot er dem, wel-
cher es verstünde, einen Faden durch dessen W i n d u n g e n zu zie-
hen, in der Hoffnung, daß n u r Daidalos dazu fähig w ä r e . Schließ-
lich k a m Minos zu Kokalos u n d zeigte i h m die Schnecke. Der
sizilische König brachte sie Daidalos, u n d diesem k a m rasch der
sinnreiche Einfall: er b a n d einen F a d e n an einer Ameise lest,
durchbohrte die Spitze des G e h ä u s e s u n d ließ die Ameise durch
diese Öffnung hineinkriechen; sie zog d e n F a d e n d u r c h alle Win-
dungen bis z u m Ausgang der Muschel. Als das Kunststück Minos
vorgeführt wurde, sagte er Kokalos auf den Kopf zu, d a ß n u r Daida-
los der Erfinder sein könne, u n d er bat d e n König, i h m den alten
Freund wieder zu überlassen. Kokalos erklärte sich einverstanden.
E r lud Minos zu einem feierlichen Abschiedsmahl ein. Seine röcn-
ter aber, die Daidalos als sinnreichen G o l d s c h m i e d nicht entbeh-
ren wollten, Übergossen Minos, als sie ihn vor d e m M a h l im Bade
450 bedienten, statt mit Wasser mit s i e d e n d e m P e c h . So starb der Be-
Titelblati einer französischen
Ausgabe der (Metamorphosen) des
Ovid, Lyon 1697

11
Wie beliebt die Üaidalos-Figur
und das Labyrinth-Motiv auch in
der Antike waren, geht u.a. daraus
hervor, dal! Euripides ihn in den
<Kretern> (unvollständig erhalten)
behandelte. Sophokles in <Daidalos>
und in den <Kamikern> (verloren).
Aristophanes in <Daidalos> und in
(Kokalos» (verloren). Andere antike
Autoren, die den geistesgeschiihlli-
chen Topos übernahmen: Diodoros,
Eustathios. Herodot. Hesychios,
Kleitodemos. Livius. Lukian. Pli-
nius. Strabon u.v. a. m. Für Zitate cf.
Eilmann, Labyrinthos. Diss. Athen
1951, p.gof. Zur Darstellung des
Daidalos- bzw. Ariadne-Sto&es in
der bildenden Kunst, außer den ge-
nannten, u.a. noch: (Labyrinthe* in
S. Vitale (Ravenna). in der -Villa Pi-
sani> (Strä). ferner in den Kathedra-
len von Arras. Amiens. Chartres. in
der Villa Altieri zu Rom. Zu Ariadne:
(Dionysos, Ariadne und Satyr>. «Die
schlafende Ariadne> (beides im Vati-
kanischen Museum): (Dionysos,
Ariadne und Satyrn> von Tizian
(Nat. Gallery. London). Zu Daida-
fos-Mythen und zu den <Daidaliden>
auch Bernhard Schweitzer in (Xeno-
krates von Athen>. Halle 1952.
p. 20f. Zum antikisierenden, gera-
dezu (klassischen» Element im Ma-
nierismus einige Hinweise in: .Gu-
sto Neoclassico> von Mario Praz.
2. Auflage Neapel 1959. p. 75ff. Der
üaida/os-Mythos lebt auch auf. in
durchaus (ikarischen Beziehung, in
Ernst Schnabels Roman (Ich und die
Könige». Frankfurt 19^8. Allein eine
Bibliographie daidalisch-manieri-
stischer Epiker im Europa nach Ja-
mes Joyce und Virginia Woolf würde
Seiten beanspruchen. Wir wollen,
Schützer und Mäzen des Daidalos einen entsetzlichen Tod, und von außer den schon im Text angerühr-
dem Tage an schweigt die Mythe über das weitere Schicksal des ten, hier nur einige wenige Namen
nennen: Michel Leiris. Michel Bu-
Daidalos, des unheilschaffenden und unheilbringenden Urtyps der tor. Max Frisch. Edoardo Caccia-
Schöpfer sinnreicher Artifizialitäten, welcher seine Kunst selbst tore. Fritz von Herzmanovskv -Or-
lando. Ingeborg Bachmann (in bis-
verflucht hatte. Er soll durch den Biß einer Schlange ums Leben herigen Prosa-Versuchen). Herbert
11 Heckmann. Herbert Eisenreich. Ilse
ommen sein Aichinger. Heinrich Böll, Günter
Grass u.a. Entsprechende Maler bil-
den Legion. Erwähnt seien Ernst
Fuchs und L.Fini. Zur einzigartigen
geistesgeschichtlichen Situation
Der Labyrinth-Tanz Wiens —nachdem Prag Rudolfs II —
muß man lesen: F.Heer. Europäi-
sche Geistesgeschichte. Stuttgart
Wir erinnern uns: Daidalos hatte für Ariadne einen Tanz geschaf- 19^5. Dazu auch W.Benjamin,
fen, womit er sich also auch als Choreograph erwies. Dieser Tanz Schriften. Frankfurt 195^. p. 141 ff.
(Speziell (Groteske» im Wiener
wurde in der Abenddämmerung von Jünglingen und Mädchen ge- Theater des 1 7. Jahrhunderts.)
tanzt. Er ahmte in Form verwickelter Reigen die Irrgänge des La-
Seite der französischen Ovid-
Ausgabe von 1557 mit den
Holzschnitten von Bernard
Salomon
Erifi&on fe mange.

VJ

s
Er'tßclonßimcl'tque cnrage*,
Et qui ne peut trouiur afufißwcs
Tour ft remjilir (encor <JHII eut mange
Entierement Jon grand bim O" chettance)
Tlus ha mange, plus <t manger sauance,
Et yendfafitle enfin a bei argent:
Mais eile prend d'ttn pefcheur la fembhtnce^
Et Im enfiit foymeßne va mangeant.

xm
**££

byrinths nach. Schon Homer berichtet, Hephaistos habe auf dem


Schilde des Achill einen dabyrinthischen Tanz> dargestellt. Er glei-
che dem, den Daidalos iürAriadne geschaffen hatte. Man muß sich
einen kreisrunden Tanzplatz vorstellen, auf dem die Tänzer sich in
einem verwirrenden Hin- und Herpendeln um den gedachten Mit-
telpunkt (dieses Platzes) bewegen. Doch hatte, nach Winters For-
schungen, dieser Tanz zwei verschiedene Strukturen. Zunächst
handelte es sich um labyrinthische Verkettungen, sodann aber
auch um einen harmonisierenden Gegensatz der wiedergefunde-
nen Ordnung. Entscheidend aber ist, daß diese wiedergefundene
Mitte sofort wieder durch Groteskes ironisiert wird. Gaukler treten
nämlich in dieser <Ordnung> auf. Sie machen Grimassen und
Spaße. Die Freude über das Errungene führt nicht zu einer sakra-
len Kombination von Armut und Würde. Es ergibt sich eine Kom-
bination von ingeniös-tragischer Verirrung (im labyrinthischen
Teil des verwickelten Tanzes) und von Harmonie und von Grotes-
kem. Es vereint also auch und gerade dieser Tanz das Gegensätz-
452 liche in bezeichnender Art und Weise.
Wir haben es ferner mit einem Tanz voller <Täuschungen> zu
tun Dafür ist Vergil Zeuge. Auch er weist auf den Labyrinth-Tanz
des Daidalos hin. <Listig> werde, schreibt Vergil, vom Regelmäßi-
gen abgelenkt (mitte viis... dolum). Ovid hebt ebenfalls die Ab-
sichtlichkeit hervor, durch die Daidalos <in die Irre> geführt habe
(<ducitin errorem, implet innumeras vias>, <tanta estfallaciatecti>).
Wir haben Tesauros Lob der beabsichtigten <fallacia>, des berech-
neten Täuschungsspiels in der Dichtung nicht vergessen. Wir kön-
nen daher nun einen Schritt weitergehen. Die Kombination von
ingeniös-tragischer Verirrung, von täuschendem Zurückfinden in
eine Ordnungsmitte und von sofortiger Ironisierung dieses jetzt
Sich-selbst-Täuschens durch die Groteske der Gaukler (Clown!)
führt auf die Grundstruktur des Tragikomischen. Die historisch als
Gattung viel später auftretende Tragikomödie erscheint in nuce im
Labyrinth-Tanz des Daidalos vorgeformt. 12 Dies um so mehr, als 12
Tragikomische Elemente sind
Schon bei Menander und hei l'lautus
auch Altrom Labyrinth-Tänze sehr ähnlicher Art kannte. Sie hie- vorhanden.
ßen Troja-Spiele (lusus Troiae), weil Labyrinthe auch <Troiae> ge-
nannt wurden (nach etruskisch <truia>).15 Beim Labyrinth-Tanz 13
cf. Winter o.e. Ferner Richard
handelt es sich um einen Gemeinschaftstanz. Es ergab sich ein tän- Eilmann o.e.; Fernand Robert. Thy-
mele. Paris 1939,p.305t.; Ernst Ho-
zerisches Wechselspiel von vorgetäuschter Ver-irrung mit immer mann-Wedeking. Die Anfänge der
wieder deprimierenden Enttäuschungen, ein ingeniös-tragisch- griechischen Großplaslik. Berlin
1950, p.42f. Zu Vergleichen der
groteskes, tragikomisches Ballett des unentwirrbar Widerspruchs- Troja-Spiele mit den Troja-Burgen
vollen. <Geometrisches Genießen/Labyrinth'schen Mustergangs!/ Nordeuropas cf. Winter o.e. p. 711 f.
Daidalos soll, der Legende nach.
Fugenhaft verwebtes Fließen, / Farbefrohen Wechselsangs.> auch Erbauer der geheimnisvollen
<Nuraghen> auf Sardinien sein.

Geburt des Tragikomischen


All dies berechtigt uns zu einer Hypothese, die freilich mythosophi-
sche Empirie nahelegt: Wenn die klassische Tragödie nach Nietz-
sche einer Verbindung des Dionysischen mit dem Apollinischen
entspringt, so geht das Tragikomische aus der ebenso schicksalhaf-
ten Verbindung von Dionysos und Daidalos hervor, über Ariadne,
jene menschliche Aphrodite, die den Gott der Rätsel in die ihm ad-
äquaten irdischen Rätsel hineinverlocken wollte. Die Verschmel-
zung Apoll - Dionysos führt zur klassischen Tragödie im mythi-
schen Sinne, zu Aischylos. Die Verbindung Dionysos - Daidalos
zum Tragikomischen... zunächst über die gesteigerte Artifizialität.
In dieser Beziehung werden auch schon bei Euripides Reduzierun-
gen des rein Tragischen spürbar, und es ist kein Wunder, daß Lau-
treamont schreibt: <Ich sage ja zu Euripides. Aischylos nehme ich
nicht an.> Erinnern wir jetzt schon daran, daß Nietzsche anläßlich
des Werks von Euripides von <kalten und verspielten Paradoxien>
schreibt. Wir kommen auf Euripides noch zurück. Stellen wir - an
Hand des Daidalos-Ariadne-Tanzes — zunächst einmal fest, daß
das Tragikomische in seiner kultischen Urform zum ingeniösen
Streiten und Rechten mit dem angeblich Unausweichbaren wird,
zur dialektischen Distanzierung vom Unerbittlichen. Das Tragiko-
mische konkretisiert zum ersten Mal auf intellektuelle Weise das
unermeßliche Universum <Dionysos> in einer gleichsam symboli-
schen <Konstruktion> des Dionysischen: im Bilde des Labyrinths,
das ursprünglich, urmythisch nichts anderes war als eine babyloni-
sche Verbindung des Weltbauchs mit seinen <verschlungenen>
Eingeweide-<Irr>-Wegen. Bei Naturvölkern ist das Labyrinth auch
«n Symbol für den Weg durch die Unterwelt, d.h. für den Men-
tthenweg schlechthin. Ethnologen bezeichnen das Labyrinth als
'ürbestand der frühesten Menschheitsritualo. Die detzte Nacht- 453
fahrt> erfolgt auch im Urleib der Muttergottheit, u n d dafür ist das
Labyrinth ebenfalls ein archetypisches Symbol.
Mit anderen Worten: die menschliche Aphrodite-Ariadne, die
nicht nur Theseus das <ingeniöse> Rettungsmittel des wegweisen-
den Fadens im W a h n - S i n n des primitiven Labyrinths schenkte,
sondern sich a u c h vom <ingeniösen> Daidalos einen Beschwö-
rungstanz gegen das Unentwirrbare m a c h e n ließ, stellt die erste
Stufe der <Säkularisierung> des Tragischen, des Kosmisch-Wider-
sprüchlichen im Tragischen dar. Ariadne ist (auch durch ihr per-
sönliches Schicksal) ein Symbol für verlorene geistige Unschuld:
das Weltgeheimnis wird also auf ein änigmatisches Schema redu-
ziert, das Labyrinth, u n d es entsteht der G l a u b e , m a n k ö n n e durch
Vernunft-Künste die Irrgänge ü b e r w i n d e n : eine metaphysische
<Clownerie>; d e n n je m e h r m a n sich in diesen Bezirken mit intel-
lektuellen Mitteln zurechtzufinden sucht, desto m e h r verliert man
sich. E s entsteht das Erlebnis des Grotesken, d.h. der <komischen>
Verrätselung. An einem b e s t i m m t e n P u n k t e — in einer Gefühlsmi-
schung von Hoffnungslosigkeit u n d verzweifeltem L a c h e n — hört
die Ver-Messenheit auf zu hoffen, m a n k ö n n e je d e n erlösenden
Mittelpunkt des Labyrinths erreichen. In d e m Augenblick wird al-
les möglich. Das Gesicht A k a n n z u m Steine B w e r d e n , das L a n d C
zum Gerät D, der B a u m E z u m Flusse F, die Idee G z u m Metall H
usw. Die Welt wird zu einer M e t a m o r p h o s e von Möglichkeiten,
zu einem abstrusen Spiegelsystem von M e t a p h e r n , zu einer con-
cordia discors des Grauenhaften, P h a n t a s t i s c h e n u n d Komischen
des a priori Unentwirrbaren.
Dionysos u n d Daidalosl Das gestaltlos Tragische u n d das intel-
lektuell Künstliche! Tragisches Gefühl heißt (bündig) eine Vereini-
g u n g von Erschütterung u n d E r h e b u n g . Komisch (von griech. ko-
mos = <Umzug voll Mutwillen)) heißt (bündig) Sichtbarwerdung
eines Widerspruchs zwischen d e m , was ist, u n d d e m , was er-
scheint, eine Explosion also des unverträglichen Destillats von Lo-
gik und Anti-Logik. (Klein wird groß, groß wird klein, Starrheit
wird Bewegung, Erstarrung wird Raserei usw.) In diesem Sinne ist
die manieristische Theater-Kunst der S h a k e s p e a r e - Z e i t über die
Bomantik und Sturm und D r a n g , über G r a b b e u n d B ü c h n e r bis zu
Wedekind, Pirandello, Shaw, T h o r n t o n W i l d e r u n d Williams laby-
rinthische Kombination von Logik u n d A-Logik, von Unerbittlich-
keit und berechneter Ausflucht.
Das manieristische T h e a t e r ist genauso paralogiseh-abstrus wie
die manieristische Kunst, Lyrik u n d Musik, aus mythischen Ur-
sprüngen, aus der Begegnung des vital Unerschöpflichen (Diony-
sos) mit d e m intellektuell Problematischen, mit Daidalos. U n d die
ersten Kult-Kunstspiele dazu entstanden aus der a u c h <gescheiten>
Verdorbenheit: Ariadne im E i n v e r n e h m e n m i t d e m Schöpfer auch
erster <Golems>, perverser M a s c h i n e n u n d künstlicher Zellen mit
Daidalos. D e n Teil der Kunst, der uns Hilfe g e w ä h r t gegen <Weglo-
sigkefb, w e n n es nötig ist, wider die N a t u r etwas zuwege zu brin-
gen, n e n n t Aristoteles (in seinen M e c h a n i k a ) <Mechane>.
Der Dionysos der Manieristen
Die Geburt der Tragikomödie aus dem <Tanz> der Dionysos-D aida-
fos-/4riac/«<?-Konstellation! Wir werden dieses einzige, abstruse
geistige Kind der Minos-Tochter nicht anerkennen können, ohne
es genauer zu betrachten. Auch das soll geschehen, doch müssen
wir noch kurz einige Charakterzüge des Dionysos ergänzen, und
zwar o-erade jene, welche in der Welt des Manierismus zur Darstel-
luno-angeregt haben, auf daidalische Weise, mit ingeniösen Effek-
ten und Künstlichkeiten, vor allem mit ganzen Laboratorien von
Maschinen zur Erzeugung jener Welt ewiger Verwandlungen,
ständig sich verändernder Bilder, und es sei hier vorweggenom-
men, daß die Einheit von Zeit, Raum und Handlung der attizisti-
schen Tragödie unter diesem Druck ebenso zerspringen wie die
attizistische Rhetorik unter ihm zur Para-Rhetorik aufschwellen
mußte.
Zu Dionysos gehört die Welt der Musik, zu Apollo die Plastik.
Dionysos steht in der <Glorie der Passivität),/IDOZZ in der <Glorie der
Aktivität). Durch dionysische Kunst sollen wir <in die Schrecken
der Individualexistenz hineinblicken). Sie liebt <das Maßlose, Wü-
ste, Asiatische). Sie sucht Schrecken, Wildheit, Wahnsinn, Grau-
samkeit, Doppel- und Maskenwesen aller Art, alle Widersprüch-
lichkeit und Rätselhaftigkeit, alles Mantische, alles Zauberwesen,
alle Formen des Erotischen und Sexuellen. Vielfach sind Grotten,
Phallen, Irrgärten des Dionysos Symbole. Der Stier ist ein Gleich-
nis für ihn, der Bock sein Gefährte. Aber Dionysos hat - auch das
gehört zu seiner Widersprüchlichkeit - <mehr weiblichen Charak-
ter). Daher wird er auch <hermaphroditisch> genannt.

22. D A S M A N I E R I S T I S C H E
THEATER

<Verspielte Paradoxien>
Die attizistische Tragödie entsteht, wir wissen es, aus der Begeg-
nung mit dem Apollinischen. In ihr lösen sich die Widersprüche
auf höherer Ebene auf. Sie verlieren sich in einer <Region, in deren
Lustakkorden die Dissonanz ebenso wie das schreckliche Weltbild
reizvoll verklingt). Das manieristisch Tragikomische entsteht
durch die Begegnung von Dionysos und Daidalos. Es kann dies also
uur bedeuten, daß der Manierismus für seine Theaterkunst ein-
zelne dionysische Elemente auswählt und seiner Welt anpaßt. Dio-
nysische Einzelzüge werden zur Herstellung <kalter und verspielter
"aradoxien> benützt. Es sagt dies Nietzsche in bezug auf Euripides.
und in der Tat, man kann Euripides (484-406 v. Chr.) als den euro-
paischen Urahnen wenn auch nicht der Tragikomödie, so doch des
nianieristischen Theaters ansehen. Nietzsche nennt Euripides. im
Gegensatz zu Aischylos, einen <sokratischen Denker>. Wir sagen:
er
ist ein Daidalos-Jünger. Daher wird das Euripideische Drama
nach Nietzsche <ein zugleich kühles und feuriges Ding>. Und es
'ockert sich schon bei Euripides, der den Sophisten nahestand, die
Einheit der Handlung auf. Typisch für ihn ist auch, daß die Lösung 45c
des Knotens oft schockartig, überraschend geschieht, durch den
<deus ex machina>. Oft sucht er nach <Neuem>, <Verblüffendem>.
Er ging zum ersten Mal <moderne> Wege, indem er auch die neue
Musik übernahm, die sich damals zu bilden begann und die Wort
und Handlung durch artistische Beweglichkeit, nach Auflösung
der alten Rhythmen, <musizistisch> untermalte. Rhetorische Wort-
duelle und pointierte Sentenzen gehören zum neuen Raffinement
seiner Technik. Senecas Tragödien sind stark von Euripides ab-
hängig. Seneca, der <Spanier>, ist der Lieblingsautor manieristi-
scher Theaterdichter des 17. Jahrhunderts gewesen. Auf der Bühne
des Lucius Annaeus Seneca (gest. 65 n.Chr.) herrschen Grauen,
entfesselter Liebeswahn, Tortur, Mord, Verbrechen, Wahnsinn,
Groteske, Magie. Für seine Sprache sind charakteristisch ver-
wegene Metaphern, Hyperbeln, Antithesen, Paradoxien, Oxymora
und phantastische Wortspiele. Seinem extremen Psychologismus
entsprechen eine antiklassische Episodik und kontrastreiche Cha-
rakterisierung. Im <asianischen> Manierismus des spanischen
17. Jahrhunderts erlebt Seneca seine volle Auferstehung.

Maschinen-Künste
Manieristisches Theater und manieristisches Musikdrama der
Neuzeit in bezug auf eine <neue> Gattung, auf die Tragikomödie,
entwickeln sich um 1550, von Florenz ausgehend, aus der Drama-
tisierung des Madrigals mit Dialog-, Lamento- und Echoszenen.
Guarini schreibt 159g seinen berühmten <Compendio dellapoesia
tragicomica>, zehn Jahre später Lope de Vega sein Werk, das die
spätere europäische Theater-Kultur vielleicht mehr beeinflußte als
Agostino Carracci: Die Ewigkeit
vmi Nymphen dargestellt (dem
Pantheismus Giordano Brunos
verwandt)
Periaktenbühne von
Josef Furttenbach

seine Stücke, die <Arte nuevo de hacer comedias>. Im gleichen Jahr


entsteht Shakespeares Tragikomödie <Troilus und Cressida>.
Gleichzeitig setzen schon im 16. Jahrhundert <Maschinen>-Künste
ein. Bei einer Florentiner Aufführung von 1565 werden lediglich
der Titel und der Autor der Komödie genannt. Die sechs Zwischen-
spiele mit Tänzen, Gesängen und Maschinen-Effekten werden
eingehend besprochen. Der perspektivistische Raumillusionismus
verwandelt die Bühne auch und gerade der maschinellen
Effekte wegen. So entstand die sogenannte Telari- oder Periak-
tenbühne des Manierismus, welche die <Verwandlung mit um
die Achse drehbaren, mit Leinwand überzogenen dreiseitigen
Prismen ermöglichte und gleichzeitig Spielraum nach der Tiefe
ausdehnte und rahmte> (Gegensatz dazu: die barocke Kulissen-
bühne). Erstes Beispiel dafür wurde das <Teatro Mediceo> in Flo-
renz (1585). Auf einer Periaktenbühne wurde das erste opern artige
Musikdrama aufgeführt, die <Dafne> von Peri (Florenz 1594). Sie
ist aus solchen Zwischenspielen und aus der Kombination von Mu-
sik und Poesie entstanden. Die daidalischen Künste steigerten sich
zu ebenso phantastischen wie ingeniösen Maschinen-Metamor-
phose-Kunststücken. Himmel und Unterwelt vermischten sich in
hnenentwürfen ^ e s hochdaidalischen Leonardo zu grotesk-
estlichen Maschinen-Spielen. Mit Raum und Zeit wird gespielt,
eides wird mit grotesker Ornamentik in ein Labyrinth von Ge-
schehen verwandelt. Poetische Ingenieur-Künste - wie in der Mu-
S114
- Mrawinsky erzählt in seiner <Poetique musicale>, es habe ihn
der französischen Grenze einmal ein Gendarm gefragt, welchen
^erul er habe. <Ich antwortete unbefangen: Musik-Erfinder.> Der
-•enaarm hatte Einwände. Im Paß stand <Komponist>. Strawinsky
Site Mühe, dem Grenzwächter zu erklären, daß das Wort Musik -
inder> auf ihn besser zutreffe als <Komponist>. Wir müßten in
r a es
S ein, es rascher zu begreifen.
6
57 bis 1658 veröffentlichte Niccolo Sabbatini ein Buch <Pra-
a di fabricar Scene e Machine ne' Teatrh. Es erschien also etwa
' J a n r e vor Tesauros und Graciäns manieristischen Traktaten. 457
aber rund zwölf Jahre nach Borrominis b e r ü h m t e r Galerie im Pa-
lazzo Spada zu R o m mit d e m ingeniösen Raumflucht-Trick. Sab-
batini entwirft sogar eine doppelte P e r i a k t e n b ü h n e , damit noch
m e h r auf ihr verwandelt werden k a n n . Dieser B ü h n e n t y p u s wurde
in England in 1/.Jahrhundert von Inigo Jones eingeführt. Die
Anamorphotiker haben bei der E n t w i c k l u n g der Florentiner Bild-
b ü h n e ihre H a n d im Spiele gehabt. 1641 eröffnete Giacomo Torelli
in Fano das <Teatro della Fortuna> mit der Achilles-O^ex <Die vor-
getäuschte Wahnsinnige). Er w u r d e d a n n in Venedig der Schöpfer
der <Maschinenoper>, der Meister der <Inventori degli Apparatb.
Mit ihm geht das verfeinert Sinnreiche, das raffiniert Ingeniöse zu-
gunsten der barocken M a s s e n - P r u n k - O p e r verloren. D e r Geist des
Daidalos wird verflacht. Aus d e n magischen M a s c h i n e n werden
Prunkapparate.

<Erfindimg,
verkehrt in sich selbst>
Doch was geht auf diesen manieristischen B ü h n e n vor sich, außer
Maschinen-Effekten? Wir k ö n n e n die Özorejsos-Eigenschaften an
den Figuren u n d Geschehnissen ablesen, allerdings unterliegen
sie immer d e m Ariadne-Daidalos-Stil. W i e die B ü h n e selbst, so
verwandeln sich d a u e r n d die M e n s c h e n , ihre Charaktere, ihre
M e i n u n g e n , ihre Überzeugungen, ihr Schicksal — in antilogischer
Weise. Von Shakespeares <King Lear> sagt W. Sypher: <Seine Welt
ist ein Tumult mächtiger Disharmonien.> F o r m der Bühne, des
Theaterstils u n d der dramatischen Abläufe bilden ein Ganzes von
Dissonanzen. Daher auch die Vorliebe für die Tragikomödie. Der
französische Romancier und T h e a t e r a u t o r Georges de Scudery
(1601-1667) erklärt ausdrücklich, die Tragikomödie sei <die ange-
nehmste Gattung>. D a sie weder Tragödie n o c h Komödie sei
könne m a n sagen, daß sie <beides gleichzeitig sei, ja, sogar noch
etwas mehr>. E r vergleicht sie mit gewissen Architekturen, die —
wie auf Bildern Desiderio M o n s ü s - alle Stile vereinen. Als Muster
für eine solche discordia Concors des Theaters galt G. B. Andreirü s
<Centaura> (auch discordia Concors). Sie w u r d e 1622 in Paris g e _
druckt, mit Vorworten solcher Erzmanieristen wie Theöphile d e
Viau und Saint-Amant. Diese Tnvention extravagante> wurde
Mode. Andreini selbst hatte sein Werk m i t d e n Worten charakteri-
siert: <eine Erfindung, verkehrt in sich selbst>. Zwischen 1650 u n ^
1640 schwärmt die Pariser Avantgarde für das phantastisch Irregy.
läre dieser Art, so wie sie sich h e u t e an S a m u e l Beckett begeistert.

<Ich bin mir selbst


verkleidet)
Theater und Ballett werden von M a g i e r n u n d M a g i s c h e m be-
herrscht, dazu von Metamorphosen, die das Sinn- u n d Zwecklose
der menschlichen Existenz symbolisieren, eine Ü b e r z e u g u n g der
Libertins, die Pascals Abneigung erregte u n d ihn zu seinen höchst
antimanieristischen Schriften, zu seiner apologetischen <Kuns e s
Überzeugens> u n d zu seiner bitteren Schrift gegen die k a s u i s t i -
schem Jesuiten veranlaßte. In d e n <Pensees> w a r n t er ausdruc
vor solchen Theaterstücken; nichts sei (moralisch) getahriic
sie. Die nachtridentinische Kirche hat vor Künstlern und Künste-
leien dieser Art immer wieder gewarnt, und es ist bezeichnend, daß
sie vor allem - wie z.B. Papst Urban VIII. (1623-1644) in einem
Rundschreiben <a perenne ricordo - dabei die Gefahr der bloßen
<novitä>, des <insolito>, des Ungewöhnlichen, des <disordinato>, des
Ungeordneten betonte. 14 cf. Päpstliche Verlautbarungen
zur Kunst von Gregor dein ( W i e n
Die Gestalten auf der Bühne des vorklassischen französischen bis Pins XII. In Sondernummern
Theaters symbolisieren das Unbeständige, den Wechsel, die Kälte, von <Fedee Arte>: Cittä delVaticano,
1957, Nr. 10—11. p . 5 7 7 .
die Treulosigkeit, den Wahnsinn, die Widersprüche, das Doppel-
deutige, das unaufhörlich Verkleidete, das <Trompe l'ceib (Vexier-
bild), die Grausamkeit, die Mordgier, den Blutdurst, die Persön-
lichkeitsspaltung. <An die Fiktion muß man glauben, nicht an die
Ganzheit>, sagt ein damaliger Bühnenautor. Proteus, Pfau, Circe,
Janus sind beliebte Symbole. Der Theaterdichter P. du Ryer läßt
eine seiner Figuren sagen: <Ich weiß nicht, wer ich bin, in diesem
dunklen Labyrinth von Schmerzen und Langeweile> (1628). Ein
Stück heißt <L'Ospital des Fous>. Darin sagt der einzige <Normale>:
<Es ist ein lebender Spiegel, in welchem sich jeder mustert.) Ham-

Blaise Pascal
(Zeichnung von Domat)

ÜÄ &<>-. 459
lets schießen aus dem Boden wie Pilze, zweifelnde, sarkastische
Miniatur-Melancholiker, Marionetten des Zweifels. Wer kein fe-
stes Ich-Zentrum hat, unterliegt der Halluzination von Doppelgän-
gern. Auf der manieristischen Bühne dieser Zeit wimmelt es von
<doubles> und <dedoubles> - wie in der <Komödie der Irrungem
Shakespeares, deren Concetto: <Bin ich ich selbst? - Ich bin mir
selbst verkleidet) das Zeitalter genauso faszinierte wie Hamlet,
Wenn alles doppeldeutig ist (Graciäns <Equivoco>), so müssen
auch die Titel der Theaterstücke, im Sinne des <roten Schnees> von
Göngora, im Sinne der Doppeldeutigkeiten Marinos - zu Oxymora
werden. So heißen denn auch Werke dieser Zeit in Frankreich:
<Die falschen Wahrheiten>, die <Feindliche Geliebte>, die u n -
schuldige Untreue>, die <Lebenden Totem, die <Schuldigen Un-
schuldigem. Wenn es wahr ist, daß Shakespeare das Theaterstück
als eine verlängerte Metapher ansah), so hat diese Metapher den
bezeichnenden Charakter des Oxymorons. All dies ist typisch für
ein Wirklichkeits-Erlebnis, in dem die Grenzen zwischen Wachen
und Träumen nicht mehr existieren. Zahllose Bühnenhelden fra-
gen sich daher: <Welcher Dämon verzaubert uns? Schlafen wir?
Träumen wir?> Dazu gehört die <Bühne auf der Bühne>, als <Traum
im Wachen>. Im daidalischen Zerrspiegel erscheint die Welt als
Absurdum.

Das Europa des Absurden


Das Europa des Absurden entstand in der Shakespeare-Zeit. Die
Verzerrungs-Technik nahm in den folgenden Generationen zu.
Der Mensch wird in diesen ingeniösen Dichter-Laboratorien zu
1
' Karikatur wird zum <Gegenent- einer <Karikatur> seiner selbst, aber auch des Universums. 13 Lang-
wurf des Ideal-Schönen>. Auch die
Kunst der Karikatur beginnt in Ita- sam fallen dann die restlichen orthodoxen oder heterodoxen reli-
lien. Das Zeitwort <caricare> wird giösen Gewandungen fort. Man hat längst vergessen, daß man das
erstmals bei Mosini zum Hauptwort
<caricatura> umgeformt. Karikatur
Wort Laboratorium aus <labor> (Arbeit) und <orare> (beten) zusam-
gilt als <perfetta deformitä>. Vgl. die mengesetzt glaubte. Auch im <tragikomischen> Drama geht die Sä-
Studien zur Karikatur in Europa von
kularisierung weiter. Grabbe gibt nur noch die eigene Gespalten-
Werner Hofmann. Die Karikatur
von Leonardo bis Picasso. Wien heit wieder, und damit wird der soziale Protest verbunden. Im Vor-
1956. Ferner: Erwin Gradmann, wort zu seinem <Trauerspiel in Sizilien) schreibt Hebbel, es ergäbe
Phuntastik und Komik. Bern 1957,
und zur Phantastik: Dagobert Frey, sich immer dann <Tragikomödie>, <wo ein tragisches Geschick in
Mensch, Dämon und Gott. In: untragischer Form auftritt, wo auf der einen Seite wohl der kämp-
L Umanesimo e il Demoniaco
nell'Arte. cf. Atti del II. Congr. In- fende und untergehende Mensch, auf der anderen jedoch nicht die
tern, di Studi Umanistici. Rom. Mai- berechtigte sittliche Macht, sondern ein Stumpf von faulen Ver-
land 1952. p. 205!.. sowie ebda.
Hans Sedlmayr, Art du Demoniaque
hältnissen vorhanden ist, der Tausende von Opfern hinunterwürgt,
et Demonie de l'Art. p. 285t. ohne ein einziges zu verdienen).
Ein großartiges Wort! Heterodoxie und Anti-Konformismus
werden aus der Tragikomödie abgeleitet. Die Brücke reicht zum
intellektuell-moralistischen Sophismus des Protagoras ebenso
hinüber wie zu den moralistisch-surrealistischen Monologen der
Hyper-Verfluchten Samuel Becketts. Wenn die Welt <ein Sumpf
von faulen Verhältnissen wird, der... kein einziges Opfer verdient^
dann finden Manieristen von Rang, in ihren Deformationen, aus
Abneigung gegen die total säkularisierte Macht, ihre stärksten
Symbole, dann vermitteln sie - auf ihre Weise - Katharsis.
Doch bleiben wir innerhalb der Bezüge Daidalos - Ariadne -
Dionysos. Das Labyrinth-Symbol zwingt sich immer wieder auf. In
einer englischen Tragikomödie des 17. Jahrhunderts sagt eine Hel-
din von sich: <I'm in a labyrinth.) Wylie Sypher spricht ausdrücklich
460 von einer Para-Seelenlehre, von einer Para-Moral des Manieris-
mus, vom paralogischen Charakter manieristischer Bühnenfigu-
ren Ein Musterbeispiel dafür ist Shakespeares <Maß für Maß>, ein
anamorphotisches Werk, was Dissoziationen und Desintegration
anseht, nahe am Rande des Nihilismus.

Sudden choice
Das elisabethanische Theater bekundet schon eine Preisgabe des
Kausalitätsprinzips in der Schilderung psychologischer Entwick-
lungen. Es kommt zu <Mutationen>, zu nicht determinierten
Sprüngen, zu schockartigen Entscheidungen (<Sudden choice>).
Mit anderen Worten: in den Seelen wirkt der <Deus ex machina>.
Man liebt oder haßt <plötzlich>, m a n mordet oder entscheidet sich
zu Gutem, jähen, unmotivierten Impulsen folgend. Es gibt also
eine typisch manieristische <Krisis>. Ihre Impulse sind irrational,
ihre Voraussetzungen alogisch. Doch sind sie in einem tieferen
Sinne nicht willkürlich. Undeterminierte seelische <Mutationen>
dieser Art sollen die neue Unergründlichkeit der Welt selbst bezeu-
gen, den Zusammenbruch des Geozentrismus. Demzufolge die
Abneigung des Manierismus nicht nur gegen Mittelpunkte jeder
Art, sondern auch gegen kausale Eindeutigkeiten. Die totale Am-
bivalenz der Menschen auf der manieristischen Bühne bekundet
wieder eine Epoche in Krise. Doch artet diese für das gesamte ma-
nieristische Theater des 17. Jahrhunderts typische Verliebtheit in
A-Kausalität, in <überraschende> Sprünge, in Schock-Erlebnisse
nie zu einer sentimentalen Irrationalität aus. Man versucht das
A-Kausale mit intellektuellen Mitteln zu umzirkeln, man bemüht
sieh, dem vermeintlich Abgründigen einen neuen, angemessenen
- unter Umständen doch noch immer erkennbaren - Umriß zu
geben.

Versagte Tragik
Den <Manierismus> bei Shakespeare beginnt die neuere For-
schung genauer zu definieren. Max Lüthi stellt in seinen Analysen
der Dramen Shakespeares folgende Grundelemente zusammen:
'Mittelpunkt-Verschiebungen, extreme Kontraste, scharfe Sensa-
tionen, rasche Wendungen und Verkehrungen, Schwellungen, SHAKE-SPEARES
Helldunkel der gemischten Charaktere, dissonierende Szenen,
Vielschichtigkeit des Geschehens, der Bildwelt, der Sprache, das SONNETS.
Miteinander von scharfer Realistik und krasser Stilisierung, von
Natürlichkeit, Nüchternheit und Exzentrik, Ekstase, von vieldi- Neuer beforelmprintcd.

mensionaler Plastik und antithetischer Gespanntheit, von lebens-


voller Phantasie und kalter Mechanik. Dazu das Spiel mit Schein
und Sein, die Motive der Maske, des Wahnsinns, der Identität und
der Willensunterjochung, die vielen Formen der Unsicherheit, des AT LONDON
^ichverlierens und Sichgewinnens, schließlich der fugenähnliche Bjg.EUforT.T. andare
lobe toUc by —If-r—i U/liy
Aufbau, die Spiegelungen, Staffelungen, die Atektonik und Asym- »top.

metrie.) Als besonders <manieristisch> gelten Lüthi: <Titus> und


'Trrnon). Als stärkstes Beispiel für Manierismus in dem Sinne, daß Titelblatt zur Erstausgabe de
er widerstrebende Elemente mit harter Hand zur Einheit schlägt>, Sonette von Shakespeare.
nennt Lüthi mit Recht die Auseinandersetzung zwischen Richard London 160g
•tt und Lady Anne, den schlagartigen Übergang von Todfeind-
Sch
aft zu... Ehe. In bezug auf solche Stellen weist Lüthi auf ein
Wort Victor Hugos zu Shakespeare-Szenen dieser Art: <harmonie
des contraires>, und er faßt z u s a m m e n : <Shakespeares Frühwerk
stand weitgehend im Zeichen des M a n i e r i s m u s , der sich auch spä-
terhin nicht ganz verlor; doch weicht er in der mittleren Zeit einem
vollplastischen Barock.> In einer B e s p r e c h u n g dieses Werks
schreibt Rudolf Stamm, daß <die Wahlverwandtschaft, die wir mit
vielen Werken des 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t s empfinden, gar nicht
den barocken, sondern den manieristischen Stil betrifft).
Auf die Schwierigkeiten, die Rudolf S t a m m darin sieht, für die
englische Literatur mit d e m Barock-Begriff zu operieren, haben
wir schon hingewiesen. Einige der bereits zitierten M e r k m a l e des
Shakespeareschen Manierismus w e r d e n a u c h dort angeführt, un-
ter Berufung auf Arbeiten von Schücking u n d Kleinschmidt von
Lengefeld. Bei Shakespeare verwandle sich eine <Manier im nega-
tiven Sinne zu einer M a n i e r im höchsten aller Sinne>. In seinen
Tragödien werde der Scheinsicherheit der Renaissance der Prozeß
gemacht. Der <spätbarocke Geschmack> h a b e , seiner n e u e n klassi-
zistischen Neigung wegen, auf diesen <manieristischen Hochstih
negativ reagiert. - In Shakespeares Welt w e r d e n von Christian Ja-
netzki <Normen, M a ß u n d Gleichmaß> vermißt. Es gebe nichts,
woran der Mensch sich auszurichten vermöchte. Es fehle an j e n -
seitigen) Werten, Ideale seien bloße <Fiktionen>. D i e Bühnenwelt
Shakespeares habe das M e r k m a l der <schlechthinnigen Vitalität
des Normlos-Alogischem. In individuellen E n t w i c k l u n g e n gebe es
keinen Kreis. Dazu das schöne Wort: Hamlet ist eine <Tragik der
versagten Tragik>. E r i n n e r n wir auch an das Bild von T. S. Eliot:
<Hamlet ist die M o n a Lisa der Literatur.)

Das alchimistische Theater>


Shakespeares
Formale Manierismen auf der B ü h n e ! E i n e Reihe von i h n e n haben
wir auf G r u n d der zeitgenössischen Forschung belegt, doch kön-
nen wir uns damit nicht begnügen. Von einer a n d e r e n Seite der
Forschung, u m Shakespeare als Musterbeispiel für d e n <Manieris-
raus im höchsten aller Sinne> zu n e h m e n , erhalten wir andere Ele-
m e n t e an die H a n d , u m diese manieristischen Theater-<Formalis-
men> n u n mit einer spezifisch manieristischen <Ordnung> in Ver-
bindung zu bringen. Diese These Janetzkis, es fehle der Welt Sha-
kespeares an <höheren Wertem, ist n u r bedingt richtig. Sie trifft zu,
wenn man — wie auch Sypher — nur die H a n d l u n g s a b l ä u f e , nur die
Charakterisierung der Figuren u . a . berücksichtigt. Die Ordnung
suigeneris des <Manierismus im höchsten Sinne> finden wir in den
<Denk-Manierismen> von Shakespeare, in der alchimistischen und
magischen Esoterik, die Shakespeare wie viele seiner Zeitgenos-
sen fasziniert hat. Viele formale M a n i e r i s m e n Shakespeares er-
weisen sich als unmittelbarer Ausdruck dieser esoterischen
<Denk>-Manierismen, und wir werden ü b e r Shakespeare mehr
wissen, w e n n beide Elemente in der F o r s c h u n g zukünftig vereint
werden, denn die akademische S h a k e s p e a r e - F o r s c h u n g vernach-
lässigt diese <Denk>-Manierismen bei S h a k e s p e a r e , w ä h r e n d die
<esoterische> Shakespeare-Forschung seine formalen Manieris-
m e n nicht genügend berücksichtigt bzw. empirisch-kritisch noch
nicht als Ausdruck seiner <Alchimie> wertet. W i r hoffen, zu einer
Identifikation einige Elemente gegeben zu h a b e n . D a h e r nachfol-
g e n d in gebotener Kürze eine Z u s a m m e n f a s s u n g der For-
schungsergebnisse in b e z u g auf das a l c h i m i s t i s c h e Theater>
Shakespeares.
Es darf, auf G r u n d von Textanalysen, als nachgewiesen gelten,
daß Shakespeare die I d e e n , die zur R o s e n k r e u z e r - B e w e g u n g ge-
führt haben, g e k a n n t hat, die I d e e n , die sich in E u r o p a ausbreite-
ten, bevor A n d r e a e seine <Chymische Hochzeit) veröffentlichte,
16] 6, im Todesjahr S h a k e s p e a r e s . D o c h k a m es, wie wir bereits
ausgeführt h a b e n , längst v o r h e r zu einer Renaissance auch des
sraeco-orientalischen H e r m e t i s m u s . Besonders schwer deutbare
Werke Shakespeares, wie <Der K a u f m a n n von Venedig), Verlo-
rene Liebesmüh'), <Cymbeline>, <Das Wintermärchen>, <Der
Sturm>, <Ein S o m m e r n a c h t s t r a u m > , erscheinen in n e u e m Licht,
wenn man sie mit e i g e n g e a r t e t e n E r l ö s u n g s l e h r e n des Esoteris-
mus in Verbindung bringt, m i t d e r s o g e n a n n t e n M a g i e . Z u r G r ö ß e
Shakespeares gehört es, d a ß er sich von der <schwarzen> Magie
rechtzeitig distanziert hat. Pruspero schwört ausdrücklich der «gro-
bem Magie ab. D u r c h Prospero wird m a n auf <eine apokalyptische
und okkultistische E s c h a t o l o g i e gelenkt). D e r <Magier> Prospero
wird von <einer h ö h e r e n Vernunft) geleitet. Wollte Shakespeare auf
Grund der <secret studies> (zu Prospero) die Säkularisierung der
Mythen, die durch die A n s ä t z e zu einer n e u e n Naturwissenschaft
drohte, überwinden u n d d u r c h <weiße Magie> eine Remythisie-
rung versuchen? K a n n m a n Prospero mit J o h n D e e , d e m Astrolo-
gen Elisabeths, gleichsetzen? S i c h e r ist, d a ß sich in diesen zuletzt
genannten W e r k e n S h a k e s p e a r e s eine auffallende Erlösungs-
Symbolik b e m e r k b a r m a c h t , ä h n l i c h wie in Goethes <Faust>, der in
diesem Sinne a u c h e i n e n W e g v o n der schwarzen zur weißen M a -
gie geht, von Mephistopheles z u m erlösenden Mysterium des
<Ewig-Weiblichen). Auf G r u n d solcher U n t e r s u c h u n g e n n i m m t
man an, daß S h a k e s p e a r e Schriften von J o h a n n e s Trittenheim,
Agrippa von N e t t e s h e i m u n d P a r a c e l s u s g e k a n n t haben m u ß .
Auch kabbalistische Schriften m u ß er studiert h a b e n , w e n n m a n in
diesem Sinne die tiefere B e d e u t u n g seiner «Wortspiele) verstehen
will. Die <formalen> M a n i e r i s m e n S h a k e s p e a r e s sind gewiß Aus-
druck der epochalen Krise n a c h 1520, seine denkerischen Manie-
rismen aber auch Beweis dafür, d a ß g e r a d e er, mit Hilfe dieser
Hermetismen, eine Befreiung aus der Nur-Krise gesucht hat, eine
neue «Einheit):

Und hab ich erst, wie jetzt


Ich's tue, h i m m l i s c h e M u s i k gefordert,
Zu wandeln ihre S i n n e , wie die luft'ge M a g i e v e r m a g . . .

Wo jedes Etwas, i n e i n a n d e r fließend,


Zu einem Chaos wird von nichts als Freude,
Laut oder s p r a c h l o s . . .

Shakespeare w u ß t e also u m d e n «erlösenden) Kern im Labyrinth,


dem noch m y t h i s c h - g e b u n d e n e n H e r m e t i s m u s entsprechend. In
dem «Amphitheatrum A e t e r n a e Sapientiae> von Heinrich Kunrath
(Hanau 1609) findet m a n ein E m b l e m zu einer labyrinthischen
Wahrheits-Festung des Hermes Trismegistos. Wer den «rechten
Weg> kennt, k a n n , n a c h p s y c h i s c h e n u n d geistigen Irr-Gängen, bis
zur Zugbrücke g e l a n g e n , die von Hermes bewacht wird. D a n n ist
der Weg zur mystischen Vergeistigung frei, z u m geistigen Stein der
Weisen. Diese L a b y r i n t h - W a n d e r u n g führt also zur Remythisie-
rung-wie in Bachs «Musikalischem Opfer>, wie in Dantes Höllen-
Wanderung.
<Spiriti innovatori>
Diese geheimnisvolle Beziehung zwischen irregulären Formen
und heterodoxem Denken kennzeichnet tiefere Hintergründe der
Theater-Kultur von 1560 etwa bis zur Konversion Pascals (1654).
Außer bei Shakespeare erreicht sie eine künstlerische Höhe nur bei
Calderön, der allerdings der manieristischen Problematik im gei-
stigen Sinne schon früh entwachsen ist. In Italien und in Deutsch-
land verfällt dafür eine Schar von <Moderni> und <Spiriti innova-
tori>, alle jedochpoetae minores, dieser heimlichen Dialektik, ohne
ihrer Quellen nahe zu sein, so daß bald das erneut orthodoxe, kon-
formistische Barocktheater zu siegen vermag. Genannt seien we-
nigstens die Komödien des <Magiers> G.B. dclla Porta, Francesco
dTsas und Orazio Yecchis, G. B. Andreinis in Italien und Stücke des
Andreas Gryphius vor allem, des Freundes Athanasius Kirchers,
Bewunderers Monteverdis und Senecas, Shakespeares und Jost
van den Vondels in Deutschland. Seine Lustspiele vor allem sind
eine Fundgrube für Manierismen, so die Stücke: <Absurda Co-
mica> oder <Herr Peter Squentz>, <Das verliebte Gcspenst>, <Die
geliebte Dornrose> und der bekanntere <Horribiliscribrifax oder
Wehlende Liebhaber>. (Schon Satire auf den Kultismus, auf poly-
gotte Sprachspiele und auf Rätselwesen!)
Im Jahre 1610 schrieb der spanische Vizekönig von Neapel, Don
Pedro Fernando de Castro, eine Tragikomödie unter dem Titel <La
Casa confusa>. Ein hoher spanischer Beamter, ein Zeitgenosse
Graciäns, schrieb also ein Labyrinth-Stück etwa urn die gleiche
Zeit, als Shakespeare sein erzlabyrinthisches Stück <Cymbeline>
verfaßte. Auch in Neapel löst sich damals das Zeitgefühl des Atti-
zismus auf: die Einheit von Zeit und Handlung. Vor diesem Hin-
tergrund werden wir Bilder Desiderio Monsüs besser verstehen:
es sind verworrene Häuser, Symbole der Unbe-Haustheit. Eine
moderne Geistesgeschichte der Hauptsladt der beiden Sizilien zu
dieser Zeit muß uns noch geschrieben werden. Sie würde die da-
malige Sonderstellung der parthenopeischen Stadt im Hochma-
merismus deutlich machen, die einzigartige Begegnung von orien-
talischem, spanischem und lateinischem Geist in dieser noch völlig
verkannten Metropole Europas.

23. I R R G A N G R O M A N
Das U m - d i e - E c k e - S c h r e i b e n
Der manieristische Roman, letzte Stufe des Manierismus in der
<Fiktion>, hat schon im 1 7. Jahrhundert den Charakter einer laby-
rinthischen Irre-Führung durch abenteuerliche Realitäts-Brüche,
im 20. Jahrhundert den ähnlichen Charakter durch Realitäts- und
Ideen-Brüche. In beiden Fällen handelt es sich um gelegentlich
hochgespannte und um vielfach auffallend schlaffe Versuche, die
urgesetzlich einfache, unkomplizierte, rechte und rechtschaffene
Art des epischen Erzählens - eines Überschusses geistiger und lite-
raischer Problematik wegen - aufzugeben, um von schlimmeren
Gründen zu schweigen. Der lockere Kontakt mit unmittelbarem
Welt-Stoff verführt zum <Labor> - nicht der <Träume>, sondern der
Experimente mit Schilderung, Beschreibung, Darstellung, wobei
nicht nur dem Gemeinplatz, sondern auch jeder Unmittelbarkeit
ausgewichen wird. Die sinnliche, einfache, ganz anders reduzierte
Realität (Homers oder auch Balzacs) h a t - für den manieristischen
Romancier- offenbar die Wirkung, die ein Leprakranker in Afrika
auslöst. Alles flüchtet! Wer die brutale Wirklichkeit nicht bewälti-
gen kann, rettet sich in skurrile Para-Epik, in virtuose epische
Wbrtmaschüien, in phantastisch geometrisierende Erzähl-Gauke-
leien. Dafür ist der Roman als Gattung besonders geeignet, denn er
zwingt- seiner Breite wegen — nicht zu noch edler concettistischer
Knappheit. Dennoch ist gerade der manieristische Romancier be-
sonders typisch für den Manierismus als existentielles Phänomen.
Einmal steht er vor den immensen Katarakten des Lebens, dann
aber- in seinem Lebensrhythmus — vor dem Zwang, diesen brül-
lenden <Naturalismus>... in preziöse, ingeniöse Formeln zu fassen.
Für dieses <Experimentieren> bietet der Roman ein geeignetes
Feld, eine Ursteppe für gefährliches, kühnes Experimentieren, für
gleichsam literarisch-kernphysikalische Experimente — weitab von
banaler Öffentlichkeit. <Am Ufer saß ich / Fischte, die öde Ebene
im Rücken.> - <Ich weiß nicht, ob Mann oder Weib.> - <Twit, twit,
twit/Dschag, dschag, dschag, dschag, dschag/ So roh genötigte Es
sind dies Verse aus dem <Waste Land> von T. S. Eliot. <So roh genö-
tigt ... zum Experiment... So entsteht Dichtung für Dichter, Lite-
ratur für Literaten. So ergibt sich verabsolutierte Pbr-Arbeit zur
\ollendung. Insofern verhält der manieristische Romancier sich
zum Absoluten wie der Erkenntnistheoretiker zur Metaphysik. Die
Erkenntnistheorie wird verabsolutiert, die Metaphysik ist oft nicht
einmal mehr Anlaß. Die Relation zur Spätkabbalistik ist klar. La-
boratorien des literarisch-erkenntnistheoretischen Sprach-Maxi-
malismus! Welt ohne H u m o r {Daidalos), Welt ohne Kinder
{Ariadne)! Welt mit Inzest und Perversion gegen Welt mit uner-
gründlichen Kinderaugen am winzigen Urfeuer im Kamin, Welt
der immer im Ich einsamen Ver-tracktheit gegen Welt der kreatür-
lichen Eintracht.
Wenige nur hindert das Publikum, die Armen im Geiste, und
aas sind wir alle, angesichts solcher bald nur noch ingeniöser La-
byrinthe des Nichts, daran, den Traumfabriken der Technik zu ver-
fallen. <Roh genötigb auch sie. Hoffnungslos... Während die
Staatsmänner der Großmächte uns gelassen versichern, sie könn-
ten durch einen Druck auf den Knopf ganze Kontinente in die Luft
sprengen! Auch die neue Krisen-Landschaft ist vor-bildlich. Kin-
derlose Welt ohne Lachen und doch auch nur relativ heitere Welt
mit. in bezug auf den Irrsinn-Atomknopf, doch nicht allzu hoff-
nungsvollen Kindern... Beide haben also heute mehr denn je nicht
nur <öde Ebene im Rücken>... Schlimmer — für beide — die öde
Zukunft vor den Augen. Beide <Urgebärden> nähern sich also in
der heute totalen Ungewißheit. Läßt sich Integration dieser beiden
Lrgebärden denken, auch wenn wir kaum hoffen können, daß s i e -
diese Vereinigung - als das Rettende gelten mag? Wenn wir unse-
ren Höhlenbesuch beendet haben u n d wieder Licht sehen... Wer-
den wir dann das Licht wenigstens als erlösende Wärme empfin-
den? Gehen wir erst weiter, durch die letzten Gänge unseres <mun-
dussubterraneus>.
Den Roman, eine Schöpfung der Romanen, nennt Vossler eine
Gattung der Niedertracht und Starrheit). Gesunde und starke
Geister hätten ihn jederzeit verworfen, so etwa der Jansenist Pierre
Nic
oie (1625-1695), als er die <faiseurs de romans> <empoison- 465
Illustration zu Cervantes' <Don
Quijote» von Gustave Dore, Paris
1863

neurs publics> n a n n t e . E i n e strenge, eine p u r i t a n i s c h e Auffassung.


Sie k ö n n t e durch die E n t w i c k l u n g dieser G a t t u n g i m 18. u n d vor
allem im 19. J a h r h u n d e r t bestätigt w e r d e n . Die äußerst elastische
Hülse — R o m a n - verwenden, im Sinne künstlerischen Gelingens,
n u r Attizisten erfolgreich - S u b l i m i e r u n g dieser Mischform durch
strengste Architektonik ä la <Princesse de Cleve> - oder Genien der
Vitalität wie Dickens, Balzac, Tolstoi u n d Dostojewski]. W i r distan-
zieren uns vom R o m a n in a n d e r e r Weise. E r ist, in b e z u g auf seine
unmittelbar erzählerische Funktion, ebensowenig eine manieristi-
sche G a t t u n g wie das Epos u n d die Oper. Die Manieristen aller
Zeiten ziehen dem Epos das Verspoem vor u n d d e m R o m a n , im
landläufigen <realistischen Sinne>, eine n u r i h n e n g e m ä ß e Prosa-
gattung, die wir zunächst einmal —vor allem im Hinblick auf Franz
Kafka, Marcel Proust, J a m e s Joyce, Italo Svevo, H e r m a n n Broch,
Robert Musil, Ernst Jünger—, u n s e r e n A b g r e n z u n g e n folgend, als
intellektuellen P a r a - R o m a n bezeichnen wollen. Vossler betrachtet
den R o m a n als ästhetisch subaltern, weil er das Ziel h a b e die
Langeweile zu vertreiben. Wir k ö n n e n paradox dazu sagen, daß
dafür die Manieristen die Langeweile zu viel zu köstlichen seeli-
schen Erlebnissen führt, als daß sie die L u s t dazu verspüren dieses
"' Die Surrealisten haben den erzäh- Gut durch derbe Direktheiten zu vertreiben, n a c h d e m berüchtig-
lenden Roman als niederträchtigste ten Muster: <Die Marquise klopfte an, öffnete die T ü r , runzelte die
Manifestation der Bourgeoisie be-
zeichnet. Wie Vossler. Stirn und sagte: ,Guten Morgen'.> 1 6 W e n n die Manieristen Ro-
raane schreiben, so sind diese, so genial sie auch sein mögen, lang-
weilig, mißt man sie an der normalen Romantechnik des Vertrei-
bens von Langeweile durch logisch-realistische Spannungseffekte.
Nur an einer <spannenden> Romanart haben die Manieristen — au-
ßer dem Para-Roman - Gefallen gefunden, am Kriminalroman,
seines Rätselwesens, seiner Identitätsvertauschungen, seiner Arti-
fizialität, seiner Irrealität wegen.
Die letzten Romane Thomas Manns sind spannungsreiche
Grenzfalle zwischen <bürgerlich-realistischem> und manieristisch-
<intellektuellem> Roman.
Wir können unsere Versuche zur <Problematik des modernen
\lensehen> hier am Schluß unserer Darstellung über ästhetische
Manierismen nur durch einen Rundblick über diese künstlerisch
angeblich so minderwertige Gattung beenden. Sicher ist es kein
Zufall, daß der größte manieristische Roman aller Zeiten, der
<Don Quijoto von Cervantes, geschrieben worden ist, u m H u n -
derte von Romanen, Produkte fluchwürdiger Traumfabriken, ad
absurdum zu führen. In einer Hinsicht ist der <moderne> Roman,
gerade was seinen Grundcharakter, die Möglichkeit zur endlosen
Spiegelung aller Möglichkeiten angeht, ein Produkt der zentralen
manieristischen Epoche Europas, des 16. und 17. Jahrhunderts.
Erst im 18. Jahrhundert fand er — im <realistischen> England — die
Wege, die seine Mimesis-Technik im üblichen Sinne kennzeich-
nen.

24. E P I S C H E MONSTREN

Roman Fleuve
Der preziöse, galante Roman des französischen 17. Jahrhunderts
wirkt blaß gegenüber Aretino, farblos sogar gegenüber Brantöme,
glanzlos gegenüber Marino und sicherlich substanzlos gegenüber
Cervantes. Doch sind die <Romans Fleuves> der Honore d'Urfe
(Schlüsselroman <Astree> mit 20 Madrigalen, 1610), der Scudery
1
Artaniene ou le Grand Cyrus, 1649—1653) nicht weniger manieri-
stisch als Gombervilles <Polexandre> (1632) und La Calprenedes
'Cassandre> (1644-1650). Alles, Mensch wie Landschaft, bewegt
sich darin in charakteristischen Verschlüsselungen, intellektuellen
Aventüren, verzwickten Seltsamkeiten, ausweglosen Verirrungen,
•n einer schon fast gegenstandslosen labyrinthischen Umwelt.
Doch liegt das Labyrinthische dieser Romane eher in der E n d l o -
sigkeit als in der berechneten Ablenkung vom Ziel. Die Ereignisse
bewegen sich in einer Landschaft ohne Widerstand. Begegnet man
einem Berg, so wird er Ebene, einem Fluß, so wird er Brücke, ei-
nem Toten, so wird er lebendig. Der <Magier> gehört zu den Haupt-
figuren dieser Roman-Monstren, ferner das versüßte Bizarre, das
Seltsame, die verzuckerte meraviglia, die preziöse Groteske, die
^•rsnobte Alchimie. Nur Graciän hat mit diesen manieristischen
Requisiten ein Meisterwerk geschaffen, den <Criticön>. Die Um-
risse solcher mondänen Monstren passen eher zu Arcimboldi als zu
Desiderio Monsü. Mit Greco haben sie gar nichts zu tun. Letzten
tndes sind die Autoren dieser Massen bedruckten Papiers nur de-
kadente Erben des zwar preziösen, aber viel konziseren Boccaccio
u n d des scharfsinnigen J o h n Lyly (<Euphues>, 157g). I n der preziö-
sen Vorform des manieristischen R o m a n s wird die discordia Con-
cors zum n u n schon fast schülerhaft verflachten Stilmittel, aber
auch alle uns jetzt bekannten Alexandrinismen treten hinzu.

Wasserenten = Galeeren
Manieristisch sind, wenn auch in z e i t g e b u n d e n e r Form, die sym-
bolischen (Romans d'Idees> von Rabelais, Fischart u n d Cervantes.
Rabelais weist auf Bruegel hin, Cervantes auf Callot u n d Goya.
Doch ist Cervantes, nach Friedrich Schlegel, <der w a h r e Meister
der manierierten Prosa>, zumindest was die Artifizialität der Ro-
manfiguren u n d was den irregulären D u k t u s der E r z ä h l u n g an-
geht. Auch für Don Quijote verwandelt sich alles in alles — in alles,
was er sich denkt, wünscht u n d erträumt. Aus einem Spelunken-
wirt wird ein Graf, aus Wasserenten w e r d e n G a l e e r e n , aus Verbre-

Feh
Erste Seite des <Don Quijote> von
Cervantes in der Erstausgabe.
Madrid 1605

PRIMER A P A R T E
D'E JL I N G E N I O S O
hidalgo don Quixoce de
Ja Mancha«
Crfpitulo Vrimero. Que trata de la conti*
cion, y exercicio de6 famofo hidalgo don
Qujxote de U Mancha.
N Vnlugar de la Mancha,de
cuyo nombre no quiero acor-
darme,no ba mucho ticmpo
que viuia vn hidalgo de los de
tanken ajlillcro.adarga anu«
gua,rozin flaco,y gaJgocorre-

Iflfj t ^ ^ E ^ i doi. Vnaolladealgo maivaca


.. - ^=^J^\ que carnero, falpicon las mas
noches.duclos y quebrätos los
Sabados.lantcjas los Viernes algunpalotninode ana*
diduralos Domingps:confumian las tres partes delu
haiienda. £1 refto dclla concluian.fayode velartc,
cakasdc vclludoparalasfieilajjcoofus pantuflos de
A lo
468
i. wäf <£*?*1*>J*(f
Brief von Cervantes

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.,.«.. UictQor dK-ln-f y<ity*(*{{«* y ^ y ¥ ^ ,
* %k iC {htfa?<* fnrruztt* <£e,4v*c /7i*yc£$ ****

«PC

ehern Musterbilder verfolgter Unschuld. Doch wird dieser uns jetzt


Snäufige extreme Metaphorismus gebändigt durch eine für diese
MÖ unvergleichliche Kunst der Menschenschilderung, einen Ur-
kunden Realismus, womit auch Cervantes den Dualismus der
**ei Stile> überwindet und zu den großen integrierenden Schöp-
fern Europas gehört. Cervantes ist für F.Schlegel jedoch der Vor-
läufer einer -romantischen Poesie> in Prosa. 17 E r - w i e (für Schle- '' cf. Hans Eichner, Friedrich
Schlegel und wir. Deutsche Rund-
II Goethe im <Wilhelm Meister> - macht den Roman zu einem schau. 1958. Für Italien vgl. einen
begriff des wunderbarsten vermischten Stoffs> (Herder). Der entsprechenden Höhepunkt: Da-
niello Bartoli. Dell' huomo di lettere.
Jon Quijote> ist die -Gattung der Willkür>. Schlegel hat, wie man difeso et emendato. Venedig 1655,
seit kurzem weiß, die Prosa des Cervantes <die einzig moderne> und L'Huomo al punto. Neuausgabe
nannt. Was Cervantes auszeichne, sei <das ungeheuer Künstli- Turin 1930. Er galt in Italien als
(Alexander der Literatur), vor allem
ne. Tiefsinnige und Absichtsvollem Der <Don Quijote> sei <eines seiner concettistischen Kunststücke
er allerunergründlichsten, tiefsten Produkte des phantastischen wegen. Frugoni. ein Literat seiner
?s> Zeit, nannte ihn einen Hauptvertre-
- Die Spanier hätten ihn wegen seiner scharfsinnig erfun- ter des <stilo asiatico>. Bartoli ist für
i'n Intrigen <el conceptuoso> genannt. Cervantes stehe auf der Italien der «Marino der Prosa>.
e Lope de Vegas: <es sind die farbigsten, musikalischsten Sil-
»»ße, gleichsam ein Konzert in den allerkünstlichsten For-
die es in der Poesie geben kann. Es ist ein Labyrinth von
lehen Verwicklungen und phantastischen Bezauberungen.>
?el gibt uns wieder das Stichwort zu unserem Zentralmotiv: 469
das Labyrinth, und es muß uns dieses Geschenk von dem Vorwurf
befreien, auch wir seien einem <Artifiziellen> verfallen, der bloßen
Konstruktion symbolischer Bezüge in der europäischen Geistesge-
schichte.

James Joyce und Daidalos


Doch beenden wir unsere Übersicht über die <abgefeimte> Gat-
tung, über den Roman, mit einem Sprung über die Jahrhunderte.
Im Manierismus unserer Gegenwart wird der <Roman Fleuve> zum
<Roman d'Idees>. Er erreicht damit neue Tiefen, und es gelingt ihm
ein formaler Glanz, den seine preziösen Vorformen (außer Cervan-
tes) im 16. und 1/.Jahrhundert selten erreicht haben. Mit James
Joyce erlebt der manieristische Roman seine letzte und höchste
Konsequenz. Er ist zum intellektuellen Abenteuer-Roman gewor-
den, zur <Transformation des ,inneren Bildes' in ein ,äußeres
Bild'>, zum daidalischen Ingenieur-Kunstwerk, zum Musterbild
des methodischen Irr-Sinns.
In seinem <Portrait of the Artist as a Young Man> (1916) nennt
Joyce die Hauptfigur <Dedalus>. Und dieser ruft seinen antiken Na-
mensvetter an: <Alter Vorfahr, alter Kunsthandwerker, steh' mir
jetzt bei und allezeit.) Dedalus ist der legendäre Artist der Vorzeit.
Er wird zum Symbol des Schmiede-Künstlers. Graeco-orientali-
sche Mysterien erneuern sich. Bloom, die Hauptfigur des <Ulysses>,
ist <ein griechischer Jude, oder ein jüdischer Grieche, die Extreme
berührten sich>. Alle werden erlöst durch das Wirken einer Frau...
durch Ariadne.
Dieser Roman von James Joyce ist auch kompositorisch nach
den Prinzipien labyrinthischer Irreführung <gebaut>. Die Thematik
folgt sämtlichen Symbolen, die aus dem Mythos Thesews -Ariadne
- Daidalos bekannt sind. Das Labyrinth wird zum Gleichnis der
menschlichen <Existenz>, zum Sinnbild des Unterbewußten. Sei-
nen Ausgang zu finden heißt Erlöst-Sein. Doch ist das Labyrinth
18
cf. auch Andre Gides <Theseus>.
Theseus sagt: <Du kannst Dir nicht
ein endloser <Korridor>.18 Seine finstere Kraft ist stärker als die
vorstellen, wie kompliziert ein Laby- Hoffnung der meisten. Dublin, die Stadt, das Leben, der Mensch,
rinth ist. Selbst Daidalos, sein Er-
bauer, findet den Ausgang nicht
alles ist Labyrinth. Man verliert sich, wenn man den Mittelpunkt
mehr.> cf. auch Marcel Brion. Hof- bzw. den Ausgang gefunden zu haben glaubt. Der Minotaurus aber
mannsthal et l'experience du labv- lauert im Zentrum. Was geschieht, wenn man in die verwickelte
rinthe. In: <Cahiers du Sud>. 1955,
Nr. 533. Tiefe gelangt? Die Höllen Homers, Vergils, Dantes, Rabelais',
Grimmeishausens, Goethes, Kafkas, Sartres erscheinen harmlos
gegenüber dem labyrinthischen Inferno des Daidalos. In ihm leidet
man an der Ausweglosigkeit und an sich selber, denn - alle mögli-
chen und ohnehin unauffindbaren Ausgänge sind vermauert. Ja-
mes Joyce schildert das Grauen: <Aller Dreck der Welt, aller Mist,
aller Sumpf sammeln sich dort (im Labyrinth) an, wie in einer
qualmenden Kloake.> <Darin wird jeder Verdammte sich selbst zur
Hölle.> Alle Sinne werden gequält und vor allem der Geist, der
'^ Diese Schilderung entspricht He-
rodots Bericht über das hier schon dazu verdammt ist, ewig um die Auswegslosigkeit zu wissen. Nur
oft genannte 'tollste» Labyrinth der durch List, durch ingeniöse Erfindung, könnte man dem Laby-
Well im antiken Ägypten.
rinth entfliehen, wie Daidalos es mit seinem Sohne Ikaros ver-
suchte.
Rebellisch wird hier die Macht des erfinderischen Verstandes
dem Fluch der Verdammnis entgegengestellt, wie Faust es schon
versuchte. Doch findet Goethes Faust einen Ausweg. Faust wird,
am Ende des zweiten Teils, zur remythisierten Figur des <Inge-
470 nieurs>. Er entrinnt dem Zweifel der Hölle. Soziale Karitas wird
höchster Lebenssinn: Sümpfe trocken legen, auf freiem Grund
mit freiein Volke steint >. I >a> ist die Voraussetzung für die Erlösung
fauste. f"r »einen mythischen Erlösung«-Flug, wahrend die Ge-
schöpfe Joyces beillos im Inferno verharren. Goethe umfaßt, wie
Dante und Shakespeare und Bach, alle Sphären:
Und hat an ihm die Liebe gar
Von üben teilgenommen.
Begegnet ihm die selige S» bar
Mit herzlichem \ \ illkommen.
FÜNFTER TEIL

Der Mensch als


manieristisches
Thema

25. D I E N A C H T S E I T E DER
GOTTHEIT

Phantastische Mystik

G
espanntheit! Über-Gespaiintheit: sie bestimmt den extre-
men Duktus der manieristischen Ausdrucksgebärde. Ein
leidenschaftlicher, irrationaler Ausdruckszwang wird - ' Auch Wvlie Sypher. Four Mag«-s "f
durch diese Gespanntheit — gleichsam in seiner zweiten Aus- Renaissance Style (o.e.) weit) aul
<t\vo modes> des Manierismus hin.
drucksphase künstlich, konstruiert, unschuldlos, Ausdruck eines auf eine «technische, und eine |js\-
Kalküls , eines exzentrischen Planes. Daher der doppelte Charakter chologische>. Er sieht auf der einen
Seite «terhnical ingenuitie*». auf der
dieser Urgebärde der Menschheit, ihre Zwiespältigkeit, ihre Mi- anderen •personal unre$t> (p. 116)
schung aus Vitalität und Intellektualität, aus besessenem Willen Und er heht ebenfalls das Element
nach Grenzüberschreitung und Bewußtseins-Spiegelung. Ele- der < Spannung> hervor sowie die (in-
dividuelle) Elastizität der Formen
mentares liegt in der ersten Phase dieser Geste. Die zweite Phase (Streckung). Die Wurzeln der \nii-
ist eine Gebärde vor dem Spiegel. Daher der irritierende Doppel- nomie in einer Gebärde sind uns |et7t
bekannt. Doch hat schon Cii ero aul
sinn jeder manieristischen Hochform. Das Bild einer in diesem zwei Arten (gern«) des asianischen
Sinne <über>-spannten Gestik löst auch dieses Rätsel. Die Zurück- Stils hingewiesen: «Genera Asiati< ae
dictionis duo sunt: uniini seilten-
führung des Manierismus auf eine solche spannungsreiche Urge- tiosuin et argutum. sententiis non
bärde löst seine Eigenart keineswegs auf. Im Gegenteil. In der tarn crebris et severis quam concni-
Spannungsstrecke zwischen elementarerem Ansatz ((Dionysos) nis (künstlich) et venustis (pnziäs)...
Aliud autem genus est non tarn sen-
und gespiegeltem Endschwung (Daidalos) liegen tausendfältige tentiis frequentatum quam verins,
Nuancen, liegen die vielen einzelnen Gradpunkte höchst individu- volucre {beflügelt) atque incitatum
(aufreizend)'. Brutus 525. cf. Norden
eller Eigenart.1 o.e. p. 154,
Demiurgen und Paranoiker
Die Welt m a g ein unentwirrbares Labyrinth sein. Könnte es aber
einem Hyper-Genie, einem U l t r a - P h a n t a s t e n nicht einmal gelin-
gen, nicht n u r dem Heros Theseus, sondern der g e s a m t e n Mensch-
heit den erlösenden Ariadne-Faden dazu zu schenken? Dieser
wahnsinnige Griff nach visionären, erlösenden Weltformeln, die-
ser derniurgische Wahn, das ist für den <Problematiker>, als psychi-
schen Archetypus der Manieristen, eine der Gebärde-Arten, die
seinen tiefsten Ausdrucks/.wängen entsprechen. Die Zerreißprobe
zwischen dionysischer Umrißlosigkeit u n d daidalischer Umzirke-
-' iVrdrix. der Neffe des Daidalos, lungssucht 2 bestehen n u r wenige. Es gibt ein Schattenreich des
von ihm aus Neid ermordet, hatte Manierismus, darin unendlich viel Gescheiterte: Erfinder, Kunst-
den Zirkel erfunden.
Ier, Dichter, Philosophen, Politiker, meist P a r a n o i k e r , hypoma-
nisch verrannte Entdecker der Q u a d r a t u r des Kreises. D e m gieri-
gen Streben nach der letzten Weltformel entspricht die erbar-
mungslose Folge des stetigen Scheiterns, u n d aus i h m entwickeln
sich Melancholie und Zweifel, der saturnische Defekt par excel-
lence. Der Zweifel! Er verhindert das E n t s t e h e n lebendiger Sym-
bole kurz vor ihrer Geburt. M a n will das W e r d e n im Brennglas des
Intellekts auffangen u n d damit eine m a g i s c h e Wahrheit aufflam-
m e n lassen. D o c h das W e r d e n entzieht sich d e n Ingenieur-Kün-
sten des Daidalos. Es entflieht seinem Zirkelgriff i m m e r wieder
Dionysos, so daß ihm, Daidalos, der süchtig ist n a c h erlösender
Welt-Form u n d befreienden Welt-Formeln, die Welt i m m e r wie-
der labyrinthisch erscheint.
Was also die Gespanntheit der manieristischen Urgebärde an-
regt, ist immer wieder diese fatale Zwiespältigkeit in einer aller-
dings großartigen G i e r n a c h Welt-Einheit. Aus dieser Zwiespältig-
keit ergibt sich nicht nur die Gespanntheit, s o n d e r n auch das Dop-
pelleben in manieristischer Kunst, Musik u n d Literatur, in jedem
sich auszeichnenden manieristischen D e m i u r g e n , d . h . <Werkmei-
ster> und (irdischem) <Weltschöpfer>. Sie bleiben d e m Dionysi-
schen verfallen: dem Traum, der von vitalem T a u m e l unterbro-
chen wird u n d wieder in träumerischer L a n g e w e i l e verendet; der
Vision, die zu melancholischem G r ü b e l n entartet; der surrealen
Phantastik, die sich im subrealen P a n s e x u a l i s m u s erholt; vor allem
dein Rausch. Die E r i n n e r u n g e n d a r a n r e g e n i m taedium vitae, im
Lebensekel, d a n n zu artifiziellen Konstruktionen an. Auf die alogi-
sche Rationalität des Dionysischen wird d u r c h eine abstruse Intel-
lektualität des Daidalischen reagiert.

Künstliche Paradiese
F ü r den nicht-<erlösten> Manieristen, d.h. für den, der nicht zum
<mvthischen> Kernraum vorzudringen v e r m a g , gibt es d a n n viel-
leicht hin u n d wieder, a u ß e r der Hölle, ein <Paradies>, aber dann
n u r ein künstliches Paradies. Charles Baudelaire hat in seinen <Pa-
radis Artificiels> die <künstliche> Erlösungsmöglichkeit des nur
Verfallenen im intellektuell gelenkten R a u s c h beschrieben, im
Wein-, Haschisch- und O p i u m r a u s c h . Dieses Werk ist b e m e r k e n s -
wert. Wie k a u m einer vor ihm h a t Raudelaire die Rauschgiftwir-
kung <umzirkelt>. Was erfährt der in künstlichen P a r a d i e s e n Be-
glückte? <Unverständliche Grenzenlosigkeit, unauflösbare Wort-
spiele, barocke Gebärden.> E r sieht d a u e r n d <bizarre Köpfe>. Er
4.74 erfährt <die eigenartigsten Doppeldeutigkeiten (equivoques), die
unverständlichsten G e d a n k e n ü b e r t r a g u n g e n ) . <Die Töne werden
Farben, die Farben Klänge.> <Die P r o p o r t i o n e n von Sein und Zeit
werden verschoben.) M a n w i r d e i n e r w u n d e r b a r e n (merveilleux)
und phantastischen W e l t teilhaftig. M a n genießt ein i n t e l l e k t u e l -
les Paradies> mit <barocken K o m b i n a t i o n e n ) . E s sind dies die
Güter, die e i n e m ein <ideal artificieh schenkt. Haschisch ist ein
<Konvexspiegel>. In i h m fügt sich alles zu <Analogien> und <Korre-
spondenzen> ä la Swedenborg. <Die S o p h i s m e n des Haschisch sind
zahlreich und w u n d e r b a r . ) D e r H a s c h i s c h r a u s c h gleicht dem dich-
terischen Rausch. In diesen V e r w i r r u n g e n {aberrations) wird der
Mensch gottähnlich. D i e W e l t w i r d d u r c h evokative Verzauberung
zu einer magischen Allegorie.
Wie man erkennt, w i r d der R a u s c h systematisiert. Baudelaire
sagt es ausdrücklich: n u r d e r <Höherstehende>, der (Geistige),
kann durch Rauschgift e c h t e k ü n s t l i c h e P a r a d i e s e entstehen las- Charles Baudelaire,
sen; der nur a n i m a l i s c h e M e n s c h w i r d d u r c h D r o g e n seine tieri- nach einer Zeichnung ron
sche Natur lediglich verstärkt s e h e n . Edouard Manel

Gespanntheit! Es gibt k e i n e n R u h e p u n k t ! E r i n n e r n wir uns: M a -


rino hat den Seiltänzer (Sinnbild seiner selbst) mit e i n e m <neuen
Daidalos> verglichen. U n d d e n Tanz n e n n t er <geometria meravi-
gliosa>. Die A u s d r u c k s g e b ä r d e für solche Gefühlsspannungen
muß extrem sein, sie muß zittern i m vitalen <Furore> wie in intellek -
tueller Eiseskälte, sie muß sich ü b e r s t e i g e r n . N i e m a n d k a n n derar-
tig hohe Druckverhältnisse m i t G l e i c h - M a ß d a u e r n d ertragen.
Alle großen M a n i e r i s t e n k e n n e n d e n vitalen Ermattungszustand
des (Stumpfsinns) o d e r d e r <Larigeweile>, der i n n e r e n Stummheit
und das E n t s p r e c h e n d e d a z u : d i e vergrübelte Skepsis, den Zweifel,
den unbändigen D r a n g n a c h totaler Heterodoxie, nach wildem
Anti-Konformismus, n a c h I n - F r a g e - S t e l l u n g jeder Art von Abso-
lutem. Deswegen schreibt j e d e g e s c h l o s s e n e Gesellschaft) die M a -
nieristen auf schwarze L i s t e n , j e d e <offene Gesellschaft) des Über-
gangs sie ein in ihre K a r t o t h e k e n der Verheißungsvollen. In seiner
vitalen Verbundenheit m i t d e m Dionysischen ist der Manierismus
der Phantastik verfallen. I n s e i n e m daidalischen Fluch: der im-
merwährenden existentialistisehen Analytik, der Zerr-Spiegel des
Absoluten in der Kasuistik.
Wir haben d a m i t zwei letzte E l e m e n t e , u m abschließend die exi-
stentielle Struktur m a n i e r i s t i s c h e r D e m i u r g e n als ingeniöse Werk-
meister und irdische p h a n t a s t i s c h e <Weltschöpfer> zu erklären: die
Phantastik u n d die Kasuistik.
Die spezifisch <demiurgische P h a n t a s t i k ) der Manieristen führt
(meist aus m a g i s c h e n A n r e g u n g e n ) zur Mystik, der spezifische
Zweifel ( aus d e m Scheitern) z u r pseudologischen Mnral der exi-
stentialistischen Kasuistik. D o c h interferieren in der manieristi-
schen Mystik beide: die P h a n t a s t i k u n d die Kasuistik. Das Binde-
mittel ist eine p a r a d o x e religiöse Erotik.

E r s t a r r u n g auf dem Gipfel


Das Phantastische t r ä g t die ( G e g e n s ä t z e der S p a n n u n g offen in
sich). (Die Gegensätze e r w e i s e n sich in einer S p a n n u n g nach oben,
wesentlich vom religiösen G e f ü h l erzeugt) (Bewußtseinsaufhe-
bung in der Mystik u n d E k s t a s e ) , <und in einer S p a n n u n g nach
unten, dem U n n a t ü r l i c h e n , W i d e r - u n d Unternatürlichen, dem
Abfall vom Seelischen in d e r L e t h a r g i e , Melancholie, in der
Gleichgültigkeit, d e m Abfall v o m Verstände i m U n s i n n , Irrsinn, im 475
Alogischen u n d im Grausamen-> <Es ist dieser so gelagerte Trieb
zum Phantastischen allerdings <die schöpferische Kraft kat'exo-
chem. Diese Phantastik, als ein Antrieb z u m Mystischen, hat
Wahn-Sinns-Charakter, im dionysischen S i n n e , speziell, wie ge-
sagt, im Sinne einer religiösen Erotik. W e n n der englische Dichter
Spenser den Liebesakt mit d e m Blutmysterium des christlichen
Sakramentes vergleicht, w e n n der heilige Ignatius meint, man
müsse die Gottheit riechen, w e n n J o h n D o n n e seiner <Herrin> sagt:
<Uns gehören unsere Körper, aber wir sind n i c h t sie, wir sind die
Intelligenzen, sie die Sphären>, so h a b e n wir schon einige differen-
zierte Formen für die phantastische Mystik, die im bildlichen Aus-
druck intellektuell wird. Die mystische Ekstatik erstarrt gleichsam
auf ihrem Gipfel. An die Stelle des Sich-Verlierens i m Göttlichen
tritt die <gesuchte> metaphorische Definition. Typisch dafür ist Ri-
chard Crashaws berühmtes Gedicht: <Hymne to Sainte Teresa>:
<Scare hath she blood enough, to rnake / A guilty sword blush for
her sake-> Ein schaurig-phantastischer Vers marinistisch-ange-
wandter Mystik: <Kaum hat sie Blut g e n u g , u m ein schuldiges
Schwert für sie erröten zu lassen.>
Marinistisch? In einem Gedicht M a r i n o s über eine Madonna
Raffaels heißt es, die Gottesmutter h a b e <ihre Milch der schönen
Sternenstraße (Milchstraße) e n t n o m m e n ) . M a n k ö n n t e sagen: mit
der linken H a n d faßt m a n das <Elementare>, d u r c h die rechte wird
es schon künstlich umzirkelt, im S i n n e desPe?<ira:-Zirkels, auf den
Daidalos so eifersüchtig war. D i e Schriften d e r graeco-orientali-
schen Mystiker der Antike, der Kirchenväter, der g r o ß e n Mystiker
des 16. und 17. Jahrhunderts: hl. Teresa (1515—1582), J u a n de la
Cruz ( 1 5 4 2 - 1 5 9 1 ) , Miguel de Molino (1640—1 697), Franz von Sa-
les (1567-1622), Berulle ( 1 5 7 5 - 1 6 2 9 ) , Angelus Silesius (Johann
Scheffler, 1624—1677), u m n u r einige der g r ö ß t e n zu n e n n e n , die
eine bisher unübertroffene Vertiefung des kontemplativen Lebens
durch die Energie der auch im Glauben persönlichen Aktivität er-
wirkt haben, m ü ß t e n einmal auf ihre sprachlichen Manierismen
untersucht werden. Wir hätten eine n e u e g r o ß e A h n e n r e i h e des
Manierismus von der Antike bis zur h e u t i g e n M o d e r n e .

Jesus-Minne
Einige wenige Beispiele wollen wir zu diesem T h e m a n o c h geben,
speziell deutsche. Quirinus K u h h n a n n in der <Seele-Jesu-Gespie-
lin>: <So spielen die lieblichen Buhlen z u s a m m e n / u n d m e h r e n im
Spielen die himmlischen F l a m m e n , / D a s eine v e r m e h r e t des an-
deren Lust / Und beiden ist nichts als die L i e b e bewußt. / E r singet,
er spielet: er küsset, sie herzet...> Schon <surreal> abstruse mysti-
sche Phantastik finden wir aber v 0 r allem in e i n e m Werk von An-
gelus Silesius mit dem bezeichnenden Titel: <Sinnliche Beschrei-
CT

b u n g der vier letzten D i n g o . <Zu h e i l s a m e n Schrecken u n d Auf-


m u n t e r u n g aller Menschen.) E i n Concetto ü b e r das Paradies:
<Dort färbet sich der Karneol / D a spiel'n die H y a z i n t e n / Hier sieht
man den Chrysopas wohl / U n d den Topas dort hinten! / Wie
schöne scheint das H i m m e l b l a u / D e r w ü r d i g e n Saphiren / Wie
grünet des Smaragdes Au / W i e k a n n Beryll sie zieren.) - <Er (Je-
sus) setzet ihnen ferner vor / die Klarheit seiner Seele / U n d hebt sie
etwas m e h r e m p o r / In der d u r c h s u c h t e n H ö h l e ; / Zuletzt läßt er
das Konfekt / Von seiner Gottheit k o m m e n / D a bleibt die Tafel
stets bedeckt / Und wird nie a b g e n o m m e n . ) - E i n Concetto über
JZrdxlafi^ an , a<us Utefe
Titelblatt zur Amoldschen Auegabe
des «Cherubinischen
VVandersmanns>, 1 ~oi

2tngtlinf Je: &amb

die Seligkeit: <Da werden sie in'n dunklen Grund / Der Reichtümer
verzucket / Und von dem allersüßesten Mund / Der ew'gen Lieb
verschlucket; / Da fället hin die Anderheit / Da ist nur eins zu spü-
ren / Da muß man sich in Ewigkeit / Für Wollust selbst verlieren. >
In der europäischen Jesus-Minne übersteigert sich die phanta-
stisch-ver-spiegelte Mystik des Manierismus. Auch dazu einige
Beispiele aus des Angelus Silesius <Heilige Seelen-Lust oder geist-
'lcne Hirten-Lieder der in ihren Jesum verliebten Psyche> (1675).
1 fyche jagt Cupido fort, den <dummen>, sie hungert gierig nur noch
nach Christus: <Ach, wie süß ist Dein Geschmack / Wohl dem, der
'»n kosten mag! / Ach, wie lauter, rein und helle / Ist Dein Ausfluß.
Deine Quelle / Ach, wie voller Trost und Lust / spritzet Deine milde
Brust> - <Ei, so fleuß' doch schleuniglich / In mein Herz und traute
mich! / Fleuß' herein, auf daß ich trinke / Und mit Dir in Gott
y
ersinke / Da ich bis in Ewigkeit / Schmecke Deine Süßigkeit.> -
ftyche, der Christenmaid, Sehnsucht wird unbändig, phantastisch
-<clionysisch>: <Zeuch mich nach Dir / So laufen wir / Dein liebstes
He
R zu küssen / Und seinen Saft / Mit aller Kraft / Aufs beste zu
477
'Joanne? 5<i*£(cnuf

genießen.> Paroxisrnus <dionysischer> J e s u s - M i n n e , manieristisch-


phantastische Mystik, in concettistischer Form! — <Zeuch' mich in
Dich / Und speise mich / Du ausgegoßnes Öle, / G e u ß Dich in
Schrein / Meines Herzens ein / U n d labe D e i n e Seele.> — <So laß
mich denn nach diesem Bund / Erreichen D e i n e n R o s e n m u n d ; /
E r h e b e mich / D a ß ich ihn küsse / U n d seines H o n i g s e i m s genieße
/ Damit sich ende mein Verlangen / Das mich von J u g e n d auf ge-
fangene — <Wie süß ist es, bei Dir zu sein / U n d kosten Deiner
Brüste Wein!> - <Wie süß ist es, in Deinen A r m e n / E m p f i n d e n
Deines Geistes Gunst / U n d von der heißen Liebesbrunst / Bei Dir,
Du heil'ge Glut, erwarmen.> — <Verzücke mich, verzücke mich /
Mein Jesus, ganz in Dich.>
Hätte Johannes Scheffler, alias Angelus Silesius, trotz aller die-
ser Manierismen nicht den unverwechselbar kindlich frommen
Märchenton, so wäre m a n versucht, zu erschauern, zu lachen oder
gar psychoanalytische Instrumente hervorzuholen. All dies wäre
banal. Was hindert uns hingegen daran, hier — in den brünstigen
Gebeten Psyches an Jesus - den Nachhall dionysischer Ariadne-
C h ö r e zu hören, Nachklang der Gesänge zu d e n T ä n z e n , die Dai-
dalos Ariadne für ihren Dionysos-Kult schenkte? Die pietistische
Ekstase der J e s u s - M i n n e hat gewiß wenig vom Arterien-Blutrot
der dionysischen M ä n a d e n , aber die demiurgische Erotik ist u n -
v e r k e n n b a r . . . im Irritieren schon, im Irritieren durch mystische
Phantastik als <Spannung nach oben und als Spannung nach un-
tern- Angelus Silesius steht, was noch echte Bezüge dieser Art im
Europa seiner Zeit angeht, unübertroffen - als Mystiker und Ma-
nierist-den christlichen Mysterien nahe. Er gehört zu den überra-
genden Manieristen, die - auf ihre Weise - in einer geistig verküm-
mernden Umwelt zur Remythisierung der Welt beitragen wollen,
mit allen Mitteln allerdings, die ebenso <verblüffend>wie fragwür-
dig),
dig>
aber, was <asianische> Demiurgie durch Erotik angeht, älter
sind als jede Form von <attizistischer> Gottesverehrung.

Gott und Elefant


Wie für Tesauro die Orakelsprüche der Antike die Quelle des
«dunklem Concettismus sind, so sind für die phantastische Mystik
der Manieristen Antrieb und Ansporn die Mysterien der Antike.
Schon das Wort <Mysterion> (griechisch) ist nicht europäischen
Ursprungs. Es geht zurück auf die Sanskrit-Wurzel <mush> (fort-
nehmen, stehlen). Was <Mysterien> der phantastischen Mystik des
Manierismus angeht, so haben wir es mit einem <Clair-Obscur in-
tellectueb zu tun. <Die Dunkelheit wird für Licht gehalten.) 3 Dun- 5
Scheeben o.e. p. 7. dazu Sc beebens
Wort: Das Geheimnis der christli-
kel ist Dionysos. Erhellen, erfassen, umgrenzen will ihn Daidalos. chen Theologie'' -Wo liegt dieses, ihi
Das phantastische Clair-Obscur bildet die Grundfarbe des Manie- eigentümliches Gebiet, wenn nicht
in den Geheimlehren?) o.e. p. 17
rismus schon in der Antike. <V\ir schauen durch das eine I Sebie)
Und was ist Religion? Sehen wir es uns auf einer <phantasti- ins andere hinein.> o.e. p.39 Zu
Mystik und (kabbalistischer) Spra-
schen> Allegorie Cesare Ripas an! Eine Matrone hat ein verschlei- che cf. Scholem o.e. p. 11 ff.
ertes Antlitz, denn Gott erscheint, wie Ripa auf Grund eines Pau-
lus-Worts erklärt, in der Religion <per speculum in aenigmato.
Religion ist ihrem Wesen nach immer <segreta>, geheim. Das
Kreuz symbolisiert Christus, das Buch die Offenbarung, das Feuer
die Frömmigkeit. Daneben steht aber ein Elefant! Er ist für Ripa
die Hieroglyphe der Religion schlechthin! Warum? Dieses <sel-

Cesare Ripa: Religkme (aus


<Iconologia>. i , g i )

479
tene> Tier verehrt, nach Plinius, S o n n e u n d Sterne. Bei Neumond
badet es sich im nächsten F l u ß . W e n n es k r a n k ist, schleudert es
Wiesenkräuter gegen den H i m m e l , u m H e i l u n g bittend. Cesare
Ripas <Iconologia> bietet uns jetzt weniger <Allegorik> als emble-
matische <Ikono-Mystik>. Wieder ein geistesgeschichtlicher Chias-
musä l
Hätte m a n Angelus Silesius, der alles <Heidnische> ablehnte,
diese Allegorie zur D e u t u n g vorgesetzt, so h ä t t e er wahrscheinlich
versagt, ebenso wie Plinius ratlos gewesen w ä r e , w e n n m a n ihm die
Hieroglyphe der Jesus-Minne von Angelus Silesius zur Enträtse-
lung vorgelegt hätte. U n d doch e n t s p r e c h e n sich alle p h a n t a s t i -
schem Mystiker in einem: im Begriff der Gottheit als: <speculumin
a e n i g m a t o . M a n m u ß n u r die Symbole — zu jeweiligen Epochen -
als Ausdruck einer entsprechend verschlüsselnden Urgebärde zu
deuten lernen. E i n beseligend-versöhnlicher A r i a d n e - F a d e n er-
löst uns dann aus den n u r a n s c h e i n e n d verworrenen Bezügen der
Geschichte. Die <phantastischc>, <paralogischc> M e t a p h e r wird in
der manieristischen Mystik zu e i n e m faszinierenden Kode Gottes.
Aus dem n u r literarischen M e t a m o r p h i s m u s wird ein Metamor-
phismus des U n n e n n b a r e n .
Doch, wir wiederholen es: die spannungsvolle G e b ä r d e des Ma-
nierismus bewegt sich auf einem b r e i t e n u n d differenzierten Grad-
messer. D e r M a n i e r i s m u s hatte sich als Aufstand gegen Regel-
zwang zugunsten individueller Schöpferkraft entfaltet, schon in
der Antike. Wo diese <Naivität> fehlt, k o m m t es zu oft unerträgli-
chen, oft r ü h r e n d e n Geschmacklosigkeiten, a u c h in der phantasti-
schen Spiegelmystik. Bezeichnend sind die abenteuerlichen Titel
m a n c h e r mystisch-phantastischen Bücher, die an zeitgenössische
Sekten im heutigen Amerika u n d E u r o p a d e n k e n lassen: <Die gei-
stige Tabakdose, dazu dienend, die f r o m m e Seele z u m H e r r n nie-
sen zu lassem. <Das süße M a r k , die zarte T u n k e der Heiligen und
'FürembtematischeBeispieled«u d e r saft. K n o c h e n d e s Advents>. <Mystischer Einlauf, u m die
D J
vgl. Mario Praz, Studi sul Loacet-
lismoo.c. p. i;,ii. Seelen zu retten, die an religiöser Verstopfung leidem.

26. W E I S S E U N D
SCHWARZE M Y S T I K
Satanismus
<Wenn es>, n a c h J e a n P a u l , <eine M a g i e der Einbildungskraft) gibt,
so bezieht sie sich i m m e r auf <weiße> oder auf <schwarze> Magie,
aber auch, so k ö n n t e m a n sagen, auf weiße u n d schwarze Mystik.
Des Angelus Silesius panerotische J e s u s - M i n n e gehört der weißen
Mystik an; sie ist eine christliche Sublimation der w e i ß e n Magie.
G e n a u s o gibt es eine mystische Adaption der schwarzen Magie,
n ä m l i c h die schwarze Mystik des M a r q u i s de Sade, den die Surrea-
listen bekanntlich zu ihren A h n e n zählen. H i e r wird die Säkulari-
sierung (der phantastischen Mystik) zur schwarzen Mystik in para-
noisch-verblüffender Weise z u m geistesgeschichtlichen Ereignis.
In d e n B ü c h e r n des Donatien Alphonse Frangois de Sade
( 1 7 4 0 - 1 8 1 4 ) erfolgt eine totale Reversion der christlichen Glau-
benswelt ins Satanische. Der weiße mystische E r o t i s m u s der
480 Teresa von Avila, des Angelus Silesius usw. wird zu einer schwär-
zen mvstischen Obszönität. Sades Bücher sind keineswegs nur por-
nographisch. Die Welt wird erklärt als Entsprechung der satani-
schen Finsternis. In dem Roman: <Juliette ou les prosperites du
vice> (1798) hat ein satanisches Monstrum die <bizarre> Welt ge-
schaffen. Gott-Satan ist das Ur-Böse. Das Böse ist gut. Das Verbre-
chen hat einen kosmischen Ursinn. Das Verbrechen ist <sublim>,
denn es offenbart die tiefste Wirklichkeit der Welt. Zu Motiven der
Kunst werden Schlachthäuser, Bordelle, Psychopathen-Galerien.
Die Monstrositäten Senecas und Shakespeares treten nicht nur in
<heteroklitischer> Übertreibung auf; sie werden mit liturgischen
Symbolen schwarzer mystischer Messen kommentiert. Die Hete-
rodoxie wird Blasphemie. Zerstörung führt zur <Ekstase>. Sie ist
eine <göttliche Infamie). Das Genie lebt nicht im <Reiche der Müt-
ter, sondern im Reiche der Hexen).
Der «göttliche Marquis> hat im Untergrund der europäischen Li-
teratur, insbesondere in der Literatur, die von der französischen
und englischen Romantik zur ersten Phase des französischen Sur-
realismus führt, einen größeren Einfluß gehabt als Voltaire. Er lö-
ste ein ganzes Pandämonium von schwarzer Mystik aus. Baude-
laireverlangte: <Man m u ß immer auf de Sade zurückgreifen.) Lite-
rarische Herolde der schwarzen Mystik findet man in den Studien
von Mario Praz. Nennen wollen wir Schillers <Räuber>, Byrons
<Childe Harold>, Flauberts <Versuchung des hl. Antonius>, die
<Chants de Maldoror> von Lautreamont, Gautiers <Une Nuit de
Cleopatro, Swinburnes <Cleopatra>, O.Wildes <Sphinx>, Josephin
Peladans <Ethopee>.

Geister von Verstorbenen


Von zeitgenössischen Dichtern des westlichen Europa, die <Mord>
und <Verbrechen> als höchstes Erlebnis preisen und über deren be-
geisterte <humanistische> Kritik im gleichen <Westen> müßten wir
zu lange Listen aufführen. Wenige <Lemuren> mögen (für einen
Lemurenwald) genügen. Daß Dichter, die nur noch dem Lemuri-
schen nachjagen, selbst zu Lemuren werden können, das wäre ein
Thema für E.T. A. Hoffmann (Lemuren von lat. lemures = Geister
von Verstorbenen). Besser: Geister der Todgeburt Ariadnesl Sa-
muel Becketts Bühne ist kein Spiegel der Welt! Er ist ein Brenn-
spiegel aller lemurenhaften Pseudo-Dichter! Beckettwar Sekretär
von James Joyce: Tötentanz des verstorbenen Ultramanieristen auf
dem Schreibtisch des Herrn <Secretarius>, des um die Geheimnisse
Wissenden. Es fehlt uns ein Cervantes zu unseren heutigen <Rit-
ter>-Büchern!
Mario Praz gebührt das Verdienst, der Literaturgeschichte diese
Bezirke erschlossen zu haben. Es wäre geistlos, dagegen einzuwen-
den, es habe diese ganze Lumpensammlung nur wenig Sinn, weil
es darin keine oder nur selten Kunstwerke gäbe. Tatsache ist, daß
man Dichter von Rang wie Byron, wie Baudelaire, wie Joyce, ohne
diese Unterwelt der schwarzen Mystik zu kennen, nicht richtig ver-
stehen und würdigen kann. Die moderne europäische Literatur-
kritik und Literaturwissenschaft hat - vergleichsweise - etwas von
den Methoden der empirischen Archäologie übernommen. Wirk-
lichkeit des menschlichen Daseins wird nicht nur durch Untersu-
chung und Darstellung vollendeter antiker Kunstmonumente er-
schlossen. Der Stempel auf einem Ziegelstein, ein Mosaikrest, ein
Saulenstumpf können «offenbarendem Wert für geistige Rekon- 481
struktion aller Verhältnisse des M e n s c h e n h a b e n . Die jüngere Li-
teraturwissenschaft u n d Literaturkritik des Okzidents lenkt unse-
ren Blick damit auf n e u e historische H o r i z o n t e . Sie erweitert unser
Wertbewußtsein durch die F o r m u l i e r i m g n e u e r Maßstäbe. Es
wurde dies möglich durch eine sachliche Rezeption des nun schon
zur Geschichte gewordenen <modernen> Avantgardismus unserer
Großväter.
Angeregt w u r d e es d u r c h die E r k e n n t n i s , d a ß der klassizistische
und humanistische Kanon des I d e a l i s m u s oder gar der <realisti-
sche> des Empirismus auch n u r A u s d r u c k einer ebenso abgegrenz-
ten wie stilisierten Welterfahrung ist. D e m z u f o l g e liegen gleich-
sam über Nacht verrufene E p o c h e n in g ü t i g e r e m Licht vor unseren
Augen. Die <asianischen> S t i l ü b e r t r e i b u n g e n , P r o d u k t e der grie-
chischen u n d semitischen K u l t u r e n des alten Orients, die Cicero
bei der Wiedergeburt eines n e u e n , eines lateinischen Attizismus
tadelt, gelten ebensowenig n u r als Stil-<Verwirrung> oder als Snl-
<Barbarei> wie die revolutionären literarischen Ausdrucksformen
Europas in der Zeit von der G e b u r t S h a k e s p e a r e s bis zur Konver-
sion Pascals. Die klassizistische Literaturästhetik des Idealismus
erweist sich angesichts dieser n e u e n U n b e f a n g e n h e i t als ebenso
unzureichend wie die <rationalen> Kriterien der sogenannten li-
beralen Schulen. Die kategorialen E r k e n n t n i s m i t t e l der neuen
Literaturkritik u n d Literaturwissenschaft sind allerdings durch
zahlreiche n e u e heuristische P r i n z i p i e n im g e s a m t e n Bereich der
Geisteswissenschaft zustande g e k o m m e n , so vor allem durch Er-
kenntnisse der Tiefenspsychologie u n d der existentialistischen
Philosophie, der Soziologie u n d V ö l k e r k u n d e , insbesondere bei
der Erforschung der Mentalität der Naturvölker. In der Hitze die-
ser Prozesse beginnen die alten Wertetafeln sich aufzulösen, aber
die Umrisse neuer, reicherer kritischer Systeme werden schon
sichtbar. Sie erhalten allmählich T i e f e n d i m e n s i o n . Die produktive
Avantgarde u n d der kritische A k a d e m i s m u s b e g e g n e n sich an ei-
nem Kreuzweg von Geschichte u n d M o d e r n e . Beide einander so
lange entfremdete P a r t n e r dürften b a l d davon wachsenden Ge-
winn verspüren.

Die <Poetes fous>


Die panerotisch-phantastische, die schwarze Mystik des 16. und
17. Jahrhunderts w u r d e d u r c h jene w a h n - s i n n i g e n <Bizarres> des
19. Jahrhunderts übertroffen, die jetzt aus abgelegenen Regalen
der Bibliotheken hervorgeholt w e r d e n . So h a t der Franzose Paulin
Gagne ( 1 8 0 6 - 1 8 7 6 ) eine ganze R e i h e phantastisch-mystischer
Werke geschrieben, die jetzt w i e d e r M o d e w e r d e n - wie die abstru-
sen Bilder von Arcimboldi u n d Desiderio M o n s ü . Eines seiner
Werke heißt: <La G a g n e - m o n o p a n g l o t t e ou la L a n g u e umque et
universelle, formee de la r e u n i o n radicale et substantielle des mots
usuels de toutes les langues m e r e s , m o r t e s et vivantes> (1843)- Em
anderes heißt: <Las Luxeide, ou les d e u x L u x e s des honimes et des
femmes. D r a m e prostitutionnieide et luxieide en trois eclats>
(1865). In diesen paranoischen E l a b o r a t e n k e n n t die Phantasti
der schwarzen Mystik keine G r e n z e n m e h r . Alles darin kulminiert
in <eclats infernaux>. Folgerichtig m u ß es <Führer für Verirrte> ge-
ben; also Baedeker für L a b y r i n t h - G ä n g e r . E i n e n solchen hat Prinz
KalixtCorab d'Orzesko (geb. 1866) g e s c h r i e b e n . Seit kurzem gibt
es eine Bibliographie der mystischen <Poetes fous>. D e m <verruc -
ten> Dichterwächst das G e h i r n ü b e r d e n Schädel hinaus. Dazu die
Sätze aus Rilkes <Malte>: <Jetzt w a r es da. Jetzt wuchs es aus mir
heraus wie eine Geschwulst, wie ein zweiter Kopf, u n d war ein Teil
von mir, obwohl es doch gar n i c h t zu m i r g e h ö r e n konnte, weil es so
groß war. >

Erlebnis der Panik —


der Schock des Zweifels
Wie ist die Reversion zur s c h w a r z e n Mystik zu erklären? Wie äu-
ßert sich in D e n k - M a n i e r i s m e n das zweite manieristische Element
neben dem <Dionysischen> (phantastische Mystik), nämlich das
daidalische E l e m e n t ? W i r e r i n n e r n u n s d a r a n , d a ß wir a m Anfang
dieses Abschnitts von <dionysischer Umrißlosigkeit> und von <dai-
dalischer U m z i r k e l u n g s s u c h b g e s p r o c h e n h a b e n , von einer kon-
struktiven Sucht, von einer G e s p a n n t h e i t zwischen Phantastik und
Kasuistik. Das p h a n t a s t i s c h e E l e m e n t h a b e n wir dargestellt. Bevor
wir, nach dieser <dionysischen> K o m p l e m e n t a r i t ä t des Manieris-
mus, die Kasuistik erörtern, m ü s s e n wir auf die existentielle Wur-
zel dieser typischen Zwiespältigkeit hinweisen. E s handelt sich um
eine konstitutionelle P a n i k - B e r e i t s c h a f t , u m eine Mentalität der
religiös u n g e b o r g e n e n <Weltangst>. P h a n t a s t i k m a g noch, selbst
bei allen <bizarren> V e r i r r u n g e n , vitalen U r s p r u n g s sein. Die K a -
suistik) des m a n i e r i s t i s c h e n <Pyrrhonismus> ist ein Symptom für
die stets apperzipierte K a t a s t r o p h e . D e s w e g e n k ö n n e n wir hier
deutlich m a c h e n , w a r u m die m a n i e r i s t i s c h e G e b ä r d e eine Ge-
bärde der Krise, der P e r i p e t i e , d e r Weltangst ist, kombiniert mit
einer Tendenz zur artifiziellen B e w ä l t i g u n g dieser dämonischen
Stigmata. Die M i t t e l a c h s e d i e s e r Gestik ist der Zweifel an der har-
monischen W e l t o r d n u n g , der zu e i n e m Z ö g e r n veranlaßt, zu einer
Stockung der u r s p r ü n g l i c h vitalen G e b ä r d e . D a n n setzt die intel-
lektuell korrigierende <Reversion> ein, die T e n d e n z also, durch ar-
tihzielle Konstruktionen das D ä m o n i s c h e in daseinsbewältigende,
wenn auch bizarre F i g u r e n r a t i o n a l e r Algebra 0 einzugrenzen. 7
Zur «Anbetung der Geometrie
und «Magie- vgl. auch Hans Sedl-
Doch wirkt sich schon in dieses h e m m e n d e skeptische Zögern das
mavrs Bemerkung über die «Geo-
ahnende Wissen ein, es sei a u c h dies schon im vorhinein zum metrie' als «einer der bedeutungs-
Scheitern verurteilt. D a m i t h a b e n wir die ganze Ausdrucksskala vollsten Inhalte der Freimaurerei
wie der Pansophic. Dazu Hinweis
dieser Gebärde. Sie offenbart die S t r u k t u r einer m e n t a l e n Dis- auf U.E. PeuckerL Geheimkulte.
Harmonie, eines b e s t i m m t e n M e n s c h e n t y p u s : I m p u l s aus elemen- Heidelberg 1951, sowie Feststellung
einer «Anbetung der Georoetrie> in
tarer Anregung; die s t a r k e n vitalen Antriebe führen zum Ekzes- der modernen Kunst, tf. «Die Revo-
siven des ersten G e b ä r d e n - A n s a t z e s . D a n n - d u r c h konstruktive lution der modernen Kunst, o.e.
p. 1 o 1 ff.
Gehemmtheit - Z ö g e r n , S c h o c k des Zweifels, Angst. E s folgt die
berechnende, g e k ü n s t e l t e G e b ä r d e , die m i t d e m Zirkel {Perdrix)
u
nd mit intellektuellen <Maschinen> — auch w i e d e r zweifelnd -
den Urimpuls einfangen, b ä n d i g e n , einkreisen, vergewaltigen
w
iH (Daidalos).
^ Menschlich ( u n d künstlerisch) ergibt sich dabei etwas ebenso
Elementares wie G e k ü n s t e l t e s : die einzigartige Interferenz von
Hyperbel und Ellipse, die z u m G e h e i m n i s des M a n i e r i s m u s ge-
frort, die Vereinigung von H i t z e u n d Kälte, von Rausch u n d Vor-
sicht, von Passion u n d B e r e c h n u n g , v o n Gier u n d Diät, von Ent-
nvillungssucht u n d H i e r o g l y p h i k , von A l l e s - S a g e n u n d Verrätsein,
^°n Laster u n d Verschweigen, von L e b e n s l u s t u n d Todesangst.
N
°n Lüsternheit u n d Mystik, v o n D ä m o n i e u n d Pietismus, von Mit-
e,
d und E g o z e n t r i s m u s , von Ü b e r s c h w a n g u n d Mattigkeit, von
Wahnsinn und L o g i z i s m u s , v o n G o t t e s s u c h t u n d Anti-Religiosität,
Von
^ g r a p h i s c h e r S e l b s t - O f f e n b a r u n g u n d änigmatischer Selbst-
483
Versteckung, von gnostischer Obszönität u n d sehnsüchtiger
Keuschheit, von ästhetischem Subjektivismus u n d extremem
Formkult. Wenn das Oxymoron (der rote S c h n e e — die schwarze
Apfelsine) eines der wichtigsten Stilelemente der manieristischen
Dichtung ist, so erscheint dieser Typus des problematischen Men-
schen geradezu als Verkörperung des Oxymorons, des in sich ver-
koppelten Konträren.

Skepsis des <Malcoirlent>


Die Zweifel-<Achse> zwischen den E x t r e m e n dieser urmenschli-
chen Gebärde vor dem G e h e i m n i s entsteht also aus Angst, Panik,
Furcht vor Verlust aller Dinge: Seiner-Selbst, der Liebe und des
Besitzes. Ihre literarische Spiegelung in der Shakespeare-Zeit
Titel eines Dramas von John Mar- dürfte der <Malcontent> b sein, der aus u n d in Melancholie Unzu-
ston (1575—1654), Hauptfigur der
Zyniker AJtofronto. friedene. Der Malcontent ä la Hamlet wird zu e i n e m Typus dieser
(und nicht n u r dieser) Zeit. J o h n Fletclter schreibt (1634), es sei
nichts süßer als liebenswerte M e l a n c h o l i e . D e r <Malcontent> ist ein
Produkt des Zweifels, eines Zwiespalts von Vitalität u n d überstei-
gertem Ich-Bewußtsein.
Die <Zweifel>-Literatur der Antike w u r d e in E u r o p a früh Mode,
1 55g ins Lateinische übersetzt.
so etwa die <Hyponeion> des Sextus E m p i r i c u s . ' D a r a u s schöpfte
Montaigne Anregungen zu seinem Skeptizismus, d e n Pascal dann,
aus remythisierender Anstrengung, glanzvoll bekämpfte. Für die
<Libertins> (Frei-Lebende) u n d für die späteren <Libres-Penseurs>
(Freidenker) war der Skeptiker M o n t a i g n e z u m Symbol des anti-
christlichen Subjektivismus d e r R e n a i s s a n c e geworden. Shake-
speare hat ihn geschätzt. Das <Ich> M o n t a i g n e s , für Pascal <hais-
sable>, hassenswert, leitet ü b e r z u m Hyper-Individualismus der
Modernen. Andre Gide zog M o n t a i g n e P a s c a l bei weitem vor.
Auch der zwischen <Phantastik> u n d <Kasuistik> so hin- und her-
gerissene J o h n D o n n e griff zur K e n n z e i c h n u n g der <Krisen> seiner
Epoche - auf Sextus Empiricus zurück (etwa 200 n.Chr.), den
alexandrinischen Nach-Sokratiker, d e n A n r e g e r des sophistischen
8
Pyrrhonvon Ulis (365-275 v.Chr.) Neupyrrhonismus in der Renaissance-Zeit 8 , dessen Ausbreitung
ttah als der älteste Skeptiker. auch mit der Preisgabe der heliozentrischen Astronomie zu erklä-
ren ist. Durch die E r n e u e r u n g n e u p l a t o n i s c h e r Schulen der Antike
wurden auch Anregungen aus d e m hellenistischen metaphysi-
schen Skeptizismus a u f g e n o m m e n , so vor allem aus den Lehren
des Arkesilaos aus Pitane (315 — 241 v . C h r . ) , des Stifters der sog.
Mittleren Akademie, der auch das W i s s e n des Nichtwissens nicht
gelten ließ u n d die Säkularisierung der P l a t o n i s c h e n Ideen einlei-
tete. Für die Lebenspraxis dürfe u n d m ü s s e m a n sich mit dem
Wahrscheinlichen begnügen. D i e s e m sophistischen Probabilis-
m u s entspricht methodisch die probabilistische Kasuistik der Jesui-
ten des 17. Jahrhunderts. Die Geschichte des Skeptizismus in der
Shakespeare-Zeit hat viel Ähnlichkeit mit derjenigen des helleni-
stischen Skeptizismus, auch in b e z u g auf Krisenzeiten, politische
Katastrophen, soziale W a n d l u n g e n u n d subjetivierende Reaktio-
nen. Auch der m o d e r n e Existentialismus hat, wie wir noch sehen
werden, seine historischen W u r z e l n im P y r r h o n i s m u s und in der
Kasuistik.
John D o n n e schreibt: <Eine n e u e P h i l o s o p h i e stellt alles in Zwei-
fel / Das Feuerelement ist aufgegeben; / D i e S o n n e ist verloren,
und die Erde und keines M e n s c h e n Witz / k a n n a u c h nur irgend
jemand lenken, wohin zu schauen.> D a s ä u ß e r e Bild der Welt i s t -
Johr,Dcmiie(>57-'- l 6 3>)
Pag. Erste Seite der Erstausgabe der
Komödien von Calderon de la
Barca. Madrid 1640

C O M E D I A FAMOSA.

LA V 1 D A ES S V E N O ,
"De D.Tedro Ca/deron Jela ^arc*.
Perfonasquc hablan cn ella.
jfrs Dam*. Eßrdla Infant*.
Stgifmanio Principe. Soldadoi, ^4fiolfo Principe.
Glet*läovitjo, Glarin Gratriafo. Guardjt. MvfitOl.

$*ltenlo alt» de vn montt Rofaura, en abito deb»mbr;,dr camiw,


f en rcpre[cntando los yritncros ccrfoe
v* bsxando.
Äe/Hipogcifo violento,
quecornfte pare;ascon cl vicnto.
donderayofin llama,
paxafO fin matiz.pcsfin cfcama,
y brutofio inftinto
natural.alconfufo labcrinto
de fns defnudas peius
tedcsbocas.tc arraftras.y defpenas,
quedaieenette monre,
donde tcnganlosbrutos fuFactonte,
queyofinmascamino,
quc c\ que mc dan las leycs dcl deflino,
cicga.y dcfefpcrada
baxare la cabe^a enmaranada
dcftc montc eminente,
que abrafa al So! cl cefio de la frente.
Mal PoJonia reeibes
a yo efttangeco>pues con faagre efetiues

für John Donne wie für viele andere — nur eine <Täuschung> (falla-
cies). Hamlet stellt fest: <There ist nothing good or bad, but thinking
makes it so.> Der Manierist Meninni (j 7. Jahrhundert) schreibt ein
Sonett: <Die Lüge beherrscht alles>, und er stellt fest: <die Welt
spiegelt nur tausend Falschheiten). <Was ist Leben? Raserei! / Was
ist Leben? Schein und Schaum! / Ein Als-ob, ein Wenn und Kaum,
/ Klein dem Haben, Groß dem Sterben, / Traum ist dieses ganze
Leben, / Und Träume sind ein Traum.> Das ist Calderöns be-
rühmte Quintessenz. Vision des Lebens? In dem bekannten Kir-
chenlied von Johann Rist (1607—1667) findet man die Verse: <Mein
ganz erschrockenes Herz erbebt, / Daß mir die Zunge am Gaumen
klebt.> Ein bemerkenswertes Bild! Angespanntheit in der Angst!
<Seit Kopernikus rollt der Mensch aus dem Zentrum ins X>,
schreibt Nietzsche im <Willen zur Macht>. Und er fügt hinzu: <der
Mensch hat sich seit Kopernikus verkleinert).

485
27. K A S U I S T I K
UND L A X I S M U S
Der Mensch als
manieristisches Thema
Der Mensch sei in der Problematik des Zeitalters zu einem nur
noch um die eigene Achse rotierenden X geworden, schrieb Ernst
Robert Curtius in einer Streitschrift. Sicher erschien in neuer
Weise, seit Beginn der Neuzeit, n e b e n d e m <deus absconditus> der
<homo absconditus>, n e b e n d e m u n b e k a n n t e n Gott der unbe-
kannte Mensch. Der M e n s c h als u n b e k a n n t e G r ö ß e ! Der Mensch
als das rätselhafte X! G a b es n o c h Vergleichspunkte? Es bedurfte
neuer <Erfindungen>, u m diese u n b e k a n n t e G r ö ß e zu einer zu-
nächst noch hypothetischen, christlichen G l e i c h u n g zu erschlie-
ßen. Am E n d e der manieristischen E p o c h e , in der Zeit nach Sha-
kespeare, setzt folgerichtig die Ingeniosität des Zeitalters ihre
kunstvollen Hebel und H e b e l c h e n , ihre Zirkel u n d Zirkelchen am
Menschen an. Es führt dies vor allem z u m einzigartigen und fol-
genschweren Wirken der Kasuistik. Sie ist zu begreifen als eine der
fragwürdigsten, ja, verruchtesten u n d doch wieder— i m A b s u r d e n -
schöpferisch-anregenden T e n d e n z e n des M a n i e r i s m u s zur Desin-
tegration, zur W e r t - Z e r t r ü m m e r u n g . D a s h a t mit Kunst und Lite-
ratur n u n nichts m e h r zu tun. D e r l e b e n d e , a t m e n d e Mensch mit
seinen schwersten Existenzproblemen wird n u n Gegenstand der
skurrilen Ingeniosität u n d der b e r e c h n e n d e n Zirkel-Phantastik.
Kasuistik! Wir wollen zunächst das manieristisch Problemati-
sche, die alchimistische Ätzungs arbeit u n d die Homunkulus-Ten-
denz in ihr Sichtbarwerden lassen u n d d a n n erst das weltgeschicht-
lich Fruchtbare dieses kaustischen Zersetzungsprozesses erörtern.
Versuchen wir also, uns die Kasuistik zur Zeit Pascals kurz zu
vergegenwärtigen. Auch damit w e r d e n wir in einen Kernraum
gelangen, in einen K e r n r a u m a u c h u n s e r e r <existentialistischen>
Gegenwart.

Moralische
Wahrscheinlichkeits- Rechnung
Im historischen Sinne stellt sich die Kasuistik zunächst dar als eine
moraltheologische S o n d e r b e s t r e b u n g (einzelner katholischer
Priester) in der Zeit zwischen P o n t o n n o s u n d Kirchers Tod. Sie
wird als eine <Beschwichtigungsmoral> bezeichnet. E i n e r ihrer Ur-
sprünge ist Skeptizismus in b e z u g auf Absolutheit des moralischen
" i'f. Josef Mausbach, Die katholi- Erkennens und Handelns. 9 Gewissensfälle w e r d e n n a c h den Me-
sche Moral und ihre Gegner. Köln
11) i 5. (Mausbach wehrt Mißdeutun- thoden eines n e u e n Probabilismus u n t e r s u c h t , u m begriffliche
gen des kasuistischen Laxismus ab.) Wege zu finden, die es erlauben, d e m absoluten, d e m rigorosen
Gesetz auszuweichen. Dieses ingeniöse System einer Reduzierung
von absoluten Moralwerten auf jeweils spezifische, d. h. individu-
elle Sonderfälle sollte dazu dienen, das S ü n d e n b e w u ß t s e i n zu er-
leichtern u n d das Bußproblem zu vereinfachen. U n t e r Umständen,
so erklärten im 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t einige extremistische
Moraltheologen innerhalb der Gesellschaft J e s u - ihre Lehren sind
von der Kirche längst verurteilt w o r d e n - , g e n ü g t schon die Furcht
486 vor der Hölle oder eine noch geringwertigere Disposition, u m die
Sündenvergebung zu erhalten. Sehr <extrem> wurde nun betont:
eine echte <contritio> (Reue im Sinne der Zerknirschung) sei also
nicht immer nötig. Es genüge auch <attritio> (Reue im Sinne eines
leichten Unbehagens). Es komme vor allem immer auf den Fall
und auf die Umstände an. Durch Mißdeutungen und Mißbrauch
kam es zu einer opportunistischem Moral, zum <Laxismus>.
Auch katholische Theologen geben zu, daß in der Kasuistik A n -
sichten hervortraten, die in der Milde gegen den Sünder zu weit
(ringen oder durch Spitzfindigkeit die schlichte Wahrheit erschüt-
tertem. Es kam zu heftigen Streitigkeiten, weil einige <Laxisten>,
nicht nur in bezug auf das sexuelle Leben, ein derartiges Labyrinth
von Kasuistik entwickelten, daß letzte Intimitäten für den Beicht-
stuhl katalogisiert und systematisiert wurden, in einer Weise, die
heute kaum vorstellbar ist und die nur noch in manchen Sitzungen
(extremistischen Psychoanalytiker zu finden ist. Es sei hier ver-
merkt, daß die Surrealisten in ihrer ersten Phase viel von Sigmund
Freud gelernt haben wollen. Nahe stehen sie aber auch der Kasui-
stik, denn sie haben im Freundeskreis die Technik der erotischen
Enthüllung mit systematischer Detail-Analyse als Gesellschafts-
spiel betrieben. Die Ergebnisse solcher mechanischer Zergliede-
rungssucht wurden z.T. gedruckt. In vielen Romanen ab 1850 ist
die Kasuistik zum sechsten Gebot zu einem natürlich säkularisier-
ten Hilfsmittel geworden. Höhepunkte: Proust und Musil, von
D.H. Lawrence und Henry Miller ganz zu schweigen. Die Kasui-
stik des 17. Jahrhunderts bietet, wenigstens in den Schriften ihrer
schon von Alexander VII. und Innozenz XL (1655-1689) verurteil-
ten Vertreter, zahllose klassifizierte moralische <Absurditäten>.
Ihre wichtigsten und umstrittensten Vertreter sind Bartholomäus
de Medina (gest. 1580, der übrigens nicht Jesuit, sondern Domini -
kaner war), Luis de Molina (gest. 1600), Joh. Azor (gest. 1605),
Thomas Sanchez (gest. 1610), Paul Leymann (gest. 1635), Dome-
nico Gravina (gest. 1643) und Antonio de Escobar (gest. 1669).

Freiheit und Gesetz


Der heftige Widerstand (nicht nur Pascals) gegen den Laxismus ist
nicht allein auf diese neue moraljuristische <Kabbalistik> zurück-
zuführen, die — wie schon hervorgehoben — methodisch auf den
Probabilismus der Sophisten des antiken Skeptizismus zurück-
geht. Entscheidender ist etwas anderes: der Mißbrauch des kasui-
stischen Laxismus führt nicht nur zur Enthüllung. Er ändert das
Verhältnis von Freiheit und Gesetz. Er löst mit ingeniösen Mitteln
das Naturrecht auf, zugunsten einer dem Absoluten entzogenen
individuellen Entfesselung, und das ist typisch manieristisch im
Sinne des Daidalos, wenn wir uns an die Maschinationen erinnern,
mit denen (ebenfalls) Naturgesetze überwunden oder zumindest
leichter überschritten werden sollten. Der Laxismus als Anti-Ge-
setz ist vor allem umfassend, er begreift und umgreift die gesamte
Moralstruktur von Religion und Gesellschaft. Der <innere Vorbe-
halt» kann - beim Eide etwa - genügen, um den Eid als un-gesetzt
erscheinen zu lassen. Schon ein leichter Zweifel in bezug auf den
Sinn oder Nutzen einer Pflicht kann von einer Pflicht entbinden.
'Lex dubia non obligat.> Medina schreibt: <Si est opinio probabilis.
Ilc
eteam sequi, licet oppositaprobabilior sit.> Damit anerkannte er
Praktisch die weniger probable Meinung als Grundlage eines frei-
sprechenden Urteils an.
Versprechen verpflichten n i c h t . . .
Es entstand ein Knorpelwesen von Moralbegriffen, in dem sich
bald auch die gewiegtesten Seelen-Juristen nicht m e h r zurechtfan-
den.
Sehen wir uns zunächst einmal das P a n o r a m a des kasuistischen
Laxisinus aus der Sicht Pascals an, u n d zwar aus E l e m e n t e n seiner
Kampfschrift, aus den <Lettres Provinciales> (1656—1657), die er
im Kampfeseifer nicht entstellt hat. Wir wollen mit i h m in einen
Abgrund tauchen, behalten u n s aber vor, auch dieser Lemuren-
Landschaft einen Sinn zu geben. 1 0 Kasuistische Frage: <Wenn je-
m mand daran zweifelt, daß er 21 J a h r e alt ist, m u ß er d a n n fasten?
Nein! Aber w e n n ich eine S t u n d e n a c h
botaTund in P«m verkannt. was M i t t e r n a c h t 21 Jahre alt
Uure< i"if tacbrettungehergeför- werden sollte, und wenn m o r g e n Fasttag ist, m u ß ich d a n n morgen
'''" " ls u ' r, "" ,, '- rt '"" fasten? Nein, denn Sie k ö n n e n von M i t t e r n a c h t bis ein U h r so viel
essen wie Sie wollen. Also: da Sie das R e c h t h a b e n , das Fasten zu
brechen, so sind Sie dazu nicht verpflichtete Weiter: <Es ist erlaubt,
weniger wahrscheinliche M e i n u n g für richtig zu halten, obwohl sie
weniger sicher ist.> <Auf diese W e i s o , stellt Pascal fest, <kommen
wir zu einer schönen Gewissensfreiheit.) Töten oder Stehlen ist
auch für den Christen, je nach Fall u n d U m s t ä n d e n , erlaubt. Das
ist juristisch eine Binsenweisheit, aber es k o m m t darauf an, wo die
Grenzen gezogen sind. D u r c h Konstruktion von sophisti sehen Mil-
derungsgründen ergibt sich a m E n d e eine pseudolegale Anarchie.
In dem Sinne erregte vor allem das W e r k von T h o m a s Sanchez
(1551-1610) <De Matrimonio> (Über die E h e ) Pascals Zorn, und
nicht nur er fand es nicht zitierfähig. D e s w e g e n wenigstens einige
weniger delikate, dafür nicht m i n d e r b e z e i c h n e n d e Beispiele: <Die
Güter, die eine Frau durch Treubruch gewinnt, sind auf illegiti-
m e m Wege erworben worden, d e n n o c h ist ihr Besitz legitim.> (Ty-
pische Verwechslung von weltlichem R e c h t u n d christlicher [.']
Morallehre.) <Güter, die m a n d u r c h S ü n d e n erwirbt, wie Mord, un-
gerechtes Urteil, unehrenhafte H a n d l u n g e n usw., sind legitimer
Besitz. M a n braucht sie nicht zurückzuerstatten.) (Hier ist eine
Adaption an weltliche Rechtspraxis schon gar nicht m e h r möglich.)
Essen und Trinken darf m a n n a c h Herzenslust bis kurz vor dem
Erbrechen, <denn der Naturtrieb h a t das Recht, seine i h m gemäße
Erfüllung zu finden>. Das scheint <normal>, aber von der kirchli-
chen Tugendlehre (Mäßigung) aus gesehen, ist dieser Satz schon
eine Hyper-Absurdität; gerade er w u r d e d a h e r 1679, 22 J a h r e nach
dem Erscheinen der Kampfschrift Pascals, von Innozenz XI. verur-
teilt.
Pascal bezeichnete diesen Satz Escobars als d e n <passage le plus
complet>, als eine zentrale Formel des kasuistischen Laxismus.
Nicht minder <irregulär> ist aber auch der berüchtigte Satz des Ka-
suisten Sanchez über den Eid: <Man k a n n schwören, d a ß m a n et-
was nicht getan hat, obwohl m a n es wirklich b e g a n g e n hat, wenn
m a n sich selbst sagt, daß m a n diese Tat an e i n e m b e s t i m m t e n Tage
oder bevor m a n geboren wurde (!) nicht b e g a n g e n h a b e , oder, in-
dem m a n irgendeinen anderen U m s t a n d z u m heimlichen Vorbe-
halt macht, darauf achtend, d a ß die Worte, die wir dabei benutzen,
so ingeniös sind, daß man diesen (vorbehaltlichen) Umstand nicht
ahnen kann. Das ist in vielen Situationen sehr bequem, u n d es ist
immer sehr richtig u n d nützlich für die G e s u n d h e i t , für die Ehre,
für das Wohl.) <Versprechen), stellt E s c o b a r vulgär-machiavelli-
stisch fest, verpflichten nicht, w e n n m a n nicht die Absicht hat, sich
zu verpflichten, wenn m a n sie macht.>
488
<Bizarre Hermaphroditem
Genug! Wir e r i n n e r n u n s a n charakteristische Ausdrücke, die wir
zur Kennzeichnung d e r manieristischen Extreme immer wieder
benutzt haben: Ver-stellen, De-formation. Pascal spricht selbst an-
läßlich dieser extremistischen Kasuisten von <esprit bizarre> und,
anläßlich des L a x i s m u s , von <fantasque decisiom. Der rationalisti-
sche Klassizist Boileau hat, von Pascal angeregt, den Typus dieser
extravaganten M o r a l j u r i s t e n als <bizarre hermaphrodite> bezeich-
net. Pascal b e n u t z t dazu a u c h das Wort <artifice> (Künstlichkeit).
Einige der k ü n s t e l n d e n literarischen Manieristen dieser Zeit wa-
ren selbst <Kasuisten>, so B i n e t (Rene F r a n c i s ) S.J. (1639 gest.),
dessen Werk: <Essai sur les Merveilles de la Nature> (1621) wir
bereits zitiert h a b e n ; ferner P i e r r e Le Moyne (gest. 1671), Verfasser
eines höchst bizarren B u c h e s ü b e r Devisen: <De L'Art des Devises>.
In diesem Buch finden wir e i n e n manieristischen Kernsatz über
hieroglyphische Devisen: <C'est u n e Poesie, mais une Poesie, qui
ne chante point.> <Dichtung, die nicht singt>: kasuistisch gemachte
Lyrik, Laxismus vor attizistischem Gesetz.
Doch d e n k e n wir n o c h e i n m a l über den Eides-Probabilismus
von Escobar n a c h . E r s c h e i n t d e m g e g e n ü b e r das bloß ästhetische
Ausdrucksfeld des m a n i e r i s t i s c h e n , des problematischen Men-
schen nicht tatsächlich wie ein bloßes Gesellschaftsspiel? Wir sag-
ten es schon: jetzt h a b e n wir es nicht m e h r mit Kunst, Literatur,
Musik zu tun, s o n d e r n m i t d e m l e b e n d e n Menschen als Gegen-
stand des M a n i e r i s m u s , in e i n e r von eh und je historisch-simulta-
nen Gesellschaft d er M e n s c h e n , die sich, nach Augustinus, zu Gott
hin entwickeln soll. D e r kasuistische Probabilismus-dieser indivi-
dualtheologische A l m des Existentialismus - führt zu einer viel to-
taleren Auflösung aller W e r t e u n d Gesetze als vieles von dem, was
uns in den s o g e n a n n t e n <modernen> Kunstentwicklungen von ge-
stern und h e u t e entgegentritt. D i e Rechtsordnung der Menschen,
ihre primitive Sicherheit i m Gesetz, ihre empirische Lebens-Si-
cherheit also, wird u n t e r h ö h l t u n d heillos relativiert.
Das Ergebnis dieser L e h r e n ist u n d m u ß sein: nicht nur ästheti-
scher Subjektivismus, s o n d e r n ethischer Nihilismus, totale sub-
jektivistische E n t s c h e i d u n g s f r e i h e i t vor Gesetz, Norm und Kon-
vention jeder Art, w e n n a u c h i n einem immer <verdunkelnden>
Versteckspiel. D e r P r o b a b i l i s m u s zerfasert nicht nur den Rigoris-
mus: er schafft V o r a u s s e t z u n g e n für Will-Kür, für die Auswahl des
Rechten nach d e m M a ß des persönlichen Wollens.

Schwarze Moral
Diese schwarze M o r a l ist d a s Äquivalent zur schwarzen Magie und
zur schwarzen Mystik. E r l a u b t ist, was gefällt, bei leichtem Reue-
Unbehagen vielleicht n o c h : e h e r a n g e n e h m gehemmte Wi//-Kür
also! Insofern ist der moralisch-juristische Probabilismus mit allen
ausdrücklich e m p f o h l e n e n Künsten der Verstellung, des Maskie-
rens, der D o p p e l b ö d i g k e i t von Wort, Sprache und Schwur wie der
ornamentale Knorpelstil in d e r Kunst der weltgeschichtlich ex-
tremste Ausdruck des M a n i e r i s m u s , gleichzeitig aber, in jeweiligen
Phasen, auch seiner A g o n i e . <Die Verstellung ist Heilmittel für je-
des Leid>, schreibt T o r q u a t o Accetto im Jahre 1641.'' Die verslel -
lende Geste sei so alt wie die M e n s c h h e i t (Adam und Eva). Um gut
verstellen zu k ö n n e n , b r a u c h e m a n Härte. (Accetto hat das
<Schöne> als liebenswürdige Verstellung) bezeichnet.) Man hüte
sich vor vitalen Erlebnissen, empfiehlt u n s Accetto. Sie erschweren
das Verstellen, und das zeigt wohl a u c h den z u m Dionysischen
konträren Duktus, den daidalischen D u k t u s in der manieristischen
Gebärde. Ver-stellung ist ein <Urgesetz des irdischen, im Gegen-
satz zum himmlischen Lebern.
Was ist für Graciän ein <überlegener Geist>? Derjenige, welcher
keinen <allzu deutlichen Vortrag hat>, <der der N e u h e i t schmei-
chelt>, <der die Gabe der E r f i n d u n g e n besitzt>, mit <einem Gran von
Wahnsinn>; <derjenige, welcher sein D e n k e n u n d H a n d e l n nach
den Umständen richten kann>, wer G e h e i m n i s v o l l e s durchblicken
läßt>, wer <sich vor Überlegenheit hütet>, w e r aber <Verstand> hat
<die königliche Eigenschaft); w e r weiß, <daß die D i n g e nicht gelten
für das, was sie sind, sondern für das, w a s sie scheinen>, wer weiß
daß <dumm nicht ist, wer eine D u m m h e i t begeht, sondern wer sie
nachher nicht zu verdecken versteht), w e r <nicht leicht glaubt und
nicht leicht liebt>, <wer ohne zu lügen nicht alle Wahrheiten sagt>
<wer sich fremde M ä n g e l zunutze m a c h e n kann>, wer <zuzeiten
dunkel sein kann, u m nicht g e m e i n zu werden>, wer, sofern er
<nicht Löwe sein kann>, sich m i t d e m <Fuchspelz begnügt>. <Gegen
die Dietriche der Seelen ist die beste Gegenlist, den Schlüssel der
Vorsicht steckenzulassen.) M i t e i n e m Wort: <ein Heiliger sein>.(!)
U m sich <zu verstellen, darf m a n sich sogar der W a h r h e i t bedienen
u m zu betrügen). <Die Arglist des Python kämpft auf solche Weise
gegen den Glanz der d u r c h d r i n g e n d e n A u g e n Apolls. >

Apotheose der Treulosigkeit


Der manieristische Menschentypus, Prototyp der Problematik des
modernen Menschen, d e m wir, in b e z u g auf eine ontologische Ge-
fährdung, jetzt erst in seinen tiefsten Strukturen begegnen, wird in
seinen Ausdruckszwängen also i m m e r w i e d e r z u m ingeniösen
Maskenmenschen, zum M a s k e n k ü n s t l e r aus fehlender <Behaust-
heit> jeder Art. Moralische u n d psychologische Kasuistik dieser ex-
tremen Art führt zur A n p a s s u n g an alle G e l e g e n h e i t e n , zur Ideali-
sierung des existentiellem Augenblicks. Sie stellt sich, vor dem
<rigorosen> Gesetz, das die J a n s e n i s t e n u m diese Zeit gegen die
Manieristen fordern, als eine e n t s c h i e d e n e Treulosigkeit dar, dem
Stein, der Pflanze, dem Tier, d e m M e n s c h e n , der Gesellschaft,
dem Staate, den Engeln u n d Gott g e g e n ü b e r . Partnerschaft kann
alles sein. Die Bilder des Seins sind — bei jeder Gelegenheit - ver-
tauschbar. Das Wort <Kasuistik> hat ja h i e r seinen Ursprung. Der
einzelne <Casus> (Fall) wird ausschließlich für sich genommen
(d.h. hinsichtlich möglicher ingeniöser Entschuldigungsgründe).
Es soll die subjektive Situation z u m i n d e s t soviel R e c h t haben wie
das <Gesetz>. Demzufolge m u ß — logischer- oder paralogischer-
weise — jede einzelne subjektive <Sünde> — Situation zu einem
Maßstab des Gesetzes werden. Nicht n u r das Perfide k a n n imma-
nentes Gesetz werden. In den <Phantasmai> der Künstler kann, ja,
m u ß jeder, also auch jeder ver-trackte individuelle <Casus> norma-
tiv werden, in einer schaurigen Perversion ä la Daidalos -Pasiphae.
Es gibt keine <rigorose> Autorität m e h r . D i e Re-Version wird zur
Per-Version. Der Per-Version aber k a n n m a n jede <Maschine>
bauen. Der ästhetische Laxismus entspricht d e m psychologischen.
moralischen, philosophischen, metaphysischen Laxismus.
Der <moderne> Problematiker (extremer Art) entfaltet sich in
geistigen Quantensprüngen egozentrischer Existenz. Er hat keine
religiöse oder auch nur mythische, gar metaphysische Nabelschnur
mehr. Er lebt von <Fall zu F a l k In der Politik heißt dies in den
heutigen vulgären Transformationen schon nicht mehr <Machia-
vellismus>. Es heißt: fast tägliche Bedrohung - auf <diplomati-
schem> Wege - mit gegenseitiger Atom-Ver-nichtung, womit wir
auf dem Gipfel der herrlichsten der Welten stehen. Die ver-bes-
sernde <Artifizialität> hat zweifellos ihren Höhepunkt erreicht. Die
Selbstverfluchung des Daidalos wird für uns alle zur gefährlichen
Urflamme.

Dennoch Rechtfertigung
Die katholische Kirche hat dem extremen Subjektivismus der Re-
naissance, und damit der <Problematik> des <modernen> Men-
sehen, in ihrer Geschichte nie so nahegestanden wie in ihrer ma-
nieristisch-kasuistischen Epoche, die zeitlich mit dem damaligen
Höhepunkt des europäischen Manierismus zusammenfällt. Wir
sagten es wiederholt: der Manierismus jeder Art bewegt sich immer
auf des Messers Schneide. E r steht, zumindest in seinen wichtig-
sten Manifestationen, stets zwischen Möglichkeiten der labyrinthi-
schen Ausweglosigkeit und der Aussicht, in einen erlösenden
Kernraum vorzudringen. Sind die Laxisten, Kasuisten, Probabili-
sten, die, wie man genau weiß, moralisch einwandfreie und hoch-
gebildete Männer waren, nur negativ zu werten? Hat Pascal, in
der ersten Phase seines Kampfes gegen das, was auch er schon als
Erscheinungsform eines neuen Nihilismus ansah, aus den Kasu-
ismen nicht nur das herausgefischt, was ihm besonders monströs
erschien? Der manieristische Subjektivismus am Ende der Renais-
sance hat die Menschenerkenntnis vertieft, die verwickelten Struk-
turen des Individuums sichtbar gemacht. Für wachsame, intelli-
gente Christen mußte sich dabei eine neue Form der Menschen-
liebe ergeben: das Verständnis für differenzierte Problematik des
Menschen gegenüber einem vielfach als zu rigoros erscheinenden
Glauben an transzendente Moralgesetze. In der Kasuistik, sofern
wir nicht nur ihre <grotesken> Auswüchse als Grundlage unseres
Urteils nehmen, entstand auch eine Wert-Lehre des Individuellen,
die bis heute die besten Spannungskräfte der katholischen Kirche
anregt. In der Mittellage ihrer Bestrebungen haben die Kasuisten
durch ihre moralistischen Differenzierungen (und zwar gerade
maßgebende Jesuiten von Rang) ein weltgeschichtlich legitimes
Streben zum Ausdruck gebracht: das Streben nach einem Aus-
gleich von moralischem Zwang und persönlicher Freiheit, von
^nade und subjektiver Unzulänglichkeit, von prästabilierter ethi-
scher Harmonie und individuell erlittener Ordnungs-Gewinnung.
Damals haben bedeutende Priester den Versuch unternommen,
sich dem <Absurden> des Menschen als <Deus in terris>, der konsti-
tutiven und zeitlich bedingten Unruhe des Melancholikers, des
'Malcontent), des Libertins, des Sich-auf-sich-selbst-Stellenden
anzupassen. Es entstand die <Illusions>-Perspektive, auch im Mo-
dischen. Diese Anpassung hat für die Kirche zu fruchtbaren Er-
gebnissen geführt: sie konnte Einseitigkeiten der mittelalterlichen
. etik überwinden, sie konnte sich vor allem bald mit dem noch
el
starker relativierenden Historismus messen, immer zwischen
> zt metaphysischem Probabilismus und Rigorismus weise aus-
g eichend. Darin liegt die stärkste irdische Kraft der katholischen
Kirche, die Kraft, die sie stets vor S e k t i e r e r t u m b e w a h r t hat. Diese
Kraft ist nicht zuletzt jenen Kasuisten von R a n g zu verdanken, die
Übertreibungen vermeidend, das Recht des M e n s c h e n anerkann-
ten, sich mit dem vielleicht m a n c h m a l allzu rigoros interpretierten
<moralischen> Zwang seines Schöpfers auseinanderzusetzen, wie
die katholische Theologie ihn auslegt. Nicht das göttliche Urgesetz
selbst sollte in Frage gestellt w e r d e n . E s sollte das Recht des Indivi-
duums anerkannt werden, die vielfältigen Reaktionen der Seele
darauf zu spiegeln und es d e m Subjekt zu erlauben, mit diesen
Spiegelungen eines makroskopisch G r a n d i o s e n i m mikroskopisch
Kleinen gleichsam einen welthistorisch n e u e n <moraltheologi-
schen> Dialog zu beginnen. D e r sündhafte M e n s c h vor dem Spie-
gel! Konnten manieristische G e b ä r d e n dabei ausbleiben? Auch
hier verführte der vitale Schock zu daidalischen Korrekturen mit
Artifiziellem. Dabei wurde jedoch die Widersprüchlichkeit der
menschlichen Seele entdeckt. Erst viel später — vor allem durch
Dostojewskij und Freud — w u r d e das Verständnis dafür zum geisti-
gen Allgemeingut der Zivilisationsmetropolen des 20.Jahrhun-
derts.
Hatten die Kasuisten also, abgesehen von ihren Übertreibungen,
in einem welthistorischen Augenblick recht? Diese Frage wird von
zeitgenössischen katholischen Publizisten bejaht, w ä h r e n d die
12
cf. Der Streit der römischen <Ci- Jesuiten heute stärker zu e i n e m n e u e n Rigorismus neigen. 1 2 Her-
vilta Cattolica> gegen Jacques Mari-
Uiin. m a n n Platz meint in seinem Pascal-Buch: <Der Laxismus, in dem
der Geist des H u m a n i s m u s weiterwirkt, betont Freiheit (und damit
die W ü r d e des Menschen). D e r Rigorismus, in d e m der Geist des
Augustinus und des Theozentrismus der Mystik gegenwärtig ist,
betont Gesetz (und damit die Majestät Gottes).> W i r k ö n n e n es
auch anders sagen: die Kasuistik ist moraltheologischer Anthropo-
morphismus gegen moraltheologischen Heliozentrismus. Der <en-
gen Pforte> des Rigorismus steht die <weite Pforte> des Laxismus
gegenüber, dem <rigoros> R e g u l ä r e n das <laxistisch> Irreguläre,
dem Perfektionismus die Verzweiflung der Unzulänglichkeit, die
zu einem aufrichtigen Zweifel führen k a n n . <Jedermann ist proba-
bilistisch, zehnmal am Tage>, schreibt der katholische Herausge-
ber der neuesten Ausgabe der <Provinciales>. <Es gibt keine edlere
Geistesübung als den Probabilismus.> <Unser ganzes heutiges
Recht ist probabilistisch, insofern u n s e r e Taten n a c h ihren Moti-
ven beurteilt werden. >
Mildernde Umstände! Wer dürfte sie h e u t e , in freien Gesell-
schaften, beanspruchen, w e n n es keine moraltheologische Kasui-
stik gegeben hätte? Wer w ü r d e die oft u n e n t w i r r b a r e Mischung
von Gut und Böse im M e n s c h e n begreifen k ö n n e n , w e n n es in je-
nem unerschöpflichen J a h r h u n d e r t nicht ebenso intelligente wie
menschenfreundliche T h e o l o g e n gegeben hätte, die sich über die
<labyrinthische> Natur des Menschen k l a r g e w o r d e n wären? Pascal
schoß — was seine <Provinciales> a n g e h t — übers Ziel hinaus, und
wir werden bald erfahren, w a r u m . Die <Jesuiten> wollten keines-
falls die O r d n u n g auflösen, die gravitätische Mitte des theolo-
gischen Kosmos zersprengen. Die besten von i h n e n trieben Psy-
chologie — auch aus Karitas, w e n n auch m a n c h e d e n Logos, aus
Servilität gegenüber der Obrigkeit, ebenso verrieten wie manche
<existentialistische> Literaten von h e u t e das Absolute geringschät-
zen, aus Liebedienerei g e g e n ü b e r der h e u t i g e n Erfolgspublizistik.
Die Kasuisten wurden <manieristische> Vorläufer der <komplexen>
Psychologie wie der <Existenz>-Phüosophie von h e u t e , aber auch
n
cf. Die Problematik des Falles unserer weltlichen Rechtsprechung, die h e u t e d e n Psychiater zu
Mooabrugger in Robert Musils
• Mann ohne Eigenschaften) o.e. Rate zieht, bevor sie sich zu e i n e m Todesurteil entschließt. 1 3 Und
sind die damaligen Übertreibungen und Irrtümer der Kasuistik
nicht auch aus dem damals noch höchst unzulänglichen Wissen
über die Physiologie des Menschen zu erklären? Was wußten <Ri-
eorc.se> und <Laxisten> zur Zeit des Escobar über <exakte> Ätiolo-
gie, Pathologie und Therapie? Wer eine objektive Geschichte der
Medizin nachliest, wird über die Unwissenheit noch entsetzter sein
als über die Machiavellismen mancher übertreibender Kasuisten.
Somit erfahren wir erneut: die Preisgabe des Mittelpunkts durch
manieristische Denkformen oder durch formale Manierismen
führt keineswegs immer zu einem Selbstverlust der Menschheit.
Sie lehrt uns, die Mitte in den Menschen und die Mitte im Kosmos,
die im Harmonieglauben des Attizismus nicht selten zu unmensch-
lichen Vereinfachungen und auch zu Täuschungen veranlaßte
(Pascal hat, wie gesagt, in seinem leidenschaftlichen Haß gegen
die Kasuisten gelegentlich Zitate aus ihren Schriften gefälscht),
immer neu, in immer neuen Tiefen zu suchen. Weltgeschichtlich
können manieristische <Säkularisierungen> zu einer Vertiefung

«Ich bin der l'apst • A


tmaSiudm Hutorhnftl M
i d J . i l i t i i l l l M . II (;,•;.•. n .!'
lasterhaft™ l'apü A l e n o A IVI

493
des Weltgeheimnisses führen, auch w e n n dies vielfach in einer
Umwelt von Problematikern, ja, sogar von G a u k l e r n u n d Gaunern,
von Seiltänzern und Trinkern, von Besessenen u n d Outsidern, von
Erotomanen und Dandies, von Snobs u n d B o h e m i e n s , von Mör-
dern und Selbstmördern geschieht. W a r u m sollte das Wirken Got-
tes nicht auch auf der Nachtseite sichtbar w e r d e n ?
Vor dieser Offenbarung im <Irregulären> hätte die katholische
Kirche zwischen dem Konzil von Trient ( 1 5 4 5 - 1 5 6 3 ) u n d der Ein-
schränkung der Kasuistik (1665 — 1690) fast kapituliert - im An-
sturm dieser aus drregulären Mythen> u n d aus <Heterodoxien>
schöpfenden <Manierismen>, sofern es sich u m moraltheologische,
also um überaus konkrete menschliche P r o b l e m e h a n d e l t e . Wenn
es, im Zwang der damaligen Erkenntnisse, angeblich keinen <Mit-
telpunkt> m e h r gab, wenn die S t a a t s m ä n n e r sich als <machiavelli-
stische> Piraten, die Richter als käuflich, die Schriftsteller als Pro-
stituierte, die Bürger, H a n d w e r k e r u n d B a u e r n als Herdenvieh
{cuius regio, eins religio), die meisten M e n s c h e n (im Beichtstuhl) als
erbärmliche Teufelsbrut erwiesen, sollte sich da nicht eine Situa-
tion ergeben haben, die dazu verführen k o n n t e , der totalen Absur-
dität dieser <allseitig>, dieser <universal> problematischen Mensch-
heit in der Moraltheologie R e c h n u n g zu tragen? W a r der Augen-
blick gekommen, den <Problematiker> als m e n s c h l i c h e n Urtypus
anzuerkennen? W u r d e die Kirche <manieristisch>? Wollte auch
sie, aus der damaligen <Angst>-Situation, dem existentiellen
Schock des allseitigen Zweifels u n d d a n n einer artifiziell ausglei-
chenden Ausdrucksgebärde verfallen?

28. D E R E R F I N D E R
GOTTES

Integration im Menschen
Die christliche Menschheit m u ß an diesem d r a m a t i s c h e n Wende-
punkt, der von damaligen E u r o p ä e r n viel intensiver erlebt wurde
als von heutigen Bewohnern dieses Erdteils die Folgen der Zer-
t r ü m m e r u n g von Atomkernen, wie J o h a n n e s Rist es sagte, derart
<Angst> erlebt haben, daß die <Zunge a m G a u m e n klebte>. Damals
handelte es sich u m das Weiterbestehen geistig-sinnvollen Seins,
heute auch u m das Weiterbestehen biologischen Daseins. Die Auf-
lösung des geistig Absoluten führte d a m a l s zu einer ähnlichen
Konsternation wie heute die anarchische B e d r o h u n g unseres phy-
siologischen Zellen-Agglomerats. Diese (damalige) Gefahr er-
kannte, w e n n auch im Kampfeseifer d ä m o n i s c h übertreibend, im
E u r o p a jener Zeit mit prophetischer Intelligenz der Erfinder Blaise
Pascal.
Hyperbolik des Herzens und Elliptik des Verstandes! In extremen
manieristischen Situationen sind ihre Opfer M o n s t r e n des Herzens
u n d Monstren des Verstandes. E i n e m der größten integrierenden
Geister Europas, Blaise Pascal (1623—1662), zwang sich in der Ge-
fahr der Auflösung eine n e u e M e t h o d e geistiger H a r m o n i k auf:
eine subtile Erkenntnistheorie n e u e n Gleichgewichts, eine meta-
physisch-religiöse Moralistik, angeregt und aufgebaut durch die
<raisons du cceur>, durch die Vernunftgründe des Herzens.14 Diese " D u W o i l 'CU'lil darf k r l n r ^ a l U
in irgendeinen] (enlimental-roman-
neue, aber ganz und gar antimanieristische Paradoxie formulierte
tischen Sinuc uuerpretierl werden
Pascal nach seiner dramatischen Konversion von 1654. Wir möch- iCaeun siclii biet furGeül ab Vi rar
ten die manieristische Epoche von Pontormo bis Graciän und Kir- nifnijiii von Verstand und Seele
<C<Eur> k a n n als • mti•ll.-tln (J u n o n
cher mit diesem Datum in Agonie treten lassen, wobei wir uns be- verstanden werden. <( Uteri 94
wußt sind, daß dieses Verdämmern um 1654 in den verschiedenen gllin. P u c a l par lin-inriiM Pari«
1953, und Romano Guardini n >
Regionen und Provinzen Europas, von unausrottbaren geistigen
Schmollwinkeln ganz zu schweigen, nicht gleichzeitig, gleichsam
kollektiv erfolgte. Mit Pascal tritt in höchster Konzentration, wie
auch immer man ihn werten mag, ein anderer <Geist> auf. Wir fol-
gen damit einer letzten Spur zur Charakterisierung der <manie-
ristischen Urgebärde>, des problematischem, des sogenannten
<modernen> Menschen. Der totalen Reversion tritt in einem
weltgeschichtlich dramatischen Sinne die totale <Kon-version>
gegenüber.
I Die Angriffe Pascals auf die Kasuistik verstärken zunächst die
<Barock>-Tendenzen der Kirche. Pascal trat selbst schon früh für
das massive <persuadere> durch emotionelle Mittel ein, also gegen
den <Perspektivismus> des analysierenden und moralisch verset-
zenden Intellekts. Fast gleichzeitig mit ihm machte die Kirche ihre
große antikasuistische Kehrtwendung. Auch Pascal gab somit der
Kirche Elemente zu ihrer neuen restaurativen Überzeugungsge-
bärde, die dann zum sogenannten Hochbarock führte. Er er-
kannte, wie bald auch die Kirche, daß die völlige <kasuistische>
Adaption an jeweils zeitgenössische <Problematik> des jeweils <mo-
dernen> Menschen die Welt in ein kriminelles (lat. <crimen> heißt
auch Laster) Labyrinth des moralisch Unentwirrbaren hätte ver-
wandeln können.
Doch blieb Pascal nicht in der apologetisch-restaurativen Ge-
bärde des <Barock> stecken. Am Montag, den 23. November 1654,
erlebte er seine <Vision>. Er stand, christlich leibhaftig, plötzlich vor
dem Absoluten. Dieses Erlebnis entzog ihn allen historisch beding- Totenmaikr von Maate Pascal

ten Situationen des Glaubens. Der Mensch, ein Mensch, stand jäh
wieder in einem Raum des Übergeschichtlichen. Damit geschah
eine Herausforderung an die Menschheit, um deren Antwort sich
vielleicht erst heute die besten Geister Europas bemühen. Es han-
delt sich um die Integration der beiden Urgebärden der Mensch-
heit. Zum Problem der zwei <Urgebärden>, die sich, wie wir oft
hervorgehoben haben, in einer reicheren, freieren, größeren, ech-
teren <Dritten> vereinen können, sollte man den selten zitierten
Satz von Pascal in einem seiner Briefe beachten: <Die Wahrheit,
die uns dieses Geheimnis erhellt, ist die, daß Gott den Menschen
mit zwei Arten der Liebe erschaffen hat: mit der Liebe zu Gott und
der Liebe zu sich selbst; aber es ist das Gesetz der Liebe zu Gott,
daß sie kein Ende hat, es sei denn in Gott selber, und es ist das
Gesetz der Liebe des Menschen zu sich selbst, daß sie endlich und
aufGott bezogen ist.>
Jede Art von Perfektionismus (grandeur) und jede Art von sub-
jektiver Ver-tracktheit, also jede Art von Elend {misere) kann und
muß Mittel, nicht zu einer Re-Version oder gar Per-Version. son-
dern einer Kon-Version zum Absoluten hin werden. Person und
Werk Pascals kann man, nicht allein für seine Zeit, als Gleichnisse
betrachten für eine nicht nur vitale mystische, sondern auch gei-
stige, logische Überwindung der Problematik des modernen Men-
schern.

495
<Integration> in e i n e m M e n s c h e n
Vor seiner Vision von 1654 war der junge Mathematiker und Erfin-
der aus bürgerlichem Hause, Blaise Pascal, zeitweise das, was man
im Europa seiner Zeit im vereinfachenden Sinne als <manieri-
stisch> hätte bezeichnen können: Dandy, Freigeist, Concettist, Pre-
ziöser, Salon-Psychologe, Relativist, als Montaigne-Verehrer
'' Nicht nur die Tatsache, daß Pas- Skeptiker, vielleicht sogar Spieler13, Melancholiker, manchmal
cal das <Roulett> erfunden hat, hat zu
dieser Vermutung veranlaßt
auch im Sinne des <mauvais caractere>, sicher auch <Gehemmter>,
doch war seine <Bekehrung>, zumindest seit 1646, durch seine
starke religiöse Dämonie längst vorbereitet. Über sein erotisches
Leben ist nur bekannt, daß er eine adlige Dame verehrte und zeit-
weise an Heirat dachte. Anigmatiker war er auch. Er liebte Wort-
spiele, kryptographische Anagramme aller Art, und eins seiner
Lieblingswörter heißt <Chiffre>. Das Porträt seiner Jugend ist faszi-
nierend: Weltmann, Verschwender und intellektuellen, Opfer des
Jähzorns und Freund der Armen, vor allem <Maschinist>, als Neun-
zehnjähriger Erfinder einer der ersten Rechenmaschinen, also
Daidalos-3ünger, nachdem er schon mit 16 Jahren einen aufsehen-
erregenden Traktat über die Kegelschnitte und mit 23 Jahren eine
nicht minder berühmte Abhandlung über das Vakuum geschrie-
ben hatte. Über Pascals Rechenmaschine schreibt seine Schwester
Gilberte: <Dieses Werk wurde als etwas Neues in der Natur angese-
hen.) Man kann sich Pascal in seiner mondänen Z eit gut vor einem
Konvexspiegel vorstellen, als einen geistigen Bruder Parmigiani-

Tunn des Schlosses Montaignes,


das 1885 durch eine Feuersbrunst
zerstört wurde. In diesem Turm
liebte es Montaigne, abgeschlossen
von der Welt zu arbeiten (nach
Lanson).

496
nos. Unter den Preziösen lernt der junge Dandy den <Esprit de
finesse> kennen, als Mathematiker weiß er um den (Esprit de geo-
metrie>. Verworren leichte Lebens- und Denkart und orthodox-ra-
tionale Denkmethodik werden ihm bald unerträglich.

<Konfusion o h n e Absicht)
Der Stil Pascals hat, auch und gerade nach der Konversion, viele
manieristische Elemente: Oxymora, Paradoxien, so etwa: <Erkennt
doch die Wahrheit der Religion in der Dunkelheit der Religion
selbst.> <Größe und Elend des Menschern usw. Wir sind daher
nicht verwundert, auch bei ihm die berühmte Formel zu finden, die
von der graeco-orientalischen Magie über Tesauro und Graciän bis
zu Baudelaire und Breton uns so oft begegnet ist: <Die immer aufs
neue wunderbare Verbindung, welche die Natur, in Einheit ver-
liebt, zwischen den anscheinend voneinander entferntesten Din-
gen herstellte <Sein Stil>, heißt es in neuen französischen Darstel-
lungen, <ist ein Stil der Paradoxien, der Überraschung, der Ver-
blüffung, der bizarren Entsprechungen.) Manierismen dieser Art
finden sich noch unter den letzten der uns überlieferten 924 <Pen-
sees>. So schon in <Pensee> Nr. 373: <Konfusion ohne Absicht: das ist
wirkliche Ordnung, die meinen Gegenstand durch Unordnung im-
mer kennzeichnen wird.) Doch distanziert sich Pascal bald von die-
sen paralogischen Stilmitteln, vor allem nach der (Konversion).
Immer schärfer unterscheidet er, wie es seit der Antike üblich ist,
<zwei Stile>, aber nun sozusagen gegen Graciän, der denverwickel-
ten, <gesuchten> asianischen Stil vorzog. <Zwei ,manieres' gibt es,
durch welche die Bilder sich der Seelen bemächtigen, den Ver-
stand und den Willen. Die beste ist die erste; doch die gewöhn-
lichere, obgleich antinatürliche, ist die gewollte, denn alles, was
Mensch heißt, neigt meistens dazu, mehr dem Gefälligen als dem
Beweisträchtigen zu glauben. Diese Art ist niedrig, unwürdig,
fremdartig.)
Pascal haßt daher auch die Komödie bzw. die Tragikomödie,
eine der manieristischen Gattungen par excellence. Man müsse
sich, empfiehlt er, zum (natürlichen) Stil entschließen, und nicht
das als groß bezeichnen, was klein ist, und nicht das, was klein ist,
groß. Also Ablehnung der Ellipse wie der Hyperbel. Wenn man
dem natürlichen Stil begegnet, ist man verwundert und entzückt,
denn man glaubte einem Autor zu begegnen, und man findet einen
Menschen.) (Universale Menschen heißen weder Dichter noch
Geometer; sie sind beides zugleich.) (Exzessive Eigenschaften leh-
nen wir ab, wie zuviel Geräusch, zuviel Licht, zuviel Ferne, zuviel
Nähe, zuviel Lange, zuviel Kürze.) (Extreme Dinge sind für uns so,
als existieren sie nicht.) Wer nur mit dem Verstand schreibt (wie
üescartes), ist (nutzlos und unsicher). Die bloße Phantasie (imagi-
nation) ist (die Herrin der Irrtümer und Falschheiten). (Diese stolze
Macht) hat (im Menschen eine zweite Natur erzeugt). (Ausdruck
davon ist ein Wort Paul Claudels: (Die Ordnung ist das Vergnügen
der Vernunft, aber die Unordnung das Entzücken der Phantasie.)
Hieder, selbst bei Claudel, die (Phantasiai insanes> des Quinti-
lian!)
Es wird klar, daß Pascal den (style natureb nach seiner Zeit als
Libertin und Preziöser theoretisch vorgezogen hat, daß er die Ka-
suisten vor allem bekämpft hat, weil er sie als Verkörperung des
Manierismus und auch der Skepsis ansah, auch wenn er die Skep-
sis Montaignes als Methode a n e r k a n n t e u n d benutzte, u m die
Selbstherrlichkeit der <raison> zugunsten der christlichen Myste-
rien zu erschüttern. Er haßte die Kasuistik, weil sie die Unsicher-
heit, die Problematik des M e n s c h e n gleichsam verabsolutiert
hatte, er verachtete aber auch die manieristische Mystik der uns
bekannten Binet und Le Moyne wegen ihrer gesuchten, preziösen
cf. L i. Brief der <Provineiales> o.e. Subtilitäten. 16
II, p. i ff. Le Movne hatte eine <De-
vuliou Aisee» geschrieben. Der Titel Doch bleibt das Spannungsverhältnis in Pascal, die Spannung
ist schon typisch. In e i n e m Buch zwischen den <deux manieres>, bis zu seinem Tode stark u n d ent-
• Peintures Morales> hatte er das E r -
röten» gelobt, als Zeichen der
scheidend. Der bloße Dualismus allerdings wird in seinem Werk
Schamhaftigkeit. und dazu empfoh- durch ein neues absolutes Verhältnis zur Aussage u n d Mit-teilung
len, deswegen alle <roten Dirjge> zu
überwunden, durch einen einzigartigen Akt individueller Remy-
lieben.
thisierung, ähnlich wie bei D a n t e u n d S h a k e s p e a r e , bei Bach und
Goethe, bei Calderön u n d R e m b r a n d t . Diese Integration hat eine
einzige Wurzel: Erfahrung einer geistigen Gotteskindschaft im
wachsten Geist und dadurch — gegen alle Krisen — Rückgewinnung
von Sicherheit, Gewißheit, F r e u d e , O r d n u n g , H a r m o n i e , Autori-
tät.

<Freude, F r e u d e , Freude>
Geschenkt w u r d e n sie Pascal d u r c h die Vision v o m November
1654, die er in dramatischer Bewegtheit in seinem berühmten
<Memorial> festgehalten hat, auf e i n e m Blatt Papier, das erst nach
seinem Tode, in seinen Rock eingenäht, g e f u n d e n w u r d e . In einem
Feuerschein wird ihm die einzig mögliche U r o r d n u n g offenbar:
<Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen
u n d Gelehrten.> D a r a u s ergibt sich: <Gewißheit Freude. Gefühl
Freude.> <Gott Jesu C h r i s t b . . . <Größe der m e n s c h l i c h e n Seele>.
Wieder dreimal hintereinander geschrieben: <Freude, Freude,
Freude.> <Gänzliche Unterwerfung) u n t e r J e s u s Christus u n d un-
ter meinen geistlichen Lenker>. <Ewig in der F r e u d e für einen lag
der Mühsal auf Erden.> Im G n a d e n e r l e b n i s des Christus-Gottes
versöhnen sich alle Gegensätze. E s b e g i n n t die Integration der Ge-
gensätze Gott und Mensch, G r ö ß e u n d E l e n d des Menschen,
Freude und Melancholie, O r d n u n g u n d Verzweiflung, Optimis-
mus und Pessimismus, Ursprünglichkeit u n d B e r e c h n u n g .
Es <leuchtet> Pascal durch die <Fülle von Licht> ein, daß der
Mensch (auf sich gestellt) eine <Chimäre> ist, ein <Monstrum>, ein
<Chaos>, ein <Subjekt> von W i d e r s p r ü c h e n , ein <Ruhm u n d Aus-
schuß des Universums>, mit e i n e m Wort eine Disharmonie, ein
Oxymoron, ein Zwitterwesen zwischen Tier u n d E n g e l . Eine dis-
cordia Concors ist n u r in Gott, in Christus, möglich. Alles andere ist
Trug und Wahnsinn. <Erkennt also, H o c h m ü t i g e , welches Paradox
ihr selbst seid! Demütige Dich, o h n m ä c h t i g e Vernunft; schweige,
stumpfsinnige Natur.> Erlebt wird also eine mystisch religiöse con-
cordia mit einem Ausbruch von Seligkeit, weil sie diesem Geist,
einem der scharfsinnigsten, die E u r o p a je besessen hat, diesem be-
gnadeten <Ingenium>, als die einzig mögliche Art der Rückgewin-
n u n g von Ureinheit erscheint. Auf eine sublime Art erfährt auch
Pascal Wahnsinn, u n d er weiß es: <Die M e n s c h e n sind derart not-
wendiger Weise wahnsinnig, d a ß es W a h n s i n n w ä r e , durch einen
anderen Wahnsinnsstreich nicht w a h n s i n n i g zu sein.> Ein in die-
sen Z u s a m m e n h ä n g e n b e m e r k e n s w e r t e r Satz! D e r Wahn-Sinn,
wie ihn der Problematiker erlebt, k a n n n u r in die rechte Bahn
(<Mein höchster L e n k e n ) k o m m e n , w e n n die transzendentale
498 Wahrheit, durch G n a d e , im M e n s c h e n Ereignis wird.
Das C o n c e t t o der <Wette>
Doch ist das Drama Pascals noch verwickelter. Man hat, wie wir
meinen, den ersten <Pensees> (<Concetti> heißen im Französischen
auch <Pensees>) gegenüber den späteren (ab Nr. 547) zuwenig Auf-
merksamkeit geschenkt. Wir bitten den Leser um Geduld, wenn
wir den Stufen dieser im damaligen Europa beispiellosen Peripetie
folgen. Die erste Reaktion Pascals - nach dem <Ausdruckszwang>
von 1654 — ist eine überzeugenwollende <Gebärde>. Nach seiner
<Genesung> spielt er mit der Weltangst der Menschen. Er verfährt
so, als wenn er sie noch hätte. Er verhält sich bewußt <manieri-
stisch>, aber nur, u m damit besser überzeugen, um <heilen> zu kön-
nen. Dabei bedient er sich auch einer <kasuistischen> Methode auf
höherer Ebene. Er spricht das Gefühl an und erweckt gleichzeitig
Skepsis, im Sinne Montaignes, u m Mißtrauen gegen immanente
Vernunft einzuflößen. In dieser kurzen Phase der <Pensees> ist er
typisch <barock>. Seine Abhandlung über die <Kunst des Uberzeu-
gens> hat verschmitzt-pädagogischen, listig-didaktischen Charak-
ter. Er erzeugt künstlich Weltangst.
Um diese auszunutzen, bedient er sich, der Erfinder des Rou-
letts, in der ersten Hälfte der <Pensees> noch eines verspielten, ma-
nieristischen Tricks: des ebenso berühmten wie berüchtigten Con-
cetto der <Wette>, des <Pari>. Vereinfacht erklärt: einem manieristi-
schen Libertin schlägt er eine theologische Wette vor. Ausgangs-
punkt: Endergebnis, nach Vernunftgründen völlig ungewiß. Wett-
Gegenstand: Gott. Frage: Gibt es ihn oder nicht? Beweise für die
Existenz Gottes gibt es — für den Libertin — keine. Hat es nun Sinn,
einzusetzen für die Nichtexistenz des <Unbekannten>, Verborge-
nem, des <Deus Absconditus>, des ewig verhüllten, änigmatischen
Gottes? Pascal machte es seinem fiktiven Dialogpartner, dem
landläufigen Skeptiker, klar, daß es nützlicher sei, für die Existenz
Gottes zu <wetten>, denn m a n könne schließlich die Wette nur ver-
lieren oder gewinnen. Hat m a n gegen Gott eingesetzt, so bleibt -
im irdischen Leben — ohnehin die rationale Gewißheit aus, daß es
Gott tatsächlich gibt. Man verharrt also weiterhin in <Problematik>,
<Verzweiflung>, im abstrusen Dasein des <Malcontent>. Hat man
aber für Gott <gewettet>, so könnte man - nach dem Tode - die
Gewißheit über seine Existenz erhalten, und dann hat man alles
gewonnen. Was aber geschieht, falls manfiir Gott gewettet hat und
sich nicht damit zufriedengeben kann, die Tatsache seiner Exi-
stenz erst nach dem Tode zu erfahren? Pascal sagt: Jeder Spieler
fordert mit sicherem Glauben den Zufall heraus, um mit Ungewiß-
heit zu gewinnend Wenn m a n für Gott wettet, wird der dafür ein-
setzende Mensch werden: <treu, ehrlich, bescheiden, dankbar,
wohltätig, aufrichtiger Freund, echt.> Mit anderen Worten, so sagt
Pascal, schon im <geordneten Lebern wird man an sich selbst er-
kennen, daß man richtig eingesetzt hat. Der also aufgeforderte he-
terodox-manieristische Freigeist antwortet, nach Pascal, darauf:
dJie Rede reißt mich hin, sie entzückt mich.. .>
Das theologische Pari-Concetto Pascals darf man als das be-
rühmteste Concetto der manieristischen Literatur bezeichnen.
Doch bedeutet es viel mehr. Es setzt <abetir> voraus (verdummen),
also Verzicht auf Rechthaberei der ingeniösen <Vernunft>. d.h.
Verzicht auf die pseudorationalistische <Seim>-Korrektur älaDoi-
dalos. <Abetir> ermöglicht aber den Aufschwung anderer innerer
Mächte, derjenigen der dionysisch-irrationalen unkomplizierten
Verbundenheit mit allem Sein. Der <Erfinder> Pascal, das intellek-
tu
elle Genie, verknüpft hier von neuem das Apollinische mit dem
Dionysischen. Es wird also Daidalos, der seine Künste selbst ver-
flucht, in die Schranken verwiesen. Das ist Pascal nicht leicht ge-
worden. An einer Stelle der <Pensees> lobt er d e n Erfinder Archi-
medes fast so wie Christus: <Archimedes, d e m ü t i g , gebühret die
gleiche Verehrung. E r lieferte keine sichtbaren Schlachten, allen
aber schenkte er seine Erfindungen.> An diesem P u n k t (<Pensee>
794) hat allerdings Pascal seine daidalische Vergangenheit ganz
überwunden. Schon vor dieser wehmütig-stolzen Absage an das
Artifiziell-Erfinderische hatte er begriffen, w a r u m Christus sich
nur in <Figuren> offenbaren konnte, daß er d e n universalsten <clef
du chiffro darstellte.
Das setzt eines voraus: die H i n g a b e an die <raison du cceur>, an
die Vernunftgründe des Herzens, jedoch n i c h t im S i n n e der senti-
mentalen Mystik, sondern im S i n n e des <fühlenden Geistes>, des
üntelletto d'amore>, des d i e b e n d e n Geistes>, des <Wert-Gefühls>.
<Das Herz kennt Vernunftgründe, die der Vernunft unbekannt
sind. Ich sage: das Herz liebt das universelle Sein auf natürliche
Weise.> <Das Herz h a t seine O r d n u n g , der Geist die seine, d.h.
nach Grundsatz und Demonstration. Das H e r z hat a n d e r e (Metho-
den). M a n sucht keine Beweise für das Geliebt-Werden, indem
man methodisch die G r ü n d e dafür darlegte: es w ä r e lächerliche
Das ist Prophetie in bezug auf Methodik: die intellektuelle Kombi-
nationskunst k a n n n u r ins Irre führen. W e r d e n K e r n r a u m des
Herzens kennt, braucht nicht auf Irr-Wegen, über den Irr-Wald,
durch das Labyrinth zum fiktiven E r l ö s u n g s r a u m vorzudringen.
Das Labyrinth entschwindet d e m Bewui3tsein, das der G n a d e teil-
haftig geworden ist. <Der M e n s c h ist selbst das w u n d e r b a r s t e Er-
eignis der Natur, denn er begreift nicht, was Körper ist, und noch
weniger, was Geist ist, u n d a m allerwenigsten, d a ß sein Körper mit
Geist verbunden werden kann.> F ü r einen D e n k e r v o m Range Pas-
cals hat also das Mysterium des Leib-Seele-Problems zu labyrinthi-
schen Verwirrungen geführt. Die <Problematik> aller <modernen>
Menschen ergibt sich aus d e m Ur-<Problem> der Zweiheit von
Stoff und Geist. Insofern ist das L a b y r i n t h ein Sinnbild dieser dra-
matischen Erzantinomie des M e n s c h e n g e s c h l e c h t s . Doch wollen
wir unseren letzten Ergebnissen nicht vorgreifen. Pascals Ariadne-
Faden bietet uns noch viel größere Ü b e r r a s c h u n g e n als derjenige
des Novalis.
Der Mensch selbst also enthält in sich <zwei Stile>, er ist zwei
Stile, nämlich Körper u n d Geist. D e s w e g e n k ö n n e n wir die in
diesem oder in dem anderen S i n n e verschleierte U r w a h r h e i t nicht
unmittelbar erkennen. Christus allein, als G o t t m e n s c h , als Inkar-
nation des Dualismus K ö r p e r - G e i s t , ist das metaphysisch gültige
Vereinigungs-Bild. Das Kreuz! Die Vereinigung von Vertikaler und
Horizontaler. Das höchste Oxymoron = l e i d e n d e Freude. Es gibt
somit keine <Geschichte> des M e n s c h e n g e s c h l e c h t s . Z u r Integra-
tion der beiden Urgebärden gibt es n u r eins: <Die gesamte Folge
von Menschen im Verlaufe der J a h r h u n d e r t e m u ß wie ein einziger
Mensch betrachtet werden, der i m m e r b e s t e h t u n d der u n u n t e r b r o -
chen erfährt.. .> Wir fügen hinzu: eines a d a m i s c h e n M e n s c h e n mit
zwei Ausdruckszwängen, die i h n zu einer doppelten Ausdrucksge-
bärde veranlassen, mit einer u n e n d l i c h e n Skala von individuellen
Variationsmöglichkeiten. D o c h aus beiden k a n n sich bisweilen -
seltene H ö h e p u n k t e in der Geschichte des m e n s c h l i c h e n Geistes -
Integration, Kontamination, Interferenz, ein C h i a s m u s dieser
Gebärden ergeben. M a n i e r i s m u s w ä r e somit, n a c h Begriffen
Toynbees, eine weltgeschichtliche H e r a u s f o r d e r u n g , die Klassik
50O eine weltgeschichtliche Antwort, doch h ö c h s t e n R a n g e s nur: in der
Integration. Pascal nennt diese parahumane Gebärde die wahre
<belle maniere>. Sie ist nur möglich, wenn man nicht allein indivi-
duelle Problematik, sondern auch die Problematik des Geschicht-
lichen überwindet, also nur noch aus sich selbst schafft... vor Gott.
Jesus wird bis zum Ende der Welt sterben; während dieser Zeit
sollte man nicht schlafen.) Was ist <belle maniere>? <Leben und
Tod in guter Art empfangen, das Gute und das Schlechte.)17 17
<Pensees> B.c. p.ioo. Zum Pro-
blem zwei oder drei Stile in nVj
Weltliteratur cf. E.R. Curtius. Euro-
päische Literatur und lateiniMbes
Mittelalter, o.e. (Problematik S(-n
Unsere Religion: der Antike). Ferner: J.Miles Li.,-
and Modes in Knglisb Poetiv Lon-
don 1958. kommt-wie scboiiQuin-
<weise und wahnsinnig> tilian - auf 'three nmdev. Nähert
sich aber dem antagoin-lisi bcn um)
dann integrierenden Prm/.ip. das
Damit ist die erste Stufe der Integration erreicht. Sie ermöglicht es von Hegelscher Dialektik unter-
uns jetzt, nach Pascal, Geschichte zu begreifen - jenseits der Ge- schieden werden muH Du uns IB-
mäße Lösung bietet - aulJei Pas< ll -
schichte, jenseits der im Ge-schichteten der Vergangenheit immer
C M . Hopkins, wenn 11 (antagoni-
aggressiven Paradoxien. Wer die antinomischen Urgebärden der stisch) einen tpnnMMM I»'ii Mm ei-
Menschheit zu vereinen vermag, kann das Ur-Rätsel erfassen, das nem <kastalischen> Stil unter«
det. aber ihre höchste -Integration»
Rätsel des verborgenen Gottes>. Christus vereint die Extreme, des- im <delpliiscben> Stil findet IM
wegen ist <unsere Religion weise und wahnsinnig). Und nun P-235-
schließt Pascal, dem m a n Anti-Historismus vorgeworfen hat, ohne
die Gründe für diese Abneigung zu begreifen, auf seine Weise my-
thische Religionsgeschichte auf.
Es gibt <zwei Arten von Menschen in jeder Religion: die Heiden
beten Tiere an, die anderen einen einzigen Gott>. <Die sinnlichen
Juden halten die Mitte zwischen Christen und Heiden. Die Heiden
kannten Gott nicht und liebten nur das Irdische. Die Juden kann-
ten den wahren Gott, aber sie liebten nur das Irdische.) <Abraham
war noch von Götzenwerk umgeben, als Gott ihm das Mysterium
des Messias offenbart.) <Die Ägypter waren von Götzen-Anbetung
und Magie infiziert.) Doch glaubte schon Moses <an das, was er
nicht sah>. Die Griechen und Römer hingegen verfielen den fal-
schen Gottheiten. Der Ursprung eines Glaubens an einen nicht-
sichtbaren Gott liegt, für Pascal, im Herzen des <asianischen Ju-
däa>, das er bewundert und preist, dessen gewollte <Rätsel>-Situa-
tion er jedoch bald gegen die Rätsellosigkeit des Neuen Testaments
nur als Vorstufe des deutlich Geoffenbarten empfindet.

Parahistorische Konkordanz
Dfese letzten Gedankengänge Pascals ermöglichen uns eine auch
metahistorische Erklärung des Dualismus von Asianismus und At-
bzismus, zumal Pascal beide, Altes und Neues Testament, als not-
wendige Bestandteile für eine universale «Integration) betrachtet.
Ule
Zeugnisse des Alten Testaments sind für Pascal <bewunde-
n
»ngswürdig, unvergleichlich, völlig göttlich). <Im jüdischen Volk
0n
enbart sich das erste Weltgesetz.) Der Juden religiöses Selbst-
Jfcttrauen ist einzigartig. Das Alte Testament ist <das authentischste
«uch der Welt). Dagegen hat Homer nur einen <Unterhaltungsro-
man
> geschrieben. Auch der Juden spätere Überlieferungen sind
T ^ u ß r e i c h , so Talmud und Kabbala. Doch hatten die Juden
* e Weise, Gott nur in <Rätseln) zu offenbaren. <Dzs Alte Testament
^ h ä l t die Figuren zukünftiger Freuden, das Neue Testament b.e-
et d
* Mittel, mit denen m a n sie erreichen kann.) Das sind - reti
g e s c h i c h t l i c h ~ verwegene Interpretationen, aber sie zeugen.
501
* l e *ir sehen werden, für einen höheren Integrationswillen, für
ein Streben nach parahistorischer Konkordanz von <Asianismus>
und <Attizismus>.
Gott offenbarte sich den Juden in <Chiffren>, u n d auch deswegen
m u ß t e n sie Christus, nach Gottes Vorsehung, verleugnen. Sie, die
Juden, haben <choses figurantes>, bildliche D i n g e , derart geliebt,
<daß sie die Wirklichkeit zu verkennen begannen>. Insofern sind
die Christen «illegitime Kinder der Juden>. Bei d e n J u d e n ist die
Wahrheit i m m e r n u r <bildlich>. <Im H i m m e l ist sie entschleiert. In
der Kirche ist sie bedeckt, in bezug auf das Bild.> Aber: <Das Bild ist
eine doppeldeutige Chiffre. > <Ein Porträt enthält Anwesenheit und
Abwesenheit, Vergnügen und U n b e h a g e n . Die Wirklichkeit
schließt Abwesenheit und Unbehagen aus.> D a s Alte Testament ist
also, weil <chiffriert>, wie jede Chiffre doppeldeutig. D o c h hat das
Neue Testament den <clef du chiffre>, den Schlüssel zu diesem Ge-
heimnis geliefert. Christus u n d die Apostel h a b e n alle Rätsel des
Alten Testaments gelöst, sie haben die «Siegel aufgebrochen), <den
Schleier niedergerissen), <den Geist enthüllt>. Somit gibt es «zwei
Ereignisse>: «eines des Elends, u m d e n h o c h m ü t i g e n M e n s c h e n zu
erniedrigen, eines, u m den demütigen M e n s c h e n in Glorie zu er-
heben). Christus hat also nicht n u r alle Gegensätze, Paradoxien,
Rätsel, Chiffren, Verbergungen jeder Art offenbar g e m a c h t . E r hat
auch alle Kryptogramme durch seine Inkarnation gelöst. N a c h ihm
sind alle Ver-Rätselungen daher n u r noch: «Buchstaben), «tötende)
Buchstaben. Nach der M e n s c h w e r d u n g Christi gibt es n u r n o c h ein
Urkryptogramm: Gott — M e n s c h = M e n s c h e n - G o t t . In Christus
sind alle Widersprüche <akkordiert>. D o c h bleibt es wahr, daß sich
n u r im «Zufall) des Wechselspiels «das Mysterium erfüllt). Hierin
liegt die notwendige <maniere> der Offenbarung Christi. Gott des-
integriert, i n d e m er sich offenbart, er erwartet von demjenigen,
dem er sich offenbart, Integration. Wie ist sie — als vereinheitli-
chende Gebärde — möglich?

Als <sein E i g e n e r w e i s e m
Der große Kritiker Sainte-Beuve n a n n t e Pascal in seiner Studie
über Port-Royal, das Jansenisten-Kloster, d e m Pascal soviel reli-
giöse Anregung verdankte, d e n «letzten der g r o ß e n Heiligen).
(«Heilig) im Sinne des etymologischen Ursprungs des deutschen
Wortes; «als sein Eigen erweisen), d.h. Gott sein E i g e n erweisen,
aber auch für Gott als Mensch sein tiefstes Eigenes erweisen.) Vor
uns steht sicherlich die faszinierendste Verkörperung des geistigen
Adels E u r o p a s . Hier ist m e h r als Remythisierung erreicht. Die In-
karnation wird wieder als einzig mögliche Wirklichkeit erfahren,
als einzig mögliche Einheit von Welt u n d Überwelt, von M e n s c h
und Logos.
Pascal ist das europäische Genie der Reintegration des Mythi-
schen in Verfallszeiten - auf geistige Weise. J a k o b B ö h m e gleicht
ihm, trotz seiner spekulativen Naivität, in ü b e r r a s c h e n d e r Ähnlich-
keit. In Pascal u n d Böhme b e r ü h r e n sich höchst theosophische
Leistungen Frankreichs und Deutschlands, in dieser «Konkor-
danz) erfüllt sich die so fruchtbare französisch-deutsche Dialektik
auf ebenso geheimnisvolle wie harmonische Art. Pascal versuchte,
verworrene «Haltungen) n e u zu verknüpfen, B ö h m e wollte die sä-
kularisierte Sprache regenerieren, w e n n er z.B. jeden Vokal als
eine «Stufe u n d H a l t u n g in der ewigen Selbstgeburt Gottes> erneu-
ert haben wollte. U n d Leibniz? Er steht mit a n d e r e m , nicht mit
religiösem, sondern mit philosophischem Wahn-Sinn auf der glei-
chen Stufe, wenn er schreibt, es drücke jede Monade oder Einzel-
seele das ganze Universum nach ihrer Art aus... <Tout l'univers ä
samaniere>. Die Seele ist also —wieder-ein individueller Spiegel,
in dem sich die Totalität des Universums widerspiegelt. Leibniz
will <universale Ordnung und Einheib. Er will (epidemischen Gei-
steskrankheiten> begegnen. Er sucht die <ultima realitas entis>, er
will die Verwirklichung der <prästabilierten Harmonie>. <Die me-
chanistische Idee versagt, wenn sie angewendet wird auf das Reich
des Seelischen und Geistigen.) <Beide Reiche gehen aus einer ein-
zigen Quelle hervor.> <Der Schöpfer aller Dinge verhält sich wie der
Erzeuger zweier Uhren, die genau gleich konstruiert sind und die
daher fortgesetzt die gleiche Zeit angeben.> Und Angelus Silesius?
Hören wir sein jetzt ganz und gar unmanieristisches Gebet-Ge-
dicht:
Soll ich mein letztes End' und ersten Anfang finden,
So muß ich mich in Gott und Gott in mir ergründen.
Und werden, das was er: ich muß im Schein ein Schein,
Ich muß ein Wort im Wort, ein Gott im Gotte sein.

29. S I G N U M C R U C I S

Sträflinge Gottes
Möglich sind jedoch <Integrationen> dieser Art nur durch das tief-
ste innere Drama aller Manieristen, durch ihre verborgenste Span-
nung, durch ihr faszinierendes Kranken am Widerspruch vor allem
von Geist und Materie... im Menschen. Einmal suchen sie Wahr-
heit im extrem Geistigen, in Phantasiai, dann im extrem Körperli-
chen, in hemmungslosem Sensualismus. In dieser Spannung leben
sie. Für sie sind ja die meisten Menschen nicht einmal gefallene
Engel, sondern nur Nachfolger Adams, des gefallenen Menschen.
Tragikomik im Spiegel: seitdem müssen diese Wesen, die einst
<reine> geistige Natur waren, täglich Materie und geschlachtete
Lebewesen verschlingen und verdauen, um leben zu können. Doch
blieb ihnen, in dieser entsetzlichsten aller Demütigungen, der
Funken göttlichen Geistes: die Erkenntnis- und Kombinations-
kraft. Dieser Widerspruch zwischen materieverschlingender Ma-
schine und ekelempfindendem Bewußtsein im Menschen, angeb-
lich der Kreuz-Weg aller Geschöpfe, ist er nicht gerade den <Pro-
blematikerm - als tragi-grotesker Welt-Widerspruch - unerträg-
lich? Ihre Melancholie, Manier, Manie scheint einer Allergie vor
diesem biopsychischen Chemismus zu entspringen. Viele von ih-
nen enden, in einem fanatischen Streben, archaische Dualismen
dieser Art zu überwinden, im Wahnsinn, im Gefängnis, im Laster,
mi Elend, im Selbstmord, schlimmer noch (für sie): in vorausge-
ahnter rascher Vergessenheit. Sie leiden also viel stärker als die mit
robustem Appetit Begabten, als die Selbstgerechten, Pharisäer und
Prall-Gesunden, unter dem Fluch, der Adam traf. Viele von ihnen
empfinden sich daher als ausgesuchte Sträflinge Gottes. Sie erfah-
ren es täglich, daß sie dieses Fluches wegen, dieser unzählbaren
Hektoliter Tierbluts wegen, die für die Erhaltung auch ihres kör- 503
perlichen L e b e n s vergossen werden, auf G r u n d eines mnerforsch-
ten Ratschlusses) nicht n u r ver-tiert w u r d e n , sondern auch noch
dazu gezwungen wurden, sich Stücke von Tierleichen einzuverlei-
ben. Für geistigen H o c h m u t m u ß m a n also endlos Fetzen ermor-
Über <Manierismus> im Sekten- deter Tiere verspeisen!? 1 8 Doch ist für die w a c h s a m e Klugheit
vvesen Europas und Asiens, von den
Vegetariern bis zu den Nudisten, ingeniöser Manieristen von R a n g eines als metaphysisches (Wider-
wäre, auch hinsichtlich sprachlicher stand serlebnis> viel aufregender geworden: die Tatsache, daß die
Phänomene, eine Untersuchung
Strafe, derlei zu verschlingen, n u r im Nachdenken als Strafe emp-
aufschlußreich. Vgl. u.a. das Tage-
buch Pontormos. cf. WL. funden werden m a g , nicht aber i m Trieb; d e n n diese Strafe wird
durch angeborene G e n u ß - S u c h t erleichtert, b e q u e m gemacht, also
entsetzlich ver-rätselt. Im M e n s c h e n wird der H u n g e r auf Getöte-
tes mittels der G e n u ß - E m p f i n d u n g w a c h g e h a l t e n . An der Einver-
leibung des vielfach köstlich Z u - G e r i c h t e t e n empfindet m a n
Freude, und die Manieristen sind oft talentvolle G a s t r o n o m e n oder
zumindest wissende G o u r m a n d s , wie auch i m m e r sie sonst alles
<Gegenständliche> verachten. Zwischen dieser Art von saturni-
scher Verzweiflung und epikureischem G e n u ß sind bei ihnen die
Grenzen ungefähr so undeutlich wie in d e n Polar-Gebieten, si-
cherlich aber (dramatischen als in den viel fauleren <Types dige-
stifs> unserer heutigen <christlichen) P h a r i s ä e r . D o c h begnügen
sich epigonale Manieristen meist früh damit, das Sein als Parado-
xie zu empfinden, u n d es dabei zu belassen. D i e letzte Harmonisie-
rung des Komplizierten ist zumeist den zahllosen <Minores> nicht
gegeben.

Außen und Innen


Apollo erfaßte das gesamte, das ü b e r allen Relativitäten in sich ru-
hende Sein, sofern es sich um Abbild der Mysterien in Schönheit
handelte. Auch in ihrem antagonistischen Verhältnis zu <Natur>
und <Geist> (beides in Fülle gleichzeitig sein wollend) gehören die
Manieristen, berauscht u n d wollend, g e n i e ß e n d u n d angeekelt,
den dionysischen Scharen an. Zwischen süßer, g e n i e ß e n d e r Ohn-
macht und gieriger S i n n g e b u n g b l e i b e n sie getrieben im Werden
der Erscheinung. Sein u n d W e r d e n erscheinen i h n e n als Aggre-
gatzustände. W e n n es also ästhetisch w a h r ist, daß Apollo, attizisti-
sches Sinnbild, das Über-Rätsel des Seins <harmonisch> löste, dann
ist Nietzsches Wort richtig: höchste Schöpfung der Kunst erfolgt
aus der Einheit des Apollinischen u n d Dionysischen. Aus der Be-
g e g n u n g von Dionysos u n d Dcddalos aber w e r d e n u n s alle Erregun-
gen, alle Salze, alle Zweifel, alle Torturen, alle Erschütterungen,
alle Fragwürdigkeiten vermittelt, d u r c h die es geistig durchschnitt-
lichen Zeitaltern ü b e r h a u p t erst möglich wird, das Labyrinthische
wieder als das zu begreifen, was es — n a c h d e m babylonischen Ur-
mythos - ursprünglich ist, als ein Urbild des Seins, als Weltleib, der
sich nach a u ß e n in seiendem, u n v e r ä n d e r l i c h ewigem apollini-
schen Glanz erstreckt, in dessen I n n e r n jedoch die vertrackten Ein-
geweide-Irrgänge uns d a r a n e r i n n e r n , d a ß wir als Erscheinung
Sumpf sind u n d Fäulnis, V e r d a m m n i s u n d Vergänglichkeit, Ge-
stank und Tod. In seiner äußeren Geordnetheit umfaßte das Laby-
rinth das Sein, in seiner inneren Verwirrung das Werden. Auf der
Außenfläche sind klare, ü b e r s e h b a r e W e g e möglich, in der Hohle
19
Athanasius Kircher sah die ge- gibt es nur <Biegungen>, <Windungen>, <Verwirrung). 19 Vom laby-
samte Unterirdischkeit unseres rinthischen Ur-Mythos aus g e s e h e n , bleibt der Nur-Manierist In-
Planeten als Labyrinth an. In <Mun-
dussubterraneus>o.c.
n e n r ä u m e n des Labyrinths zugeordnet, der Klassizist der im apol-
linischen Azur glänzenden H a u t . . . des ä u ß e r e n <Weltleibs>.
Das integrierende Genie im Sinne Pascals hat seine eigene Per-
spektive: es sieht die Einheit dieses Phänomens, die Einheit von
<schöner> äußerer Form und <kompliziertem> Inhalt. Das integrie-
rende Genie findet eine Antwort auf diese Antinomie des Daseins:
Schönheit! Paramanieristische und paraklassizistische Schönheit.
Schönheit, deren Antwort auf Rätsel unerklärlicher ist als die wahn-
sinnigste Rätselfrage schlechthin, weil sie in der Gnade Gottes steht.
Das Oxymoron Mensch —Gott verblaßt also vor dem Ärgernis
Gott-Mensch, die Dionysos-Apollo-Duade vor ihr wie die Zwie-
spältigkeit Dionysos - Daidalos. Die Trinitas, die Überwindung der
<zwei Stile> durch den <integrierten> dritten Stil: Vater, Sohn und
Heiliger Geist.
Der Ariadne-Faden ist ein Symbol der europäischen Heterodo-
xie. Das Kreuzzeichen ist das Erlösungszeichen der Orthodoxie.
Ein vollkommeneres Zeichen als das Kreuzzeichen gibt es nicht. In
seiner umfassenden Gebärde bezeichnet es Fülle, Schöpferkraft,
Unermeßlichkeit (Vater)... Faßbares, Ansprechbares, Verständli-
ches, Ansprechendes (Sohn)... Verstehen von Wahrheit, von Sinn,
von Zusammenhang (Geist)... Aus Kraft und Sinn wird Frucht,
das erlösende Kind — und sicherlich nicht: Untergang der daidali-
schen H y b r i s S c h o n v o r d e r <Geburt>. 2 0 x
Ariadnes Schwangerschafts-
Schicksal.

Geheime Krankheit
<Ganz oben birst die Säule>, schreibt einer der größten Dichter am
Anfang des Neomanierismus unserer Zeit, <und ihre beiden Enden
verschieben sich. Noch ist nichts eingestürzt. Ich kann den Aus-
gang nicht wiederfinden. Ich steige hinab und ich gehe wieder hin-
auf. Ein Turm. Labyrinth. Niemals habe ich da herausgekonnt. Für
immer bewohne ich ein Gebäude, das einstürzen muß, ein Ge-
bäude, das von einer geheimen Krankheit bearbeitet wird.> So
Charles Baudelaire. Für Kafka sind wir <mit dem irdisch befleckten
Auge gesehen, in der Situation von Eisenbahnreisenden, die in ei-
nem langen Tunnel verunglückt sind, und zwar an einer Stelle, wo
man das Licht des Anfangs nicht mehr sieht, das Licht des Endes
aber nur so winzig, daß der Blick es immerfort verliert, wobei An-
fang und Ende nicht einmal sichtbar sind. Rings um uns aber ha-
ben wir die Verwirrung der Sinne oder in der Höchstempfindlich-
keit der Sinne lauter Ungeheuer und ein je nach der Laune und
Verwundung des einzelnen entzückendes oder ermüdendes kalei-
doskopartiges Spiel>. Geheime Krankheit! So die geheime Krank-
heit der Manieristen. Sie glauben, im <tierischen Labyrinth>21 stek- 2I
Titel eines Bildes von .Andre
Mass
kenzubleiben, während sie ihm oft längst entronnen sind, im Ge- °n 1956-
gensatz zu denen, die glauben, längst schon auf der Sonnenseite
seiner Außenfläche zu liegen. Die Furcht vor Todgeburt, vor Le-
ben, das schon vor der Erfüllung sinnloser Tod sein könnte, liegt
nicht darin die stärkste, die erschütternde Wirkung schöpferischer
Manieristen? Durch sie blicken wir ins entsetzlich Leere, aber in
diesem Leeren sieht uns vielleicht eines an, fahl, saturnisch, von
zuckendem Schwefellicht immer wieder erhellt: die Nachtseite der
Gottheit. Und nicht nur sie: die so vermeintlich helle Seite unserer
Erde erfahren wir durch sie in nicht selten berechtigtem Dunkel.
Ihr Zerrspiegel stellt auch, aus alltäglicher Erfahrung, den <Sinn>
der Tagseite unseres Planeten in Frage. Sie, die Manieristen, ah-
nen die mögliche sinn-lose Selbstvernichtung der Menschheit auf
der Erde, weil sie der Nachtseite der Gottheit so verbunden sind. 505
Die Widersprüchlichkeit der sie u m g e b e n d e n p o l i t i s c h e m Welt -
gerade von heute — beginnt jede Ver-tracktheit der Phantasie zu
übertreffen. Das Kollektiv-Absurde in E u r o p a , das Absurde als
Oberbegriff für das Phantastische jeder Art, b e g i n n t das individu-
elle manieristische Ausschweifen u n d manieristische Verkünsteln
jeder Weise innerhalb n u r ästhetischer Bezirke zu übersteigern.
Das Abstruse der Welt-Gesellschaft des 20. J a h r h u n d e r t s , hat es
nicht das Absurde des <Manierismus>, sofern es sich u m eine Aus-
drucksgebärde nur in der Kunst, Musik, L i t e r a t u r usw. handelt,
bereits übertroffen? Die <Phantastik> der manieristischen <Träu-
mer> scheint zu einer Harmlosigkeit zu w e r d e n g e g e n ü b e r den gro-
tesken Verrichtungen der heute angeblich — politisch — verantwor-
tungsvoll handelnden M e n s c h e n .
Der Zustand der heutigen Welt veranlaßt d e n <Problematiker>,
sieht er nur diese Welt, sicherlich nicht zu d e m Ruf Pascals:
<Freude, Freude, Freude!> Die Uberwelt m a g er — der Problemati-
ker— ahnen, sogar anerkennen, aber welcher Religiöser — kirchlich
oder nicht - bringt heute das D r a m a u n s e r e r Zeit, so wie Pascal,
derart zum Ausdruck, daß ein Libertin sagen k ö n n t e : <Ich bin hin-
gerissem? Die b e d e u t e n d e n Manieristen, die a m teleologischen
Sinn Darbenden überhaupt, h a b e n sie eine n e u e F u n k t i o n in ihrer
Geschichte: eine antikompromißlerische Funktion, die Aufgabe,
durch <Negation> Gewissen zu wecken, u m die größte menschliche
Katastrophe aller Zeiten zu vermeiden: d e n Einheits-Tod von
Geist und Natur?

Kreuzung
von Licht und Finsternis
Im Kreuzzeichen werden H i m m e l u n d E r d e , R a u m u n d Zeit auf-
gespalten. Wird die daidalische S p a l t u n g der M a t e r i e stärker sein?
<Der letzte Adam, da er hilflos a m Kreuze h ä n g t , schreit in äußer-
ster Todespein — umsonst! — h i n a u f z u m H i m m e l : ,Mein Gott,
warum hast D u mich verlassen?') W a r u m h e u t e u n d hier? Das
Achsenkreuz der Zweck-Geometrie h a t das erlösende Kreuzzei-
chen verdrängt. <Der am christlichen Kreuze e n t s t e h e n d e Raum
ruft Allgegenwart hervor, das Achsenkreuz der Geometrie zieht
All-Vernichtung an. Et Trinitatis speculum / Illustravit saeculum.>
Das Kreuz ist auch eine Kreuzung von Licht u n d Finsternis, wie
Grünewalds H ä n d e der b e t e n d e n Magdalena. U n s e r e Epoche hat,
wie selten zuvor, für eine von b e i d e n mit gleichen Einsätzen zu
wetten. Könnte die glückliche Aufforderung d a z u n u r wieder ei-
nem Heiligen gelingen? Wird er u n s e r w a c h s e n in der heutigen
Dürre? Die Signatura Crucis ist u n s h e u t e z u m Symbol schlichter
Bitte geworden.
Literaturhinweise

Nachfolgend wird, wie im ersten Buch, nur benutzte Literatur in Manierismus als periodisch auftretende historische Erschei-
der Reihenfolge der Darstellung, also weder in alphabetischer nung, über seine soziologischen und psychologischen Voraus-
noch in chronologischer Reihenfolge, zitiert. Diese Literatur bil- setzungen sowie über seine philosophischen und theologischen
det einen Beitrag zu einer allgemeinen Bibliographie über den Aspekte.

Zum ersten Teil


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Zum zweiten Teil


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Zum dritten Teil


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Salis. A. von. Theseus und Ariadne. Berlin 1950 Reverzy, J., Le Corridor. Paris 1958
Zum fünften Teil
S%phei \ \ * U c rt.ui Ma£t-> <>i Krtiaissaiur M\lr \e» \ork Rt-dnig. Marcel. Philosophische Grundlegung der kalliolischen
Moiaitheologie München 1955
B a u d r l a n r l h a l l e * P a i a t h s Vilifii tri» 4 h u v l r s i ollipietes P a - \ ittrant. Jean Benoit. Theologie Morale. Paris 195^
rt» 105* liuardini. Homano. Christliches Bewußtsein. München 1956
B r f g w n M r i m . I.r» >leul V m u n d r la M o i a l r et de- la Kehgioli Hat». Hermann. Pasta! Dülmen 19^7
Part» n i V Beginn \lber). Pascal par hü-meme. Paris 19^2 (dt.: rowohlts
\ugt. Adoll M a l * »niiic-tt alii / u m h u n d Stuttgart 19*1" ituiitttgraphien. Bd. 20. 19^9)
Billlllieief Kall k m hr-ll£es* hl< h t r 1'adr-liMtrii Hj«^ Pastal. Blaise. Die Kunst zu überzeugen und andere kleinere
Allgrlu» >llc-»lu> Nallttln h r Pi«r*tjw h e Werk«- hVlilU i.;- philosophische Schriften. Berlin 19^8
ü a m g o t i - l - * g i a i » g c H 1'- • >uu» ful d a s t » r h e n u m » u n d das —. Briefe l*eip/ig i9>*>
H r l l - D u l l k r l dt-» l*t-i»tt-> l'a<irli»om l*4%~ Knrdru'li. Hugo. Paseals Paradox. Das Sprachbild einer Denk-
H j i r M". I Vi M . • i - < itj%i* l o n n In: Zeitsthr. f Roman. Philologie. 19^6
Drrullic, I. <KII»IT-> dt- I '..• a) P a l n i *i%tt I ..1. .s Maltluas. Pascal* Pensees. Kempten 1915
PaMal, Mai»*- Pc-liscr» Vutg ( M f l u r l P a n s JVIV, Lufreier. Heinrich. Pasc'als religiöse Schriften. Köln 1924
MausKai i. J -< ' I h r i. . : ' . - Ite M o r a l u n d d n r («-([«rt Kühl I. .n.ci-U ü Paul Ludwig. Pascals Berufung. Bonn 1929
•9>\
EUROPÄISCHE CONCETTI

Eine Miniatur-Anthologie

Zum Abschluß eine Miniatur-Anthologie europäischer Concetti,


zwei manieristische Epochen konfrontierend, die Zeit zwischen
1520 und 1650 und die Zeit zwischen 1850 und 1950. Zum Ver-
ständnis wie zur Interpretation bieten die Teile I bis III genügend
Elemente. Was die Anordnung angeht, folgen wir dem gleichen
Prinzip wie bei der Disposition unserer Metaphern-Beispiele in
Teil II, d.h. wir fangen mit Spanien an usw. Diese kleine Samm-
lung ließe sich natürlich bis ins Unermeßliche ergänzen. Der
Raummangel zwingt uns zur Knappheit. Es wird also keinerlei
Vollständigkeit beansprucht. Bereits übersetzte Texte sind in den
Anmerkungen gekennzeichnet. Alle anderen wurden von uns
übertragen, im Sinne anspruchsloser <Dolmetsch>-Versuche. Lei-
der gestattet es der Raummangel nicht, mit den Übertragungen
auch die fremdsprachigen Originale zu bieten. Wer diese nach-
lesen will, findet am Ende dieser Sammlung Referenzen.

I. Spanien
1
Übersetzungen von H. Brunn
Luis de Göngora (1561-1627) o.c.p. 1 15. 139, 107, 161.
Das Meer
Nichts hilft dem Meer, sich Heere anzuwerben
Von Robben, Seelöwen und Riesenwalen,
Nichts hilft ihm, seinen Ufersand zu bleichen
Mit so viel erste Tollheit Unglückszeichen,
Das Geier selbst den Zoll des Mitleids zahlen,
Nichts, daß es Berge häuft des Schaumes an
- Weil selbst das Schreckbild von so bösem Sterben
Erneuten Wahnsinn nicht verhindern kann.

Es drängt das Meer in einen Bach hinein,


Der, wie ein durst'ger Zecher,
Sich ihm entgegenstürzt von hoher Quelle
Und aus dem engen Becher
Nicht nur viel Salzflut trinkt, nein, sein Verderben, 5*3
Scheint er ja doch ein Schmetterling zu sein
- Sein Flügel in die Welle -
Der in dem Schimmerlicht der See will sterben.

Der Fluß
Und Gutsgebäude in sein Silber schlingend,
Von Farmen überhöht dann fließt er breit,
In majestätischer Geschlossenheit,
Bis wiederum in Glieder
Der Inseln Schar mit grünen Parenthesen
Des Stroms Periode teilt, die allzu große.
So wechselt er sein Wesen
Von hoher Grotte an, die ihn gebiert,
Bis hin zum Jaspisschwall, in dessen Schöße
Sein Feu'r verraucht, sein Name sich verliert.

Das Schloß
Aus Schlössern aber triebst Du unsern Gast,
Wo in den hohen Räumen
Der Blick, schwindelerfaßt,
Nur an der Schönheit noch sich halten kann,
Und die sich gegen Maß und Regel wild
In Porphyrkleid und Jaspissockel bäumen!

Gerardo Diego (geb. i8g6)


Guitarre
Grünes Schweigen wird herrschen
Gemacht von verflochtenen Guitarren
Die Guitarre ist ein Brunnen
Von Wind anstatt von Wasser.

Federico Garcia Lorca (1899-1936)


Der Schatten meiner Seele
Schatten meiner Seele
flieht in Alphabeten-Dämmerung
in Nebeln von Büchern
und von Worten.

Das Meer
Das Meer ist
Der Luzifer des Azurs.
Gefallener Himmel,
Im Willen Licht zu sein.

Mein Traum
Konfuses Labyrinth
Schwarzer Sterne
Meine Illusion bricht entzwei
Fast wie Verfaultes.

5H
IL Italien
Giambattista Marino (1569-1625)
Narziß
Er sieht es, das Bild (in der Quelle), grüßt, der Tor, und schöpft
Aus verlogener Ähnlichkeit wahres Empfinden.
Er, der Liebende, er, der Geliebte, frierend und glühend
vereint
Pfeil und Ziel, Bogen und Schütze;
Neidet der fließenden, vergehenden Feuchte
Die weichen Umrisse und das stolze Trugbild;
Eifert dem Werte nach, von dem er entblößt;
Seinen Nebenbuhler ans Ufer ruft der Fluß.

Tanzfigur
Wenn jäh erstarrt der Schwung, der Lauf ermattet,
In einem Augenblick nur dann die Art sich rasch verwandelt:
Mit bewunderungswürdiger Erd-Meßkunst
Offnen die Tänzer sanft den Zirkel ihrer bisher nur unbestimmt
schweifenden Füße.

Vor dem Turnier


Schon zog Venus aus dem Ganges das blonde Haar,
Überlassend Apoll seine goldnen Herbergen,
Und, entwunden den Grenzen Indiens,
Peitschte sie den fliegenden Pferden den Rücken,
Um bald sich dann zu spiegeln im geschliffenen Metall
Gereckter Helme und funkelnder Kürassen,
So daß im Blitzstrahl des Morgenlichts
Ganz mit Sonnen bald übersät erschien das Feld.

Marcus Valerius Martial


Wiese ist er und Meer und Himmel.
Wie viele Blumen, Perlen und Sterne
Verbergen in sich, wie geheime Lehren,
Deine bunten Schriften, scharfsinniger Iberer.
Heiter und ernst
Vermag es Dein Geist, Dein Stil,
In dessen Süße Salz gemischt ist, der Biene gleich,
Zu stechen und aus den Wunden Honig zu saugen.

Mein Porträt
(Das B. Schidoni malen sollte)
Nimm' die Strenge des Frosts und der Flamme,
Das Seh auern der braunschattigen Nacht,
Die Blässe des Todes und vereine dies alles;
Mach' daraus, wenn Du kannst, ein seltsam Gemisch;
Nimm' alles Dunkle des Trübsinns,
Pein und ewige Finsternis,
Was bitter in Liebe, was Versagen im Glück,
Was Scheitern und Elend in der Natur;
Wähl' dazu das Gift der Hydra, die Stürme
Des libyschen Golfes, und vermenge dann
Mit Seufzer und Tränen Deine Farben.
So, Schidoni, wirst Du wahr und getreu
Mein Bild machen. Doch willst Du es
Lebend haben, so gib ihm kein Leben.

Das Wunderbare
Des Dichters Ziel ist das Wunderbare.
(Ich meine das der Meister, nicht der Krüppel);
Wer nicht verblüffen kann, soll sich striegeln lassen.

Giacomo Lubrano (1619 — 1693)


Leuchtkäfer
Lebende Blitze und irrende Fackeln
Beleidigen hell die blindesten Schatten,
Fast beflügelte Zauberer
Verwandeln sie Flucht in Blitz und Flug in Strahl.

Der Zitterroche
In schlüpfriger Lethargie schuppiges Opium,
Mit lebenden Synkopen zuckende Laune,
Mißgeburt des Meeres, die gierig eisige
Epilepsie aushaucht von zitterndem Winter.

Phantastische Zedern
Ländliche Frenesien, blühende Träume
Duftende Pflanzen-Delirien
Gartenlaunen, belaubte Proteen,
In lieblichem Wahn verwirrte Zedern.
Pflanzen des Kadmos gleich,
Dem Herbst schenken sie kriegerische Turmwälder,
Oder ehebrecherische Spiele Pomonas
Erzeugen im Boden täuschende Monstren.

Giuseppe Artale (1628-1679)


Die Geliebte beim Würfelspiel
Was Du schüttelst sind irrende Beliquien,
Knochen und Punkte, beredte Ziffern;
Von Trauerstößen und Tränenstürzen
Künden sie im Dir unbekannten tragischen Spiel.
Sie singen, Lydia, eine Totenmesse Deinem Aussehen,
Schwarze Noten, Todeszeichen, schrillende Knochen.
Spielst Du oder stirbst Du? Siegst Du bisweilen,
Verlierst Du täglich; stundenweis' lebst Du und stirbst
V— für Augenblicke.

' Aus dem Gedichtband <L'Alle-


gria». Mailand 1954, übersetzt von Giuseppe Ungaretti (1888-1970) 2
Otto von Taube.
Der Teppich
Jede Farbe ergießt und fügt sich
In die anderen Farben
Um noch gesonderter für sich zu sein,
Wenn du sie anschaust.

516
Gewissen
Ich werde
Heute nacht
Den Biß des Gewissens spüren
Gleich einem Gebell
Das sich in der Wüste verloren.

Heute abend
Brüstung kühlenden Windes
Um heut abend
Meine Schwermut daran zu kühlen.

Edoardo Cacciatore (geb. ig 12)


Das Auge
Das Auge dessen Liebe Kristall ist zwischen Wimpern
Weiß nicht was außen ist in ihm oder innen
Es weiß nichts von Hindernis, Jahrtausend, Meilen
Es findet im Dunkel das strahlendste Netz.

Vergangenheit und Zukunft


Bewegung ein Augenblick errichtet im Tempel
Der Best Dir gegenüber welche Frömmelei
Vergangenheit und Zukunft haben gefaltete Hände
Aber nichts ist fromm und nichts ist gottlos.

Täuschung
Jede Wand ist Täuschung
Der Horizont wird zum Narren gehalten
Der Körper fühlt sich dabei nicht übel
Spiel' ihm jeden Streich
Auf allen vieren werden die Treppen
Ins offene Meer hinausgehen.

III. Frankreich
Amadis Jamyn (1538-1592)
Fische in der Luft
Sommer wird Winter sein und Frühling Herbst
Luft schwer und Blei leicht.
Fische werden in der Luft reisen,
Stumme gute Stimme haben.
Wasser wird Feuer und Feuer Wasser werden,
Ehe ich mich erneut verlieben soll.

A J'A !-• A (, *T> ifiirA3 3


Übersetzt von Friedhelm Kemp.
Agrippa d Aubigne (1552-1630) cf J a h r e s r m g i g 5 8 / 5 9 0 . c . p . 4 9 .
Diana
Die kühne, keusche Art, ihr Aufzug, ihr Geleit -
Gesteh, wenn Du, mein Herz, ihr Antlitz siehst, ihr Kleid
Und über ihrer Stirn der bleichen Sichel Glühen,
Ihr Auge ungezähmt, das alles zähmt, und weh!
Wie sie so schön und rauh, so sanft und schön, gesteh:
Diana tötet uns, die wir für tot verschrieen.

5*7
Theophile de Viau (1590-1626)
Ausgleich
Der Zephir schenkt sich den Fluten,
Die Fluten gaben sich dem Monde hin,
Die Schiffe den Matrosen,
Die Matrosen ihrem Glück.
Alles, was das All empfängt,
Alle Geschenke es zurück uns schenkt.

Saint-Amant (1594—1661)
Erwachen neben Flora
Das Gras lächelt wollüstig der Luft entgegen.
Von diesem üppigen windungsreichen Deck aus
Sehe ich zartes Sonnenfeuer der Brust der Welle schmeicheln.

Aus dem <Ballet du Landy>. Paris 1627


Fliegender Kentaur
Ein Ungeheuer werdet Ihr sehen,
Einen fliegenden Kentaur, dann ein Kind,
Das älter ist als seine Mutter,
Mit einer Lichtschuppe, dargeboten vom Elefanten.

Louis de Neufgermain (1574-1662)


Für Fräulein Dinton
Jede Fromme haßt den Tändler,
Der zur Predigt nach Charenton geht;
Sie liebt auch nicht den Mondänen,
Den Bösen, die künstliche Brust,
Klingeln am Hals; sein Mund macht <din>,
Und mit seiner Flöte macht sie <ton>.
Durch Einklang von <ton> und <din>
Dame Harmonie erzeugt: <Dinton>.
Seine Flöte erzeugend — <dre lin din din>
Und ihre Stimme säuselnd <ton ton ton>.

Claude Cherrier (geb. 1715)


Chimären-Mensch
(ä la Arcimboldi)
Er hat einen Garde-Korps (Körper)
Glieder von Perioden,
Einen Brücken-Kopf,
Eine Theater-Fassade (Gesicht)
Schach-Züge,
Die Stirn (Front) eines Bataillons,
Ochsenaugen (Dachfenster)
Einen Donau-Mund (Mündung)
Sägezähne,...
Einen Flaschenhals,
Meeresarme,
Marmoradern,
Wein-Geist usw.
Arthur Rimbaud (1854-1891)
Vokale
A schwarz, E weiß, I rot, U grün, 0 blau, Vokale,
Eines Tages werde ich Euer verborgenes Entstehen sagen,
A, schwarzer behaarter Panzer kriechender Fliegen,
Die um grausamen Stank schweifen
Schattenbucht; E, Reinheit von Dämpfen und Zelten,
Lanze stolzer Gletscher, weiße Könige, Dolden-Erzittern,
Purpurnes I, gespültes Blut, Lachen schöner Lippen
Im Zorn oder in reumütiger Trunkenheit.
U, Zyklen, göttliches Schwingen grünlicher Meere,
Friede tierübersäter Weiden, Ruhe der
Falten, welche Alchimie breiter forschender Stirn eingräbt:
Oh, schrillste Zinke seltsamer Grellheit,
Schweigen von Welten und Engel überquert;
- O Omega, violetter Strahl Seiner Augen.

Stephane Mallarme (1842-1898) 4


Tot ist der Himmel
Tot ist das Blau —, zum Urstoff will ich eilen,
O gib des Grausen und der Sünde Tief
Dem Dulder, der dir naht die Streu zu teilen,
Worauf das frohe Vieh der Menschen schlief.

Rauch der Trauer


Es war an deines ersten Kusses Segenstag,
Und wenn mein Sinnen auch mich oftmals quälen mag,
Nun war es wissend trunken von dem Rauch der Trauer,
Den selbst ohn' späten Reueschmerz und ohn' Bedauer
Die Ernte eines Traums im Herz läßt, das ihn pflückte.

Guillaume Apollinaire (1880-1918)


Überfahrt
Dem schönen Dampfer von Port-Vendres
Waren Deine Augen die Matrosen
Und wie zart waren die Wellen
In der Gegend von Palos
Wie viele U-Boote in meiner Seele
Schwimmen und streifen wartend
Auf das stolze Schiff, in dem so laut ruft
Der Chor deines brennenden Blicks.

Geschichte
Schicksale undurchdringliche Schicksale
Könige geschüttelt von Wahnsinn
Und diese zitternden Sterne
Falscher Frauen in Euren Betten,
Wüsten, von Geschichte bedrückt.
Paul Eluard (1895-1952)
Torheit und Liebe
Die Erde ist blau wie eine Orange
Niemals ein Irrtum die Worte lügen nicht
Zu singen geben sie Euch nichts mehr
Die Küsse sind an der Reihe zum Verstehen
Die Toren die Liebe
Sie und ihr Mund der Eintracht
Alle Geheimnisse jedes Lächeln
Und welch' nachlässige Kleidung
Sie ganz nackt zu wähnen.

Yvan Goll (1891-1950)


Die Eier der Nachtigall
In Feldern von Ehrenpreis hab' ich geschlafen
Und die Eier der Nachtigall geschlürft
Das magische Einhorn habe ich zerstückelt
Und den Vogel gefressen ohne den Flug zu verdauen.

Andre Breton (1896—1966)


Armbanduhr
Aber die Zeit, da sie spricht (die Frau), da bleibt
nur eine Mauer
Die flattert in ein Grab wie ein Segel im Nordwind.
Die Ewigkeit sucht eine Armbanduhr
Ein wenig vor Mitternacht am Landungssteg.

Pierre Reverdy ( i 8 8 g - i g 6 o )
Vor dem Spiegel
Vor dem Spiegel ist man nicht allein
Doch hört man nur eine Stimme
Und zwei Münder, die lachen
Die Gefangene im Nebenzimmer
Sie kann nicht trauriger sein.

Henri Michaux (geb. 1899)


Im Dunkeln
Im Dunkeln, Brüder, werden wir klar sehen.
Im Labyrinth werden wir den rechten Weg finden.
Gerippe, störender, stinkender, zerbrochener Topf,
wo ist Dein Ort?
Knirschende Walze, wie Du die Seile, gespannt in vier
Welten, spüren wirst!
Lohenstein dichtet: «Wer aber
durch den Bau (Labyrinth) ver- Wie ich Dich in Stücke reißen werde. 5
nünftig irre geht, wird seines Heiles
Wfeg, der Wahrheit Richtschnur
finden.» cf. auch p. 295. Raymond Queneau (1905-1976)
Kreuz und Kresse
Suresne Asniere hin und her geht man
Am Fluß entlang am Meanderwald
Zieht der Stein bellt ein Hund
Auf zartfleischigen Pfaden
Saint-Cloud Croissy Kreuz und Kresse
Die im Flusse sich mengen
Die Blume im Feld der Pilz
Und das Moos, das sich gefällig macht.
520
Lucien Becker (geb. 1911)
Wie eine abgeschnittene Hand
Allein folgst Du im stationslosen Raum
Der Schleppe Deiner stummen Vergangenheit
Kein Toter sieht Dich, kein Toter sucht Dich
Die Welten sind allein wie abgeschnittene Hände
Die Ewigkeit bedrängt Dich, bläht sich auf um Deine Flucht
Ermessen sollst Du von Stern zu Stern was Dich von ihr trennt.

IV. England
6
William Shakespeare (1564-1616) Übersetzt von W v . Schlegel.

Discordia Concors
Kurz und langweilig? Spaßhaft und doch tragisch!
Das ist ja glühend Eis und kochender Schnee.
Wer findet mir die Eintracht dieser Zwietracht?

Liebe
Nun dann: liebreicher Haß! Streitsucht'ge Liebe!
Du alles, aus dem Nichts zuerst erschaffen!
Schwermüt'ger Leichtsinn! Ernste Tändelei,
Entstelltes Chaos glänzender Gestalten!
Bleischwinge! Lichter Rauch und kalte Glut!
Stets wacher Schlaf! Dein eignes Widerspiel!
So fühl ich Lieb', und hasse, was ich fühl!

Empfehlung
Was sagst du? Wie gefällt dir dieser Mann?
Heut abend siehst du ihn bei unserm Fest.
Dann lies im Buche seines Angesichts,
In das der Schönheit Griffel Wonne schrieb:
Betrachte seiner Züge Lieblichkeit,
Wie jeglicher dem andern Zierde leiht.
Was dunkel in dem holden Buch geblieben,
Das lies in seinem Aug' am Rand geschrieben.
Und dieses Freiers ungebundner Stand,
Dies Buch der Liebe, braucht nur einen Band.
Der Fisch lebt in der See, und doppelt teuer
Wird äußres Schön', als innrer Schönheit Schleier.
Das Buch glänzt allermeist im Aug' der Welt,
Das goldne Lehr' in goldnen Spangen hält.
So wirst du alles, was er hat, genießen,
Wenn du ihn hast, ohn' etwas einzubüßen.
Du bist der Mars der Malkontenten...

Die Welt
Dann ist die Welt mein' Auster
Die ich mit Schwert will öffnen.

Artge Labyrinthe
Leer steht die Hürd' auf der ersäuften Flur,
Und Krähen prassen in der siechen Herde.
Verschlämmt vom Leime liegt die Kegelbahn;
Unkennbar sind die art'gen Labyrinthe
Im muntern Grün, weil niemand sie betritt.
Lippen
Die Lippen dir, zwei küssende Morellen!
Und jenes dichte Weiß, des Taurus Schnee,
Vom Ostwind rein gefächelt, wird zur Kräh',
Wenn du die Hand erhebst. Laß mich dies Siegel
Der Wonne küssen, aller Reinheit Spiegel.

Todesbucht
Den wilden Gram macht die Gewohnheit zahm,
Sonst nennte meine Zunge deine Ohren
Nicht meine Knaben, eh als meine Nägel
In deinen Augen schon geankert hätten,
Und ich, in so heilloser Todesbucht,
Gleichwie ein Boot, beraubt der Tau' und Segel,
Zerscheitert war' an deiner Felsenbrust.

Verliebt in ihren Schlag


Die Bark', in der sie saß, ein Feuerthron,
Brannt' auf dem Strom: getriebnes Gold der Spiegel,
Purpur die Segel und so duftend, daß der Wind
Entzückt nachzog, die Ruder waren Silber,
Die nach der Flöten Ton Takt hielten, daß
Das Wasser, wie sie's trafen, schneller strömte,
Verliebt in ihren Schlag.

John Donne (1572 — 1651)


Der Zirkel
Wenn zwei sie sind, so sind sie zwei
Wie ein starrer Zirkel Zwei ist;
Deine Seele, fester Fuß, um keine Spur bewegt sie sich,
Doch tut sie es, wenn die andere sich regt.
Und so, obwohl im Mittelpunkt sie steht,
Und wenn der andere Zirkelfuß sich weiter bewegt,
Neigt sie sich und folgt dem andern,
Und reckt sich hoch, wenn er dann heimwärts kehrt.
So wirst Du sein für mich, der ich
Wie der andere Fuß schief mich bewegen muß;
Deine Standfestigkeit macht meinen Umkreis recht,
Und läßt mich, wo ich begann, dann enden.

Liebes-Alchimie
Kein Alchimist je das Elixier des Lebens fand,
Aber pries doch hoch seine Retorte,
Wenn zufällig ihm im Mischen beschert wurde
Ein neuer Duft, ein neuer Heilstoff.
Genau so träumen Liebende von langem Entzücken,
Aber sie ernten nur winterähnliche Sommernächte.

Richard Crashaw (1612-1649)


Der Weinende
Nach oben Deine Träne fließt
Des Himmels Brust den süßen Strom jetzt trinkt;
Wo der Milchstrom sich schlängelt
Strömen die Deinigen aufwärts als Sahne.
Was Feuchtigkeiten über den Himmeln sind,
Wir wissen es jetzt, durch Deine Tränen, durch Dich.
W(ystan) H(ugh) Auden (1907-1973)
Edward Lear
Allein gelassen vom Freund beim Frühstück auf der weißen
Küste Italiens, erhob sich sein schrecklicher Dämon
Hinter seiner Schulter; für sich weinte er in der Nacht,
Billiger Landschaftsmaler, der seine Nase haßte.

Edward Lear (1812-1888)


Junge Dame in Weiß
Es war einmal eine junge Dame in Weiß,
Die schaute hinaus in die Tiefe der Nacht;
Aber die Vögel der Luft
Füllten ihr Herz mit Verzweiflung,
Uiid bedrückten diese junge Dame in Weiß.

Alter Mann sagt: <Huh>


Es war einmal ein alter Mann der sagte: <Huh!
Ich sehe einen Vogel in einem Busch!>
Als man fragte: <Ist er klein?>
Antwortete er: <Aber nein!
Viermal größer ist er als der Busch.>

V. USA
Edgar Allan Poe (1809-1849)
Ulalume
Hier einst, durch eine titanische Allee
Von Zypressen, irrte ich umher und meiner Seele -
Von Zypressen, mit Psyche, meiner Seele.
Tage waren es, da war mein Herz vulkanisch
Wie die fließenden Schlackenströme
Wie die Lava; die unermüdlich trübt
Ihre schwefligen Ströme nach Yaanek
In die letzten Gründe des Pols,
Und sie stöhnen, die Ströme, wenn sie vom Yaanek-Berg
anlangen
In den Gefilden des nördlichen Pols.

Ezra Pound (1885-1972)


Phlegethon
Aus dem Phlegethon!
Aus dem Phlegethon,
Gerhard,
Daraus kommst Du wirklich heraus?
Mit Buxtehude und Klages in Deiner Schulmappe,
Mit dem Stammbuch von Sachs in Deinem
Gepäck - nicht nur eines Vogels, sondern vieler...

Anfangs Kölner Dom


Und Charter Oak in Connecticut
Oder anfangs der Kölner Dom
Der Löwe von Thorwaldsen und Paolo Ucello
Und dann AI Hambra, der Hof des Löwen und el
mirador de la reina Linderaja.
James Joyce (1882-1941)
Ich höre ein Heer
In die Nacht hinein schreien sie ihren Schlachtruf:
Ich stöhne im Schlaf, wenn ich weitab ihr wirbelndes Lachen
höre.
Sie spalten mit blendender Flamme das Dunkel der Nacht,
Klirrend schlagen sie,
Klirrend aufs Herz wie auf einen Amboß.

Edith Sitwell (1887-1964)


Muskatnuß-Baum
Der Mond schenkte mir Silbermünzen,
Die Sonne gab mir Gold,
Und beide bliesen leise
Und machten meine Grütze kalt.
Aber der König der Tochter Chinas
Tat so, als sähe er nicht
Wie ich Kappe und Schellen
In ihren Muskat-Baum stellte.

T(homas) S(teams) Eliot (1888-1965)


Tam-Tam
Im Geschwätz der Violinen
Und hüpfender Weisen
Knallender Hörner
Beginnt in meinem Hirn ein stumpfes Tam-Tam,
Und widersinnig hämmert es für sich ein Prelude,
Ein monotones Capriccio:
Das ist endlich eindeutig ein <falscher Tom.

Gesangfür Simeon
Herr, die Bömischen Hyazinthen knospen in Schalen und
Die Winter-Sonne kriecht am Schnee-Hügel,
Die eigensinnige Jahreszeit ist stehengeblieben
Mein Leben ist leicht, auf den Toten-Wind wartend,
Wie eine Feder in meinem Handteller.
Staub im Sonnenlicht und Erinnerungen in Ecken,
Sie warten auf den Wind, der uns erkaltet ins Toten-Land.

Ronald Bottral (geb. 1906)


Kuben
Unter Grabstein unter Erde
Unter Kreuz unter Krone
Leben ist Tod ist
Tod ist Leben ist
Über Balken über Schädel
Über Gier über Wunde.
Hoffnung ist Schrecken ist
Schrecken ist Hoffnung ist
Inmitten des Weizens inmitten des Schreis
Inmitten des Geschenks inmitten des Vertrags
Liebe ist Haß ist
Haß ist Liebe ist.

5H

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