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Hocke - Manierismus (Studienausgabe)
Hocke - Manierismus (Studienausgabe)
Die Well
als .Labyrinth ^
Manierismus ^H|^
in der europäischen Kunst
und Literatur
R O W O H L T
D
as Jahrhundert de«, Manie
rismus, jene Periode der
Kunstgeschichte zw lachen
1550 und 1650, die von der Renais-
sance zum Barock überleitet, v\ urde
lange Zeit weniger wegen seine«,
eigenen Stils als wegen der hoch
gezüchteten künstlerischen V ir-
tuosität beachtet. Man sc hätztc den
raffinierten Eklektizismus dieser
Zeit, man sah die stilistist heu
Anleihen aus dem Kormenarsenal
der Geschichte, aus der antiken und
christlichen Tradition. Man staunte
immer wieder über die Vus^efallen
heit der Themenwahl. Einen über
raschenden Aufschluß über «las
Menschenbild und das problema
tische Weltverhältnis dieser Zeil
brachten die grollen kirnst- und lite-
raturhistorischen Werke von
Gustav Rene Hocke «Die Welt als
Labyrinth - Manier und Manie in
der europäischen Kunst» (1957) und
«Manierismus in der Literatur»
(1959). Sie werden hier in einem
sorgfältig ausgestatteten Band neu
vorgelegt. Das ungemein spannend
verfaßte, niemals fachsimpelnde
Werk setzt Mallstabe: Eine Kulle
unbekannten dokumentarischen
Materials zeigt die geistigen Grund
lagen jener Epoche und ihn* philo
sophischen Voraussetzungen. Auf
diesem Boden entstanden die zuvor
in der europäischen Kunst mibe
kannten ästhetischen Leitgedan-
ken, die eben das ausmachen, v\ ,is
w i r heute «manicristiseh* nennen.
Mit Hockes Buch gewann jener Stil
literatur- und kunsthistorisch ganz
eigene Konturen, er wurde faß-
barer, deutlicher abgegrenzt und
bestimmbar als europäische Stil
erscheinung. Hocke setzt die Eigen
arten im Denken der maniensti
sehen Epoche in Beziehung zur gei
stigen Struktur der Gegenwart, was
GUSTAV R E N E HOCKE
Die Welt
als Labyrinth
Manierismus
in der europäischen Kunst
und Literatur
Rowohlt
Einmalige Sonderausgabe August 1991
!
ÜBERBLICK
Zu dieser Ausgabe 6
Erstes Buch:
Manier und Manie in der
europäischen Kunst
Inhalt 9
Zweites Buch:
Manierismus in der Literatur
Inhalt 267
Nachwort 533
Über Gustav Rene Hocke 542
Bibliographische Ergänzungen 545
Personen- und Sachregister 547
Zu DIESER AUSGABE
Zu danken haben wir für Ermunterung zu dieser Arbeit, außer dem un-
vergeßlichen Lehrer Ernst Robert Curtius, den römischen Freunden
Guido und Marie Luise von Kaschnitz, Hermann und Toni Resten, Edo-
ardo und Vera Cacciatore, Ingeborg Bachmann, Prof. Engelbert Kirsch-
baum; sodann dem Mitherausgeber der Zeitschrift <Merkur>, Joachim
Moras, München, und dem Herausgeber von <rowohlts deutscher enzy-
klopädie>, Prof. Dr. Ernesto Grassi, München, sowie Prof. Franziskus
Graf von Wolff-Metternich, Rom, Dr. Ludwig Schudt, Rom, Dr. Helly
Hohenemser. Rom, und Dr. Karl Troost, Köln. Für Photosammlung und
Manuskript stand mir meine Frau unermüdlich zur Seite. Zu danken
habe ich ferner der kunsthistorischen <Bibliotheca Hertziana>, der d e u t -
schen Bibliothek), dem Tstituto per gli Studi Germanica (Villa Sciarrä)
und dem Keats-Institut (alle in Rom) für Rat und Tat bei der Beschaffung
von Literatur, sowie schließlich den vielen anderen Freunden, die mir in
Gesprächen und Briefen Mut gemacht haben, das <Labvrinth> zu betre-
ten, und die mir durch manche Zeichen halfen, seinen Ausgang zu fin-
den. G. R. H.
INHALT
Erstes Buch
E i n f ü h r u n g in d e n P r o b l e m k r e i s *3
1. Die erste E r s c h ü t t e r u n g 26
Saturnische Melancholie 26 - Renaissance: auch Geburt
eines Neuen 2g
2. A n m u t u n d G e h e i m n i s 54
Welt im Schweben 34 - Problematische Naturen 40
3. S e r p e n t i n a t a — konvulsivisch 42
Die Raum-Ding-Relativität 42 - Die <Deformationen> Rossos
44 - Mit den Augen von heute 45 - Kontraste und
Paradoxien 46 - Die geistige Wende in Florenz 51
4. <Idea> u n d m a g i s c h e N a t u r 55
<Deus in terris> oder Ohnmacht des Menschen 53 -
Ruheloses Wandern in den Wundern der Welt 54 -
Hieroglyphen der Welt 57 - Magia naturalis 5g - Die <Idea>-
Lehre 61 - Die Vergöttlichung des Subjekts 62
5. C o n c e t t i s m u s 63
Zuccaris Kunsttheorie 63 - Der extreme Ausdruck der
Phantasie 67 - Idea-Lehre = Ästhetik der Moderne 68
6. U n t e r g a n g s v i s i o n e n 7i
Bewußtwerden einer epochalen Krise 71
Zw KI IKH T E I L : 7. S c h ö n h e i t u n d G r a u e n
77
D i l Wh LT ALS Zwischen Tod und Feuer 77 Sehnsucht nach dem
WUNUERKAMMER verlorenen Paradies 79
8. A n g s t u n d N e u g i e r 82
Tod = obstrakte Schönheit) 82 - D e r Tod bildet eine <Geheim-
gesellschafb 87
9. Die E n g e l s b u r g 89
Aufgang der Neuzeit 89 - <Objet surrealiste> der G e s c h i c h t e
go - Irreale Phantastik 92 - Grotesken g 3 - Monstrosität
und Gesuchtheit 95 - <Zauberstücke> 97
1 0 . U h r als A u g e d e r Z e i t 100
12. S e l t s a m e M y t h e n 11t
14. A b s t r a k t e M e t a p h o r i k 132
Zeichen für unirdisches Sein 132 Sein u n d Sosein ist zweier-
lei 135 - Fragmentarismus 136
1 7. K o n s t r u k t i v i s m u s e i n s t u n d j e t z t L
54
Die Kunst des Auswechslerischen 154 - <Anamorphose> als
Mode 156 - Grenzen des Verstandes 161
18. K r e i s o d e r E l l i p s e 166
Über manieristische <Ordnung> 166 - M a n i e r u n d M a n i e
168 - Das mythische Ei 171 - N u l l p u n k t - S i t u a t i o n im
Übergang? 174
19. D a s R u d o l f i n i s c h e P r a g 179 VIERTER TEIL:
Der P r o b l e m a t i k e r auf d e m Kaiserthron 1 79 - Macht und TRAUMSTÄDTE
A n t i - M a c h t 182 EUROPAS
2 1 . A n t h r o p o m o r p h e L a n d s c h a f t u n d D o p p e l g e s i c h t 193
Die u m g e k e h r t e Welt 193 - J a n u s u n d die <Doppelgänger>
196
28. H e r m a p h r o d i t e n 240
D a s Zweigeschlechter-Wesen 240 - Der künstlerische
Sexus> 243
Nachwort 258
P r o b l e m e der Kritik 258 - Integration? 259
Literaturhinweise 261
EINFÜHRUNG
IN D E N P R O B L E M K R E I S
7m Z e i c h e n
iSaturns
VORWORT
D
er französische Dichter Paul Eluard, von allen europäi-
schen Surrealisten mit dem besten <inneren> Sehnerv aus-
gestattet, schließt sein Gedicht <Sterben> mit dem Dreizei-
ler: <Zwischen den Mauern lastet ganz der Schatten / Und ich
steige hinab in meinen Spiegel / Wie ein Toter in sein offenes
Grab.> Im Werk des Mitbegründers des Dadaismus, Tristan Tzara,
findet man den Vers: <Spiegel, Früchte derÄngste>, und der zeitge-
nössische amerikanische Lyriker E. E. Cummings berichtet in ei-
nem Gedicht <Impression>: <Im Spiegel / sehe ich einen zarten /
Mann / träumend Träume, Träume im Spiegel.) Nach Hermann
Bahr wollten Hofmannsthal, Rilke und George <die Welt im Spie-
gel sehen>. In der expressionistischen und surrealistischen Kunst
von heute wimmelt es von Spiegeln und Gespiegelten, von Spiege-
lungen und Zerr-Spiegeltheiten.
Spiegelmetaphern findet man seit der Antike in der Literatur oft.
Sie sind besonders beliebt im Hellenismus und im Mittelalter.
Nach der Hochrenaissance, im <Manierismus>, wird diese Meta-
pher fast zu einer Halluzination, wie Motive der Angst, des Todes,
der Zeit. Das gleiche gilt, wie G. F. Hartlaub in seinem Buch <Zau-
ber des Spiegels) nachgewiesen hat, für die Kunst. Wenn Plato die
Tätigkeit des Künstlers mit einem Abspiegeln der Dinge verglich,
so rief Leonardo in einem ganz anderen Sinne aus: <Der Spiegel ist
unser Lehrmeister.) Am Aufgang der Neuzeit wird der Spiegel ge-
radezu zu einem Symbol für die <Problematik> des <modernen>, des
nachmittelalterlichen Geistes. Modern? Das Wort wird ab 1520 in 15
einem sehr ähnlichen Sinne wie heute gebraucht. Vincenzo Gali-
lei, der Vater des großen Anregers zu einer empirischen Naturwis-
senschaft, schreibt 1581 einen <Dialog zwischen der antiken und
modernen Musik>. Rund sechzig Jahre später tadelt der italienische
Literat Lorenzo Stellato die <modernen> Übertreibungen in der
Poesie seiner Zeit.
siehe Farbabbildung 1 Der Spiegel wird nicht nur zur Bestätigung einer neu gewonne-
nen Subjektivität. Er gibt vielmehr die Möglichkeit einer Kombi-
nation von Spiegeln. Als Leonardo in Rom weilte, wollte er eine
achteckige Spiegelkammer bauen, ein optisches Labyrinth. Die
unendliche Spiegelung ist die Vorläuferin des abstrakten Laby-
rinths der totalen Irrealität. Zahllose Möglichkeiten finden sich,
Labyrinthe als Gegenpole alles <Durchschaubaren> aufzuzeich-
nen. In der neu gewonnenen Freiheit wird das <Wahrscheinliche>,
das unmittelbar Verständliche, im Sinne der aristotelischen Re-
geln, kein bindendes Kriterium mehr. Es gibt nicht nur zwei Wahr-
heiten (Fideismus), es gibt mehrere, ja zahllose (Pyrrhonismus),
und sie verlieren sich in der Undurchdringlichkeit des Labyrinths.
Im letzten Sinne <wahr> seiend, wird schließlich nur noch das sich
in seinem Denken spiegelnde Subjekt selbst (Descartes). Davon
wird später in einer konkreteren Weise die Rede sein. Lesen wir
vorerst noch einmal den Vers von Cummings: <träumend Träume,
Träume im Spiegeb, und wenden wir diesen Spiegel auf einen
<zarten Mann>, der 400 Jahre vorher gelebt hat. Wir haben zeitlich
am Ende begonnen, wir wollen von vorne anfangen... In Italien.
Dort und damals fing Europas <Moderne> an.
Neues Sehen
Wir stehen mit Tesauro am äußersten Ende der manieristischen
Phase zwischen Renaissance und Hochbarock. Durch diese Be-
gegnung ist allerdings zweierlei gewonnen: einige weitere Formeln
für die Wesensbestimmung des Manierismus und ein weiterer
Ausblick auf seine europäische Ausbreitung, damals wie heute.
Wie steht es denn nun mit der bildenden Kunst? Sie eilt im damali-
gen Europa der Dichtung um mindestens 50 Jahre voraus, den
Traktatisten über Literatur um mehr als hundert Jahre. Der euro-
päische Manierismus zwischen Renaissance und Hochbarock be-
stätigt sich, findet zum ersten Mal - in dieser Phase - seinen Aus-
druck in der bildenden Kunst, wenn man davon absieht, daß der
Manierismus der mittellateinischen Literatur die Dichtung nach
der Renaissance wieder stark anregte. Die erste bedeutende Kunst-
revolution der Neuzeit begann schon vor Raffaels Tod (1520). Ihre
Ursprünge liegen in Florenz. Mit genialischer antiklassizistischer
Willkür suchen einige junge, gebildete, äußerst sensible Maler
nach einem neuen Stil. Sie stoßen sofort auf Bewunderer und Geg-
ner. Der Subjektivismus der Pontormo, Rosso, Beccafumi und des
in Florenz lebenden Spaniers Alfonso Berreguete wird dadurch
nur noch entschiedener: sie treten in einen bewußten Gegensatz
zur akademischen Geschmackskultur ihrer Zeit. Die Künstler der
Hochrenaissance hatten in der chaotischen Stunde eines erschrek-
kenden neuen Sehens jenseits religiöser Ordnungen einen ausglei-
chenden Ordo durch den harmonisierenden Logos gesucht. Es
ging diesen Meistern ähnlich wie den Griechen, so wie Hölderlin
sie schilderte: weil sie Geheimnis, Spannung, Ungelöstes in sich
hatten, erstrebten sie eine magische Präzision der Gleichgewichte.
Die Renaissance-Künstler retteten sich, besänftigten ihre Proble-
matik, während in astronomischen und geographischen Dimen-
sionen die Welt immer größer wurde, während Glaubensinhalte
zerfasert und politische und gesellschaftliche Ordnungen angegrif-
fen wurden, während neue Reiche sich bildeten und die frühkapi-
talistische Wirtschaft eine erste Krise erfuhr. Der von außen ange-
regte Drang zur Maßlosigkeit wurde durch einen Rückgriff auf den
klassischen Kunstkanon gebändigt. Dieses ebenso geniale wie
künstliche Bemühen, eine gefährdete Denk- und Gesellschafts-
ordnung im dramatischen Übergang in ruhigen, glanzvollen, un-
bewegten Emblemen der Schönheit zu versteinern, gelang aller-
dings nur für ziemlich kurze Zeit.
Schon in der fiebrigen und gleichzeitig vom Intellekt so scharf
überwachten Tätigkeit Leonardos spürt man, wie das Rätsel des
Widerspruchs zur Halluzination wird. Mensch und Welt spalten
sich. Der Blick verfängt sich in einem Labyrinth von Unauflösbar-
keit. Gerade dies, das Labyrinth, fesselt Leonardo immer mehr.
Die Schönheit wird zur geheimnisvollen Anmut. Flächen und Li-
nien lösen sich vom nur gegenständlichen Zusammenhang, sie
werden, wenn auch in einem vorerst noch erbitterten Spiel, schon
selbständig. Auch Raffael verliert, als er die Entwürfe für die Fres-
ken der vatikanischen Loggien zeichnet, die Geduld für eine offen-
sichtlich auch ihm später etwas mühsame Anmut und Würde; ein
Drang zur Abstraktion, eine Freude am Selbstgenuß in der Kühn-
heit, eine Neigung zur bannenden Kraft, nicht nur der Schönheit,
sondern der Gorgo, des Grauens, wird in der Sintflutdarstellung
der Loggien sichtbar. Doch der entscheidende, vitale Übergang
von der frühen zur späten Renaissance, von der sublimen Stilisie-
rung der Renaissance-Klassik zur neuen <manieristischen> Expres-
sion wird erst im Werk Michelangelos zu einem geistesgeschichtli-
chen Ereignis. Das gilt erst recht für sein Spätwerk. Das <Jüngste
Gericht) in der Sixtinischen Kapelle (1541), die <Bekehrung Pauli>
(1545) und die <Kreuzigung Petri> (1550) in der Paolinischen Ka-
pelle sowie seine letzten Zeichnungen wirken auf die jüngere Ge-
neration etwa so wie im 20. Jahrhundert Picasso auf europäische
Maler, deren Vater auch er sein könnte. Durch den Expressions-
drang des alten Michelangelo, der noch tiefere Höllenschlünde zu
kennen schien als Dante, werden der statische Harmoniebegriff
und seine rationale Verengungstechnik gesprengt. Die dramatisie-
rende Bewegung, die scharfe Schockwirkung durch verblüffende
Kompositionseinfälle lassen die Nachahmer der Natur schon nach
ganz kurzer Zeit biedermännisch erscheinen. Michelangelos da-
maliges futuristisches Manifest heißt kurz und bündig: <Si pinge
t col cervello, non con la mano> (<Man malt mit dem Kopf, nicht mit
der Hand>). In seinen letzten Gedichten schildert er sich selbst als
einen Gescheiterten, als einen Bettler, als einen Erniedrigten und
Beleidigten in einem römischen Elendsquartier. Er haßt seine
Umwelt, ihren Lärm, ihren Prunk, ihre Selbstzufriedenheit. Wie
die Jüngeren, wie Pontormo, Rosso und Parmigianino empfindet
er sich, bei allem Ruhm, nur noch als Lump, Zigeuner, Pinselfuch-
ser, als ein moralisch in mancher Hinsicht Verdächtigter. In seinen
letzten Stunden umfängt er die höchste und einzige, die herm-
aphroditische Geliebte; die <Idea>, als ein König des geistigen Eu-
ropa.
So wirkt schon zwischen 1515 und 1525 in Florenz diese erste
<moderne> Avantgarde, diese zwischen epikureischem Ausgleichs-
drang und intellektuellem Hunger nach magischen Weltformeln
hoffnungslos zerrissene Künstlerschaft. Es sind die toskanischen
Frühmanieristen: Pontormo, Rosso, Beccafumi, Bronzino. Man
hat vor unserer Jahrhundertwende darüber gestritten, ob diese Ma-
ler von <Rang>, ob sie also nicht bloße <Nachahmer> seien, im Sinne
des unglückseligen Ausspruchs des nicht gerade phantasievollen
und kritisch zuverlässigen Vasari, als er von ihnen meinte, sie mal-
ten <alla maniera di Michelangelo. Es ist hier nicht der Ort, nach
den hervorragenden Arbeiten von Panofsky, Dvorak, Briganti,
Lossow, Benesch und Becherucci, um nur einige zu nennen, die
verwickelten Zusammenhänge eines heute überwundenen Streits
darzustellen. Eine zuordnende Bemerkung ist unerläßlich. Tatsa-
che ist, daß gegenwärtig die These Dvoräks, es habe der <Manieris-
mus> in der Kunst <eine konstitutive Bedeutung für die ganze Neu-
zeit), an Geltung gewinnt, oder diejenige Brigantis, es sei mit der
<manieristischen> Kunst ein selbständiger neuer <Stil> entstanden,
ein neuer <Geschmack>, eine neue <Sensibilität>, eine neue g e i -
stige Haltung). Kunsthistoriker und Kritiker Europas und Ameri-
kas, die ihre ästhetischen Urteile nicht nur vom klassizistischen
(oder spätbarocken) Kunstkanon ableiten, finden heute, es sei die
24 <manieristische> Kunst vernachlässigt, mißverstanden, jedenfalls
unzulänglich gewürdigt w o r d e n . Ihr Blick auf diese historische
Phase einer antiklassizistischen künstlerischen Darstellungsweise
ist d u r c h das vielfältige E x p e r i m e n t der <Moderne> von Cezanne
bis Klee geschärft worden. Sicher ist, daß m a n den <Manierismus>
heute weniger z u m G e g e n s t a n d dogmatischer Polemiken oder gei-
stesgeschichtlicher K o m b i n a t i o n e n m a c h t . M a n zieht es vielmehr
vor, das Werk der einzelnen Künstler in diesem äußerst vielfältigen
manieristischen Stil <mit Augen> anzusehen, in diesem Stil, der vor
1520 entstand, im Barock nachwirkte, in der Romantik wieder auf-
tauchte u n d m a n c h e n T e n d e n z e n der zeitgenössischen Kunst zwi-
schen 1880 u n d 1950 entspricht. Es gibt Versuche, der <modernen>
Kunst (deren b e d e u t e n d e schöpferische Gestalter fast alle zwi-
schen 1880 u n d 1890 geboren sind) <Ahnen> zu schenken, und
m a n h a t dabei auch den <Manierismus> nicht übersehen. Kunstkri-
tik u n d Kunstgeschichte gingen jedoch, von A u s n a h m e n abgese-
hen, eigene Wege. Die Kunstgeschichte beachtete - als akade-
mische Wissenschaft — das Zeitgenössische zuwenig, und die
Kunstkritik, die sich mit d e n M i t l e b e n d e n zu beschäftigen hatte,
b e g n ü g t e sich meist mit aphoristischen Hinweisen auf die welthi-
storische Tatsache, d a ß es geistige Kontinuität gibt, auch da, wo sie
k a u m n o c h zu e r k e n n e n ist. Die Wissenschaft unterlag der sugge-
stiven Kraft des Vergangenen, die Kritik derjenigen der Gegen-
wart. D i e A n d e u t u n g e n genealogischer Beziehungen zwischen der
<modernen> europäisch-amerikanischen Kunst zwischen 1880 u n d
1950 u n d derjenigen zwischen 1520 u n d 1660 hatten vor allem
einen C h a r a k t e r bloßer Apercus, weil m a n sich jetzt erst über die
Vielfalt des historischen M a n i e r i s m u s in Kunst u n d Literatur u n d
über die Verschiedenheit <manieristischen> Verhaltens klarzuwer-
den beginnt. D a ß der d a m a l i g e <Manierismus> ein europäischer
Stil war (wie die zeitgenössische Kunst, Literatur), hatte m a n er-
kannt, nicht aber die z u m i n d e s t dreifaltige Ahnenschaft des <Con-
cettismus> zwischen 1520 u n d 1660.
Wir h a b e n n u n schon einige allgemeine Begriffe gewonnen, u m
das P h ä n o m e n des <Manierismus> in einem <umfassenden> Sinne
zu e r k e n n e n . D a s <Umfassende> aber oder gar die <Panoramen>
k ö n n e n in der Welt der Kunst u n d Dichtung, wo individuelle Q u a -
litäten m e h r Sinn u n d Wert h a b e n als Gesetze u n d Typologien, n u r
die Funktion einer ersten Orientierung h a b e n . Es fehlt uns auch
noch eine p h ä n o m e n o l o g i s c h e Definition des Begriffs <Manieris-
mus>. W i r wollen sie hier nicht v o r w e g n e h m e n . Die B e g e g n u n g
mit den Künstlern u n d Dichtern, vor allem mit ihren Werken, soll
uns in k o n k r e t e r Weise selbst zu dem Schluß gelangen lassen, was
<im Wesen> diese manieristische Urgebärde der M e n s c h h e i t sei, im
Gegensatz zur <klassischen>, a m Aufgang der Neuzeit u n d in der
Gegenwart, a n zwei g r o ß e n Kreuzstationen ihres geschichtlichen
Weges. W e n n wir den Begriff <Gebärde> bzw. <Urgebärde> benut-
zen, b e d i e n e n wir u n s a u c h hier eines Terminus, der in der m a n i e -
ristischen Traktatenliteratur des 17. J a h r h u n d e r t s eine große Rolle
spielt u n d der auf die antike BJietQxik zurückgeht. Gottfried Benn
schrieb von e i n e m b e s t i m m t e n Ausdruckszwang. Es m u ß ein ei-
gengearteter A u s d r u c k s z w a n g auch zu einer bestimmten Aus-
drucksgebärde führen. Tesauro weist d a r a u f h i n , daß schon Cicero
die gesuchte, g e d r ä n g t e R e d e - u n d Schreibweise des Concettismus
(griechisch: Schemata, lateinisch: figurae, italienisch: concetti) mit
einer b e s o n d e r e n <Gestik> (<schemata> = <gestus orationis>) ver-
glich, also als G e b ä r d e mit eigenem Duktus bezeichnete. Manieris-
m u s ist also - im allgemeinsten triebpsychologischen Sinne - spe-
zifische Gebärde eines b e s t i m m t e n Ausdruckszwanges.
i. D I E E R S T E
ERSCHÜTTERUNG
Saturnische Melancholie
In den Jahren 1554 bis 1556 schrieb der florentinische Maler Ja-
copo da Pontormo (1494—1557) das wahrscheinlich merkwürdig-
ste Tagebuch, das je ein europäischer Künstler hinterlassen hat.
Meist ist darin die Rede von schmaler Kost, die der Sonderling sich
zubereitet, von Fasttagen, von intimeren hygienischen Sorgen, von
seltenen Begegnungen mit Freunden; und von einem von diesen
wurde der erste bedeutende <Ausbrecher> aus der harmonischen
Welt der Renaissance sogar einmal <geschlagen>. Ein dürftigeres,
farbloseres und zugleich menschlicheres Dokument, im ganz ele-
mentaren Sinne des <Menschlichen>, kann man sich kaum vorstel-
len. Es wurde - merkwürdig genug - erst 1916 in Amerika, als
Anhang zu einem Werk über die Zeichnungen Pontormos, in eng-
Renaissance:
auch Geburt eines Neuen
Suchen wir d a h e r zunächst in damaligen literarischen D o k u m e n -
ten n a c h Belegen u n d g e h e n wir davon aus, daß die Renaissance
keineswegs n u r die W i e d e r g e b u r t eines <Altem, sondern auch die
Geburt eines <Neuen> war. D e r aus d e m alten Ordo losgelöste
M e n s c h sucht einen eigenen n e u e n Weg. H a r m o n i s i e r e n d e n
Trostvorstellungen weicht er nicht i m m e r aus. Gerade in dieser
Frühzeit des M a n i e r i s m u s ! An den Höfen besonders, an den Mit-
telpunkten des d a m a l i g e n gesellschaftlichen Lebens, will m a n
soviel von früheren <Ordo>-Vorstellungen hinüberretten wie mög-
lich, aber die U n b e f a n g e n h e i t ist verloren. Konventionelle <Manie-
ren> verdecken die Unsicherheit, M a s k e n , geheimnisvolle For-
meln, eine künstlich verdunkelte Sprache t a u c h e n wieder auf wie
zur Zeit der provenzalischen Hofkultur, aber viel b e w u ß t e r u n d viel
differenzierter wird alles, was zur ä u ß e r e n Erscheinung, z u m Wis-
sen u n d zum G e h e i m n i s des <Edelmanns> gehört. Nützliche H i n -
weise finden wir zunächst bei e i n e m gewiß wegen Radikalität oder
psychopathischer C h a r a k t e r z ü g e unverdächtigen Zeitgenossen
Pontormos, i m damals w e l t b e r ü h m t e n Werk Baldassare Castiglio-
nes ( 1 4 7 9 - 1 5 2 9 ) , i m <Cortegiano>. Castiglione widmete sein Buch
Franz I. Als Botschafter der Herzöge von Urbino u n d M a n t u a u n d
als Apostolischer Protonotar unter C l e m e n s VII. stand er mit den
G r ö ß e n seiner Zeit, vor allem mit d e n e n des geistigen L e b e n s , in
Verbindung. E r starb 152g in Toledo, der Geburtsstadt Göngoras
u n d der Wirkungsstätte Grecos, als <Ehrenbürger> Karls V Der
<Cortegiano> gehörte zu den Lieblingsbüchern Karls V. U m ein
<idealistisches> Gegenstück z u m Realismus des <Principe> M a c h i a -
vellis h a n d e l t es sich, u m ein Buch, das nicht n u r für den höfischen
Lebensstil E u r o p a s , sondern auch für die bella rnaniera in Kunst,
Literatur, Musik t o n a n g e b e n d wurde, u m eine F u n d g r u b e vor al-
l e m für erste M e r k m a l e des n o c h diskreten anfänglichen Manieris-
m u s dieser P h a s e . Das Wort rnaniera wird benutzt u n d definiert,
also r u n d dreißig J a h r e früher als bei Vasari. E t w a 130 J a h r e vor
Graciän u n d Tesauro, d e n b e w u n d e r t e n Theoretikern des M a n i e -
rismus in seiner E n d p h a s e , beschreibt u n d empfiehlt Castiglione
einige der wichtigsten manieristischen <Techniken>. (Der <Corte-
giano> w u r d e zwischen 1513 u n d 1518 geschrieben u n d 152g, zwei
J a h r e n a c h d e m Sacco diRoma u n d 28 J a h r e vor Pontormos Tod in
Venedig, z u m ersten M a l veröffentlicht.) M a n m u ß es dahingestellt
sein lassen, ob ein mürrischer Sonderling wie Pontormo, der wahr-
scheinlich auch viel weniger belesen war als seine meisten, z.T.
hochgebildeten Zunftgenossen, ein solches Buch überhaupt ge-
kannt hat. Aber er wirkte für die gesellschaftliche Welt, deren Nei-
gungen, Geschmack und Interessen Castiglione sammelte und
aufzeichnete. Pontormos Jünglingsporträts könnten Abbilder von
Zöglingen des Ideal-Hofes von Urbino sein. Diskutiert hat er mit
seinen Freunden, mit anderen <Phantasten> dieser ersten antiklas-
sischen, revolutionären Avantgarde wie Rosso, der später Selbst-
mord beging, wie Beccafumi und Bronzino, beim Wein in den Fia-
schetterien von Florenz über alles, was damals <modern> war, viele
Nächte; und wenn man sich nicht einig wurde, schlug man aufein-
ander ein. Doch Argumente dieser Art scheinen Pontormo (dünn,
langhaarig, wie ein Wilder [Vasari]), bei aller Rauheit, wie van
Gogh, äußerst sensibel und wohl auch fromm, nicht gefallen zu
haben. Daher die Leiter in seinem Atelier, Symbol der Zurückge-
zogenheit wie die Kammer van Goghs in Arles. Das Wichtigste,
was Castiglione in seinem Vademekum für Weltleute sagte, hat
Pontormo also sicher gewußt. Man kann es an seinen berühmte-
sten Werken ablesen. Castiglione empfiehlt schon die <Umkeh-
rung> aller Logik. Er meint, alles werde schöner, <dicendo ogni
cosa al contrario>, wenn man alles auf <umgekehrte> Weise sage.
Ein Blick auf die berühmte, von Dürers Technik beeinflußte
<Kreuzabnahme> (Florenz, S. Felicita, 1523—1530) machtzunächst
dies klar. Becherucci schreibt darüber: <Die Formen verketten sich
mit rhythmischen Entsprechungen, die jedem rationalen Maß wi-
dersprechen. > Die ganze Gestaltentraube erscheint, der Schwer-
kraft nach, entmaterialisiert. Eine labyrinthische, der normalen
<Realität> entgegengesetzte Gegen-Wirklichkeit wird in diesen
<expressiven> Linien sichtbar, und was auffällt, ist der Mittelpunkt
des Bildes: ein gegenständlich Unwesentliches, ein Tuch, ostenta-
tiv in die wesenlos gewordene Mitte gehalten. Dazu eine preziöse
Farbgebung: Rubinrot, Violett, Türkis, alles in gleißendem Licht.
A. M. Vogt stellt die Hypothese auf, es müsse schon während der
Hochrenaissance, im Zusammenhang mit den <Primi Manieristb
von Florenz, eine Art geistiger <Untergrundbewegung> gegeben
haben; in diesen Zusammenhängen spricht er von einer H e r a u s -
forderung), von einer <simultanen Gegenleistung), welche die
Kunstgeschichte von ihrer fixen Idee der Sukzession langsam ab-
löst. Zu den Farben Pontormos wird vermerkt, es handle sich um
einen <Halbtonschritt der Farbe> und um eine Kraft der <minima-
len Differenz), Zeichen für ein Bedürfnis nach Aufhebung der
Grenzen; es sei somit ein <neues Tongeschlecht> in der Malerei ge-
schaffen (gefunden) worden, das selbständig neben dem Dur-Sy-
stem und neben dem Moll-System der üblichen Farbnetze bestehe.
Das ist gegenüber den <ruhigen> Tonverhältnissen in den Meister-
werken der Hochrenaissance ein wichtiger Schritt, den man, will
man an den Ursprung, an den Ansatz dieser neuen <Urgebärde>
gelangen, nicht übersehen kann.
In Pontormos <Kreuzabnahme> also wie in seinem Altarbild von
San Michele Visdomini (1518) wird man die ersten konkreten Ma-
nifestationen der antiklassischen Revolution des Manierismus se-
hen müssen. Auch die ursprüngliche Verwendung des Begriffs ma-
niera wird klarer. Vasari meint in seinen <Viten>, diese Künstler
malten <alla maniera di Michelangelo. Es liegt darin ein tadelnder
Beiklang. Manierismus gilt hier als bloße, ja sogar als schlechte
Nachahmung. Beklagt wird hier also, daß diese Künstler keine ei-
gene <Manier> haben (von lat. manus - Hand, übertragen manu,
von M e n s c h e n h a n d , von der H a n d , durch Kunst, gleichsam die
persönliche Handschrift), d a ß sie übertreiben, zu unruhig, zu u n -
geordnet sind. Vasari hatte übersehen, daß diese <Antiklassiker>
von Florenz nicht n u r <Manieristen> im Sinne der bloßen N a c h a h -
m u n g waren, sondern daß sie mit der künstlerischen Darstellung
zumindest gerade dieser <Unruhe> zu den ersten Vertretern einer
neuen <Manier> w u r d e n , d a ß sie die Begründer des n e u e n , durch-
aus eigengearteten <Manierismus> waren. Seit Vasari ist dieser Be-
griffrund 300 J a h r e lang meist im tadelnden Sinne gebraucht wor-
den. Erst seit Dvorak gewöhnt m a n sich allmählich daran, den
<Manierismus> als einen eigenen Stil anzuerkennen. <Die anatura-
listische Abstraktion) (Dvorak) wird das Ziel des Zeitalters. Anstatt !v
der N a t u r n a c h a h m u n g entwickelt sich eine <Phantasiekunst>. Sie
<stellt die psychischen Erlebnisse u n d E m o t i o n e n höher als die
Ü b e r e i n s t i m m u n g mit der sinnlichen W a h r n e h m u n g ) .
Dieses n e u e Tongeschlecht also ist g e n a u wie die mit u n w i c h t i -
gem), mit d e m drastisch Akzidentiellen schockartig ausgefüllte
Bildmitte zweifellos das Ergebnis einer intellektuellen Überle-
gung: <Die B e k e h r u n g Pauli) [das Bild galt lange als Werk von Ni-
colö dell'Abate, wird jedoch von der neuesten Forschung P a r m i -
gianino zugeschrieben]. E i n <ingeniöser> Effekt wird erzielt durch
etwas b e w u ß t <Gemachtes> u n d allerdings sehr <Gekonntes>. Bei
Castiglione finden wir ein merkwürdiges Sonett gelobt. Es handelt
sich u m das Erzeugnis eines ebenso a l o g i s c h e m wie gewollten
Verfahrens. Tesauro u n d Gottfried Benn verlangen später vom gu-
ten Dichter <fabrizierte> sprachliche Gebilde. 3 Castigliones Begei- Tesauro schreibt: <Maniere di fab-
brieare concetti> o.c.p.V. und von
sterung gilt e i n e m Gedicht, in d e m fast jedes Wort mit <S> anfängt, den <Maniere dello stilo erudito»
u n d diesen Kunstgriff charakterisiert er als <ingenioso e culto>. Da- o.e.p.59.
mit sind zwei Begriffe v o r w e g g e n o m m e n , welche m e h r als h u n d e r t
J a h r e später Graciän u n d Tesauro b e r ü h m t m a c h e n sollten. Dar-
aus ergibt sich zweierlei: die <alogischen) rhetorischen Kunststücke
des Spätmittelalters k e h r e n in der antiklassischen <Mode> von Flo-
renz zwischen 1520 u n d 1550 in der Malerei ebenso zurück, wie sie
— über Castiglione — n a c h Spanien eindringen. M a n erinnert sich,
daß die b e d e u t e n d s t e Lyrik Spaniens im <Goldenen Zeitalter), die-
jenige Göngoras, als <kultistisch> u n d als <ingeniös> bezeichnet
wurde. Baltasar Graciäns <Agudeza y Arte de Ingenio> erschien
teilweise erst 1642, ganz 1648, ein F l u g also schon in der D ä m m e -
r u n g des M a n i e r i s m u s .
W i r stehen d e m n a c h vor einem doppelten U r s p r u n g manieristi-
scher Modernität: e i n e m sonderlinghaften, verborgenen, höchst
subjektivistischen u n d e i n e m weltmännischen, gesellschaftlichen,
v o r n e h m individualistischen. Zwei F o r m e n der Verdrängung u n d
ihrer Bewältigung stehen sich gegenüber: eine etwas vertrackte,
aber genialische <Privatlösung> u n d eine vom D r a n g n a c h allge-
m e i n e n guten, aber ausschließenden, exklusiven guten <Manieren>
(des Hofs) bestimmte <kollektive> L ö s u n g . D o c h beide ergänzen
sich. Bevor die geistigen H i n t e r g r ü n d e im damaligen Florenz et-
was erhellt werden, noch weitere Beispiele aus dieser paradoxen
Kopplung: Pontormo-Castiglione. I m dreißigsten Kapitel seines
Buches empfiehlt der Diplomat, H u m a n i s t u n d Polyhistor Casti-
glione d e m Hof von Urbino, m a n solle in die Worte, die m a n
schreibt, etwas <acutezza recondita> hineinlegen, also scharfsin-
nige Dunkelheit. 4 Oft lobt er, was <süß u n d künstlich) ist. E r wen- * Etwa 150 Jahre später lobt Tesauro
die «dunklen Y\endungen> und
det sich damit an die r a u h e aristokratische Jugend. W i e Sokrates schreibt: <Die Sterne leuchten im
beschwört er sie. Sie sollen sich von der barbarischen Lebensart der Dunkeln.) o.c.p. 11.
Franzosen lösen. I h m gefalle es, so schreibt er im 16. Kapitel, einen
J ü n g l i n g zu sehen, der <etwas Ernstes) an sich h a b e , <etwas
31
Schweigsames). Diese <maniera riposata>, diese beruhigte Manier,
verleihe würdigen Stolz, den Beweis einer Selbstbeherrschung. Mit
anderen Worten: Castiglione empfiehlt mit seiner gesellschaftli-
chen <Hebammenkunst>: Distanz, Verschlossenheit, ein bewußtes
Anders-Sein. Ist diese Anregung, eine <innere> Leiter hochzuzie-
hen, um in der Verborgenheit des unnahbar Individuellen Abstand
von der rauhen Umwelt zu erlangen, sehr verschieden von der so
konkreten Leiter des allmählich menschenscheuen, zergrübelten,
wenn auch längst nicht <höfischen> Jacopo?
Die Antwort mag man in den Porträts vornehmer Jünglinge fin-
den, die den größten Ruhm Pontormos ausmachen. Alles an dem
Bilde Alessandro Medicis - außer den Augen und der rechten
Hand — erscheint abstrakt. Die Vergeistigung legt um Mund und
Wangen einen dekadenten Zug, die Augen blicken fassungslos,
traurig, aber mit einer merkwürdig lauschenden Gefaßtheit auf ei-
nen rätselhaften Blickpunkt. Die Hand greift nicht mehr zu. Sie
zögert. Das pompöse, kardinalrote Gewand verhüllt, wie ein Pan-
zer, den Körper. Dann das Porträt des Komponisten Francesco
siehe Farbabbildi dell'Ajolle. Der Körper verschwindet fast im Schatten, beleuchtet
bleibt ein <saturnisch> zergrübelter Blick, ein depressiv herabgezo-
gener Mundwinkel, ein von empfindsamen Händen getragenes,
hellbeleuchtetes Buch, ein musikalisches Werk. Wenn man mit
Recht Hamlet als die großartigste Figur des damaligen europäi-
schen <Manierismus> preist, als den Zergrübelten, Zaudernden,
stets anders Handelnden, als die Logik, die Konvention und die
Pflicht es vorschreiben, als den auch erotisch Vieldeutigen, kann
man sich dann nicht zumindest vorstellen, daß Shakespeare, sie-
ben Jahre nach Pontormos Tod geboren, diese oder andere ähnli-
che Jünglingsporträts Pontormos gekannt habe, wenn auch nicht
im Original? Damals zirkulierten durch die Hauptstädte Europas,
viel schneller als man annehmen sollte, Gravüren, Zeichnungen
berühmter Kunstwerke; und diese Zeit bebte geradezu vor intellek-
tueller Gier. Das Schicksal aufsehenerregenden Kunstwerke war
damals abenteuerlich genug. Bevor dieser Abschnitt beendet wird,
kann gerade in dieser Hinsicht auf den nächsten übergeleitet wer-
den, auf Parmigianino. Das in der Einleitung bereits besprochene
Selbstbildnis im Konvexspiegel (wie man annehmen darf, auch ge-
macht, um Möglichkeiten expressiver Deformation zu studieren)
erregte, als der junge Künstler 1524 nach Rom ging, am Hofe Cle-
mens VII. höchstes Aufsehen. Es galt als eine meraviglia, eine
5
Tesauro stellt fest: <In jeder scharf- <Wunderbarkeit>, und erzeugte stupore, Erstaunen. 0 Parmigianino
sinnigen geistigen Geburt ist die no-
vitä (Neuheit) notwendig. Aus dieser
schenkte das kleine Bildnis diesem Papst, der in seinen Apparte-
ergibt sich die meraviglia. durch ments, in der Engelsburg, Rom — nach Florenz — zum zweiten Zen-
diese aber der Erfolg.> o.c.p.71.
trum des frühen europäischen Manierismus machte. Clemens VII.
gab es weiter an das einflußreiche enfant terrible der Zeit, an Pietro
Aretino. Dann kam es in den Besitz des venezianischen Bildhauers
Alessandro Vittoria. Von dort gelangte es nach Prag, an den Hof
Rudolfs II., den geistigen Sammelpunkt der Exzentrischsten des
damaligen Europa, wo - in der Geburtsstadt Rilkes und Kafkas -
einer der abstrusesten Maler der Epoche als <Reichsgraf> wirkte:
Giuseppe Arcimboldi. Jetzt befindet sich das Bildnis in Wien.
Doch bevor wir uns von Pontormo trennen, noch die Frage, die
man sich stellen wird: Ist er ein großer Künstler? Die Frage wird
man nicht davon abhängig machen können, ob er <Klassiker> oder
<Manierist> ist, sondern nur vorn Rang dieser spezifischen und
nicht andersgearteten Kunst. Daß Pontormo dann nicht nur als
<großer> Künstler erscheint, sondern vor allem als großer Vorläu-
32 fer, wird nicht bestritten werden können. Zu den <Größten> unter
Parmigianino:
Die Bekehrung des Paulus
Welt im S c h w e b e n
Diese Formel wird für die erste Stufe des europäischen Manieris-
mus nach der Hochrenaissance verbindlich, wenn man vom späten
Michelangelo und von Erscheinungen in Rom zur Zeit Pauls III.
absieht. Die Radikalität des ersten Anstoßes erscheint durch die
Macht der aristokratischen Hofkultur aufgefangen. Aber die
Erregung wirkt weiter. Sie wird durch einen schärferen Sinn für
Geschmack, für klassizistische Dämpfungen neutralisiert, aber
keineswegs abgetötet. Im Gegenteil. Man könnte meinen, daß die
rigueur, die Strenge im Sinne Valerys, die den Künstlern durch die
zwar preziöse, aber natürlich in einem geistigen Sinne nicht gänz-
lich <offene> Lebens- und Denkart der weltlichen und geistlichen
Fürsten aufgezwungen wird, zu einer Steigerung der inneren
Spannung führt. Das schönste Beispiel dafür bietet das Werk Par-
migianinos, des <Mozart> unter den damaligen Künstlern. Sieben-
unddreißig Jahre alt war er, als er starb. Sein Werk hat bis tief ins
17. Jahrhundert hinein Generationen von Malern beeinflußt, be-
sonders in Nordeuropa. Francesco Mazzola wurde 1503 in Parma
geboren. Er, wie auch die anderen genialischen Vorläufer: Pon-
tormo, Rosso sowie Beccafumi und Primaticcio, verbinden das
Streben nach dem Geheimnisvollen, nach dem <Änigmatischen>,
noch mit Anmut. Die <Hieroglyphik> des Daseins wird noch ins
Gegenständliche hineingeprägt. Es löst sich aber im sogenannten
Serpentinata-Stil die statische Form auf. Der Raum wird durch
Tiefenachsen zerdehnt. Auf Ruhe und Ausgewogenheit wird ver-
zichtet. Lossow hebt folgende Merkmale hervor: das Licht wird zu
34
Adrian de Vries: Psyche mit der
Büchse der Pandora (links)
*' '
Parmigianino: Detail aus der
«Hochzeit der hl. Katharina>
38
Parmigianino: Johannes der Täufer
in der Wildnis
3K>&*2ä#
r^^r deutendsten aller Maler dieser Zeit, nach dem späten Michel-
angelo, gewinnt die Anmut (Charme) ihre Urbedeutung als
I N^ ^N Carmen, als Faszination wieder — in Verbindung mit einem genial-
subjektiven Gefühl für die <schöne> Wirkung der Farben, der Li-
ykT^ nien und Flächen, und zwar in einem abstrakten Sinne. Doch die-
ses morbid Problematische, das Psychologische, ja Psychologisti-
sche dieser Kunst macht sie - außer ihren so bezeichnenden und
g ^ — ^
wegweisenden Formexperimenten - so <modern>, so <vorausset-
zungslos> menschlich, so geistig ambivalent, so wichtig also für
Aristide Maillol: Narziß
jede Epoche, die zwischen verbrauchten alten Tafeln und noch
Michelangelo da Caravaggio:
Narziß
40
Rosso Fiorentino: Kreuzigung
nicht klar verständlichen neuen Weltformeln steht. Marcel Proust
liebte, wie man weiß, die frühen Manieristen. Zauberhafte Lyris-
men in seinen Romanen sind ihnen verwandt wie Picassos <Blaue
Epoche> den Porträtskizzen Pontormos. Neuere <religiöse> Bilder
Dalis, der sich vor einiger Zeit Werke Rossos in Florenz genau an-
gesehen hat, stehen dem toskanischen Frühmanierismus so nahe
wie Frühwerke Pontormos Stichen Dürers. Es fällt jedem jedoch
rasch auf: Dalis neoreligiöse Anmut verbindet sich weniger dem
Geheimnis als dem plakativ Augenfälligen. Rossos religiöse Bilder
haben etwas von der lyrischen Dunkelheit des provenzalischen tro-
bar clus. Aus den entsprechenden Werken Dalis strömt die Kälte
von Abziehbildern. Um das schwermütige dolce in besten Gemäl-
den, Fresken und Zeichnungen der toskanischen Meister mit ge-
wiß umstrittenen, aber gerade darum von ihnen geschätzten Ana-
logien zu interpretieren, ohne also dem problematischen Verfah-
ren einer wechselseitigen Erhellung der Künste> zu verfallen,
könnte man Verse Verlaines zitieren. Auch die tragische Existenz,
die Existenz ohne gültige überweltliche Antwort des Dichters der
<Poemes Saturniens> (1866) und der <Fetes Galantes> (186g) ist mit
biographischen Zügen der frühen toskanischen Manieristen ver-
gleichbar.
5. S E R P E N T I N A T A —
KONVULSIVISCH
Die Raum-Ding-Relativität
Am Ende seines Romans <Nadja> schreibt Andre Breton, der Pro-
grammatiker des zeitgenössischen Surrealismus: <Die Schönheit
wird konvulsivisch sein oder sie wird nicht sein.> Später in
<L'Amour-Fou> kommentiert er: <Die konvulsivische Schönheit
wird verschleiert-erotisch, explosiv-starr, magisch-zufällig sein
oder sie wird nicht sein.> Nicht das gestalthafte, geordnete <Hu-
mane> steht im Mittelpunkt des Konvexspiegel-Selbstporträts Par-
migianinos, sondern ein überdimensionaler, <paranoischer> Teil-
aspekt des Menschlichen, die hybride, im <Serpentinata-Stil> be-
wegte, <konvulsivische> Riesenhand. Hinter der <Änigmatik> steckt
der kunstvoll verschleierte, auf Eis gelegte, gewollte, verspielte
Wahnsinn des Para-Logischen, Para-Statischen und Para-Rheto-
Auf die beiden ersten Begriffe wird rischen.7
in diesem Teil später, auf den dritten
im Literaturband näher eingegan- Die <Riesenhand> im Selbstporträt Parmigianinos entspricht ei-
gen. Der Begriff <Para-Logik> nem ersten, fast noch kindlich-übereifrigen Wunsch, im Raum je-
stammt aus der damaligen manieri-
stischen Traktatenliteratur. Den Be- den Gegenstand hinsichtlich seiner Bewegungsverhältnisse zu re-
griff <Para-Statik> prägte A. Kircher lativieren, d.h. von seinen normalen Dimensionen zu befreien, je
in seiner <Phvsiologia> (1624). Den
dritten schlage ich vor für die im Ma- nach der Angespanntheit des subjektiven Ausdruckszwangs. Die
nierismus bewußt veränderte Aristo- tiefsten Einsichten über die Raum-Ding-Relativität dieser Art hat
teles-Überlieferung, d.h. alles, was
Aristoteles als fehlerhaft für die Rhe-
schon Leonardo gehabt, der, wie wir später sehen werden, mit eini-
torik bezeichnete, wird im Manieris- gen seiner Theorien und Experimente noch eine ganz andere Ent-
mus für die Dichtung als vorbildlich
gepriesen.
wicklung im Manierismus einleitet. Im Faszikel III seines <Traktats
von der Malereü schreibt er zur <stetigen> und <unstetigen> Bewe-
g u n g - u n t e r Nr. 340 <Beispiel einer Hand in Bewegung): J e d e ste-
tige Größe ist bis ins Unendliche teilbar. Das Auge, das die Hand
betrachtet und sich dabei von a nach b fortbewegt, durchmißt hier-
42 mit einen Raum a-b, der eine stetige Größe und infolgedessen ins
Unendliche teilbar ist. Die Hand, die sich in dieser Weise bewegt,
verändert ständig ihre Lage und ihr Aussehen. In diesen Bewegun-
gen kann man ebensoviel Aspekte wie Teilbewegungen unter-
scheiden. Also gibt es in dieser Hand unendliche Aspekte, die
keine Vorstellungskraft fassen kann. Das gleiche wird geschehen,
wenn die Hand, anstatt sich von a zu b zu senken, sich von b zu a
erhebt.> Weiter schreibt er: <Unendlich verschieden sind also die
Aspekte, die uns jede menschliche Handlung bietet. > Hier wird
also die Bewegung bezeichnet als ein <unendlich teilbarer und ver-
änderlicher Prozeß>, wie Panofsky in seiner Studie über den Kodex
Huyghens schreibt. Die <Deformation> als ästhetisches Mittel wird
hier optisch-physikalisch legitimiert. In der Sprache von heute: in
der Zeitlupen-Technik, d.h. je nach dem Blickpunkt und nach der
jeweiligen Dynamik des Auftretens einer Erscheinung im Raum
bzw. je nach dem reproduzierenden Rhythmus des Filmapparats,
werden das Ding oder die Gestalt nur noch Opfer des Raums und
des Betrachters.
Nach der Mitteilung eines der wichtigsten Theoretiker des Ma-
nierismus im 16. Jahrhundert, G. P Lomazzo, hat Michelangelo
die <figura serpentinata> (Andre Bretons <konvulsivischer> Stil)
empfohlen. Schönheit werde durch innere Bewegtheit in der
<Idea>, durch/urore erzeugt. Die Flamme wird dafür zum Gleich-
nis. Leonardo hat in einem experimentell-psychologischen An-
sätze die <figura serpentinata> vorweg definiert. Bei Michelangelo
findet man einen Unterschied, der für die Entwicklung der Kunst
ab 1520 eine ähnliche Bedeutung hatte wie Galileis neue Astrono-
mie für die Kosmologie und Naturwissenschaft. Bei Leonardo han-
delt es sich noch um eine <wahrnehmungstheoretische> Beobach-
tung aus der <natürlichen> Relation Subjekt-Objekt, d.h. der Beob-
achtende sieht eine Hand in Bewegung von einem äußeren Blick-
punkt aus, er erkennt die Wirksamkeit eines optisch-physikali-
schen Gesetzes. Die Manieristen nach Pontormo verlegen diesen
<Blickpunkt> nach innen, sie beobachten die gleiche Erscheinung,
aber sie beobachten nicht mehr mit dem leiblichen Auge, sondern
mit einem <seelischen> Auge. Das betrachtende Subjekt wird in ei-
nem doppelten Sinne Subjekt. Es nimmt aus seiner subjektiven
Blicksituation nicht optisch-physikalisch Objektives auf, sondern
<subjektiv> Gesehenes, Erschautes, <Imaginiertes>, aber unter den
gleichen Bedingungen, die Leonardo beschrieben hat. Man sieht
aus der <Idee>, nicht aus der <Natur>. Daraus entwickelt sich später
die <Idea>-Lehre, die noch zu berücksichtigen sein wird. Auf dieser
noch frühen Stufe des Manierismus vor Greco ist jedoch zunächst
diese Technik des <inneren Blickpunktes) zu beachten, die zu Län-
gung, Windung und Streckung der Gestalten führt, bevor, mehr als
ein Menschenalter später, Federico Zuccari in seinem hyperma-
nieristischen Traktat: <L'Idea de'Pittori, Scultori ed Architettü, im
Jahre 1607, die Nachahmung von Vorgängen empfiehlt, die nur
noch in der Phantasie zu sehen sind. Auf dieser späteren Stufe
spielt also auch das objektiv Gesehene kaum noch eine oder gar
keine Rolle mehr. Es genügt hier festzuhalten, daß aus den vielfäl-
tigen, so geistvollen und so scharf durchdachten Theorien Leonar-
dos die Manieristen wichtige Anregungen empfangen haben, bis in
unsere Gegenwart hinein. Das gilt jedoch nicht nur für dieses eine
Grundproblem der <Sehweise>. Vom Werk und von den Theorien
Leonardos führt noch ein anderer Weg über den Manierismus des
16. und 17. Jahrhunderts in die Gegenwart.
Die <Deformationen>
Rossos
Wir haben hier einer kritischen Frage zu begegnen! Sehen wir <et-
was hinein> in diese Kunstwerke mit den <Augen von heute>? Las-
sen wir sie durch sich selbst wirken oder erklären wir sie mit für
damals — zeitgerechten Elementen? Wir wollen uns die Mühe ma-
chen, all dies gleichzeitig zu versuchen, und dabei jeder Spekula-
tion) ausweichen. Einem <Gegenstand> verpflichtet, der sich im-
mer mehr ins Ungegenständliche verflüchtigen wird, hoffen wir
durch gegenständliche Bezogenheit gerecht zu bleiben. Wir leug-
nen indes nicht, durch Begegnung mit heutiger Kunst, im Sinne
der so belehrenden Studien von Athanasius Kircher (1601-1680)
über Perspektivismus und (auch) Magnetismus, ein Recht daraus
abzuleiten, geschichtliche Phänomene mit den Augen, mit den
<Perspektiven>, mit der <Zuneigung> einer Generation zu deuten,
die mit der sog. <modernen> Kunst aufgewachsen ist. Das bedeutet
allerdings nicht, daß wir den <Magnetismus> dieser modernen,
zeitgenössischen Kunst für ein Erzeugnis von Demiurgen oder für
Manifestationen einer <Endzeit> halten. Canova hat die Antike mit
seinen Augen gesehen, Burckhardt die Renaissance mit den seini-
gen. Wer moderne Deutungen antiker Mythen gelesen hat, wird
schwerlich Gefallen daran finden, die Antike mit Bildwerken Ca-
novas zu identifizieren. Ein heutiger jüngerer Künstler, der auch
nur einige Monate in Rom gelebt hat, wird daran zweifeln müssen,
ob der <Cicerone> in allen Punkten <recht> hat. Das sagt nichts ge-
gen die bewunderungswürdige Größe Burckhardts und nichts ge-
gen das liebenswürdige Talent Canovas. Es soll nur — in dieser Par-
enthese - um eine gewisse Geduld und Ungeduld gebeten werden.
Geduld, um den Fortgang dieser Darstellung abzuwarten, und
Ungeduld gegenüber der unerträglichen Verabsolutierung zeitbe-
dingter Deutungen, so wertvoll ihre einzelnen Ergebnisse auch
sein mögen. Es gilt dies auch für Benedetto Croce, d e r - einer der
größten Geister des zeitgenössischen Italiens - im <Barock> nur
eine elende Geschmacksverirrung sah. Aber Croce war ein kompli-
zierter Kritiker. Seine ästhetische Verurteilung des Barockzeital-
ters entspringt einer Haß-Liebe. <Positiv> wird dieser universale
Vertreter der rationalistisch-liberalen Kritik Italiens in bezug auf
den <Barock> immer dann, wenn er über die <sensualistische> Ero-
tik dieser Zeit schreibt. Er, der Gedichte Hölderlins nie verstanden
hat, findet dann zärtliche, gute Töne. Das Phänomen der Verdrän-
gung findet sich nicht nur bei Künstlern!
Wir aber werden gelegentlich Opfer der manieristischen Tech-
nik der <Umwege> sein müssen. Es liegt dies nicht nur an einer
Anpassung an diesen enzyklopädischem Gegenstand. Eine in-
duktive Methodologie muß sich ihrem Thema angleichen. Das
Wort Enzyklopädie (en kyklos paideia) hat es mit dem <Kreis> zu tun
(Umkreis des Wissens). Die Manieristen waren der Figur des Krei-
ses abhold. Sie liebten die Hyperbel und die Ellipse, Begriffe aus
der antiken Rhetorik, aus der Mathematik und Astronomie, Be-
griffe also, die — wie wir später aus kurzen Einblicken in die Natur-
Wissenschaft magischer oder empirischer Art sehen werden - die
Künstler des Hochmanierismus ebenso fesselten, wie Franz Marc,
Paul Klee, Max Ernst, Boccioni und viele andere von Erkenntnis-
sen der Kernphysik ihrer Zeit angeregt wurden.
Rosso Fiorentino:
Pompejanische Szene
Jacques Beilange: Die drei Marien
am Grabe Christi
El Greco: Johannesvision
49
ser Art finden wir schon zwischen 1920 und 1930, dem Jahrzehnt
der höchsten Entfaltung der modernen Kunst in Europa. Einem
neuen Interesse und auch einem ersten besseren Verständnis für
den <Barock> begegnet man in dem Jahrzehnt, in welchem die
wichtigsten Meister der modernen Kunst geboren wurden, in den
Jahren 1880 bis 1890. <Das Jahr 1887, das Erscheinungsjahr des
,Springer', ist trotz aller Antipathien im Kreis älterer Forschung
der Wendepunkt in der Gewinnung unserer Barockbegriffe.> In
der Neuauflage des Meyerschen Lexikons von 1885 wird festge-
stellt: <Seit dieser Zeit (1880) machen sich wieder starke Neigun-
gen für Barock- und Bokoko-Kimst geltende Ab i8go spricht man
von einem <Neobarock>, gleichzeitig entsteht der Impressionismus.
1883 veröffentlicht Huysmans sein aufsehenerregendes Werk
<L'ArtModerne>. 1911 erscheint eine der ersten neueren Arbeiten,
die den Manierismus als selbständigen Stil zwischen Benaissance
und Barock unterscheiden. Es fallen also die ersten Jahrzehnte der
Entwicklung der zeitgenössischen <modernen Kunst> mit der Wie-
derentdeckung des Barock und mit den ersten Einsichten über
Sonderart und Charakter des Manierismus zusammen. Das hat
psychologische und soziologische Ursachen, die sich in der Zeit-
kritik Nietzsches widerspiegeln. Schon vor dem Ersten Weltkrieg
ahnen viele die kommende Katastrophe. Rationalismus und Idea-
lismus begegnen einer wachsenden Ablehnung. Die <klassische>
Naturwissenschaft wird erschüttert. Neue mystische Lehren brei-
ten sich aus.
- ~ü *
52
4. <IDEA> UND
MAGISCHE NATUR
Der Mensch ist Dens in terris, ein Gott auf Erden. Mit diesem Aus-
spruch, der wie ein Axiom des Renaissance-Individualismus an-
mutet, faßte noch vor 1500 Marsilio Ficino, Arzt und Philosoph,
seine wichtigsten Erkenntnisse zusammen. Dieser Mitbegründer
der Platonischen Akademie von Florenz wollte damit nicht blas-
phemisch wirken. Er vereinte in sich Gelehrsamkeit, Sensibilität,
die weltmännische Geschmackssicherheit der großen Alexandri-
ner mit <saturnischer> Schwermut, aber er war von einer tiefen, my-
stischen, von einer geist- und phantasievollen Frömmigkeit erfüllt
(er wurde 147a Priester), die im nachtridentischen Italien, nach
1565, relativ selten geworden ist. Ficinos herausforderndes Wort
ist aus der Skepsis zu erklären, die dem bisherigen mittelalterli-
chen Vorsehungsglauben entgegengebracht wurde. Leidenschaft-
lich werden Piaton und Plotin interpretiert. Der Mensch mit seiner
Fähigkeit, <Ideen>, kosmische Urhieroglyphen, zu erkennen, emp-
findet seine Sonderstellung in der Hierarchie alles Seienden mit
einem starken Gefühl von Auserwähltheit und Sonderbarkeit. Die-
ses mystische Selbstbewußtsein, als einziger in der Schöpfung die
<uranischen Orter>, die <Zeichen> des Absoluten begreifen zu kön-
nen, gibt ihm ein Machtgefühl; gleichzeitig nährt dieses sein Miß-
trauen gegenüber jeder leicht erklärbaren, leicht faßlichen, zu ein-
fach gedeuteten Realität der materiellen Welt. Das Subjekt, in wel-
chem sich das Absolute im platonischen Sinne spiegelt, empfindet
sich vor allem mit seiner produktiven Phantasie als allmächtig;
aber die Unsicherheit gegenüber der Natur bleibt bestehen. Die
Natur-<Kritik> weicht dem Rationalistischen noch aus, sie bleibt
magischen Vorstellungen verhaftet. Die Natur bleibt, je mehr das
Subjekt an Sicherheit gewinnt, <magisch> unsicher, voller Fremd-
artigkeiten und Wunder. Das gesellschaftliche und politische Le-
ben, das auch damals genügend Anlaß gegeben hätte, sich über
<soziale Standort-Bedingtheiten> klarzuwerden, wird noch nicht
zum Gegenstand einer entsprechend engeren Kritik gemacht. Ma-
chiavelli schildert es realistisch; er nimmt die entsetzlichen Wider-
sprüche als gegeben hin, er legitimiert das <Grauen> als nie zu
überwindende Eigenschaft der Polis. Wie Nietzsche baut er dem
Amoraliste schlechthin, Cesare Borgia, einen Altar. Die Unsicher-
heit des Menschen entstammte - im Umkreis der Platonischen
Akad emie von Florenz — der rätselhaften Natur, seine Sicherheit
der Gewißheit, daß er den <mythischen Menschern überwunden
habe und mit freiem, neuem Bewußtsein philosophisch-theologi-
sche Wahrheit finden könne. Das ist eine der Ursachen für die
<Problematik> des damaligen <modernen> Menschen: die Freiheit
des Subjekts und die <magisch> zwar zu erklärende, aber rational
nicht zu verstehende Natur.
Die Problematik des zeitgenössischen Menschen hat, wo auch
immer man entsprechende entscheidende Dokumente prüft, eine
ähnliche, aber andersgelagerte Ursache. Auf der einen Seite im
<Subjekt> das selbstherrliche Gefühl, daß mit der ethischen Ver-
nunft alle gesellschaftlichen Konflikte, vor allem Kriege, überwun- ej*
den werden müßten, auf der anderen das Erlebnis, daß gerade
an Höhepunkten moralistisch-philosophischer Erkenntnisse das
Grauen des <Irrationalen> geradezu mit doppelter Gewalt alle
<Fortschritte> vernichtet. Hugo Ball, der Mitbegründer des Dadais-
mus, stellte während des Krieges 1914 bis 1918 die Frage: <Was
soll und was sollte der Geist? Welche Macht besaß er, da ein sol-
ches Blutbad entstehen konnte? Wie war es möglich, daß der Geist
nicht das Massensterben und die Not verhindern konnte? > Der
Mensch des 20. Jahrhunderts steht vor dem Geheimnis der Ge-
schichte und der Gesellschaft, doppelt empfunden aus seiner sub-
jektiven Konstruktionsmöglichkeit aller erdenklichen <Vollkom-
menheitem. Am Anfang des 16. Jahrhunderts ergibt sich auch eine
Antinomie, die zu starken Spannungen führt, aber nicht die von
Subjekt und Geschichte, sondern die von Subjekt und Natur. Auch
Kriege werden mehr als Naturereignisse oder sogar als religiös-
metaphysische <Strafgerichte> empfunden denn als wirtschaftliche
und menschlich-psychologische Katastrophen. In beiden Fällen
wird, neben Scheitern, Selbstmord, Wahnsinn, das <Subjektive>,
das wissend-leidende <Ich> übersteigert, die Welt als ein tragischer
Widerspruch empfunden. Auf der einen Seite Deus in terris, auf der
anderen der Mensch in der Ohnmacht. Das muß für alle, die sich
nicht mit der Ersatzfunktion von konstruierten Harmonie-Mythen
begnügen wollen, den Ausdruck in jeder Hinsicht bestimmen.
ha f
55
Fabius von Gugel: Traumlaiidschaft
56
Hieroglyphen der Welt
In der florentinischen Spätrenaissance wird Ficinos Wort zur pro-
grammatischen Formel: Die Seele ist in der Kunst eine <Rivalin
Gottes>. Es gibt keine Grenze zwischen Fiktivem und Wirklichem,
daher eine trunkene Experimentierfreude, ein unaufhörliches
Versuchen, die subjektive Welt, die dem metaphysisch Absoluten
verbunden ist, gegen die <objektive> Welt der <Natur>, der <Mate-
rie>, der konventionellen Harmonien, der pharisäischen <Ordnun-
gen> zur Geltung zu bringen. So entsteht allmählich der Konflikt
zwischen den Künstlern als <Zigeunern>, <Bohemiens>, <Träu-
mern>, <Lebensunfähigen>, <Narren> usw. und der Welt der Büro-
kratie, des Militärs, des späten Bürgertums (das frühe war immer
antikonformistisch) sowie der konventionellen <Bildung>.
In der geistigen Umwelt der Platonischen Akademie in Florenz
fallen Subjektivismus und Magie zusammen: <Man will erproben,
was man in der Welt vermag> (L. v. Renthe-Fink). Die Welt wird
zum weiten Bereich des überhaupt Ausdenkbaren>, aber sie wird
immer — des geschilderten Zwiespalts wegen - mit <melancholi-
schen> Augen gesehen. Der Scharfsinn eines stets fragenden Sub-
jekts mit einem schmerzlichen Gefühl für <Ungeborgenheit> sind
wichtigste Merkmale des Hochmanierismus um 1600, vor allem in
den Dramen Shakespeares und in der Lyrik Donnes. Piaton
wurde, wie im Zusammenhang mit Pontormo bereits erwähnt, als
<Melancholiker>, als <Saturn-Kind> angesehen. Im Jahre 1474, also
20 Jahre vor der Geburt Pontormos, veröffentlichte Marsilio Ficino
seine <Theologia Platonica>, die Bibel der florentinischen Neupla-
tonik. Sie übte auch in Spanien einen großen Einfluß aus.11 Die
Ideen werden darin als <erste Bilder> und zugleich als <bewegende
Kräfte> bezeichnet; nur die menschliche Seele erkennt sie, also
wird sie zum Mittelpunkt der Welt. In der Natur jedoch kann sie
das in ihr stets Verborgene nicht so leicht erkennen wie in der my-
stischen, inneren Schau der Ideen. Die <Natur> ist eine unergründ-
liche Schatzkammer von <Hieroglyphen>. Das Wort Hieroglyphe
gehört, wie die Wörter Labyrinth, Rätsel, Wunder, Spiegel, Zeit,
Uhr, Tod usw., zu den bevorzugten im Wortschatz der Manieristen.
Damals glaubte man, die ägyptischen Hieroglyphen entziffert zu
haben. Ficino selbst hatte 1463 einen entsprechenden ersten grie-
chischen Interpretationsversuch dessen, was die ägyptischen Hie-
roglyphen seien, ins Lateinische übersetzt. Ficino fragt: Was ist das
letzte Rätsel? Die Kraft der Verwandlung eines Dinges in ein ande-
res. Ahnlich hatte Aristoteles das Wesen der Metapher definiert.
Die <Hieroglyphe> ist ein <Zeichen> — für etwas anderes — wie die
Metapher.
Diese Hieroglyphe-Metapher wird seit Ficino das Hauptmotiv
einer ästhetischen Mode, vor allem in der Literatur, aber auch ein
beliebtes Attribut in Kunstwerken. Mario Praz, dem die scharfsin-
nigsten Erkenntnisse über die Emblemen- und Devisenliteratur in
ihrer Verbindung zur Hieroglyphik zu verdanken sind, meint, diese
<Geheimschrift> der Wappenzeichen und Wahlsprüche habe die
gesamte damalige Literatur mindestens so stark beeinflußt wie die
Bibel. Wir werden darauf in unserer Darstellung über die manieri-
stische Literatur näher eingehen, besonders was die zeitgenössi-
sche Lyrik angeht, denn das Wort Hieroglyphe ist in der Kunst und
Literatur der Gegenwart genauso lebendig geblieben wie die eben
genannten Wörter: Labyrinth, Rätsel, Wunder, Spiegel, Zeit. Uhr,
Tod. Wir finden sie allein als Titel von Gedichtausgaben in der
europäischen Literatur von 1890 bis 1950 auffallend oft. Friedrich
Schlegel nahm den Begriff der Hieroglyphik für die Ästhetik wie-
der auf. Er findet sie in den Landschaften Philipp Otto Runges.
Der menschliche Leib gilt ihm als <höchste aller Hieroglyphen).
Werner Haftmann benutzt das Wort in seiner <Malerei des
20. Jahrhunderts) ebenfalls häufig. Er zitiert eine Aussage Ernst
Ludwig Kirchners (1880-1938) über dessen künstlerische Absich-
ten, die an wissenschaftliche) Phantasien des Enzyklopädisten des
Manierismus erinnern, an Athanasius Kircher, den Verfasser der
<Sphinx Mystagoga> (1626), die 25 Jahre nach Shakespeares größ-
ter hieroglyphischer Theater-Metapher, <Hamlet>, erschienen ist:
<Die Hieroglyphik, diese unnaturalistische Formung des inneren
Bildes der sichtbaren Welt.) Der Kreis schließt sich <magisch> bis
auf den Zusammenklang der Namen. Unsere Reproduktion einer
Illustration aus Kirchers <Sphinx Mystagoga>, eine <magische> Py-
ramidenlandschaft, verbunden mit einer Unterwelt von Gräbern
und Toten, zeigt, wie die Entdeckungen Ficinos, dieses Kolumbus
Cornelis Decker:
Pyramiderdandschaft in Athanasius
Kirchers «Sphinx Mvstagoga>
58
Max Ernst: Der gestohlene Sp
Magia naturalis
Esoterik, Hermetismus, theosophische Astrologien - eine univer-
sale magia naturalis im Sinne der <Magia naturalis sive de miracu-
lis rerum naturalium> (1558) von G. B. della Porta (1535-1615),
eines Werks, das Goethe lobte, Kant zitierte und Salvador Dali aus-
giebig benutzte - gehören zu den bevorzugtesten Themata und
rorschungsmotiven der vielen <Geheimakademien> dieser Zeit
nach den <Theosophien> Polizians, Ficinos und Pico della Miran-
dolas. G. B. della Porta hatte eine <Accademia de' Segreti> gegrün-
det. In Padua gab es eine.<Accademia degli Occultü. Sie wurden
von der Kirche zeitweise verboten. Diskutiert wurde dann vielfach
in den Ateliers der Künstler. Die ersten Anregungen kamen von
den unerschöpflichen theologischen Enzyklopädisten, von Ficino
und Pico. Versunkenes Geheimwissen wird ausgegraben. Pico
schreibt: <Der uralten Theologie des Mercurius Trismegistus. der
cnaldäischen und der pythagoreischen Lehren und den dunklen
Mysterien der Hebräer habe ich manches bis dahin Unbekannte
entnommen und durch eigenes Forschen ergänzt.) 59
G. B. della Porta ist demgegenüber eine ganz andere Figur. Sein
Leben (1540-1615) umfaßt die beiden ersten Epochen des Manie-
rismus. Er starb im selben Jahr wie Kaiser Rudolf IL, der sich von
Prag aus mit dem in Neapel wohnenden Meister der Natur-<Mera-
viglia> und Wunderarzt in Verbindung setzte, damit er ihm <experi-
mentelb den Stein der Weisen suche. Della Porta schuf in seinem
Haus in Neapel eines der ersten Wunderkabinette der Zeit. Ge-
lehrte aus ganz Europa kamen, u m seine abstrusen Sammlungen
zu bewundern. Seine krankhafte Liebe für das insolito, für das Un-
gewöhnliche, galt als Merkmal einer bewunderten Genialität. Er
glaubte, im Gegensatz zu seinem Zeitgenossen Galilei, nicht an
Naturgesetze. Die <Geheimnisse> der Natur könnten nämlich nur
durch magische Künste sichtbar gemacht, aber nicht rational er-
klärt werden. Jedoch: er vereint Magie bereits mit einer Experi-
mentierpraktik. Experimentelle Empirie wird mit Okkultismus
kombiniert; doch um nur eines zu erreichen: <absurd> Praktisches,
so etwa Pfirsiche ohne Kern und künstliche Hexennägel. Er be-
schreibt die Laterna magica und die <geheimen> Eigenschaften von
Steinen und Pflanzen; so soll z. B. Karneol nützlich sein gegen den
Wahnsinn. Dann entwirft er Kryptographien, Geheimschriften,
und plant Wundermaschinen, so etwa einen <parabolischen Strah-
lenspiegeb, der aus der Ferne eine ganze Flotte hätte vernichten
I können. Weltberühmt wurde damals seine <Humana Physiogno-
monia> (1586), in welcher er Menschengesichter mit Tiergesich-
•tern vergleicht, aber auch Tiergesichter mit Pflanzenformen. Gali-
lei, der Vater der modernen Naturwissenschaft, nannte sein Werk
goffissimo — lächerlich, gestaltlos, plump. Wie dem auch sei, für
die damaligen Manieristen war es eine Fundgrube wie die Philoso-
phie Ficinos, und man begreift, warum auch der heutige Salvador
Dali, der selbst gern den Narren spielt, so viele Anregungen holte
aus dem Werk dieses <paranoischen> Wundermannes aus dem ma-
nieristischen Neapel zur Zeit Marinos.
Metaphysische Ideenlehre und Naturphilosophie sollen um
diese Zeit noch ausdrücklich im Rahmen einer <guten>, einer <wei-
ßen> Magie bleiben. Diese bleibt dem Göttlichen verbunden. Erst
später nach des Kopernikus neuer Erkenntnis (1543), nach Gior-
dano Brunos Pantheismus (Hauptwerke 1584, 1591), nach Keplers
aufsehenerregenden Publikationen (1596, 1609, 1619), während
der späteren Lebenszeit von Galilei (1564—1624), im späteren Ma-
nierismus also, wird auch diese letzte Bindung locker. Die erschüt-
terte Welt scheint vollends zusammenzubrechen. John Donne
schreibt sein berühmtes Gedicht <Anatomie of the World>: <Eine
neue Philosophie stellt alles in Zweifel / D a s Feuerelement ist ganz
erloschen / Die Sonne nun verloren / die Erde auch, und nieman-
des Geist, kann richtig lenken, wohin denn nun zu schauen / -
Alles ist zerbrochen, jeglicher Zusammenhang zerrissen, / jede
gerade Ordnung und jede Beziehung. > Wenn die erste Stufe des Ma-
nierismus noch im Korrelat <Anmut und Geheimnis) zu fassen ist,
die folgenden Stufen aber, wie wir sehen werden, zu einer viel stär-
keren Desintegration führen, so liegt dies an dem spezifischen
Charakter der italienischen <Pansophien> u m 1500. Diese zeitli-
chen Abgrenzungen sind nicht immer genau genug gezogen wor-
den. Im Okkulten der Natur offenbart sich bei Ficino und Pico je-
denfalls noch immer Gott, ebenso wie er sich im Reiche der Ideen
dem Subjekt erschließt. Von 1511 bis 1518 hält in Italien auch der
in Köln geborene Agrippa von Nettesheim Vorlesungen über
Reuchlins Schrift <De verbo mirifico. 1529 erschien seine <Occulta
philosophia>. Für diese Werke, welche die weitere Entwicklung
der Naturphilosophie anregten, bilden ebenfalls Ficino und Pico
die Grundlagen, aber bei Agrippa wird alles realistischen. Man
sucht weniger theologische als psychologisch-magische Analo-
gien. Die Astrologie wird säkularisiert. Man verbindet das Dispa-
rate miteinander, verkoppelt entfernteste Zusammenhänge, aber
mehr im Sinne einer <schwarzen> Magie der praktischen Seelen-
führung und -beherrschung.
Ganze Ketten von solchen symbolistischen Verkuppelungen ent-
stehen. Sie müssen auf die großen Metaphoriker der späteren ma-
nieristischen Literatur, aber auch auf den späteren nordischen
Manierismus (Arcimboldi in Prag) faszinierend gewirkt haben.
Ein Beispiel: eine Aufzählung der Attribute des Mars. Genannt
werden u. a. Feuer, Scharfes, Brenzliges, Galle, Bitteres, rotes Erz,
Schwefel, Diamant, Magnet, Blutstein, Jaspis, Seidelbast, Stern-
hut, Disteln, Nesseln, Maultier, Wolf, Giftschlangen, Drachen.
Die idealisierte Magie der Platonischen Akademie von Florenz,
dieser ebenso subtile wie geistvolle Versuch, Geist (Gnade) und
Natur (Wunder) in ein neues <System> zu fassen, wird also allmäh-
lich zu einer bloß ein- und unterordnenden pantheistischen Magie.
Ein (im Rahmen magischer Überlieferungen) pseudoempirisches
Analogieverfahren, das kaum noch religiöser Substanz und er-
kenntniskritisch keiner philosophischen Methode mehr verbun-
den bleibt, setzt sich immer stärker durch. Die magische Naturphi-
losophie verführt immer mehr zu abenteuerlichen Abstrusitäten,
zu bloß konstruierten, abstrakten Hermetismen. Wir werden Par-
allelen dafür in der Kunst um 1609 später schildern.
Die <Idea>-Lehre
Dementsprechend müssen wir zwei Stufen der von der Platoni-
schen Akademie in Florenz ausgehenden Ästhetik der <Idea>-
Lehre unterscheiden. Eine erste bei G. P. Lornazzo (1584) und
eine zweite bei Federico Zuccari in Rom (1542-1609). Erwin Pa-
nofsky bietet mit seinen Untersuchungen über die Traktatenlitera-
tur des 16. Jahrhunderts einen reichhaltigen, geistig aufs schärfste
durchdrungenen Stoff, eins der hervorragenden Beispiele philoso-
phisch geschulter Gelehrsamkeit in Deutschland zwischen 1920
und 1930, im Zusammenhang mit den Renaissance-Forschungen
Cassirers und den motivkundlichen Untersuchungen des War-
burg-Instituts. Panofsky zufolge wird im 16. Jahrhundert die Pla-
tonische Ideie_säkularisiert, d.h. sie wird zu einer <menschlichen>
Potenz. Ein Kunstwerk ist das Ergebnis einer Idee desJKünstlers,
nicht eine Kopie der Natur. Idgeji sind Vorstellungen oder An-
schauungerv£eimüeiste"des Menschen selbst ihren Sitz haben,
allerdings als göttliche <Spiegelung>. Ansätze zu einer solchen Um-
bildung der Platonischen Ideenlehre hat es schon, wie wir sagen
möchten, in den beiden ersten europäischen Phasen des Manieris-
mus gegeben, in Alexandrien und in der Spätantike. <Höhere>
Kunst kann demzufolge des sinnfälligen Vorbilds entraten. Ein
Ausspruch des älteren Philostrat (um 250 n.Chr.) lautet: <Die k_-*-^t* .-
.Phantasie hat (die Kunstwerke des Phidias) gemacht; sie ist eine
bessere Künstlerin als die Nachahmung, denn die Nachahmung
wird darstellen, was sie sah, die Phantasie aber, was sie nicht sah.>
Wir erinnern uns, daß Piaton die Künstler in zwei Kategorien ein-
teilte. Die einen sind Vertreter der mimetike techne, d.h. sie stehen
nur die sinnliche Erscheinung der Körperwelt dar, die anderen 6l
bringen in ihren Werken auch die <Idee> zur Geltung. Es sind dies
die <heuretischen> oder <poietischen> Künstler. Plotin, der für die
Philosophie Ficinos und Picos wichtiger wurde als Piaton, tritt vor
allem für die heuretische oder poietische Auffassung der Kunst ein
wobei die Kunst allerdings der spekulativen geistigen Anschauung
untergeordnet bleibt. In der mittelalterlichen Scholastik, die keine
ausgesprochene Ästhetik entwickelt hat, stand es jedoch ebenfalls
fest, daß der Künstler, wenn auch nicht aus einer Idee, so doch aus
einer dem Werk vorangehenden inneren Formvorstellung oder
<Quasi-Idee> gestalte. Nachahmung der Natur, dies ist vor allem,
wenn auch in einem idealisierenden Sinne, das Programm der Re-
naissance wie jeder Klassik: Kunst ist idealisierte Natur. Allerdings
Leonardo läßt die <überwindende> Kraft der freien Phantasie gel-
ten. Sie kann <neuartige> Gebilde schaffen, wie Chimären und
Kentauren. Leonardo und Michelangelo bilden die vitalsten Über-
gänge von der Hoch- bzw. Spätrenaissance zum Manierismus. Die
Renaissance fühlt sich als Erbin Athens und des Augusteischen
Rom. Der Manierismus zieht Alexandrien und das Hadrianische
Rom vor. In der Hochrenaissance erfolgt aber schon der <Bruch>.
Für Ficino sind die Ideen metaphysische Realitäten, die irdischen
Dinge nur Bilder, Abbilder dieser Wirklichkeit.
5. CONCETTISMUS
Zuccaris Kunsttheorie
Es fehlt noch der vierte Grad! Man findet die scharfsinnigsten
theoretischen Elemente dazu in Federico Zuccaris (1542-1609)
Traktat: <L'Idea de'Pittori, Scultori ed Architettb (1607), in einem
ausgesprochen ästhetischen System> des Manierismus, wenn es
auch, wie manche andere solcher Abhandlungen, durch vielfach
überflüssigen philosophischen Ballast <überladen> erscheint. Fe-
derico Zuccaris Werk und Persönlichkeit bilden einen weiteren
Übergang zum zweiten manieristischen Kunstzentrum Europas,
zu Rom. Zuccari wurde geboren, als Pontormo noch lebte, er starb
(in Ancona) sieben Jahre vor Shakespeare, im gleichen Jahr 1609,
als Shakespeares Sonette erschienen, 18 Jahre vor Göngora und 14
Jahre vor der ersten Veröffentlichung des <Adone> von Marino zu
Paris. Wichtig ist vor allem, daß sein Leben und Wirken 33 Jahre
vor dem Erscheinen des für die manierisusche Concetto-Literatur
maßgebenden Werks von Graciän <De Arte y I n g e n i o und 45
Jahre vor Tesauros <Fernrohr des Aristoteles> abgeschlossen ist. Lr
gehört somit generationsmäßig der Mittelphase des Manierismus
am Anfang der Neuzeit an, nimmt aber in seiner Theorie die Spat-
phase vorweg. Er bringt den Manierismus gerade deswegen in die-
sen Jahren seines erfahrungsreichen Lebens - Arcimboldi war
schon 1593 gestorben — in einer ebenso scharfsinnigen wie be-
schwingten Weise theoretisch zum Ausdruck. Zuccaris Kunsttheo-
rie geht vom frühen Florentiner Neuplatonismus aus, aber er er-
weitert, durch eigene und fremde neue Aristoteles-Forschungen
angeregt, den Idea-Begriff zur Concetto-Formel, also längst vor
Graciän und Tesauro. Er faßt den <Concettismus> zum ersten Mal,
in bezug auf die bildende Kunst, in ein größeres neuplatonisches
System, das mit Grundbegriffen der Aristotelischen Ontologie er-
gänzt wird; es ist das erste Mal, selbst wenn man berücksichtigt,
daß der Italiener Camillo Pellegrino schon 1598 ein <concettisti-
sches> Programm schrieb: <Del Concetto Poetico>; es wurde jedoch
erst 1898 gedruckt. Der bedeutende spanische Vorläufer Graciäns,
Luys Carillo, veröffentlicht sein <Libro de la Erudiciön Poetica> mit
dem manieristischen Kernsatz: <Klarheit beim Dichter hat den
Charakter des Lasters> erst 1611 und 1613. Andererseits hat Zuc-
cari 158g bis 1595 am Hofe Philipps II. in Madrid gearbeitet. Sei-
ner rastlosen Wißbegierde wird kaum die erste kultistische und
concettistische Mode in den Schriften und Predigten des damali-
gen Spaniens entgangen sein. Um 1600 war der Concettismus an
fast allen Höfen West- und Südeuropas nicht nur zu einer Manier,
sondern zu einer Manie geworden. Dennoch steht es fest, daß Zuc-
cari, dieser vielgereiste, weltgewandte und gebildete Künstler, mit
seinem Traktat eine erste concettistische Kunsttheorie verfaßt hat,
allerdings nur für die bildende Kunst. Die späteren bedeutenden
Theoretiker des literarischen Manierismus, Graciän und Tesauro,
könnten ihn durchaus benutzt haben, so auffallend sind die Paral-
lelen. Tesauro hat an verschiedenen Stellen über den <Concettis-
mus> in der bildenden Kunst gescheite Bemerkungen gemacht. Er
beruft sich dabei auf einen Ausdruck von Plinius: <picturae ar- >c
gutiae>. Nicht nur die manieristische Kunst eilt der manieristischen
Dichtung voraus; das gleiche gilt für die Kunsttheorie gegenüber
der Poetik. Zuccaris Traktat erschließt uns den geistigen Hinter-
grund manieristischer Kunst aus dem Nachwirken Marsilio Fici-
nos bis zum Prag Kaiser Rudolfs IL, bis zum München Orlando di
Lassos und bis zu den nordischen Spätmanieristen.
Federico Zuccaris Leben war bewegt wie die meisten Figuren
auf seinen Bildern und Fresken. Er wirkte zunächst in Rom, dann
in England, wo er die Königin Elisabeth und Maria Stuart porträ-
tierte. Nach Rom zurückgekehrt, wurde er dort wegen allerlei
Streitigkeiten von Gregor XLfl. fortgetrieben. Er reiste nach Vene-
dig, kehrte wieder nach Rom zurück und ging dann für drei Jahre
nach Spanien. Wenn auch Philipp II. mit ihm nicht recht zufrieden
war, wurde er reich belohnt und wendete sich als wohlhabender
Mann wieder Rom zu, wo er sich auf dem Pincio-Hügel einen vor-
nehmen Palazzo bauen ließ; mit seinen architektonischen Grotes-
ken (Türeingänge in Form von Dämonenfratzen) und Fresken ei-
nes der interessantesten Beispiele für den römischen Manierismus.
(Der Palazzo Zuccari ist seit 1912 Sitz des deutschen Kunsthistori-
schen Instituts, der <Bibliotheca Hertziana>.) Vor seinem Lebens-
ende wurde Zuccari zum Princeps der römischen Akademie von
San Luca gewählt. 12 Aus Studien an dieser Akademie ist sein Trak- u
In der Bildersammlung dieser
auch heute in Rom noch existieren-
tat entstanden. Gewidmet ist er dem Herzog Karl Emmanuel von den Akademie (jetzt im Palazzo Car-
Savoyen, gedruckt wurde er zuerst in Turin 1607, in Rom erst 1768. pegna) - die große elliptisrhe
(Aus dieser Ausgabe wird nachfolgend zitiert.) Von Federico Zuc- Treppe im Innern ist von Borromini
- findet man ein Selbstporträt Zuc-
cari gibt es noch ein Selbstporträt, eine Zeichnung, auf der zu se- caris. In dieser Sammlung über-
hen ist, wie er die Laokoongruppe kopiert. Von seinen eigenen ma- haupt viele interessante M-Bilder:
Bassano, Salvator Rosa u.a. Eben-
nieristischen Werken seien genannt die <Cappella dei Angelb in <H so reich in dieser Hinsicht die Bil-
Gesü> zu Rom und die Fresken in der <Cappella Paolina> des Vati- der-Galerie des Palazzo Spada.
besonders aus der Sammlung des
kans, die neben den beiden Spätwerken Michelangelos für den
Kardinals Bernardino Spada (1 ^94
späteren Manierismus als Vorbilder galten. (Taddeo, Federicos bis 1661), dazu vor allem Fresken
Bruder, ebenfalls Maler, geb. 152g, starb bereits 1566. Er wirkte von Pierin del Vaga. in geistvoller
Illusionsperspektive.
vor allem in Rom. Federico zitiert ihn in seiner Schrift als Beispiel
für den <neuen Stil>. Taddeos Werk bietet dafür allerdings nur eine
milde Form.) Den künstlerischen Entsprechungen des <divino di-
segno metaforico Federico Zuccaris wird man anderenorts begeg-
nen, so etwa u. a. im Werk Arcimboldis, den Zuccari zu interpretie-
ren scheint, ohne ihn, im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen
Traktatisten, zu nennen.
Die <Idee> in der Ästhetik des Neuplatonismus von Ficino wird
im Traktat Zuccaris <L'Idea de'Pittori, Scultori ed Architettb zu
einem <Concetto> (Bildbegriff oder Begriffsbild). Ein Concetto ist
also nichTabstrakt. Es handelt sich, nach Zuccari, beim Künstler 65
um eine präexistente bildliche Vorstellung, um einen <Disegno In-
terno>, um eine Innere Zeichnung. Diese Idea-Concetto-Disegno-
Interno-Dreiheit beherrscht Zuccaris gesamte spekulative Ästhe-
tik, er macht daraus sogar eine ästhetische Kosmologie. Oft ist er
verworren, belastet mit lähmenden Schulvorstellungen, nicht sel-
ten zu pathetisch, aber gelegentlich bricht seine bizarre Persönlich-
keit durch. Er dreht und deutet, um seine Concetto-Auffassung
von der <Inneren Zeichnung) aller Dinge mit begrifflichen Mitteln
aus Plato und Aristoteles zu definieren; aber immer wieder bricht
das Bekenntnis des Künstlers durch, des subjektivistischen, manie-
ristischen Künstlers: ich male, was ich im Kopfe und in der Seele
habe. Das soll hier kurz geschildert werden. Man wird erkennen
können, daß, wirft man den Begriffsballast ab, manche der persön-
lichsten Einsichten Zuccaris moderne psychologische und ästheti-
sche Erkenntnisse berühren, so etwa die <Eidetik>-Psychologie der
Wahrnehmungsbilder Jaenschs oder Bergsons Lehre von der in
uns wirkenden <Welt von Bildern), deren Individualität nur die
Dichter und Künstler erfassen. Der <Disegno Interno> Zuccaris
entspricht auch Geigers <mentalem Objekt), den <Form-Farb-
Sehern> Krohs und Rothackers <Bildwelt des erlebenden Es>.
Zunächst entsteht <in unserem Geiste ein Concetto>, sagt Zuc-
cari, eine ddeeliche Vorstellung), ein <Disegno Interno>, dann ge-
langen wir zur Verwirklichung, zum <Disegno Esterno>. Der <Dise-
gno Interno wird mit einem Spiegel verglichen, der <Vorstellung
und Gegenstand des Sehens> sei: Piatons Ideen sind ein <Disegno
Divino Interno>, während Gott <Spiegel seiner selbst) ist. Gott
schafft <natürliche>, der Künstler <artifizielle> Dinge. Die menschli-
che Phantasie bildet — wie im Traum und wie Gott — <neue Arten
und neue Dinge>. Das geistige In-Bild des Künstlers hat also de-
miurgische Kraft. Die bloße Nachahmung der Natur erscheint als
eine Kopie einer Kopie. Während die <Innere Zeichnung), das gött-
liche Abbild aller Dinge, die <expressive Form unserer Seele> ist,
wäre die <Äußere Zeichnung) zunächst nur das, was erscheint (zu-
nächst und möglicherweise), also das, was <gegenstandlos> ist, d.h.
nur Umriß, Linie, Figuration <einer vorgestellten und wirklichen
Sache>. Wie bei Leonardo und später bei Klee (<Das erste Gemälde
war nichts weiter als eine Linie>) wird bei Zuccari die <LJjtne> sicht-
yw bare Substanz der <Inneren Zeichnung) in jeglicher maniera, wie
-
auch immer sie gestaltet wird. Die abstrakte Definition dessen, was
Kunst sei, lautet: <Bildliche geistige Vorstellung, durch die Linie
oder in anderer maniera ausgedrückt) und damit verwirklicht.
Kombiniert werden also Platonische Ideenlehre und aristotelischer
Entelechie-Begriff, also das überweltliche und das innerweltliche
Formprinzip.
Zuccari unterscheidet drei Formen von <Disegno Esterno>, also
von verwirklichtem Concetto. 1. <Disegno Naturale), d. h. die Kunst
ahmt die Natur nach. 2. <Disegno Artificialo: Der Geist macht aus
der Natur ein eigenes künstliches Bild. 3. <Disegno Fantastico-arti-
ficiale>: Ursprung aller <Seltsamkeiten>, überraschenden Wendun-
gen, d.h. <Capricci> (von <Sprüngen> des Bocks), <Erfindungen>,
<Phantasien> und <Ungewöhnlichkeiten> (ghiribizzi). Die Natur-
nachahmung ist allerdings nützlich und gut, sie belehrt uns, hin
uns technisch weiter und bildet die Voraussetzung für die bellapit-
tura. Sie ist aber nicht als die höchste Form künstlerischen Stre-
bens und Erfüllens zu betrachten. Die Kunst ist überhaupt weder
<bloß eine Nachahmerin noch Schmeichlerin der Natur>. Sie ha
nicht nur ihren geistigen Ursprung im <Concetto>, sie bewegt sie
66 auch in der Welt aller bisherigen Kunstformen. Sie bezieht also
auch aus dieser künstlichen Welt der bereits existierenden Kunst-
werke Anregungen. Die wichtigste Voraussetzung der großen
Kunst des <Disegno artificiale> ist demzufolge hier insofern auch
aristotelisch, als für Aristoteles die Rhetorik das Reale, Wirkliche,
die Poesie aber das Mögliche, Vorgestellte behandelt. Für Zuccari
sind die Meister der <artifiziellen> Kunst <großen Lobes> wert, weil
sie <effettimeravigliosi> erreichen, Effekte der Wunderbarkeit, und
zwar expressiver oder sur-realer Art. Er tadelt die Maler, die nur
mit <pratica naturale> arbeiten. Ernennt sie <semplici naturalis Sie
haben keine <teoria>. Es handelt sich um Kunstgewerbler.
<Idea>-Lehre =
Ästhetik der Moderne
Was die <Idea>-Lehre angeht, so findet man ihre Weiterwirkung,
den Autoren bewußt oder nicht, in zahllosen Traktaten der zeitge-
nössisch <modernen> Kunst. Sie ist an theoretischen Essays ebenso
reich wie die Zeit von 1550 bis 1660 an essayistischen Traktaten.
Kunst, Dichtung und Essay <erhellen> sich gegenseitig, und, wie
heute, so sind es nicht selten Künstler selbst, die es als notwendig
empfinden, ihr eigenes Werk oder die Kunst ihrer Zeit zu interpre-
tieren. Aus dieser ästhetischen Gnosis> (H. Ball) einige Beispiele.
<Das Geheimnis), schreibt Ernst Ludwig Kirchner (1880 geb.,
1938 Selbstmord), <liegt nicht im momentanen Schaffen, es liegt
im Sehen, in der Vorstellung, in der Phantasie, darin, daß ein
Mensch die Kraft hat, es in einem inneren Bild, das ihm sein Erle-
ben gibt, sichtbar zu machen. Die Hieroglyphe, diese unnaturalisti-
sche Formung des inneren Bildes der sichtbaren Welt formt sich
nach bisher in der bildenden Kunst noch nicht verwendeten opti-
schen Gesetzen, z. B. dem der Reflexion, der Interferenz, Polarisa-
tion usw.> Aber Kirchner (Essays unter dem Pseudonym Louis de
Marsalle), eine der gescheitesten kritischen Begabungen im ersten
deutschen Expressionismus, fühlt sich nicht ganz sicher hinsicht-
lich der apodiktischen Aussage dieses zweiten, hier zitierten Sat-
68
zes. Er korrigiert sich gleich und schreibt: <Man müßte schon auf
Dürer zurückgreifen, der ja seinerzeit etwas Ahnliches hervor-
brachte, als er die deutsche Kunst aus der Enge gotischer Bindung
in die lebensprühende Renaissance hinüberführte.) Wassily Kan-
dinsky nennt die gegenwärtige Kunst> das <zur Offenbarung ge-
reifte Geistige>. <Die Regeln) sind <keine allgemeinen Regeln: sie
führen nicht zur Kunst). AVenn aber der Künstler zum Ausdruck
seiner inneren Regungen und Erlebnisse sich einer oder der ande-
ren fremden Form der inneren Wahrheit entsprechend bedient, so
übt er sein Recht aus, sich jeder ihm innerlich nötigen Form zu
bedienen, sei es ein Gebrauchsgegenstand, ein Himmelskörper
oder eine durch einen anderen Künstler schon künstlerisch mate-
rialisierte Form.) Die Kunst der dnneren Wahrheit) entsteht also
aus Kunst, nicht aus Natur. Die eigentliche Kunst hat jederzeit ein
tiefes psychisches Bedürfnis befriedigt, nicht aber den reinen Nach-
ahmungstrieb, die spielerische Freude an der Nachformung des
Naturvorbildes. Paul Klee bezeichnet sich als einen Illustrator von
Ideen>. Max Ernst definiert die <Rolle des Malers) in folgender
Weise: <cerner et projeter ce qui se voit en lui.> (<Einkreisen und
projizieren, was er in sich selbst sieht.)) Ernst zitiert Paul Eluard:
<Die poetische Objektivität besteht einzig in der Verkettung aller
subjektiven Elemente) und bezeichnet als für sich verbindlich das
bekannte Wort Lautreamonts über die metaphorische Vereinigung
des Disparaten (discordia Concors): <die Annäherung von zwei (oder
mehr) scheinbar wesensfremden Elementen auf einem ihnen we-
sensfremden Plan provoziert die stärksten poetischen Zündun-
gen), und er erklärt seine Freude an jeder gelungenen Metamor-
phose). Der <Disegno metaforico> Zuccaris im Zeichen des Proteus
erscheint einem Kernmotiv der surrealistischen <Ästhetik> kongru-
ent. <Die Kunst, so individuell, so subjektiv die Voraussetzungen
ihres Werdens sind, steht in einem eingegrenzten allgemeinen
Raum.) Noch ein Beispiel: Max Ernst bezeichnet die berühmte
Stelle in Leonardos Traktat über die wertvollen Anregungen, wel-
che ein Maler aus der Beobachtung fließender, irrealer Naturer-
scheinungen empfangen kann, für sich als eine entscheidende
<Lektion>. Ausgehend von dem Satz Leonardos über den Antrieb
zum künstlerischen Schaffen: <es ist wie Glockenläuten, aus dem
man das heraushört, was man als Vorstellung in sich trägt), zitiert er
weiter Leonardo: <Meiner Meinung nach ist es nicht zu verachten,
wenn einer, der den Klecks an der Wand, die Kohlen auf dem Rost,
die Wolken, den fließenden Strom genau anstarrt - wunderbare
Erfindungen macht. Von diesem mag dann der Genius des Malers
vollen Besitz ergreifen, um Kompositionen zu schaffen, von Tier-
und Menschenschlachten, von Landschaften und Ungeheuern,
von Teufeln und anderen phantastischen Dingen, die einem Ehre
machen.) <(Aber) man m u ß sie zeichnen können.) Auch Paul Klee
und viele andere zeitgenössische Maler haben diesen Leonardo-
Passus geradezu als Dogma für ihre neue Programmatik empfun-
den. In seiner Autobiographie zieht Salvador Dali die <Kunst der
Renaissance) der <afrikanisch-modernen Kunst>, d.h. der Kunst
der <Primitiven> und ihrer Nachahmer, vor, weil sie eine Materia-
lisation von Intelligenz) sei. Er beruft sich auf die bereits erwähnte
<Magia naturalis) des G. B. della Porta, aus welcher er Rezepte ent-
nommen habe, u.a. für die Herstellung <von Eiern jeglicher
Größe>. Illustriert wird diese paranoische Selbstdarstellung mit
Zeichnungen, die dem Kodex Huyghens von Leonardo entnom-
men sein könnten. Dali erklärt, die <Renaissance> erneuern zu wol-
len. Alle seine konkreten Ansätze dazu beweisen, daß er zwar für
Raffael schwärmt, aber nur wie die extremen Manieristen der
Spätrenaissance malen oder zeichnen kann oder will. Er spricht ein
Glaubensbekenntnis aus zugunsten der Magie des 16. Jahrhun-
derts. Seine <kritisch-paranoische Interpretation von Bildern> führt
er auf diese Art von Lektüre zurück. Wie Leonardo will er <alles
morphologisieren>. Er vergleicht den spanischen Gelehrten Euge-
nio d'Ors mit Piaton und ruft pathetisch aus: <Laßt mich den ersten
Vorläufer der neuen Renaissance sein!> Wir werden das alles, in-
nerhalb eines «paranoischem Wertsystems, nicht allzu wörtlich
nehmen dürfen, können aber feststellen, daß Dali während seiner
verschiedenen Italienreisen literarisch und künstlerisch starke
Eindrücke von einer <Renaissance> empfangen hat, die nichts an-
deres ist als der Manierismus der Spätrenaissance.
Kirchner - Kandinsky — Klee — Eluard — Ernst - Dali - einige
Beispiele im Umkreis der europäischen Malerei des 20. Jahrhun-
derts. Die Weiterwirkung der <Idea>-Lehre findet sich schon am
Anfang der neuen europäischen Malerei, in der zweiten Hälfte des
19. Jahrhunderts. Werner Haftmann hat für die ästhetischen
Selbstbestimmungen von Künstlern aus dieser Zeit ein uner-
schöpfliches Material geboten. Seurat: <Harmonie, das ist Analogie
des Gegensätzlichen.) Gauguin will <Ideen> mit <Farben und For-
men heraufbeschwören). Er verlangt von einem Schüler, er solle
<Träume malen und immer auf der Suche nach dem Absoluten
bleiben). Die Symbolisten in der Malerei erklären: <In der Natur
ist jedes Ding nur eine bezeichnete Idee.) Ausdrücklich wird die
neuplatonische Tradition aufgegriffen, die Kunst als metaphysi-
scher <Schlüssel> betrachtet, als mystische Emblematik. Zu erin-
nern ist schließlich noch an Oscar Wildes: <Der Kritiker als Künst-
ler). <Wo immer man ... zur Natur zurückkehrte, wurde die Kunst
vulgär.) <Die Natur ahmt die Kunst nach, nicht umgekehrt.) Der
Künstler ist ein (idealer) <Lügner> (Zuccaris und Tesauros plato-
nisierender <Inganno>-Begriff). <Das Lügen, das Erfinden schöner
Unwahrheiten ist das eigentliche Ziel der Kunst.) Dazu Hugo Ball
(Tagebuch): <Vielleicht auch ist n u r unser Gewissen so geängstigt,
so belastet, so gequält, daß es beim geringsten Anruf mit den er-
staunlichsten Lügen und Vorwänden (Fiktionen und Bildern)
reagiert.)
Wilde und Dali — zwei <Extremisten> unter den heutigen Manie-
risten, Verfasser und Darsteller turbulenter <Capricci> und heraus-
fordernder Bizarrerie (sprachliche Grundbedeutung <bärtig> =
<ungewöhnlich>; den ungewöhnlichen Schnurrbart hat Dali ja
auch). Doch es gibt in der heutigen Moderne auch andere Pole. So
etwa Gauguin, de Chirico und Kandinsky. Hier bilden das Ge-
heimnisvolle, die Suche nach dem magischen Weltgrund, die gei-
stige Rastlosigkeit die Antriebe. Giorgio de Chirico nennt eines sei-
ner surrealen Manichino-Bilder: <L'Enigma del Secolo>. Der Titel
des berühmten Bildes von Severini <Ball Tabarin> wird selten voll-
ständig zitiert. Es heißt: <Dynamische Hieroglyphik des Ball ia-
barin>. Gauguin verlangt, man müsse das <verschleierte Bild des
unergründlichen Rätsels schaffen), und Kandinsky fragt: <Das
Sprechen von Geheimem durch Geheimes. Ist das nicht der In-
halt?) Nach einem Vortrag über Kandinsky, mitten in seiner dadai-
stischen Zeit, trägt Hugo Ball, am 8. April 1917, in sein Tagebuch
ein (>Flucht aus der Zeit)): <Die Maler als Sachverwalter der Vita
contemplativa. Als Verkünder der übernatürlichen Zeichenspra-
che. Rückwirkung auf die Bildgebung auch der Dichter. Die sym-
bolische Ansicht der Dinge ist eine Folge der langen Versenkung m
70 Bilder. Ist die Zeichensprache die eigentliche Paradiessprache? Die
persönlichen Paradiese - : nur mag sein, daß sie Irrtümer sind; aber
sie werden die Idee des Paradieses, das Urbild neu färben.>
Dazu ein letzter Rückgriff zum Abschluß dieses Berichts über die
Traktatenliteratur. In der <Iconologia> (1593) von Cesare Ripa fin-
det man einen merkwürdigen kleinen, künstlerisch anspruchslo-
sen Kupferstich unter dem Stichwort: <Änigme> = Rätsel. Ein mas-
kierter Mann ist da zu sehen, umgeben von einem Netz. In der
rechten Hand trägt er ein Seil, in der linken einen Pfirsich. Zu sei-
nen Füßen liegt eine anmutige Sphinx. Seil und Netz sind verkno-
tet. Um eine symbolische Darstellung des Geheimnisvollen, der
dunklen Schreib- und Malweise handelt es sich, um die Verkörpe-
rung des Anigmatischen und Zweideutigen, Widerspruchsvollen
und <In-Verlegenheit-Bringenden>, wie Ripa selbst erklärt. Das
Wort Änigma, so führt Ripa weiter aus, kommt aus dem Griechi-
schen, die Lateiner nannten es <scrupus>. Augustinus habe die
Anigme als <dunkle Allegorie> bezeichnet. Seil und Netz mit Kno-
ten und Windungen symbolisieren die kunstvolle Mühe, der Pfir-
sich bedeutet die <acutezza dell'ingegno>, den geistigen Scharfsinn.
(Der Pfirsichbaum stammt aus Persien, und die Perser galten als
besonders scharfsinnig.) Er ist aber auch ein Symbol für das Hiero-
glyphische wie die Sphinx. Nach Ripa ist nun ein Emblem eine
gemalte Anigme. Wir sehen also vor uns eine gemalte Anigme des
Anigmatischen. Die dargestellten Figuren und Gegenstände sind
zwar konkret, aber ihr Sinn ist noch dunkler, als man sog. <ab-
strakte> Bilder als dunkel empfinden mag. Wilde: <Die Schönheit
ist das Sinnbild der Sinnbildern <Das Sprechen von Geheimem
durch Geheimes. Ist das nicht der Inhalt?> so fragte Kandinsky. Es
ist der Inhalt jeder manieristischen Kunst geblieben. Die Idea in
der Idea, die absolute Idee in der geistigen Vorstellung bleibt vom
Geheimnis verhüllt. Nur ihr Wirken ahnt man: als wesende Magie.
Für Baltasar Graciän ist die ganze Welt <chiffriert>, alle Dinge sind
in Chiffren niedergelegt. Geistig erlöst wird nur derjenige, der über
die <Dechiffrierungskunst verfügt).
6. U N T E R G A N G S V I S I O N E N
Bewußtwerden
einer epochalen Krise
Der Manierismus ist nicht nur Ausdruck einer geistigen Krise. Er
ist auch Bewußtwerden einer <aus den Fugen> geratenen Welt, ei-
ner epochalen Krise (wenn auch daraus keine gesellschaftskriti-
schen Folgerungen gezogen werden). Auch die Renaissance stellt
sich in politischen Abläufen nicht als Idyll dar; aber der sich anbah-
nende Wechsel so vieler Erscheinungen wurde im Hintergrunde
des Bewußtseins gehalten und durch ein gelegentlich über-
menschlich erscheinendes Harmoniestreben kompensiert. Gerade
das madit den ästhetischen Glanz aus, diese überrelative, sinnlich
strahlende Harmonik der Renaissance. Doch ab 1520, dem Jahr,
als Luther die Papstbulle verbrennt, als die jungen toskanischen
Manieristen aufzutreten beginnen, findet ein Bewußtseinswandel
statt. Es ist, als ob das mittelalterliche miserere über die Zeiten hin- j 1
weg in schaurig neuer Weise erklingt. Dazu geben die Jahrzehnte
bis zum Hochbarock immer wieder neuen und dramatischen An-
laß. 1527, im Todesjahr Machiavellis, eroberten und plünderten
die deutschen, spanischen und italienischen Truppen Karls V.
Rom. Clemens VII. floh mit 13 Kardinälen in die Engelsburg, die
überlebenden Künstler, Dichter, Schriftsteller und Gelehrten, un-
ter ihnen Rosso und Parmigianino, begaben sich nach Norden. Der
Traum des erneuerten Roms schien zu Ende. Selbst die Papstgrä-
ber waren durchwühlt, Erinnerungen an das Imperium zerstört,
Kirchen verwüstet worden. Hauptmann Wilhelm von Saudezell
ließ sich, als Papst verkleidet, von Landsknechten, die Kardinals-
gewänder trugen, den Fuß küssen, segnete sie mit Wein und riet
schließlich Luther zu seinem Nachfolger auf dem Stuhle Petri aus.
Vier Fünftel der Stadt waren eine Zeitlang unbewohnt. Erasmus
schrieb 1528 über den Sacco: <In Wahrheit, dies war nicht der Un-
tergang der Stadt, sondern der Welt.> <Die Hölle ist nichts im Ver-
gleich mit dem Bilde, das Rom jetzt bietet>, schreibt ein anderer
Zeitgenosse. Wenn auch manches an den Berichten sog. damaliger
Augenzeugen der kritischen Forschung nicht standhält, so ist mit
dem Jahr 1527 ein verhängnisvolles Datum bezeichnet, das Ende
der Renaissance, so wie 1914 das Todesjahr des alten Europa ge-
wesen ist.
<Weltangst> breitete sich aus, zumal das Jahr 1527 eine ganze
Reihe anderer Katastrophen einzuleiten schien. Bis 1532 belagert
Soliman II. mit seinen Türkenheeren Wien. Von 1521 bis 1538
führen KarlV. und Franzi. Kriege gegeneinander. 152g wird in
Schweden, Dänemark und Norwegen die Reformation eingeführt,
und dann folgt für den Stuhl Petri ein Schlag auf den anderen:
1530 die Augsburgische Konfession, 1531 die Loslösung der angli-
kanischen Kirche von Rom, 1541 die Reformation in Genf. Die
Auseinandersetzung zwischen Spanien und England nähert sich
ihrem Höhepunkt. Der Freiheitskampf der Niederlande beginnt.
Wir stehen an der Schwelle des 17. Jahrhunderts. Man hat ausge-
rechnet, daß es in diesem Jahrhundert nur sieben Friedensjahre in
Europa gegeben hat. Kriege und Hungersnöte waren ein Normal-
zustand geworden. Sechs große politische Bewegungen zeichnen
sich noch vor 1600 ab: der Untergang der spanischen Macht, die
Auflösung Deutschlands, der Aufstieg Frankreichs, der Untergang
der baltischen Mächte sowie Schwedens, Dänemarks und Polens.
Zugleich erfolgt die Vereinigung der baltischen mit den östlichen
Fragen. Verbindungen zu Asien, Afrika, Amerika entstehen. Dazu
könnte man den politischen Zerfall Italiens nennen, die Zerset-
zung der universalen Ideen des Kaiser- und Papsttums, die Aus-
bildung eines europäischen Staatensystems; das Ende der ritter-
lich-feudalen dynastischen Staatsauffassung, das Entstehen neuer
sozialer Strukturen und Wirtschaftssysteme, insbesondere die
Ansammlung großer Kapitalien im <Fugger-Jahrhundert). Erst die
Friedensschlüsse von 1648, 1654, 1659, 16601 legten das Verhält- '* Westfälischer Frieden. Ende des
Dreißigjährigen Krieges: Pyrenäen-
nis der neuen europäischen Staaten für lange Jahre fest. Die Reli- frieden zwischen Frankreich und
gionskriege sind abgeschlossen. Um ij56o, abgesehen von einigen Spanien; Friede zu üliva. linde
Verspätungen in Deutschland, ist der Manierismus des 16. und des schwedisch-polnischen Krieges:
Ende des niederländisch-englischen
1 7. Jahrhunderts zu Ende. Seekrieges. (Anm. d. Red.)
Doch: gleichzeitig liegt ein mystischer Edelsteinglanz über der
ganzen Zeit. Die höfische Kultur mißt sich an Raffinement und
Geschmack mit Alexandrien und Spätrom. Nach den entscheiden-
den Anregungen des Neuplatonismus von Florenz erhält ein
neues, <voraussetzungsloses> Philosophieren Auftrieb. Kunst und
Literatur erleben eine ihrer größten Blütezeiten seit Altägypten
und Athen, speziell in der Zeit von 1580 bis 1660. Durch die Ent-
deckung der beiden Amerika und neuer Seewege nach Indien wer-
den nicht nur die Seemächte, sondern auch die Literatur, die Wis-
senschaften sowie selbstverständlich auch die Kunst bereichert.
Doch erst mit den späten und spätesten Auswirkungen des Konzils
von Trient (1545 — 1563), d.h. nach den Erfolgen der Gegenrefor-
mation, als das merkantilistische System sich gefestigt hat und die
Die Welt
als FPunderkammer
7. S C H Ö N H E I T UND
GRAUEN
Sehnsucht
nach dem verlorenen Paradies
Michelangelos Spätwerk wurde schon damals als Ausdruck einer
terribilitä bezeichnet, als Manifestation eines kompromißlosen
Wissens um die Widersprüchlichkeit des Daseins. Die gegenrefor-
matorischen Scheiterhaufen flammten auf. Man begann - trotz
dieser Gefahren - sich zu fragen, ob es für den Menschen sinnvoll
sei, sich den Zufällen des Geschehens wie religiös-richterlichen
Entscheidungen widerspruchslos auszusetzen, oder ob es nicht an-
gemessen sei, der <Großen Realität) der Zeit, der Spannung von
Schönheit und Grauen einen neuen menschlichen Sinn zu verlei-
hen, indem man sie in einen künstlerischen Spiegel zunächst ein-
mal auffing. Doch auch diese Spiegelung wird antinaturalistisch.
Das ist die erste Stufe der Überwindung der Revolte. Die Spätre-
naissance erhält einen neuen Klang, einen düsteren, sibyllinisch
dumpfen Kontrapunkt, zugleich einen grellen Oberton von Wahn-
sinn.
Im Jüngsten Gericht) der Sixtina drehen sich Erlöste und Ver-
dammte in einem frenetischen Wirbel um den richtenden Herrn,
gleichzeitig aber wird das Gesicht der Leidenden, der Verurteilten,
der Zertretenen wirklicher, glühender, wahrer als die verzückten
Antlitze der Erlösten. Wie im ganzen Manierismus wird der Blick
vom in sich ruhenden Wert, vom geordnet Erlösten auf das Frag-
würdige, Vertrackte, Verdammte, auf das metaphysisch Neben-
sächliche gelenkt. Eines der beliebtesten Themata der Literatur
und Malerei des ig. Jahrhunderts wird vorweggenommen:
<rleisch, Tod und Teufeh. Das <titanische> Genie zerbricht den
klassizistischen Kanon in einer Weise, die ganz Rom erschrecken
und die neue Generation aufjubeln ließ.
Was war geschehen? Ein dramatisch-symbolistisches Ereignis
vollzog sich in einem nur noch pseudokonventionellen, in einem
<irrealen> Raum. Das harmonische Antlitz der Renaissance wird
damonisiert. Es entsteht das Gesicht des <Zeitgenossen>, der Ab-
gründe um sich weiß, der die <Abgründigkeit Gottes> ahnt, der an
der richterlichen Strenge dieses Gottes verzweifelt, der ohne Aus-
sicht auf philosophischen Trost und erst recht auf existentielle
<Freiheit> bleibt. Die theologische Brücke zwischen Schönheit und
Wahrheit ist gesprengt, aber die Beziehung zwischen beiden bleibt
erhalten. <Ich komme, Herr, auch wenn ich nicht weiß, was ich
erhoffen kann> (Michelangelo). Im objektiv theologischen Verhal-
ten werden Schönheit und Wahrheit durch Harmonie, im subjekti-
ven durch Disharmonie verbunden.
Ein Kritiker des frühen 17. Jahrhunderts, ein Zeitgenosse Te-
sauros, faßt in einem Distichon die Merkmale der zeitgenössischen
Kunst, in dieser manieristischen Phase also, derart zusammen:
<Glanz, Göttlichkeit, Grauen, Verbrechern. Es könnte dies von
Zeitgenossen Baudelaires, kaum aber von Rilke-Epigonen ge-
schrieben sein. Das Streben nach religiöser Wahrheit bleibt auch
in dieser <Erschütterung> erhalten. Die Urinfektion der Moderne:
Schönheit unabhängig von ihrem Wahrheitsinhalt gelten zu las-
sen, ist undenkbar. Hier liegt vielleicht der tiefste Unterschied zwi-
schen dem Manierismus am <Aufgang der Neuzeit> und demjeni-
gen des technischen Massenzeitalters.
Michelangelos Fresken der Paolinischen Kapelle werden zu ma-
nieristischen Formmustern, genau wie die tragische Gigantoma-
chie des <Jüngsten Gerichts). Zum <Sturze Pauli> einige Hinweise:
wie bei Beccafumi Mittelpunkt das Nebensächliche: das Pferd,
hineinspringend in eine <abstrakte> Landschaft; Raumillusionis-
mus (zweite Figur rechts vom Pferd); anaturalistische Perspektive;
die kalte und doch süße Faszination der lilafarbenen und grünen
Farbtöne. All dies noch stärker in der <Kreuzigung Petri>: die Ge-
stalten stehen übereinander, der Blick wird vom Mittelpunkt stän-
dig abgelenkt, ein seltsamer <Sprecher>; wir wollen ihn <SchÖnheit
im Grauem nennen. Er drängt aus dem Bild hinaus und scheint
den Vorgang zu kommentieren. Die Landschaft gleicht einer Wü-
ste; wieder ein <Waste Land>. Hier wird das <Architektonische> in
Michelangelos Kunst besonders sichtbar. Bei aller Dynamik
herrscht eine Symmetrie der je zwei Seitengruppen und der vom
oberen Kreuzdreieck umfaßten Mittelgruppe vor. Die innere
Spannung erklärt den Verzicht auf die Renaissance-<Proportion>.
Die <Abstraktion> ergibt sich auch aus dem Konflikt zwischen dem
Malerischen und Architektonischen. Man begreift, warum Paul
Klee Michelangelo <zu den Modernem zählte. In seinem Tagebuch
notiert er: <In Italien begriff ich das Architektonische — hart bei der
abstrakten Kunst stand ich da — der bildenden Kunst (heute würde
ich sagen, das Konstruktive).) Hoffmann stellt zu den beiden Fres-
ken fest: <Raumflucht> als <Ausdruck von Angst>. Streben nach
dem Schwankenden, Labilen, auch im architektonischen Raum.
Typisch tadelt Burckhardt (im Cicerone): Es ließe sich behaupten,
<daß nach Raffaels Tod (1520) kein Kunstwerk mehr zustande ge-
kommen, in dem Form und Inhalt ganz ineinander aufgegangen
wärem. Leo Bruhns stellt in seinem unerschöpflichen Werk über
<Die Kunst der Stadt Rom> fest, Michelangelo habe sich in diesen
Werken den Manierismus, der um ihn großgeworden war, dienst-
bar gemacht. Nach dem <idealistischen> und <heroischen> werde
hier der Mensch schlechthin, der <ungöttliche> Mensch dargestellt.
Man könnte darüber hinaus sagen, daß die vielen Anonymen in
den fünf Gruppen der <Kreuzigung Petri>, gebunden durch das kol-
lektive Miterleben, einen <Unanimismus> vorwegnehmen, das
Schildern der Erlebnisse einer Gruppen-Seele.
Die <Manier> Michelangelos, die zum Manierismus einer
ganzen Generation von Nachahmern werden sollte, findet sich
vor allem, neben der <Pietä Rondaninb, in seinen letzten Zeich-
nungen. Motivgebundene Arbeiten wie die <Kreuzabnahme>, von
außerordentlicher Intensität des Ausdrucks und scharfsinniger
Ausklammerung, findet man ebenso wie Drachen-Phantasmen,
<Hieroglyphen> jedenfalls auch, Irrbilder aus Tierfratze und Men-
schengesicht (sind sie von Michelangelos Hand?), rätselhafte Wer-
Michelangelo Buonarrotti: Drache
knotungen>, wie der Hals des Ungeheuers, der, sieht man es schräg
vom linken Bildrand her, an die anthropomorphischen Landschaf-
ten der <Arcimboldesken> erinnern. Ähnlichkeit von <Ausdrucks-
zwängen>, Symbolismen verschiedener Epochen! <Optische> Analo-
gien dieser Art, beliebte Spiele des Manierismus, dürfen uns nicht
dazu verführen, entscheidende Unterschiede zu übersehen. Wir
werden darauf zurückkommen. Sicher ist, daß wir uns in beiden
Fällen nicht mehr im Umkreis der Klassik befinden. Die Manieri-
sten suchen überall die discordia Concors. Wir werden später die
Gegenprobe machen: die concordia discors.
Michelangelo und Rom! Er bringt, von Florenz kommend, in die
Ewige Stadt: d'ardente desiderio verso le sfere superiori, verso le
idee> (<den glühenden Wunsch nach den oberen Sphären, nach
den Ideen>). Aber er bringt mehr, bringt Entscheidenderes: das
<tragische Lebensgefühh, das erschütternde Wissen um eine End-
zeit; eine neue Blickweise, die langsam ahnen läßt, daß sich in den
tödlich-grausamen Katastrophen etwas Neues vorbereite. Auch
durch Michelangelo - neben den vielen religiösen Erneuerern, die
allmählich nicht nur die Gegenreformation, sondern auch die in-
nere Reform der Kirche vorbereiten (Kapuziner, Jesuiten) - wird
Hom zumindest zeitweilig wieder mit dem Absoluten konfrontiert.
Die Re-naissance hört nicht so sehr mit dem Sacco auf, sondern mit
Michelangelos letztem Wirken in Rom. Die Ewige Stadt wird da-
mit zu einem ganz neuen europäischen Mittelpunkt. Nicht mehr
um die Wiedergeburt des <Alten> handelt es sich. Im Gegenteil! Im
Schmerz, angesichts des Todes, vollzieht sich die Geburt des
euen>. ^ s beginnt der Aufgang der Neuzeit. Eugenio d'Ors hat
das schöne Wort geprägt: Die (besten) Manieristen <sehnen sich
nacb dem verlorenen Paradies>. Sie tun dies vor allem angesichts
der gerade ihnen schrecklichen Krieee.
8l
Erasmus verwünscht während seiner Reise durch Italien die
Kriege, weil sie ihn darin stören, Museen zu besuchen und ruhige
Gespräche mit polyhistorischen Zeitgenossen zu führen. Die Er-
eignisse nach 1527 haben plötzlich alle hedonistischen Illusionen
einer möglichen sinnlich-geistigen Perfektion zerstört: Enttäu-
schung, desenchantement, desillusion, desengano — das Motiv eines
unerfüllten Perfektions- und Geltungstriebs. Die majestätischen
Perioden der humanistischen Prosa, die arkadischen Gespräche
zwischen Prinzessinnen und Rittern, die idealisierte Antike — alles
das verliert an Anziehungskraft. Es dauert Jahre, ehe der Leichen-
geruch, der über Rom liegt (die Pest wütet überall, ohne Rücksicht
auf Päpstliche oder Kaiserliche), sich verzieht. Im Antlitz dieses
Massensterbens verstärkt sich die den Manieristen innewohnende
saturnische Todesbeziehung und <Zeit>-Problematik, zwei geistige
Triebkräfte, die beherrschend werden bis zum Barock; dann wird
im Hochbarock der <Tod> zu einem nur noch repräsentativ-grausi-
gen Bestandteil rhetorischer Kirchendekoration, in einer anschei-
nend neuen <Ordnung>, im nur noch omamentalen Grauen.
8. A N G S T UND N E U G I E R
Michelangelo Buonarrotti:
Ausschnitt aus dem <Jüngsten
Gericht)
Auferstehung bleibt ungewiß, wenigstens für diese Schattenfigur,
für Michelangelo selbst, für alle Manieristen. Nur eins fehlt nicht in
der pathetischen Gebärde des Schattens: die Hoffnung, die Sehn-
sucht, das verzweifelte Streben nach sfere superiori. Die Faszination
des Todes! Der Tod, besser das Sterben, der Anblick der in Kriegen
zahllos Sterbenden macht angst, aber die Aussicht auf den Tod
macht auch neugierig; man sehe sich nur an, wie der <Mensch> in
einer Ecke des <Jüngsten Gerichts> den Tod fixiert, als wolle er des-
sen letztes Geheimnis enthüllen. Der Tod ist das Geworfenwerden
ins letzthin Unbekannte, denn der Zweifel an theologischen Ver-
heißungen breitet sich immer mehr aus. So wird der Tod zum Hie-
roglyphischen schlechthin, zum <wunderbaren> Rätsel, zur ebenso
teuflischen wie göttlichen Anigme.
Auch die manieristische Literatur wimmelt von Todesdarstel-
lungen in der Polarität Angst, Neugier, ganz anders demnach als
im Hochbarock. <Alle Welt ist medial geworden...), meint Hugo
Ball in seinem Tagebuch, <vor Angst, vor Schreck, vor Qual.> Der
Monolog Hamletsl Weniger bekannte Beispiele findet man in ei-
nem Werk Jean Roussets über <Circe und Pfau>, Symbole des
Wechsels und der Verwandlung, Beispiele aus der französischen
Literatur der Shakespeare-Zeit. Ein Kapitel heißt <Todesland-
schaft>. Ein Anonymus dieser Zeit schreibt, er liebe nur die Beerdi-
gungen, die Einsamkeit mit seinem Schatten, er sucht: <Abgründe
von Grauen, zerstückelte Menschern. Er liebt: <Nacht, Schatten,
Einsamkeit.) Der Tod gefällt ihm. 1627 schwärmt ein wenig be-
kannter französischer Lyriker, Lortigue, von einem <mageren Ske-
lett, wimmelnd von tausend Würmern, sterbend, weil es nicht
sterben kann>. Ahnliche <Concetti> findet man im spanischen Cul-
tismo, bei den metaphysical poets Englands, bei deutschen Dich-
tern des 17. Jahrhunderts, Gryphius an der Spitze. Ein hyperveristi-
scher Todes-Expressionismus entsteht, ein Skelett- und Leichen-
kult. Kriegsgrauen und Kriegsgreuel füllen Bühne und Romane.
<Titus Andronicus> bietet dafür die entsetzlichsten Beispiele. 1630
verfaßt Quevedo seine <Träume des Todes und seines Reichest
Er schreibt ausdrücklich: <Der Tod ist eine änigmatische Fi- )<
gur.) 1 Gibt es überhaupt einen Unterschied von Tod und Leben? ' In der Gedichtfolge von <Altarwise
<Ihr selbst seid Euer Tod.> <Euer Gesicht ist der Tod.> Leben ist
findet man: <Death is all metaphors».
morir viviendo, lebend sterben. John Donne (1573-1631), der eng-
lische Manierist, dessen neuen Ruhm T S. Eliot mitbegründete,
hat einen Traktat über den Selbstmord geschrieben (<Biathanatos>,
1608, 1644 veröffentlicht). Von dem englischen Hofhält e r - etwa
1630 — seine letzte Predigt: <Death-Duel>, <Wettkampf mit dem
Tode>. Darin heißt es: <0 Wurm, Du bist meine Mutter und meine
Schwester.) <Wenn mein Mund voll Staub sein wird, wird der
Wurm sich friedlich von mir ernähren.) Und die Liebe? Die Schön-
heit? Die Geliebte, auch sie wird, stellt man seine Einbildungskraft
auf den Tod ein, genau wie am Anfang des zeitgenössischen Ma-
nierismus, zur <Nymphe macabre> (Baudelaire).
Der <Caractere maudit> (Baudelaire) der manieristischen Kunst
und Poesie des 16. und 1 7. Jahrhunderts erlebt seine Wiederaufer-
stehung als neue, antibürgerliche, antiklassizistische Vorstellungs-
welt, noch bevor die anderen manieristischen Motive und vor allem
die manieristischen Deformations- und Transpositionstechniken
wieder auftreten. In neue <Abgründe> will man tauchen. Baude-
laire: <Plonger au fond du gouffre, Enfer ou Ciel, qu'importe? / au
fond de l'inconnu pour trouver du nouveau.) (<Hinabtauchen in die
Tiefe des Unbekannten, um Neues zu finden.)) Der Tod läßt er-
schauern in Angst, er macht auch neugierig, er läßt das Unge- 8^
wohnliche ahnen, das völlig andere, im Abgrund der Geheimnisse
das letzthin Unergründliche. Walt Whitman erklärt den Tod als
Erfüllung der größten Neugier: <I see that 1 am to wait for what/
will be exhibited by death.> (<Ich begreife, daß ich n u n auf das war-
" Ostern 161g sagt John Donne in ei- ten muß, was der Tod mir zeigen wird.>2) Wenn <Manieristen> in
ner Predigt: eich weiß, daß ich die-
sen Tod sterben muß, was küm- Charakter und Werk zwiespältig erscheinen, so in diesem doppel-
mert's mich! Ich will einen andern ten Verhältnis zum Tode. Die <Angst> vor dem Tode läßt eine echte,
Tod ausfindig machen, morte raptus,
einen Tod im Hingerissen-Sein. in
existentielle Erschütterung sichtbar werden. M a n lebt in Span-
der Ekstase.) nung: zum Tode hin. Er wird in keiner Weise verkleidet, weder
heroisch noch sentimental. Aber gleichzeitig bleibt der Intellekt
wach, hell, neu-gierig. Im Streben nach <Novitä> (Marino) glaubt
und hofft man innerhalb der Landschaft des Todes die faszinie-
rendste meraviglia zu finden. Ergriffenheit und Kalkül interferie-
ren ständig, wenn auch — wie bereits dargestellt — im 16. und
17. Jahrhundert die mystisch-theologischen Bindungen nie (auch
wenn sie nicht theistisch sind) aufgegeben werden. Hier, vor dem
schrecklichsten aller menschlichen Geheimnisse, ist — zur psycho-
logischen Charakterisierung des manieristischen Typus — einer der
entscheidenden Dualismen sichtbar geworden. Schon im Ergrif-
fenwerden wird das Instrumentarium ausgepackt, mit dem aus
dem Ergreifenden das absolut Ungewöhnliche, das Schock-Erzeu-
gende, das die Aufmerksamkeit Überwältigende herausseziert
wird - mit beobachtenden Augen — mitten in Greuel und Grauen.
Von 1540 bis 1660 und von 1850 bis 1950 gibt es eine Greuellite-
ratur, nicht nur im Zusammenhang mit Kriegen, die, besonders in
Frankreich und in England, allmählich jede auch nur ethische Be-
deutung verliert. Es handelt sich u m eine Kunst und Literatur der
Schreckenskabinette. Man darf— heute — von einem Vulgärmanie-
rismus des Massenzeitalters sprechen. Es geht in solchen Fällen
nichtum den Kampf gegen den Irr-Sinn des Kriegs. Es gehtum die
Inszenierung schauriger Effekte, die oft mit kaum noch verschlei-
erter Pornographie vermischt sind.
Wie einst in den aristokratischen Salons, so fing es jetzt in den
bürgerlichen Salons an. Alberto Martini (1 879—1954) gibt dafür -
im ersten Jugendstil-Surrealismus — mit seinem <Pöe-Kip-Frog>
ein Beispiel, zu dem ein kurzer Kommentar genügt. Die innere
Verlogenheit des Vulgärmanierismus wird hier entlarvt. Selbst der
Tod ist dekadent geworden. Welch ein Unterschied zu dem Vier-
Phasen-Tod, den Michelangelo im Wirbel des <Jüngsten Gerichts>
so schamhaft versteckt, fast naiv, aber gläubig, in eine einzige
Raumdimension hineinzwängen sollte! Den einzigen Begleittext
zu diesem protorypischen Werk der zeitgenössischen Nachahmer-
Manieristen scheint uns die <künstlerisch> so banale Fratze eines
Lebemannes geben zu wollen, die, säuberlich abgeschnitten, ne-
ben einem Likörglas auf einem preziösen Salontisch ruht. Wir wis-
sen es: abgedroschene Phrasen aus diesen bas-fonck aller Manieri-
sten, <säkularisiertes> Geschwätz zu dem einst so dramatisch ech-
ten Quartett von <Glanz, Göttlichkeit, Grauen, Verbrechern. Der
<saure Kitsch> (Egon Holthusen) entsteht. Ein Humanist des
16. Jahrhunderts nannte dies <sauren Rauch>. Im 20. Jahrhundert
ändert sich das Salon-Makabre des Bürgertums - nach zwei Welt-
kriegen, wenn auch die Grauenliteratur der literarischen und
künstlerischen Poseure weiterwuchert.
86
Fabrizio Clerici: Die große Beichte
von Palermo
Der Tod
b i l d e t eine <Geheimgesellschaft>
88
sität Grünewalds, wenn auch kühler und gewiß auch skurriler.
Ruinenlandschft, der Tod als Januskopf, die Fliehenden, die Rat-
ten das Atom-Bomben-Luftschutz-Gespenst der Zukunft mit dem
Kind vor der spiegelnden Vitrine, darin Graburne und Toten-
maske. Das Kind sieht sich im spiegelnden Glas als Totenkopf, und
daraufweist der Grünewald-Finger: das Schicksal der jungen Ge-
neration? Etwas Programmusik wohl, viel Talent, romantische
Phantasie, vor allem mehr <Angst> als <Neugier>. Doch mehr Hin-
ordnung auf die gespenstische Zukunft> als Gelassenheit im weis-
heitspendenden Wissen um das Vergangene. Anders noch der be-
kannte und umstrittene Entwurf Reg Butlers (England) für eine
Skulptur, Symbol für die in Vernichtungslagern des 20. Jahrhun-
derts Gestorbenen. Hier erhält das Antlitz des Todes eine neue
Würde: die Aura des Stolzes, für etwas gestorben zu sein, für die
Freiheit, für die Freiheit schlechthin, mit oder ohne Glauben, für
die Freiheit der Sterblichen.
9. D I E E N G E L S B U R G
91
Irreale Phantastik
Es wird einem in Wanderungen durch die Verliese der Engelsburg
nun allmählich klar, wie zahm die kühnsten Darbietungen der
<modernen> Kunst sind, wenn man dort der äußerst konkreten, ge-
genständlichem <Menschlichkeit> in den Schichtungen unseres
Schicksals begegnet, dort, in diesem uranischen Konzentrat euro-
päischen Glanzes und europäischen Elends. Denn es gibt in die-
sem historischen Labyrinth auch Glanz, Wärme, Anmut, Lieblich-
keit, Ausdruck der Sehnsucht nach Schönheit, Gleichgewicht
Freiheit, Morgenröte. Ausdruck aber auch der Verzweiflung, einer
irrealen Phantastik.
Es fängt in der Renaissance an. Die Päpste Alexander VI.
Pius III., Julius IL, Leo X., Hadrian VI., Clemens VII., Paul III.,
Julius III. und Paul IV. (alle von 1492 bis 155g) machen die Bure
zeitweise zu ihrer Residenz. Während in ganz Europa ein Sterben
von Millionen und in neuen großartigen Schöpfungen von weni-
gen sich das, was man <Neuzeit> nennt, vorbereitete, fühlten sich
die Oberhäupter der Kirche dort sicher und förderten von dort aus
Künstler und Dichter. Sie ließen sich über dem Rundbau Apparte-
ments, Wandelhallen und Loggien bauen. Die Todesburg wird zu
einer Stätte des Geistes, der Sehnsucht nach Schönheit. Von hier
aus konnte man Vatikan, Peterskirche, Rom beherrschen. Nach-
dem Rom sich vom Sacco di Roma erholt hat, wird das Kastell vor
allem unter Paul ffl. (1534-1549) immer kunstvoller ausge-
schmückt. Auch räumlich wird es zu einem <Labyrinth> von Prunk-
sälen, Bibliotheken, Schlafgemächern, Gerichtsräumen, Kerkern,
Theaterbühnen, Schatzkammern.
In dieser Burg entwickelte sich auch eine Kunst, die, wie gesagt,
manche Stilprobe des 20. Jahrhunderts vorwegnimmt. <Ausge-
ruhte> Klassik findet man dort kaum. Es herrscht das Experiment
vor, das ästhetisch Abstruse, das Gewollte und Gesuchte im Sinne
des Manierismus, das geistvoll Fragwürdige und das elegant Brü-
chige. Die <Grotesken>, die Wanddekorationen im Paolinischen
Saal, im Apollo-Saal, im Amor- und Psyche-Schlafgemach, sie vor
allem künden, diese so wenig beachteten damaligen <Surrealis-
men>, von der Tendenz, gleichsam <voraussetzungslos> das Wirre
und Verwirrte einer Epoche des Übergangs einzufangen. Pierin del
Vaga, Luzio Luzzi, Raffaelo da Montelupo, Giulio Romano, Ser-
moneta, Giovanni da Udine, Beccafumi, Tibaldi wirken nun in den
labyrinthischen Sälen, Gängen u n d Kammern des ehemaligen
Grabmals. Sie schmücken sie mit Motiven antiker <Grotesken> aus,
aber mit einer viel entfesselteren Phantasie. Auch hier herrscht vor:
die Tendenz, das Gegensätzliche zu vereinen und das Gegenständ-
liche nur noch als Ausdrucksmittel für paralogische Visionen zu
verwenden.
Ein faunisch-dadaistisches Ballett von verzwickten Mystifikatio-
nen entsteht. Man sieht in den Fresken und Grotesken der päpstli-
chen Räume Libellen mit Frauengesichtern, Männer mit Beinen
aus Blütenblättern, Frauen mit Brüsten in der Leistengegend, die
Picasso somnambulisch zuzuwinken scheinen, einen Buckligen
mit einem pompösen Phallus, einen Faun, der einer Unersättli-
chen den gleichen Gegenstand, den er sich, antiken Beispielen fol-
gend, amputiert hatte, freundlich in der ausgestreckten Hand
überreicht, damit sie ihm die Mühe abnehme, perspektivistische
Kunststücke, frenetisches Auflösen der Raumgesetze, Jungfrauen
mit einem Blumenkelchrock ohne Beine, erinnernd an die traum-
haftem Varieteplakate, die Breton so liebte, Gesichter mit Entset-
zen in den Augen und Lächeln auf den Lippen, Menschen halb aus
Pflanzen, halb aus Wasser, halb aus Erde wie die Urzeitgeschöpfe
von Max Ernst; alles entstanden aus dem leidenschaftlichen Trieb,
durch träumenden Geist das Grauen zu überwinden, es zu bannen,
wie im großartigsten Bilde des späten nordischen Manierismus, in
Rembrandts <Mann mit dem Goldhelm> und, auf dem Höhepunkt
der zeitgenössischen Kunst, in den gemalten paralogischen Meta-
phern Paul Klees, die sich allerdings von den vieldeutigen Irratio-
nalismen der Grabfestungs-Villa am Tiber unterscheiden: ihrer
abstrakten Reinheit wegen.
Grotesken
Dazu zunächst eine Reihe von Illustrationen. Die <Groteske> aus
den päpstlichen Appartements der Engelsburg hat noch etwas von
ihren hellenistischen und römisch-antiken Ursprüngen bewahrt.
Man erkennt also noch die Herkunft aus Raffaels Werkstatt, die
zur fruchtbaren Neuschöpferin der <Groteske> geworden war. Vor-
bilder dafür waren die antiken Ornamente in den <Grotten> des
<Goldenen Hauses> des Nero geworden. Raffael hat dort Studien
gemacht. Man nimmt an, daß diese antiken Arbeiten von Hand-
werkern aus Alexandrien angefertigt worden sind, also aus der
Stätte der ersten Phase des europäischen Manierismus. Griechi-
sche Anmut verbindet sich mit ägyptischen und (vielleicht) auch
mit indischen Motiven. Diese Kunst hat aber noch andere Ur-
sprünge. Die altrömische Grotten-Magie, denn um eine solche
handelt es sich, entstammt dem ägyptisch-kretischen Labyrinth-
kult. Dädalus war sehr wahrscheinlich ursprünglich der mythische
Bewohner einer riesigen, labyrinthischen Grotte, einer ähnlichen
Grotte, wie man sie heute noch in Apulien bei Castellana besichti-
gen kann. Schon die römisch-antike Arabeske (Grabmäler der Groteske Buchillustration von
Lobacco, i 558
Porta Latina) ist labyrinthisch. Darüber später. Nun aber zur Ciia^
rakteristik der (klassischen) Groteska^^DJe <Viktorien> der <Gro- X
teske I> wachsen aus kleinen Blumenkelchen hervor, es handelt
sich um libellenartige Gestalten ohne Schwere, um seiltänzerische
Figuren; sie schweben wie Bilder im Traum. Mischwesen sind es
aus Pflanzen, Tieren und Menschen, die sich in einer ständigen
Metamorphose befinden. Die Grenzen zwischen Pflanzen-. Tier-
und Menschenwelt sind aufgehoben. Diese Groteske ist von Gio-
vanni da Udine, der die Werkstatt Raffaels leitete, gemalt worden.
gend eine Art Mißgeburt mit dem Antlitz eines erwachsenen Man-
nes herab (Selbstporträt des Künstlers?), jedenfalls die Ausgeburt
einer <Imitazione fantastica>. Aus dem Mittelalter, aus dem Werke
des Hieronymus Bosch, ist man noch anderes gewöhnt, aber dieses
Gebilde hat mit der Welt einer durchaus deutbaren Symbolik
nichts zu tun. Es ist das Produkt eines imaginären Destillations-
prozesses, die Auspressung eines <Letzten> an Wahnsinnsvorstel-
lung neben dem Wappen eines Kaisers! Verhöhnung des Mannes, Emblem der Liebespein: Amor
der gegen seinen Willen den Sacco di Roma verschuldet hatte? Wir foltert und vernichtet I )m Concetto
glauben es nicht. Liebe zum Paradoxalen und zum Extremisti- dazu stammt MHI Seneca. Aus:
Heinsius. Aiederduytsi lu-
schen einer rein rationalen Phantasie, Spiel aber auch, Morbidität,
Poemata>. Amsterdam 1616
erste ästhetisch bewußte <Paranoia> ä la Dali, die hundert Jahre
später E. Tesauro Dichtern empfiehlt: <Die Irren (i matti) sind be-
sonders dazu befähigt, in ihrer Phantasie schillernde Metaphern
und scharfsinnige Symbole zu schaffen: genaugenommen ist der
Wahnsinn nichts anderes als die Fähigkeit, eine Sache in eine
andere zu verwandeln. Die subtilsten Genien, die Dichter und
Mathematiker neigen am stärksten zum Irreseins Und wieder der
unerschöpfliche Tesauro: Er nennt solche Gebilde <corpi naturali
chimericamente accoppiatb, d.h. natürliche Körper auf chimäri- 5
o.e. p. 18. Bei dieser \rt von Kin-
sche Weise miteinander verbunden. Wir begegnen also wieder blematik handelt es sieb meist um
Wappen-Symbole. Der Eranzötitt he
einem der wichtigsten manieristischen Grundsätze: <Das Entfern- Dichter Guillaume Apollinaire, der
teste miteinander verbinden.) Tesauro gibt aus der Emblematik bedeutende Vnregei dei heutigen
Beispiele: <Ein Krebs, der nach einem Schmetterling greifb. <ein alogischen Metaphern- Vssoziatio-
nen in der Lyrik, war ein Fachmann
Skorpion, der den Mond umarmt). 5 der Heraldik.
<Zauberstücke>
Die Engelsburg ist ein europäisches Gleichnis für das, was Thomas
Mann <placet experiri> nannte. Kunst? Schönheit? Die extremisti-
schen Versuche dienen der Bewußtseinserweiterung, der Be-
reicherung der Ausdrucksmöglichkeiten. Die Fixierung des Häßli-
chen richtet sich nicht gegen die Schönheit. Sie soll dazu verhelfen,
der klassischen Schönheit der idealisierten Natur eine neue gei-
stige Tiefendimension zu verleihen und sie durch die Verwendung
neuer Formen in einer anderen Perspektive sehen zu lassen. Es ~Wr^C
gibt aber auch eine Schönheit des Experiments. Man findet sie auch *-A-B|HI
in der Engelsburg in den Fresken Pierin del Vagas und Tibaldis,
oder in der Cancelleria in den Fresken Vasaris, wenn es auch keine Paul Klee: Seniler Phönix
<Gipfel> mehr sind, ebensowenig wie Marino gegenüber Dante ei-
ner ist. Der experimentelle Übergangscharakter dieser Modernität
ist augenfällig. Das <Schöne> bleibt Ziel, aber es enthält neue Attri-
bute (im Experiment), fast als wolle man seine transzendentale
Würde <vermenschlichen>, <relativieren>. Die Schönheit wird in
die magische Umwelt eines komplizierten Raumillusionismus
gestellt. Sie soll vor diesen Hintergründen nun selbst wie eine er-
staunliche meraviglia wirken. Die <numinose> Schönheit, ihronto-
logischer Charakter, im klassischen Sinn, wird zu einer phänome-
nalem Schönheit im psychologistisch-manieristischen Sinne. Sie
ist nicht mehr Ausdruck des Kosmischen, sie ist Teil einer
magischen Wunderlandschaft, in deren Rätsel der <pantheistische>
Gottfried Müller: Phantastereien
Gott Giordano Brunos sich verschleiert zu erkennen geben könnte.
und Knorpelwesen der
Die beiden Fresken von Tibaldi und Vasari bringen dafür ein Spätn-naissance
neues Element: die Illusionsperspektive.' Man sieht dies deutlich
auf der Teilaufnahme einer von Tibaldi ausgemalten Wand in der
^ngelsburg. Die männliche Figur (Körperillusion), wahrscheinlich
siehe Farbabbildungen 11 und 1 •
ulvio Orsini, wird im Rahmen einer Pseudo-Tür (Raumillusion)
sichtbar. Sie wird in eine Pseudo-Realität hineingemalt, kommt
aus einem vorgetäuschten Zimmer (Tiefenillusion) hervor und be-
wegt sich, imaginär, anscheinend und <scheinbar> auf den wirkli-
97
chen Saalraum zu. Ähnliche Illusionsspiele findet man auch in
den Fresken des Palazzo del Te (Mantua) von Giulio Romano
(1499-1546), ebenfalls einem Schüler Raffaels. Diese illusionisti-
sche Malerei und Reliefkunst trat in der römischen Spätantike auf.
Aufgegriffen wurde sie zum ersten Mal wieder von Mantegna
(1431-1506) bei der Ausmalung der <Camera degli Sposi> im
Schloß von Mantua. Auch die anderen <Großen Konstrukteure)
und <Perspektiv-Meister> des frühen Quattrocento, Masaccio
(1401-1428), Paolo Uccello (1400-1475), Piero della Francesca
(1420-1492), allesamt von den Surrealisten des 20. Jahrhunderts
oft als vorbildlich zitiert, liefern den Manieristen Roms <Modelle>.
Illusionsspiele und Perspektiv-Künste beherrschen später den Ba-
rock im Sinne eines raumsprengenden Prunkstils. Auch in der ma-
nieristischen Architektur, selbst im Straßenbau (Treppen!) wird
7
1625. zehn Jahre vor Borromonis dieser <Raumflucht>-Trick zu einer neuen M o d e / Hoffmann hebt
Galerie, veröffentlicht P. Accohi in
Florenz eine Schrift mit dem be-
u.a. folgende Merkmale für die Architektur hervor: <Ungleiche
zeichnenden Titel: (Lo Inganno Verteilung der Fensterachsen, willkürliche Dehnung und Strek-
degli occhi. Prospettiva practica),
kung der Fassadenfläche.> Die Mittelachse <schießt> ohne be-
1658 J.F. Niceron seine berühmte
< Perspective Curieuse>. stimmtes Ziel in die Ferne. Diese architektonische Raumflucht
wird auch auf die Malerei übertragen. Gelegentlich führt dies
schon damals zu einem ganzen System von malerischen Wahn-
Beziehungen, wie z.B. in einem Teilstück des Deckengemäldes des
klementinischen Saales (Vatikan) von Taddeo Zuccari und Gio-
vanni Alberti. Illusionsästhetik wird zu einem <Perspektivismus>.
Der schon verschiedentlich zitierte Theoretiker des literarischen
Manierismus, Emanuele Tesauro, gibt dafür (vgl. Einleitung) ein
Beispiel. Er empfiehlt die berühmte Säulengalerie im römischen
Palazzo Spada und meint, man solle auch schreibend perspektivi-
sche Durchblicke) schaffen; solche findet man bekanntlich zu Dut-
zenden im großen Romanwerk von Marcel Proust. Borromini er-
richtete viel später als die Manieristen unter den Raffael-Schülern,
d.h. 1655, immerhin 19 Jahre vor der Erstausgabe des <Canno-
chiale Aristotelico> von Tesauro, für den Kardinal Bernardini
Spada in einem Seitenhof des gleichnamigen Palazzo, unweit vom
Palazzo Farnese, dieses architektonische Zauberstück> der per-
spektivischen Kolonnade. Wenn der Betrachter durch eine Tür den
Hof betritt, soll für ihn der Eindruck erweckt werden, daß eine
wenige Meter entfernte Säulengalerie sehr lang sei. In der Ferne
lockt eine mannshoch erscheinende Statue als <point de vue>. Die-
sen Eindruck hat zunächst jeder Betrachter. Dann tritt man näher
und stellt fest, daß man einem inganno zum Opfer gefallen ist. Auf
leicht ansteigendem Gelände erniedrigen sich die Stützen, der acht
Meter lange Gang verjüngt sich wie ein altmodischer Photoapparat
(Eingang 5,8 m, Ende 2,45 m). Man erkennt, daß die Statue-eine
Putte — nur puppenhoch ist. Ein Meraviglia-Stück beschleunigter
Perspektive, nicht nur ein Scherz, ein Wunderkabinett-Stück, eins
der Perspektivspiele, die man schon früher in der anamorphoti-
schen Kunst so oft findet und die später - Photographen im Freien
— so populär werden.
Gespenstisch erscheint auf einer Gravüre des 17. Jahrhunderts
die Engelsburg im Feuerschein der damals so beliebten <magi-
schen> Pyrotechnik. Sie wirkt so als Illustration zu einer <Magia
universalis). <Feuerwerk> ist die sublimste Übertreibungs-Gebärde
manieristischer Rhetorik. Kircher nennt die pyrotechnische Kunst
daher auch <ars parabolica>. In den Explosionen des Lichts löst sich
der Raum vollends auf, das Kastell wird zu einer flüchtigen, immer
wieder unterbrochenen Vision in kurz alternierenden Licht-<Zeit-
98 räumen>. Das alles wußte man, es wurde berechnet. Kircher ent-
Francesco Borromini; Siulengalerie
im Palazzo S|i,tiia
99
io. U H R ALS A U G E
DER Z E I T
Manieristische Kunstgriffe
Solche <dämonischen> Illusionsphantasmen tauchen immer wie-
mSfh
der auf. Wir finden sie im Rom unsrer Tage, z.B. auf einem Bilde
Trevisans, <Die Spanische Treppe>. Der Palazzo Zuccari, der stolze
Herrensitz unseres Traktatisten der <Imitazione fantastica>, brennt
jetzt, mehr als 300 Jahre nach dem Tode seines Erbauers, lichter-
^(^" loh. Dämonische Fratzen bedrohen die elegante, weltstädtische
Treppe unterhalb des hieroglyphisch-<mysteriösen> Obelisks von
•:•:•• Sallust, einer römischen Imitation des Obelisks von Ramses dem
Deutsehe Großen. Gewiß keine <schöne> Rom-Vedute! Hier spiegelt sich die
FUNKAUSSTELLON ] von Vasari so getadelte maniera tedesca wider, diese für romani-
Dusssldorf 18 2 7 * u y 1950 sche Klassizisten so <vertrackte> Dämonisierung der Natur im Be-
Bbr
wußtsein seines <surrealistischen> Zeitgenossen. Und doch hat
W.Bergmann: Werbeplakat auch dieses Bild seinen Sinn. Vielen Römern erscheint Rom, das
<klassische> Bild der <Ewigen Stadt>, heute so gefährdet wie zur
Zeit des Sacco diRoma. An der Peripherie, außerhalb der Mauern,
entstehen nicht nur trostlos häßliche Stadtteile. Auch im Kern der
Urbs zersetzen Bauspekulation, Massenbetrieb, Technik, Motori-
sierung, Gewissenlosigkeit die jupiterhaft großartigen Züge der
IOO
Jacques Callot:
Das wachsame Auge
antiken Urbs und der Päpstestadt von 1450 bis 1650. Dies ist im
Bilde Trevisans ausgedrückt, manieristisch-expressionistisch, lite-
rarisch und künstlerisch in fragwürdiger Weise, aber... die Zeit
Corots und Kochs liegt hinter uns. Hier soll jedoch keine Kunstkri-
tik getrieben noch für eine <Weltanschauung> plädiert, sondern
nur versucht werden, Phänomene aufzuzeigen. Auffallend sind in
dieser Hinsicht die beiden Türme von Trinitä dei Monti. Einer der
Türme hat eine Uhr mit einem Stundenzeiger, der andere eine
(heute verblichene) Sonnenuhr. Auf Trevisans Bild ist die alte Son-
nenuhr durch ein Auge ersetzt. Das ist ein echter, ausgezeichneter
manieristischer Kunstgriff. Für unsere Darstellung legt dies außer-
dem andere Zusammenhänge bloß. Während unserer Forschun-
gen fiel es uns immer wieder auf, welche Rolle das Auge, und zwar Aus Mario Betünis iApiaria>: Das
Auge des Kardinals Colonna
das einzelne Auge, sowie die Zeit bzw. die Uhr in der manieristi-
schen Kunst damals und heute spielen. Wie der Raum faszinierte,
so die Zeit.
Wenn gewisse manieristische Techniken, so vor allem die Illu-
sionsperspektive, raumvernichtend sind, so erfolgt diese Ver-
Nichtung im Auge und durch das Auge sowie in einem getäuschten 8
Insgesamt 21 solcher '(jrundsätze.
Zeitgefühl. Nicht die Augen, sondern der Blick, symbolisiert durch Techniken und Mittel- führt Barr an.
das Auge, richtet sich als Symbol des <inneren> Blickpunkts faszi- Als heuretische Hilfsmittel wie alle
dieser Art etwas zu schematisch. Sie
niert auf eine labil gewordene Welt der Vergänglichkeit, Wandel- treffen aber für fast alle •Manieris-
barkeit, die ihrerseits im Bilde der Uhr, der zahllosen abstrusen, men- zu. 1. Einfaches. Zusammen-
gesetzes Bild: 2. Doppelbild: 3. ko-
manienstischen Uhren dieser Zeit gesehen wird. Für das <isolierte>, operatives Werk (von mehreren
das einzelne Auge findet man in der Kunstgeschichte viele Beispiele Künstlernl; 4. Phantastische Per-
spektive: 3. Belebung des Unbeseel-
Um Mittelalter <Das Auge Gottes>), erst recht aber in der manieri-
s lscne
ten; 6. Metamorphose: -Isolierung
n Zeit und in der gegenwärtigen Kunst. Interessant ist dazu anatomischer Fragmente: 8.Verei-
eine <Liste der Grundsätze, Techniken und Mitteb der zeitgenössi- nigung des Inkohärenten: 9. Wun-
der und Anomalien: 10. Organische
schen modernen Kunst von Alfred H. Barr jr. Als typisch für die Abstraktionen: 11. Phantastische
moderne Kunst bezeichnet er <die Isolierung anatomischer Frag- Konstruktionen: 12. Traumbilder:
13. Schöpfung des «evokativen
mente). Zu unserem Thema: <Auge und Uhr> aber, in dem Sinne Chaos>: 14. Automatisches und
namlich, als - durch die Illusionsperspektive - nicht nur der Raum quasi-automatisches Zeichnen und
Malen: 15. Zufallskompositionen:
im Auge und durch das Auge vernichtet, sondern auch das Zeitge- 16. Frotlage: 1-. Collage: 18. Kom-
getauscht wird, eine <Komposition> von Man Ray. Hier wird bination wirklicher und gemalter
ln Dinge; ig.<Ready-made>: »o.«Kor-
Zeitmesser, ein <Metronom>, mit einer Heftklammer einem rigiertes Ready-made>: 2i.üadaisti-
mzelnen Auge verbunden. Sollte dies an <Paranoia> grenzen, so sche und surrealistische Gegen-
stände.
entalls an eine <traditionelle> Paranoia in der europäischen
Kunst. Aber diese <Komposition> von Man Ray wird für uns auf-
schlußreicher, wenn wir uns ihren <Titel> vergegenwärtigen. Sie
heißt nämlich: <Gegenstand der Zerstörung). Was ist daraus abzu-
leiten? Das Auge erlebt fasziniert die <Zerstörung> des Raums
durch die in ihm wirkende Zeit, und die Zeit <schlägt> ihre Rhyth-
men, unabhängig vom Standpunkt des betrachtenden Auges. Das
hat mit der physikalischen Relativitätstheorie gar nichts zu tun
sondern mit der <Einstellung> eines sensiblen, sehr subjektiven Be-
obachters, der die labile Zugeordnetheit aller Dinge zu erkennen
beginnt, unter den Oberbegriffen von Raum (Auge) und Zeit (Uhr).
Also: der (subjektive) Blick ist ein <Gegenstand der Zerstörung>,
d.h. er kann den Raum verändern wie er will. <Augen braucht man
sogar an den Augen selbst), schreibt B. Gracian. <Augen, zu
schauen, wie sie schauen.> Das Leben ist für ihn <ein Zollamt der
Zeit>. Ebenso ist die Uhr bzw. die Zeit ein Gegenstand der Zerstö-
rung, denn sie, die Zeit, zerstört außerdem ohnehin alles — durch
«-V ';"-' ihren bloßen Ablauf: die Jugend wird Alter, das Glück Unglück,
Man Ray: Gegenstand der die Macht Schwäche usw. Mit dem Entstehen des Raumillusionis-
Zerstörung mus beginnt in der manieristischen Kunst die Halluzination durch
die Zeit, die auch im Barock so auffallend ist, in der Kunst wie in
der Literatur.
Meraviglia- Uhren
Es ist für die bildende Kunst leichter, Raumperspektiven als Spiel
einer (ganz natürlich) relativierenden Phantasie erscheinen zu las-
sen. Die anamorphotischen Experimente dieser Zeit von Ehard
Schön bis zu Niceron u.a. (darüber später) beweisen es zur Ge-
nüge. Für die bildende Kunst, selbst einer solchen surrealer Art, ist
es, ihrer Raumbezogenheit wegen, schwierig, einen Zeitillusionis-
mus darzustellen, sofern es sich nicht um bloße Allegorien oder
Symbole handelt (Vanitas, Reue, Alter, Jahreszeiten usw.). Daher
die Bedeutung der Uhr, die als kunstvolleres und komplizierteres
Gebilde ja in der manieristischen Zeit der Spätrenaissance ge-
schaffen wurde. Die manieristische Zeitproblematik finden wir
daher in der kunstvollen Uhrenherstellung, in den Uhrendarstel-
lungen und in der manieristischen Literatur, die damals genau so
besessen von der <Zeit> war wie die heutige. Bessere und vollkom-
menere Uhren, die man gerade damals baute, wurden als sensatio-
nelle meraviglien empfunden. Kaiser, Fürsten und Prinzessinnen
sammelten sie. Rudolf IL, dessen Hof nach Rom zum dritten Mit-
telpunkt des europäischen Manierismus wurde, war der leiden-
Künstliche Wasseruhr, aus
schaftlichste Uhrensammler im damaligen Europa. Er hatte eine
Georg Philipp Harsdörffers
<Erquickstunden> Reihe von Hof-Uhrmachern als feste <Reichs-Angestellte>, so Ge-
org Schneeberger und Jobst Burgi, den Erfinder der Pendeluhr,
einen Freund Keplers. Die vielen Wunderuhren dieser Zeit bilden
eines der interessantesten Kapitel zur Kulturgeschichte des Manie-
rismus. Wahrscheinlich stellte der Nürnberger Schlosser Peter
Henlein (1480—1542, fast die gleiche Lebenszeit wie Pontormo!)
die ersten Taschenuhren mit Federn her. Die Sekunde wird zum
<Zeit-Atom>, einem <räumlichen> Begriff. Lukrez, der <Atomist>
der Antike, erlebt, wie kaum ein anderer antiker Schriftsteller au-
ßer Piaton, seine Auferstehung im 16. Jahrhundert. Wie das Fünf-
eck das Zeichen der Pythagoreer ist oder der Stirnfleck das Zeichen
der Buddhisten, so die Uhr das Zeichen, die <Kennmarke> der Ma-
102 nieristen. Beispiele: Am Anfang des 17. Jahrhunderts entwirft
Atlianasius Kircher: Orolopum
phanlasticum
IO4
richtende P e n d e l , der 54 (!) M i n u t e n vor Mitternacht (Neun -
Q u e r s u m m e von 5 4 — ist eine astrologische kabbalistische Todes-
ziffer) auf die winzige m e n s c h l i c h e Kreatur im linken Bildrand
(unten) ausschlägt wie ein Henkersbeil. Doch das wahrhaft Ge-
niale an diesem so <stillen> Bild ist dies: der mit den kärgsten Mit-
teln angedeutete M e n s c h blickt aus diesem Wettkampf zwischen
Raum u n d Zeit h i n a u s — in eine dunkle, eigene — beide überwin-
dende — T r a u m n a c h t . H i e r wird der <Manierismus> nach und bei so
vielen E x p e r i m e n t e n P o e s i e , uralte, Zeit und Raum überwin-
dende, <märchenhafte> Schönheit. In solchen Fällen von Vollkom-
menheit b e r ü h r t sich d e r M a n i e r i s m u s mit der Vollkommenheit
der Klassik, der völligen Ü b e r e i n s t i m m u n g von Sein und Werden.
Hat die m o d e r n e Dichtung je diese <Einheit von Form und Inhalb
erreicht? D a s ist schwer zu sagen. Hier sind einige Beispiele aus der Marc Chagall. D i e l bi
heutigen e u r o p ä i s c h e n L i t e r a t u r . D e r Leser m a g bessere finden.
Gestundete Zeit>
In seinem B u c h <Die Sanduhr> schreibt Maurice Maeterlinck Be-
trachtungen ü b e r d e n Tod. Philippe Soupault, einer der Besten un-
ter den <Radikalen> F r a n k r e i c h s , überrascht uns mit ultramanieri-
stischen U h r e n - V e r s e n : <Meine G e d a n k e n sind wie tanzende
Mikroben auf m e i n e r G e h i r n h a u t / nach dem Rhythmus der atem-
beraubenden Uhr.> Gottfried Benn: <.. .Totenuhren pochen, bald
wird es sein / N a c h t u n d Lemuren.> D e r litauische Dichter Jurgis
Baltrusaitis (1873 — 1943), Vater des Deuters der <Anamorphose>-
Künste, J. Baltrusaitis, schreibt ein Gedicht über die <Sanduhr>
ganz relativistisch: <Der d ü n n e Sandfaden k a n n unseren Schmerz
nicht kürzer u n d e i n e n s ü ß e n Augenblick nicht länger machen.>
Dylan T h o m a s h a t eine ganze Reihe von Gedichten in der Bildform
von S a n d u h r e n (Figurengedicht) geschrieben. Zur neuen Lyrik
Deutschlands: I n g e b o r g B a c h m a n n gibt ihrem ersten Gedichtband
den Titel <Gestundete Zefb. W a r u m ? Der Schlußvers des gleich-
namigen Gedichts i m W i e n - P r a g e r Barockstil um 1600 sagt es: <Es
k o m m e n h ä r t e r e Tage.> Dichterisch reifer, überzeugender blüht
der begrifflich so d ü r r e R a u m - Z e i t - A n t a g o n i s m u s auf in einem der
schönsten Verse dieser Dichterin: <Umgreift die Zeiten, schleudert
sie ins Heute.> 9 G e s u c h t e r , neomanieristischer wirkt Johannes " -Brief in zwei Fassungen>. liy. <An-
Poethen (<Risse des Himmels>, 1956): <Meinen Himmel habe ich rufuiif; <U-^ Großen Bären», Mün-
chen 1955. Unter«- bibliographi-
verloren / er fiel in die Schlucht der U h r / zwei Zeiger drehn sein sche Daten zur Literatur vgl j,,,,-r .,-
Gesicht.> D a n n n o c h : <Schleier der U h r / über den Rissen des Him- turband.
mels), u n d schließlich (über Athen): <Die untere Stadt / treibt mit
dem Motor der U h r / eine Sphinx aus Chrom / vorbei an der
Kelchwand des Mohns.>
Zufälle? D a s Vorwort einer der neuesten deutschen Lyrik-An-
thologien der <Jahrhundertmitte> fängt mit einem Hymnus auf
eine b e s t i m m t e U h r an (von H ö h e r e r ) , der aufschlußreicher ist, als
zahlreiche m a n i e r i s t i s c h - n a c h a h m e n d e <Gedichte> in dieser doku-
mentarisch allerdings interessanten Anthologie deutscher Lyrik
nach 1950. Gleich anfangs h e i ß t es: <Auf d e m Pincio in Rom steht
eine Uhr, d e r e n R ä d e r w e r k vom Wasser getrieben wird. Ringsum
bewegt sich, i m m e r n e u , das Spiel der römischen A b e n d e . . . Und
dies, ein M e e r von Augenblicken, bewegt sich vor dem Geräusch
des W a s s e r p u m p w e r k s , das m ü h s a m die Stete der Zeigerbewe-
gung aufrecht erhält. In diesem M o m e n t w u r d e die Imaginations-
kraft des Augenblicks offenbar, zeigte sich, im Nachdenken, wie IO5
viele moderne Gedichte aus der Faszination des Augenblicks und
des Nebeneinander der Augen -blicke geboren sind, der kleinsten
Erlebniseinheit, deren Funke ungetrübt blieb, die Einzelnes
scharfrandig herausschneidet aus dem Allzuvielen, es aneinander -
setzt, mit Klüften der Fremdheit dazwischen.> Diese Sätze gehö-
ren, was Mischung von logischer Diktion und alogischer Phantasie
angeht, zu den bemerkenswertesten Selbstanalysen einer Über-
gangssituation. In der Intensität einer solchen <Idea> leuchten Tra-
ditionen auf— auch im Nichtakademistischen. Auge und U h r - Uhr
und Auge blicken, getrennt und entfremdet, im Erlebnis eines jün-
geren deutschen Dichters auf dem römischen Pincio wie in Trevi-
sans zeitgenössischer Vedute des Spanischen Platzes die Welt wie-
der an. Ein italienischer Marino-Schüler, einer der Hypermanieri-
sten und -marinisten des 17. Jahrhunderts, Giacomo Lubrano
(1619—1692), hat in einem Sonett ebenfalls den <seltsamen> onto-
logischen Kurzschluß einer Interferenz von Raum und Zeit ange-
sichts eines solchen <artifiziellen> Wasser-Uhr-Gebildes empfun-
den. Sein Gedicht heißt: <Oriuolo ad Acqua> (Wasseruhr). Höllerer
schreibt: < Imaginationskraft des Augenblicks>; Lubrano: <Minutis-
sime gocciole d'istantb (<Winzige Tropfen des Augenblicks)). <Ci-
fra di fughe> (<Chiffre der Flucht>), aber Lubrano endet: <Agonie
unter Glas>. (Die Pincio-Wasser-Uhr bewegt sich in einem Glasge-
häuse.) In einem eigenen Gedicht über den Tod (<Der lag beson-
ders mühelos am Rand>) zitiert Höllerer Verse Garcia Lorcas und
kommentiert preziös-selbstbewußt: <Das Bedeutende hat immer
einen letzten metallischen Gehalt von Tod.> Hugo Ball schrieb in
<Flucht aus der Zeit> (1946): <Die Normaluhr einer abstrakten
Epoche ist explodiert.)
Dem <klassischen> Akademismus entspricht ein <manieristi-
scher>. Zur Ätiologie der zeitgenössischen Erkrankungen ist die
Erkenntnis notwendig, daß <Esoterismus> (Ausdruck eines Uber-
rationalismus) und <Manierismus> (Ausdruck einer Desintegra-
tion) ebenso legitim sind, ebenso zu den Urfunktionen der
Menschheit gehören wie <Akademismus> (Ausdruck eines Ratio-
nalismus) und Klassizismus (Ausdruck einer Integration), sofern
nicht eines entsteht: die in der Gegenwart vielfach so bedrückende
Kopierung des Modernen innerhalb des Modernen durch die ver-
meintlich Modernen. Ein berühmter deutscher Physiker sprach in
solchen Fällen von einer Gesellschaft für unverdauten Käse>. Sol-
che bloßen Abschriften, in denen weder einer Persönlichkeit noch
ein Können Sichtbarwerden, sind künstlerisch viel dürftiger als die
manieristisch-akademischen Stilgewohnheiten der damaligen
Concettisten in Literatur und Kunst, ja meist sogar belangloser als
die sogenannte Nachahmung der <Natur> oder der <Antike> seitens
der Realisten und Klassizisten.
106
ii. K Ü N S T L I C H E NATUR
sen Haupt balanciert, ein Elefant, geführt von einem Neger, der
einen römischen Legionär im gerollten Rüssel erstickt, eine gewal-
tige Schildkröte u. a.m., mit einem Wort: manieristischer Synkre-_^
tismus. Der Schöpfer dieser artifiziellen Wunder-Natur? Sehr
wahrscheinlich der Florentiner Bartolomeo Ammanati: auf Grund
literarischer Vorlagen von Bernardo Tasso, dem Vater Torquatos.
Im Jahre 1560 veröffentlichte B. Tasso ein Versepos <Amadigi>.
Darin findet man einen <Zauberwald>, den der Held durchwan-
dern muß, allen möglichen Schrecken und Verführungen be-
gegnend, bis er - dank seiner stoischen Widerstandskraft - im
Ruhmestempel anlangt. Auch in der (späteren) <Gerusalemme
Eiberata> von Torquato Tasso findet man einen <Zauberwald> mit
täuschenden Phantasmen), <gigantischen Monstrem, mitFrauen-
nguren, <die sich verwandeln wie im Traum>. Doch welche auch
immer die Vorlagen sind, Würfel mit vielen Meraviglia-Punkten
werden hingeworfen: aus dem Zufall entsteht eine Welt, der <Coup
de Des> Mallarmes im <gigantesken Spieb.
Vielleicht war der europäische Geist damals, über alle Kriege
und Umwälzungen aller Art hinaus, in seinen Spitzen einig und
vereint in einem: im intellektuell-abstrus-mystischen Spiel, in ei-
ner Art aristokratischer Verachtung alles leicht Überschaubaren,
begreiflichen und Begrifflichen, in einer fast bösen, zumindest
mutwilligen Verachtung des <Normalen>. Doch das ist nur ein äu-
berer Aspekt des Sacro Bosco von Bomarzo. Wir werden später auf
andere Aspekte kommen. Vorerst die Erscheinungen selbst: Ein-
zigartigkeit! Unverel eichbarkeit! Man hat im Park von Bomarzo
eine andere Inschrift gefunden. Sie heißt: Er (der Park) <der nur
S1
ch und keinem anderen gleicht). Eine Formel des manieristi-
schen Subjektivismus, des besessenen Strebens nach Distanz und
Unterscheidung. Daher die <Verdrehtheit> aller Wege und archi-
tektonischen Gesetze. Welche Wirkung löst <Einzigartigkeit> aus, 109
und wenn sie abnormal wäre? Verblüffung, Erstaunen. Eine wei-
tere Inschrift im Park besagt, man werde <cose stupendo, verblüf-
fendem Dingen begegnen. Man weiß: <Stupore> ist das ästhetische
Ziel der manieristischen Dichtung.
<Stupeur> (Schock) ist die Wirkung, die alle Surrealisten vor-
zugsweise erreichen wollen. Nur als Reizmittel äußerer Art? Es
wäre zu einfach, sich mit derart psychologischen Erklärungen zu
begnügen. Das Fasziniert-Sein vom Mysterium der Dinge, der
Steine, Pflanzen, Tiere, Menschen und Gestirne überwiegt bei den
Schöpferischen. Die üppige Schar der nianieristischen Nachahmer
kopiert genau so wie die ebenso fette Schar der Klassizisten. Jakob
Böhme suchte die <Adamische Sprache>, die Urkombination von
Wörtern, in welcher der göttliche Logos sich unmittelbar aus-
drückt. Der Schöpfer von Bomarzo ist viel weniger grüblerisch;
aber er wollte doch auch ein Mysterium darstellen: die <Erschütte-
rung>, die man vor dem Ungewöhnlichen, vor dem ganz und gar
Andersartigen, vor dem Zusammenfall des Gegensätzlichen, vor
der plötzlich harmonisierenden Wirkung des Abstrusen, ja des
schlechten Geschmacks> spürt. Was hat der unbekannte <Corbu-
sier> von Bomarzo erreichen wollen? Dieser Kunstgriff, der <Ver-
blüffung> erzeugen will, ist von einem stärkeren als von einem nur
gauklerisch vordergründigem Effektstreben bestimmt: Es soll das
<Gegensätzliche> der Erscheinungen im Erlebnis des verblüfftem
Erschreckens überwunden werden. Die <Coincidentia opposi-
torurm, ontologische Magie des moselländischen Nikolaus von
Kues, wird in dieser nicht über-, sondern andersweltlichen Welt
schizophrener Phantasmen ein Ereignis des <Spleens>; Magie, sä-
kularisierte Mystik, Spleen und Dandyismus verbinden sich, von
introvertierter Erotik nicht zu reden. Der Ort galt den Bauern jahr-
hundertelang als eine Teufelslandschaft sexueller Orgien. Außer-
dem will man gewiß das Unverständliche in <Bild-Formeln> zu-
Monstren
In einem Buch über Max Ernst heißt es: <Wenn Ungeheuer existie-
ren, liegt es bei ihnen, uns von der Wirklichkeit ihrer Gegenwart zu
überzeugen.) <Monstren sind in der Kunst wieder erschienen - sie
sind nicht mit Zerrbildern zu verwechseln, sondern sind grauenhaß
existent, im Gegensatz zu dem archetypen Charakter der mytholo-
gischen Monstren.) Das gilt auch für die Literatur von damals und
'' cf. Jean Bodins (1596 gestorben) heute." Wir werden an Kafkas <Verwandlung> erinnert. Monstren
Werk: <Demonomarüe> (1580). von
Fischart schon 1581 ins Deutsche sind gewaltige Disharmonien, <Tumulte mächtiger Dis-korde>, die
übersetzt. Es wurde in ganz Europa im manieristischen Theater um 1600 geradezu schrill tonen, so m
sofort ebenso berühmt wie berüch-
tigt, weil es zeitweise zu einem juri-
Shakespeares <König Lear>, diesem Drama monströser Exzesse.
stischen Kodex der Hexenprozesse Über die Vorliebe für Monstren und Monstrositäten in der franzö-
wurde (später allerdings von Six-
tus V. auf den Index gesetzt). Durch
sischen und englischen Literatur des 19. Jahrhunderts findet man
die Torturen, die Bodin empfahl, um in <La Carne, la Morte e il Diavolo> von Mario Praz zahllose und
die <Dämonen> zum Bekenntnis zu V
buchstäblich erschreckende Beispiele. Das paranoische Element
zwingen, wurden Tausende harm-
lose Menschen verdächtigt. Man im Manierismus aller Zeiten sucht im Monstrum und im Monströ-
konnte sich .Katastrophen) der Ge- sen eine ins Riesige projizierte Verkörperung des Deformierten.
schichte meist nur aus dem Wirken
von <Dämonen> erklären. Doch Bo- Wieder wirken hier abenteuerliche Berichte nach über ein phanta-
din, der auch nüchterne rechtswis- stisches Sagen-Indien, Dämonenschilderungen aus der weitver-
senschaftliche Schriften schrieb und
einmal selbst wegen Freigeisterei breiteten hebräischen religiösen Literatur, vielfach verdrängte
auf der Anklagebank saß. befindet Erinnerungen an Kinderbücher, in denen Herodot noch spukt,
sich schon in e i n e r - typischen - w i -
derspruchsvollen L'bergangssitua-
überhaupt literarisch transformierte Kindheitserinnerungen. Der
tion. Eine Fundgrube für <Dämo- <Infantilismus> gewisser Manierismen, die Bückführung entschei-
nen>-Geständnisse und Dämonen-
dender geistiger Konstellationen auf primitive Kindheitserlebnisse
Figuren u.a. auch: Martin del Rios
«Disquisitiones maleficarum> im in Kunst und Literatur, findet in dieser Welt der Ungeheuer und
Jahre 1609. zeitlicher Höhepunkt Mißgestalteten seine geliebte prälogische Landschaft. Im Manie-
des damaligen Manierismus in sei-
ner mittleren Phase. rismus dieses Typus wird die zarte, hübsche, lichte Fee immer
wieder von Drachen überwunden. Neuerdings hat Dali im urwelt-
haften Nashorn den Archetypus für alle modernen <Formen>
gefunden, insbesondere in der massiven Hinterpartie dieses höchst
'-' cf. Rede Salvador Dalis in der Pa- uneleganten, <geschmacklosen> Tieres. 12 Alles, was gegen den <gu-
riser Sorbonne am 17. 11. 1955.
ten Geschmack) geht, erscheint in manchen manieristischen Pro-
grammen modern legitim, während der <gute> Geschmack als an-
stokratisch-bürgerlich-klassizistisch gilt. Das Monstrum ist auch
1 12 das Gegenbild des bongoüt. Es ist eine kitschig-schöne Schöpfung
der <magischen> Natur. Das Nashorn-Monstrum wird für Dali zum
Symbol der irrationalen Natur überhaupt, speziell das Hörn, für
die Sekte der Anti-Bürger, der Anti-Idealisten, kurzum der <Antis>
schlechthin.
Es liegt nahe, daß solche Aussagen die Psychiatrie mehr interes-
sieren werden als die Kunstästhetik. Wir überblicken aber eine
Motivkette in der Kunstgeschichte, und sie kann dazu beitragen,
unser Verständnis für manieristische Ikonographie zu erweitern.
Berühmte Psychiater Frankreichs haben diese infantilistische
Monstre-Kategorie mit ihren Mitteln untersucht. Sie selbst warnen
vor einer zu einfachen Identifikation <Schizophrenie> - Kunst die-
ser Art. Schizophrene <Psychosen> werden ohne weiteres zugege-
ben, <echte> Schizophrenie wird ausgeschlossen. Den malerischen
Produkten, den Monstren wirklich Wahnsinniger fehlt nicht nur
das künstlerisch <Gekonnte>. <Bilder> dieser Art sind geschichtlich
heimatlos. Vor allem: manieristische Monstren sind Produkte ei- sieheFaAabbUdung 15
ner Mischung von halluzinierten! und kalkuliertem Un-Sinn. Vor
der Sorbonne rief Dali aus: <Gefühl habe ich nie gehabte Ebenso-
wenig <Gefühl>, hatte Jean Bodin vor den lebenden <Monstren>, die
er der Tortur empfahl. Dieses Wort könnte unter vielen manieristi-
schen Bildern und über zahllosen manieristischen Gedichten ste-
hen. Insofern ist das Monstrum auch ein Beispiel für die hybrid-
monströse Zerebralität mancher <traumhafter> Manieristen. Es ist
psychologisch aufschlußreich, daß in vielen Künstlerromanen ent-
wurzelte Künstler-<Naturen> menschlich als kleine oder große
Monstren erscheinen, so meisterhaft in Aldous Huxleys (Kontra-
punkt). Marsilio Ficino hatte schon gewarnt: der allzu intensive
Umgang mit Wissenschaft, Kunst und Literatur macht saturnisch,
auch wenn man — im Horoskop — mit diesem unheimlich schwer-
gewichtigen <Monstrum> nichts zu tun habe. Ohne Demut und
ohne Frömmigkeit machen zwei Dinge <böse>: <Geist>, künstleri-
sches Vollkommenheits- und Originalitätsstrebcn. Für Papini le-
ben die Künstler im Bereich des Teufels. Ihre Gefahr ist die Sucht
nach Besonderheit und Einmaligkeit. Insofern ist das Monstrum
<Teufel> die äußer-weltliche Projektion so vieler Künstler, die-wie
es Piaton im Gespräch unter der Platane am Ilissos empfahl - ihren
Hoch-Mut nicht durch Liebe überwinden. Man weiß: in der christ-
lichen Tugendlehre gilt Hochmut als die schlimmste aller Sünden.
Im Inferno Dantes verschlingt im tiefsten Schlund der Hölle das
entsetzlichste Monstrum der Kunst- und Literaturgeschichte die
hochmütigen Verräter an der Liebe. <Große> Manierismen, <große>
Kunst? Das Monströse bleibt dialektischer Gegenspieler Gottes,
der Liebe, des Unscheinbaren, des In-sich-Geborgen-Kleinen. Ist
eine Welt von <Nur-Monstren> nicht das Abbild unserer irdischen
Welt? Wirkt in dieser irdischen Welt nicht doch auch das <Organi-
sche>, das <normal> Gestalthafte? Der Manierismus in seiner Spät-
phase hat sich häufig zu einer ästhetischen Schwarzen Magie und
zu einem Narzißmus des Scheiterns entwickelt.
Urbild Laokoon
Wenn es in dem zitierten Werk über Max Ernst hieß, es seien in der
heutigen Kunst wieder <Monstren> erschienen, jedoch im Gegen-
satz <zu dem archetypen Charakter der mythologischen Monstren>,
so ist damit ein Antagonismus zu denjenigen Mythen gemeint, die
in der klassischen Kunst der Renaissance beliebt waren. Es kann
dies also nicht bedeuten, daß mythologische Stoffe dem Manieris-
mus fremd seien. Im Gegenteil: wie die Manieristen um 1600 von
einer Antike der Seltsamkeiten gefesselt waren, so auch von selt-
samem Mythen. Nicht Homer, nicht Vergil, nicht Horaz gehörten
zu den Lieblingsautoren der Manieristen. Sie liebten vielmehr
X Ovids Metamorphosen und die <Hieroglyphica> des Horus Apollo,
ein aus dem Ägyptischen übersetztes Werk (etwa 3. Jh. n. Chr.) mit
phantastischen Ausdeutungen mythischer Zusammenhänge. Viel
gelesen wurde ferner die <Hypnerotomachia Poliphili> (1499), ei-
ner der ersten preziösen Traum-Abenteuer-Romane der europäi-
schen Literatur, ein Vorläufer der bizarren Mythologeme und des
preziösen Stils. Gerade in Frankreich wurde er später oft übersetzt.
Die Illustrationen dazu erinnern an den Stil der in Fontainebleau
wirkenden italienischen manieristischen Maler. Ein Maler-Poet
wie Max Ernst müßte davon entzückt sein.
Die Mythen der Antike werden selbst zu Voraussetzungen zahl-
loser Metamorphosen. Tolnay hat in seinem Buch über Michel-
angelo darauf hingewiesen, daß der Christus des <Jüngsten Ge-
richts> an den antiken Mythos des <Sol Invictus> erinnere, daß Chri-
stus sich mit Apollo verbinde, daß aus dem <Sol Invictus> der Antike
hier ein <Sol Justitiae> des Christentums werde. Der Rationalismus
der Klassik trennt, hebt ab, unterscheidet. Der intellektuelle Ma-
nierismus <zerstört>, aber er will auf seine Weise wieder verknüp-
fen, verbinden, wobei er meist alle Grenzen verwischt. Der Mythos
verliert seinen Charakter als <Urbild>, als archetypisches Zeichen,
er wird zu einem abstrakten, ideellen Muster, in das man jeweils
zeitgenössisch Problematisches sticken kann. Wie es im 20. Jahr-
hundert einen Hamlet im Frack gab, so findet man damals Helena
als die Urverführerin, die Venus als mondäne Hetäre, die heda als
pornographisches Weibchen, den Polyphem als <melanchoIischen>
Giganten, den Adonis als homoerotisches Zwittergebilde, die Nym-
phe Echo als akustische meraviglia, den Hermaphroditen als Sym-
bol der magischen Vereinigungskunst. Auch aus der Bibel sind die
<Zweideutigen> beliebt, so die hl. Magdalena, die faszinierendste
Heilige dieser Epoche, ferner Kleopatra, Semiramis... alles Lieb-
lingsfiguren auch der spätromantischen Literaturen in Frankreich
und England, aus denen die Surrealisten ebenso scheffelweise
schöpften wie aus den perversen <Mythen> des Marquis de Sade.
Man lese nur nach, wie Neptun in Marlowes <Hero und Leander>
den hübschen Leander zwischen Skylla und Charybdis verführen
will, während der Arme, um Atem ringend, zu seiner Hero hinüber-
schwimmt. Andre Gide war nicht umsonst von diesem Beispiel
poetisch-manieristischer Mythenkunde begeistert.
Die Mythen sind für die Manieristen zwischen 1550 und 1650
Bilderbücher des Ungewöhnlichen, für die Manieristen zwischen
1880 und 1950 Bilderkorrelate des Unbewußten, in beiden Fällen:
Bilderbazare des Irrationalen, diesmal deutlicher abzugrenzen in
Polyphem (Stich um 1600)
Laokoon-Gruppe
Apoll und Daphn*
122
Innentreppe im Sanatorium dei
Fiat-Werke
125
D R I T T E R TEIL
Aufbruch der
Maschinenwelt
13. D I E W E L T ALS
LABYRINTH
M
an kann im unerschöpflichen Werk Leonardos Ansätze
zu vielen späteren <Manierismen> finden, vor allem An-
sätze zu dem, was man heute <abstrakte> oder auch <kon-
krete> und <gegenstandlose> Kunst nennt. Zwei Antriebe leiteten
ihn: der Drang nach hieroglyphischer Verschleierung und das
Streben, die mystischen Weltkräfte, die er für Gott hielt, in einer
abstrakten Signatur erscheinen zu lassen. Das versucht er erst mit
einer Geheimschrift, mit Piktogrammen. Später, in seinen eigen-
tümlichen Labyrinthstudien, beginnt er mit einem folgenschweren
Experiment, mit einem abstrakten Spiel von Flechtwerkkanstruk-
tionen. Hier wendet sich der große Realist - anscheinend - von der
Natur ab. Der Geist selbst, die fantaisie pure, geht eigene Wege, um
innersten Bewegungsrhythmen jener Weltkraft auf die Spur zu
kommen, welche die Essenz aller Natur ausmacht: ihr arkanisches
Pneuma. Dürer, der in manchem Leonardo verwandt ist, hat sich
an ähnlichen <Konstruktionen> versucht.
Nur sechs Flechtwerkzeichnungen Leonardos (nach Dürer) sind
erhalten sowie ein entsprechendes Decken-Fresko im Sforza-Ka-
stell zu Mailand. Gerade sie brachten ihm den Ruf eines Magiers,
eines Zauberers ein, der mit dem Teufel im Bunde stehe. Man hat
vielfach den Eindruck gehabt, Leonardo habe in diesen <Konstruk-
tionen>, in diesen Gebilden, die zum Teil vom Zufall der frei sich
"entwickelnden Linie und von der berechnenden Kontrolle des In-
tellekts beherrscht sind, versucht, die Einheit einer sich auflosen-
den Welt in abstrakten Gebilden wiederherzustellen. Tatsache ist,
daß alle diese ineinander verschlungenen Linien wie echte myt 1
sehe Labyrinthe auf einen Kernraum, auf eine <erlösende> Urzeile,
im Falle Leonardos wohl auf das eigene kontemplierende Ich als
Weltzentrum führen. Bei Leonardo bleibt dieses geistesgeschicht-
lich damals einzigartige Experiment kühler, verhaltener als im ur-
namentstich des 17. Jahrhunderts. Man kann es heute mit Klees
und auch mit Mondrians Bemühungen vergleichen, nicht mitKan-
dinsky oder Boccioni, in denen ein expressionistischer Trieb star-
ker ist. Bei Leonardo handelt es sich um eine abstrakte, rationale
Symbolik der Unendlichkeit mit den in ihr wirkenden <wirbelnden>
(konvulsivischen) und doch geheimnisvoll geordneten Kräften. In
ihrer Mitte steht das <Rätsel>-Wesen Mensch handelnd und den-
kend, in seinem So-Sein alle <konkreten> Phänomene transzendie-
rend, kalt und beherrscht wie ein Demiurg. Auch die sagenhafte,
achteckige Spiegelkammer, die Leonardo bauen wollte, das denk-
bar vollkommene Labyrinth in der Spiegelung herstellend, ent-
spricht einer ähnlichen Neigung: das <Rätsel> Mensch und seine
widerspruchsvolle Welt in einer anaturalistischen Perspektive ge-
radezu einzulangen. In solchen Gebilden soll — wie in den Bemü-
hungen der bedeutendsten Abstrakten des 20. Jahrhunderts — eine
überrelative Weltharmonie sichtbar werden. Geist des Menschen
und die <misteriosa energia spirituale> der Welt sollen als Einheit
in solchen abstrakten Rätselbildern, in Farben und Linien, Flä-
chen und Bewegungsformen zumindest <ahnend> gesehen werden.
Die Malerei strebt nach dem optischen concetto divino. Man erin-
nert sich, daß Leonardo seinen Schülern empfohlen hat, Farbflek-
ken und Figuren auf alten Mauern, in Bruchstücken von Steinen,
Dingfragmente aller Art zu beobachten, weil sie ihnen eine neue
Wirklichkeit offenbaren könnten. Die Inspiration sollte dadurch
angeregt, die Phantasie beflügelt, die Welt in ihren überwirklichen
Bezügen realistisch erfaßt werden. Man hat den Eindruck, daß die
schon genannten Stiche von Windsor, welche die Welt gleichzeitig
im Urzustand und in ihrer kataklysmischen Endzeit sinnbildlich
spiegeln, auf Grund solcher Visionen entstanden sind.
Es wäre müßig, spekulative Deutungen über diesen <Esoteris-
mus> im Werke Leonardos zu versuchen. Das ist zur Genüge ge-
schehen, und nicht immer überzeugend. Viel interessanter wird
das Thema, wenn man dieses, wie wir sehen werden, zentrale Mo-
tiv der manieristischen Kunst und Literatur gestern und heute, ein-
mal zu einem neuen Glied, und zwar zum Mittel-Glied in unserer
Motivkette macht, und wenn man sich dazu einige Einsichten
aus der wissenschaftlichen Erforschung des Labyrinthkults der
Menschheit holt, denn um einen solchen handelt es sich. Laby-
rinthzeichnungen sind uralt, man kennt sie aus der Steinzeit, findet
sie in ältesten Kulturen. Man trifft sie in den mittelalterlichen Ka-
thedralen als Urbild eines Erlösungswegs, denn die <Stadt Jeru Sa -
lem> (= Himmel) bildet darin den mühsam zugänglichen Kern-
raum. Dekorative puzzles findet man im Orient; sie werden dort
mandala genannt. Bei Leonardo aber kommt eine erste Wendung;
das abstrakte Flechtwerklabyrinth wird zu einer Landkarte des
Mysteriums, zu einem kryptographischen Symbol der uralten kos-
mologischen Vorstellung der <Welten-Verknotung>, ganz entspre-
chend Dantes Formel im 33. Gesang des Paradieses: <forma u n i .
versale di questo nodo>. Dies ist eine uralte gnostische Vorstellung
die später, durch den Neuplatonismus überliefert, auch in philoso-
phisch-metaphysischen Zusammenhängen um 1500 in riorenz
wieder auftaucht: Piatons <Goldene Schnur>, Homers <Goldene
Kette>. Marsilio Ficino nannte das Licht <vinculum universi>, das
Band des Universums. Der Kosmos ist, nach Hermes Trismegistos,
fast wie ein (abstraktes) Gewand gewoben: <quasi vestitum con-
texta>. Worte und Namen sind <Verknotungen>. Coomaraswamy,
dem wir hier folgen, weist vor allem auf indische Parallelen hin.
Indra, der indische Gott, hat <die Geheimnisse des rätselhaften
Knotens von Susna gelöst>. Das Geheimnis! Das Geheimnis hat
keinen <Körper> mehr, es kann mit matürlichem Attributen nie-
mals befriedigend bezeichnet werden. Nach Dante müßte das
Geheimnis, Gott, durch <nodi strani>, durch <seltsame Knotem, wir
dürfen wohl sagen, durch ineinandergewobene <gegenstandlose>
Lineaturen, symbolisiert werden, durch abstrakte, unentwirrbare
Figurationen. Eine einzige Linie (Linien-Technik) bildet das Bild
der besten Labyrinthe. Nun, in unserer Hoch-Zeit des Manieris-
mus, in der Zeit Shakespeares, Marinos, Göngoras entstand in
Spanien die bisher größte Sammlung von Flechtwerk- und Laby-
rinthzeichnungen Europas: die <Nueva Arte de Escrivir> von Pedro
Diaz Morantes in den Jahren 1616 bis 1631. Darin spielt die Spi-
rale (Vignolas Treppe) eine große Rolle. Der Kupferstecher Mellan
(1598-1668) bildet das Christusgesicht aus dem Sudarium mit ei-
ner einzigen Linie und bemerkt dazu: <Von Einem ist der Einzige
gebüdet> (<Formatur unicus una>). Für Tesauro sind Orakelsprü-
che <verknotete Schnüre>.
Aus diesen ersten Daten ergibt sich, daß für Dante, Leonardo,
Dürer, Morantes, aber auch für Greco und Göngora diese anschei-
nend nur dekorativ-abstrakten Motive noch einen konkreten gei-
stigen Sinn haben, nicht nur einen metaphysischen, sondern einen
unmittelbaren religiösen Sinn.
Wieder ein Beitrag zur Unterscheidung bestimmter Manierismen
in jeweils verschiedenen Epochen. Kunst und Religion, selbst Reli-
gion in einem vielfach durchaus gnostisch-häretischen Sinne, wa-
ren zwischen 1520 und 1660 noch nicht getrennt. Das ästhetische
Zeichen, der irreguläre Mythos der Idea, blieb immer ein Symbol.
Es kam also nie zu einer abstrakt-dekorativen, geradezu säkulari-
sierten Lineatur, einer bloßen <Komposition>. Kandinsky und Klee,
die ersten großen Abstrakten am Anfang unserer heutigen Mo-
derne, haben das noch erlebt und gewußt. Welche ergreifende
Reinheit Klees! Viele seiner Bilder wirken wie abstrakte Beschwö-
rungsformeln, wie kryptographische Gebete. Die <Nachahmer> der
Abstrakten haben vielfach nur die <Methode> übernommen. Gele-
gentlich sollen zwar abstrakte <Kompositionen> das unfaßbar
Uberreale symbolisieren, aber die Kompositionselemente entspre-
chen nicht mehr (unmittelbar symbolisch) einer traditionellen
Gnosis, sie werden so oft zu grausig geschichtslosen <Dekoratio-
nen> in einer <modernen> Stahlmöbel-Umwelt, <Signaturen> für
den Snobismus neuer Sachlichkeit, nicht einmal mehr Ausdruck
der historisch so gebundenen atomaren Technik. Die abstrakte
Kunst ist einwandfrei legitim, nirgendwo wird die <Dekadenz> der
<modernen> Kunst jedoch deutlicher sichtbar als dort, wo nichts
mehr anderes getan wird, als die <gnostisch> erschütterte Subjekti-
vität der großen abstrakten Meister nachzuahmen, wo also nur
noch <abstrakt> <komponiert> wird. Solche <Künstler> (und auch
d3ichter>) können in der großen manieristischen Tradition nur
eine <Analogie> beanspruchen: die Lemuren auf den Bildern
Boschs.
Umwege führen zum Mittelpunkt
K e h r e n wir zu u n s e r e m L a b y r i n t h - M o t i v zurück. D e r durchaus re-
ligiös manieristische Kult, der die Welt als Labyrinth darstellt und
dessen Mystagogien, H i e r o g l y p h i s m e n u n d Esoterismen, dessen
Vorliebe für schwere Zugänglichkeit, Unverständlichkeit, für pa-
radoxe M e t a p h e r n u n d <Verdrehtheit), so auffallend ist, hat <pan-
sophische> U r s p r ü n g e . W i e aber k ö n n e n wir dieses Metakulturelle
besser begreifen als aus d e m s t ä n d i g e n <Widerstands-Erlebnis>mit
Geschichtlichem, mit Faktischem? D i e ältesten Labyrinthe, die in
der e u r o p ä i s c h e n L i t e r a t u r e r w ä h n t w e r d e n , sind Labyrinthe in
Ägypten u n d auf Kreta. W i e d e r ist es H e r o d o t , der uns eines der
1
Tesauro bezeichnet es als «Siebtes ältesten (ägyptischen) 1 beschreibt: es h a t t e 3000 R ä u m e , in der fast
u n a u f f i n d b a r e n H e r z k a m m e r l a g e n die Könige u n d heiligen Kro-
kodile b e g r a b e n . D a n n folgten P l u t a r c h s Berichte ü b e r die Taten
des Theseiis, ü b e r das geheimnisvollste aller L a b y r i n t h e , über das
m i n o i s c h e von Knossos auf Kreta. Dädalus ist sein genialer Archi-
tekt. ( D ä d a l u s heißt der H e l d i m <Jugendbildnis> J a m e s Joyces.) In
diesem kretischen Labyrinth aber lebt ein M o n s t r u m (!), der Mino-
taurus, h a l b M a n n , halb Stier (Vereinigung des Gegensätzlichen).
Die D ä d a l u s - L a b y r i n t h - L e g e n d e h a t sich wahrscheinlich aus reli-
giösen G r o t t e n k u l t e n der Steinzeit entwickelt. Von <Grotte> leitet
sich, wie bereits dargestellt, die <Groteske> ab, d e r e n labyrinthische
<Irrwege> wir in der E n g e l s b u r g zu erklären versucht h a b e n und die
i m <Ornament-Stil>, diesem Vorläufer der geistig verflachten a b -
straktem Kunst, in e i n e m n u r n o c h pseudospekulativen Teig ver-
sinken.
Was ist wesentlich das L a b y r i n t h in alten Kulturen? Eine <verei-
nigende> M e t a p h e r für das b e r e c h e n b a r e u n d unberechenbare
E l e m e n t in der Welt. D e r U m w e g führt z u m Mittelpunkt. Nur der
U m w e g führt zur Vollkommenheit. D a s F u n d a m e n t mancher
ägyptischer P y r a m i d e n ist labyrinthisch gebaut. Neuerdings hat
m a n entdeckt, d a ß die G r u n d r i s s e der Akropolis in Athen wie des
G r a b m a l s des Augustus in R o m labyrinthisch sind. Auf d e m Boden
der Orchestra des altgriechischen T h e a t e r s von A t h e n fand man
ein labyrinthisches Mosaik.
D a s Labyrinth-Motiv t a u c h t w i e d e r u m <explosionsartig< im 16.
2
Dazu aus der bildenden Kunst drei und 17. J a h r h u n d e r t sowie zwischen 1880 u n d 1950 auf.2 Hans
Beispiele: ein «klassisches. Laby- Vredeman de Vries zeichnete in seinem B u c h <Hortorum Virida-
rinth aus der Spätrenaissance: Holz-
decke im Palazzo Ducale von Man- riorum Formae> (Antwerpen 1583) erste z a u b e r n a r t e Garten-La-
tua. das «deformierte» Kreuz-Labv- byrinthe. Sie w e r d e n bald in g a n z E u r o p a M o d e , m i t d e n dazuge-
- " Fateteio Clericis «Minotauras h ö r e n d e n , halb versteckten <Monstren> aller Art. Kein Zweifel also:
klagt öffentlich seine Mutter an». w ü r d e m a n den G r u n d r i ß der Orsini-Villa in Bornarzo freilegen,
w ü r d e sich ein Labyrinth ergeben. Englisch maze (Labyrinth)
heißt auch <Erstaunen> = stupore, Verwirrtwerden i m Unverständ-
lichen. Die E n g l ä n d e r n e n n e n die b a r o c k e Prosa: dabyrinthische
Prosa>. D i e Welt als Labyrinth! A m besten b a u t m a n sie - aus
Kunst u n d Literatur - d u r c h <konkrete> F r a g m e n t e wieder auf. Pa-
racelsus schreibt einen <Labyrinthus m e d i c o r u r m , H e n r y King pu-
blizierte 1627 ein Gedicht, in d e m es heißt: <The crooked labyrinth
is life, it is a l t h o u g h sin.> D o c h wir n ä h e r n uns einer Klimax: 1631
veröffentlichte C o m e n i u s , d.i. J a n Arnos Komensky, ein in ganz
E u r o p a b e r ü h m t e r technischer Polyhistor ( 1 5 9 2 - 1 6 7 0 ) , ein Poem:
<Labyrinth der Welt u n d das P a r a d i e s des Herzens>. Dazu, so kurz
wie möglich, eine I n h a l t s a n g a b e : E i n j u n g e r M a n n u n t e r n i m m t
mit zwei Begleitern - einer h e i ß t <Ich w e i ß alles>, der a n d e r e <Täu-
schung> (also das B e r e c h e n b a r e u n d U n b e r e c h e n b a r e ) - eine Reise
128 u m die Welt. D e r junge M a n n trägt eine Brille, d u r c h die er alles
Lelin Orsi: Kreuz-Labyrinth
Hieronymus Bosch:
Studienblau zum Triptychon
<Das Tausendjährige Reich»
auf erkennbare <Urformen> der N a t u r , ebenfalls von der <manieri-
stischem Konstante a b h ä n g e . D a s ist z u n ä c h s t nicht einfach zu be-
antworten, weder in einem positiven noch in einem negativen
« Sinne. Der Ansatz <Einfluß> ist ü b e r h a u p t bedenklich. E r verführt
zur Oberflächlichkeit, gerade in geschichtlichen Darstellungen.
Würde m a n also, besser gesagt, in einer M o t o - F o r s c h u n g der ge-
genstandlosen Kunst mit der ü b e r z e u g e n d e n Kraft der Evidenz
Brücken von der G e g e n w a r t in die Vergangenheit schlagen kön-
nen? Das erscheint noch unsinniger; d e n n was h e i ß t angesichts der
meisten gegenstandlosen Bilder der G e g e n w a r t . . . Motiv? Vor al-
lem, w e n n m a n sich durch die meist u n g l ü c k l i c h e n Titel dieser Bil-
der nicht verführen lassen will. M a n w ü r d e bald in ein <Motiv-
Chaos> geraten. D e n n o c h b r a u c h e n wir ü b e r z e u g e n d e Kategorien,
wollen wir, gerade in e i n e m a u c h geistig genealogischen Sinne,
nicht n u r die e n t s p r e c h e n d e absolute Legitimität der gegenstand-
losen Kunst, sondern auch ihren Z u s a m m e n h a n g mit einer der
<Urgebärden> der M e n s c h h e i t beweisen. W i e finden wir diese Ka-
tegorien? Wir g l a u b e n , d e m Bildbegriff von Gottfried Benn auch
hier treu bleiben zu k ö n n e n , i n d e m wir von e i n e m a u c h hier histo-
risch vererbten <Ausdruckszwang> sprechen.
Von der antinaturalistischen T e n d e n z in der manieristischen
, <Idea>-Kunst ist schon die R e d e gewesen, von der auch weiterhin
\gegenstandauflosenden W i r k u n g wird in a n d e r e n Kapiteln noch
| die Rede sein. D o c h n u n zur g e g e n s t a n d l o s e n Kunst im heutigen
Sinne, sofern sie nicht bloße dekorative Kunst sein will u n d sofern
sie keinerlei faßbare symbolische Bezüge m e h r hat, auch keine
geometrisch-konstruktivistischen m e h r herstellt, wo es sich also
anscheinend n u r n o c h u m <Farbkleckse> h a n d e l t , da werden wir
feststellen müssen, d a ß es schwer sein dürfte, für diese mit anschei-
n e n d improvisierten Mitteln reproduzierten Intuitionen in der Ge-
schichte Parallelen zu finden (vgl. z.B. Nicolas de Stael: <Komposi-
tion in Weiß>, 1951). E m a n u e l e Tesauro schreibt in seinen scharf-
sinnigen Stilvorschriften für manieristische Concettisten (1654)
auch ü b e r Concettisten u n t e r d e n b i l d e n d e n Künstlern. E r behan-
delt ausdrücklich a u c h <gegenstandlose> Kunst: <Die einfache, sehr
scharfsinnige u n d geistvolle M a n i e r , Symbole zu m a l e n , besteht
darin, n u r Farben zu n e h m e n , also keine m e n s c h l i c h e Figur.>
<Diese alte und sehr edle Art w u r d e jedoch n u r in der Wappenkunst
für v o r n e h m e Familien angewandt, d. h. für F a h n e n , Schilde usw.>
Die <sieben Färbern (Gelb, Weiß, Blau, G r ü n , Rot, P u r p u r und
Schwarz) hatten dabei also - jede für sich— eine streng symbolische
Bedeutung, so etwa: Gelb = Sonne, W e i ß = M o n d , Blau = Jupiter,
G r ü n = Venus, Rot = M a r s , P u r p u r oder Violett = Merkur,
Schwarz = Saturn. D a r a u s : Weiß = M o n d = Unschuld; Blau =
Jupiter = Gedankentiefe; G r ü n = Venus = Glück usw. Von einem
<Tachismus> im heutigen Sinne k a n n also bei dieser <maniera dei
semplici colori> keine R e d e sein. W i r stehen also wieder vor einer
deutlichen Abgrenzung u n d U n t e r s c h e i d u n g von <manierismen>in
verschiedenen E p o c h e n , wobei M a n i e r i s m e n als Ausdruck der
I d e a - L e h r e u n d diese wieder als <Ausdruckszwang> eines be-
stimmten Menschentypus in einer b e s t i m m t e n sozialen L a g e ver-
standen werden sollen. Verfrüht w ä r e es jedoch, d a m i t die Waffen
strecken zu wollen. Im Gegenteil: das Kampffeld wird jetzt erst
übersichtlicher.
!34
Sein u n d Sosein ist zweierlei
Wir müssen von der psychischen Ursache des Ausdruckszwangs
ausgehen. Wir w e r d e n d a n n i m m e r wieder, wie zur Genüge belegt
und erklärt w u r d e , auf die manieristische Tendenz der Verbildli-
chung der Welt stoßen, auf das magische Analogie-Streben, auf
die Metaphorik, auf d e n M e t a p h o r i s m u s , der, wie in der späteren
mystischen L i t e r a t u r des 17. J a h r h u n d e r t s , allmählich zu einem
universalen M e t a m o r p h i s m u s wird. Alles kann mit allem vergli-
chen werden, alles k a n n sich in alles verwandeln. In diesem Sinne
ist die <abstrakte> g e g e n s t a n d l o s e Kunst von heute, als Wesenszug
in einem A u s d r u c k s z w a n g , eine abstrakte Metaphorik. Wenn sie —
wie diejenige der b e d e u t e n d s t e n u n t e r den zeitgenössischen <Ge-
genstandlosen> — d o c h etwas <bedeuten> soll, und zwar was auch
immer an <metaphysischem>, <existentiellem> oder an sonstigem
<unerklärbarem> E r f a h r e n , so wird dieser <gegenstandlose> Gehalt
durch die M e t a p h e r n der F a r b e n , Linien u n d Flächen usw. ausge-
drückt, durch das irrationale E i g e n d a s e i n der gesamten Bildober-
fläche. Das <Gemalte>, wie a u c h i m m e r es <aussieht>, ist (so wird es
immer wieder gesagt) ein Ausdruck <für etwas>. Also ist es in die-
sem Falle eine <alogische> M e t a p h e r , sofern menschliches und ent-
sprechend künstlerisches Verhalten, auch antilogisches, noch in
seiner ontoiogischen Intention u n d Erfahrung, also nicht nur in
seiner ontisch-psychologischen Bedingtheit, verstehbar sein soll.
Die gegenslandlose Kunst — i m Werke ihrer ernsthaften Vertreter
natürlich— scheint u n s die a m wenigsten un-sinnige Kunst im okzi-
dentalen M a n i e r i s m u s zu sein. Gibt es für echte ontologische Er-
fahrung ü b e r h a u p t Kategorien, eine logische Sprache? Der Exi-
stentialismus H e i d e g g e r s u n d die Logistik Wittgensteins haben
uns in dieser H i n s i c h t äüf eine doppelte Grenze aufmerksam ge-
macht: auf eine erkenntnistheoretische u n d auf eine sprachliche.
Wir werden aber a u c h a n P i a t o n erinnert, nach dem die w a h r e
Vorstellung) von <Erkenntnis u n d Geist> <nicht in Lauten oder kör-
perlichen Gebilden, s o n d e r n i n Seelen steckt>. U n d <deswegen wird
keiner, der Geist hat, sich jemals erdreisten, das vom Geist Erfaßte
in der Sprache n i e d e r z u l e g e n , oder gar noch in das Unabänderli-
che, was da doch d a s L e i d der Buchstabenschrift ist>. Und noch
einige diesbezügliche <Schemata> (Concetti) aus Piaton: <Nichts
hindert, das jetzt k r u m m G e n a n n t e gerade zu n e n n e n und das Ge-
rade d a n n krumm.> <Das Sein u n d das Sosein (ist) zweierlei.) Das
Unsagbare, m a n w e i ß es a u c h von Bergson, dem philosophischen
Anreger Marcel P r o u s t s , entzieht sich dem Begriff, aber nicht dem
Bild, und das u r s p r ü n g l i c h e bilderzeugende, poetische Mittel der
Menschheit ist die M e t a p h e r . Die jüngere deutsche Philosophie
nach Scheler u n d H e i d e g g e r g e h t noch weiter. Wilhelm Weische-
del schreibt i n e i n e m n e u e n <Entwurf einer Metaphysik der Kunst>:
In der abstrakten Kunst <kann a m E n d e noch unmittelbarer als an
den gemalten W e l t d i n g e n die Tiefe erscheinen). In seinem Buch
über <Die U r s p r ü n g e der Metapher> bei den Primitiven spricht
Heinz W e r n e r von der M e t a p h e r a u s . . . <Abstraktionsnot>. >Die
Metapher aus Abstraktionsnot ist als primäre Wurzel des metapho-
rischen D e n k e n s zu betrachten.)
Wir w e r d e n später von G i u s e p p e Arcirnboldi sprechen. Hier nur
ein unentbehrlicher Vorgriff: er setzt Menschenköpfe aus Blumen,
aus Tieren, W e r k z e u g e n usw. z u s a m m e n . E r ist also alles andere
als ein <Gegenstandloser> - a b e r er überträgt. (Metapher heißt in
der antiken R h e t o r i k <Übertragung), lateinisch = translatio.) Und
dafür gibt es viele M ö g l i c h k e i t e n . M a n k a n n es in jeder Rhetorik
nachlesen: Ü b e r t r a g u n g von Belebtem auf Belebtes, von Leblosem
auf Belebtes, von Belebtem auf Lebloses. (Übertriebene Meta-
phern heißen Katachresen, so etwa einst: die A r m e eines Sessels
bis <Armsessel> so geläufig wurde, d a ß k a u m n o c h jemand an den
metaphorischen H i n t e r g r u n d denkt.) Diese <übertriebene> Rheto-
rik, die dazu führt, d a ß m a n in der manieristischen Literatur des
16. und 17. J a h r h u n d e r t s i m m e r wieder auf m e t a p h o r i s c h e <Ab-
strusitäten> stößt, wie etwa <roter Schnee>, oder auf heutige <mo-
derne> wie <schwarze Milch> (Celan), bildet eine Para-Rhetorik aus.
Athanasius Kircher spricht anläßlich seiner W u n d e r m a s c h i n e n ,
wie schon erwähnt, von einer Para-Statik. W a r u m sollte m a n füg-
lich nicht — angesichts der gegenstandlosen M a l e r e i - von einer
jPara-Pittura> im Sinne der <Idea>-Lehre sprechen, von einer alo-
gischen, <abstrakten> Metaphorik in der M a l e r e i , von Metaphorik
als <Abstraktionsnot>, ganz i m S i n n e des manieristischen Meta-
phorismus von 1550 bis 1650? U n d so dürfen wir logischerweise
doch von e i n e m traditionellen Z u s a m m e n h a n g in e i n e m geistig-
phänomenologischen Bezug sprechen. Somit ist es d u r c h a u s mög-
lich, g e g e n s t a n d u n g e b u n d e n e Farben, F l ä c h e n , L i n i e n auf einen,
wie auch i m m e r gearteten, t r a n s z e n d e n t a l e n Z u s a m m e n h a n g zu
übertragen, da m a n schon in der klassischen Rhetorik, von der My-
stik ganz zu schweigen, <Belebtes auf Belebtes> ü b e r t r a g e n durfte.
G e g e n s t a n d heißt griechisch <chrema> (xnfpo:). Gegenstandlos
d e m n a c h <parachrematisch>. M a n verzeihe das W o r t m o n s t r u m (es
gibt in der antiken Rhetorik viel schlimmere): gegenstandlose Ma-
lerei ist im Z u s a m m e n h a n g mit e l e m e n t a r e m Formstreben des eu-
ropäischen Geistes insofern nichts <Abenteuerliches>, kein gespen-
stisches <Novum> entwurzelter <Scharlatane>. E s h a n d e l t sich,
w e n n wir uns diese rhetorische W o r t n e u s c h ö p f u n g erlauben dür-
fen, u m eine parachrematische Metaphorik.
Doch wird m a n konkrete Belege w ü n s c h e n , k o n k r e t e Entspre-
c h u n g e n . Wir k e h r e n z u m A u s g a n g s p u n k t dieses Abschnitts
zurück. Wir halten es trotz aller e n t s p r e c h e n d e n Versuche für
unmöglich, für die (metaphysisch intentionierende) parachrema-
tische M e t a p h o r i k in der Malerei u n s e r e r Tage, sofern sie <Klecks>-
C h a r a k t e r hat, i m S i n n e einer <Bild-Ganzheit> ü b e r z e u g e n d e Vor-
bilder in der Vergangenheit zu finden. M a r c e l Brion hat sich die
M ü h e gemacht, u n d er beruft sich dabei oft auf die bahnbrechen-
den Werke von Worringer, in der M e n s c h h e i t s g e s c h i c h t e dafür
historische Vorläufer zu suchen. D a b e i stößt er auf <Urmotive>:
Flechtwerk, Labyrinthe, Spiralen, G r a n u l a t i o n , R a d e n , Filigran,
Treppen usw. D a s alles wird unserer zeitgenössischen gegenstand-
losen Kunst I m p u l s e gegeben h a b e n , a b e r wir h a b e n es hier noch
immer, wie sogar b e i m Labyrinth, m i t r e d u z i e r t e n <konkreten>
Strukturen zu tun, vor allem doch wohl oft m i t m e h r dekorativen
Manifestationen. Meist handelt es sich hier u m b e r e c h n e t e oder
vorgegebene Formen.
Fragmentarismus
Wer fühlte also vor den so vielen gegenstandlosen <Fleck>-Bildern,
wenn sie nicht <konstruktivistisch> sind (darüber später), auch nur
den Ansporn, in solchen, auf ein bildhaftes Nichts reduzierten
Strukturen mit d e n <Augen> noch <konkrete> L i n e a t u r e n zu su-
chen? Selbst mit d e m größten Aufgebot kulturgeschichtlicher
Kenntnisse halten wir es für aussichtslos, auch für u n s e r e <extremi-
stischem <Gegenstandlosen>, für solche <Klecks-Gebilde> nicht
mehr reduzierbarer p a r a c h r e m a t i s c h e r Metaphorik, Beispiele in
der Vergangenheit zu finden, sofern eben hier irgend etwas Über-
trägen > werden soll. U n d doch m ü s s e n wir gerade hier wieder eine
für unser T h e m a vielleicht e n t s c h e i d e n d e Einschränkung (im an-
deren Sinne) m a c h e n . <Farb-Klecks-Metaphern> — in der ganzen
Bedeutung des Wortes — finden wir in den <Manierismen> der Ver-
gangenheit als für sich g e l t e n d e <ganze> Kunstwerke nicht, und wir
lassen uns g e r n b e l e h r e n , w e n n wir irren. Auf gegenstandlose
<Kompositionen> i n n e r h a l b eines <umfassenden> Kunstwerks sto-
ßen wir h i n g e g e n in der manieristischen Malerei von Greco bis
Delacroix so oft, wie wir n u r Gelegenheit haben, Bildern aus dieser
Zeit zu begegnen. N u r sind diese gegenstandlosen, diese a b s t r a k -
tem E l e m e n t e i m m e r n u r Teil eines Ganzen, vor allem Teil eines
Bildhintergrunds, eingeordnete Fragmente, Fragmente also, die
von einer Tendenz zu n e u e m , formalem Experimentieren künden;
sie bezeugen aber k e i n Bestreben, etwa solche isolierten abstrak-
tem Fragmente zu <verabsolutieren>, sie aus dem größeren Bildzu-
sammenhang a u s z u s c h n e i d e n u n d sie sodann in dieser fragmenta-
rischen Isolation als E m b l e m für <Metaphysisches< zu verkünden.
Mit anderen W o r t e n : es w ä r e ein amüsantes Experiment, zu dem
wir uns nicht h e r g e b e n wollen, kleine <Detail>-Farb-Photos von
<gegenstandlosen> m a n i e r i s t i s c h e n Bildhintergründen aus der Zeit
von 1550 bis 1650 zu m a c h e n , sie zu vergrößern und sie als <gegen-
standlose Malerei> vielleicht sogar als parachrematische Meta-
phern im n e u e n S i n n e zu deklarieren. Die Wirkung wäre nur ver-
blüffend.
Was ergibt sich d a r a u s ? I m m e r wieder dies: der <Fragmentaris-
mus> in Kunst u n d D i c h t u n g u n s e r e r Zeit erscheint vielfach, be-
sonders in u n s e r e r <modernen> gegenstandlosen Kunst, als eine Art
von Spiegelung von F r a g m e n t e n aus der damaligen manieristi-
schen Zeit, d.h. der Zeit von 1550 bis 1650, die wir demzufolge als
einen noch <humanistischen> M a n i e r i s m u s zu bezeichnen ange-
regt sein k ö n n t e n . D i e <Atomisierung>, die Auf- u n d Zersplitterung
unserer gesellschaftlichen Verhältnisse, die viel totalere Katastro-
phenstimmung, die n o c h g r ö ß e r e Skepsis gegenüber traditionellen
Erlösungslehren, die soziale Isolierung des Künstlers in unserer
Massengesellschaft, sein demzufolge i m m e r m e h r vereinsamendes
Monologisieren — h i e r h a b e n wir die G r ü n d e für eine unausweich-
bare U n t e r s c h e i d u n g . E s w ä r e ein Irrtum, deswegen im zeitgenös-
sisch <Modernen> eine <Verflachung> oder tödliche <Aufspaltung>
zu sehen. Die Intensität des Bezugs auf das Ontologische wird
heute sogar geistig viel intensiver, soziologisch sicherlich weniger
konformistisch e r s c h e i n e n . D i e jetzt allmählich frenetische Ten-
denz, alte F o r m e n (wie es früher n o c h vorsichtiger geschah) <total>
zu zerbrechen, u m ü r g e n d e i n Absolutes>, ein unaussprechbar Ab-
solutes nicht sichtbar, nicht e r k e n n b a r , aber ahn-bar werden zu
lassen, entspricht sicherlich einer echten Erschütterung, welche
nur die H ü t e r verschiedenartigster erbaulicher Weltanschauungs-
und Trostsysteme <geschminkt m i t leeren Sprüchen> (Piaton, Brief
VII) nicht gelten lassen wollen. W i r sollten keinen Grund haben,
das <Wunder> E u r o p a s u n d seiner Geschichte aus den Augen ver-
lierend, dazu n u r n e i n zu sagen. Z u einem apodiktischen Urteil
werden u n s e r e N a c h f a h r e n das Recht haben.
15. K U B I S T I S C H E
V O R - UND N A C H F A H R E N
Netze geometrischer Formen
Wie kann man die Antinomie des Berechenbaren und Unbere-
chenbaren, die Welt als Labyrinth oder gar als völlig gegenstand-
lose Figuration, in eine Form bannen, in eine ästhetisch abge-
grenzte Formel geradezu? Die Begegnung mit der rational-irratio-
nalen Beziehung der Welt, in dem Sinne auch, daß man damals in
Italien z.B. auch anfing, Gleichungen dritten und vierten Grades
mit imaginären Wurzeln zu lösen, wird schon früh von einigen
Künstlern der Spätrenaissance als beängstigend empfunden. Das
Übergewicht des Irrationalen in der Magie und in der späteren
<Idea>-Philosophie erscheint als Gefahr; denn man erkennt, daß
nun auch die Form selbst sich aufzulösen beginnt. Die labyrin-
thisch verwirrte oder <gegenstandlos> gewordene Erscheinungs-
welt muß wieder gleichsam aufgefangen werden. So entsteht eine
erste nationalistische) Beaktion auf den <irrationalistischen> Ma-
nierismus, und zwar eine ebenso <manierierte>, d.h. also antina-
turalistische. Gegen die magische Verflüchtigung der Ding- und
Gestaltumrisse (das Unberechenbare) setzt man eine überbetonte,
pointierte Bekräftigung der Umrisse. Man fängt die sich ins Unge-
genständliche verflüchtigenden Bildinhalte mit Netzen geometri-
scher Form wieder ein. Theodor Heuss spricht daher mit Recht von
einer <akzentuierten Geometrik> als <Rettung aus dem Chaos der
Zeit>.
Damit ergibt sich eine der ersten typischen rnanieristischen Re-
aktionen auf Manierismen, die so bezeichnend für unsere Gegen-
wart, für unsere verschiedenen <Schulen> und <Gruppen> sind, für
ihre leidenschaftlichen Rivalitäten; einig sind sie nur in ihrem
ebenso passionierten Anti-Klassizismus und Anti-Naturalismus.
Schon im 16.Jahrhundert soll die labyrinthische <Welt sonder
Ende> wieder begrenzt werden, durch eine brutale Hervorhebung
elementarer geometrischer Formstrukturen im Räume, in den
Dingen, in der menschlichen Gestalt. Im 16. Jahrhundert wird der
, Kubismus geboren.
Experiment
allmählich Selbstzweck
Die Anwendung geometrischer Figuren auf Grund eines mathe-
matischen Kalküls in der Kunst ist uralt. Aber sie bleibt in der Klas-
sik untergeordnet dem Endzweck: dem <Gebilde> am Ende einer
künstlerischen Bemühung, dem schönen Erscheinungsbild einer
idealisierten Natur, dem die Spuren eines handwerklichen Kalküls
in keiner Weise mehr anzusehen sind. Im Gegenteil: jede sichtbare
Spur eines Werkstatt-Geheimnisses wäre klassischen Künstlern
als Sakrileg gegenüber dem Idealbild des Schönen erschienen, als
gefährliche Indiskretion geradezu, mit welcher man das liturgische
Illusionsbild der absoluten, kosmische Gesetze im rein sinnlichen
Bild spiegelnden Schönheit hätte verflachen, vernichten können.
Insofern kann man von einer Keuschheit großer Klassik sprechen,
138 von einer exhibitionistischen Tendenz aber der Manieristen gerade
dann, wenn sie sich Auflösungstendenzen entgegenzustellen
scheinen. Ihr <Wollen> wird auch d a n n sichtbar. Ihre Tendenz, die
Form zu retten, führt d a h e r doch a u c h wieder zu einer neuen <De-
formation>, zur kubistischen! Tatsache ist, daß der Kubismus von
damals wie von h e u t e nicht eine <abstrakte> Kunst ist, sondern eine
polemische Reaktion auf sie. <Ein kubistisches Bild soll wie ein ar-
chitektonisches G e b i l d e der Malerei beurteilt werden, und es kann
Kunst sein oder a u c h nicht, je n a c h der individuellen Beschaffen-
heit des Künstlers.
Der Kubismus (des 20. J a h r h u n d e r t s ) wurde erfunden, um neue
Elemente der m a l e r i s c h e n Struktur zu entdecken.) <Der Kubis-
mus ... war der letzte Versuch der figurativen Kunst, nicht der Ge-
stalt auszuweichen, s o n d e r n ihr n e u e Ausdrucksmittel zu verlei-
hen.) <Daraus resultiert die i n n e r e unauflösbare Spannung des
Manierismus: auf d e r e i n e n Seite strebt er nach dem Dogma der Albrecht Dürer:
Figuren-Schema
,Systematisierbarkeit alles künstlerischen Schaffens', ähnlich wie
heute die F o r m t h e o r e t i k e r des Mondrian-Kreises; auf der anderen
Seite proklamiert er die u n u m s c h r ä n k t e , schöpferische Freiheit
des Individuums) (W. H o f m a n n ) .
Das gleiche gilt für die ersten kubistischen Experimente des
16.Jahrhunderts, die ihre A n r e g u n g e n aus den Werkstattexperi-
menten L e o n a r d o s u n d Albrecht Dürers bezogen. 4 Dürers be- Näheret über die Kunsttheorien
Dürers und ihre historischen I Unter-
rühmtes F i g u r e n s c h e m a aus d e m Dresdener Skizzenbuch bietet gründe: Panofsky, Die Perspektive
dafür ein Beispiel, ein Beispiel zu seiner <Unterweisung der Mes- als symbolische Form. Vorträge
sung) (1525); d.h. das t e c h n i s c h e , das vorkünstlerische Anliegen, Warburg. Berlin 1 <).>-.
Luca Cambiaso
M a n weiß, d a ß B e m b r a n d t W e r k e C a m b i a s o s eifrig gesammelt
hat. Cambiaso w u r d e 1527 in Moneglia (Ligurien) geboren. Seine
<Nocturnae>, effektvolle H e l l - D u n k e l - S z e n e n i n der Beleuchtung
von Kerzen, Öllampen, Fackeln usw., w a r e n schon im 16. J a h r h u n -
dert sehr geschätzt. E i n e n kraftvollen e i g e n e n Stil entwickelt er erst
in der Spätzeit Michelangelos n a c h 1550, m e h r jedoch in seinen
für uns Heutige faszinierenden Z e i c h n u n g e n als mit seinen sonsti-
gen Werken. Seine <kubistischen> Z e i c h n u n g e n w u r d e n damals so
rasch und so eindringlich w e l t b e r ü h m t wie Picassos erstes kubisti-
sches G e m ä l d e : <Les Demoiselles d'Avignon> (1907). E i n e m m o -
dernen Kritiker galt C a m b i a s o schon als Prototyp des europäischen
Avantgardismus, u n d es wird a u c h d a r a u f h i n g e w i e s e n , wie Künst-
ler dieser Art d a m a l s <ausgelacht> w u r d e n . Ü b e r L u c a Cambiaso
u n d über sein Schicksal, über die B e d e u t u n g eines vergessenen
140 großen Meisters, erhielt m a n jedoch erst d u r c h die verdienstvolle
Ausstellung in G e n u a im J a h r e 1956 zum ersten Mal genauere
Kenntnisse. G e b e n wir e i n e m m o d e r n e n Kritiker das Wort, um ei-
nen ersten E i n d r u c k zu belegen: <Man steht plötzlich vor Bildern,
deren Modernität g e r a d e z u bestürzt, die vorweggenommene
Werke von Caravaggio, von G e o r g e s de la Tour, von Zurbarän oder
auch fast von einigen h e u t i g e n M a l e r n sein könnten, deren Licht-
reflexe und d e r e n oft g e o m e t r i s c h gegliederte Schattenwirkungen
im ganzen C i n q u e c e n t o nicht ihresgleichen haben.> <Und
wenn er (Cambiaso) seine Z e i c h n u n g e n geometrisch stilisierte,
wenn er dort die m e n s c h l i c h e n Körper und Gesichter zu kubisti-
schen Robotern w a n d e l t e , so n a h m er Möglichkeiten des moder-
nen Kubismus vorweg, u n d F e r n a n d Leger hat mitunter bewußt
Anregungen, die C a m b i a s o i h m gab, weiter verwendete Man darf
diese Sätze eines A u g e n z e u g e n anführen, u m — gerade in diesem
Zusammenhang — d e m Verdacht zu entgehen, daß man einem
(vom T h e m a her) b e e i n f l u ß t e n Analogie-Wahn verfallen sei. Man
kann — und nicht n u r zur E n t l a s t u n g — also feststellen, daß man in
der europäischen Publizistik der letzten J a h r e häufig auf solche
von Fall zu Fall a n g e d e u t e t e n B e z i e h u n g e n zwischen der damali-
gen und der h e u t i g e n <Moderne> stößt. Unserer <Gegenwart> ge-
hen buchstäblich für < Vergangenheit) in einem ganz neuen Sinne
die Augen auf. W i r b e f i n d e n u n s m i t u n s e r e m Versuch, über (Aper-
e r e hinaus ein <System> n e u e r Traditionen anzuregen, jedenfalls
was einzelne E r k e n n t n i s s e a n g e h t , nicht allein auf dieser so bunten
manieristischen Flur; i m Gegenteil, wir h a b e n m a n c h e n einzelnen
Einsichten gelegentlich a n g e n e h m e Wegweisung zu verdanken.
Wir n e h m e n an, d a ß wir d a m i t in e i n e m guten kairos, in einem
günstigen, schicksalhaften Augenblick, stehen, können aber nicht
hoffen, dieses P r o b l e m des <Traditionalismus des Antiklassischem
erschöpfen zu k ö n n e n , z u m a l bei der Brisanz dieser Problematik
uns andere Arbeiten (von d e n e n wir ohnehin vor Drucklegung eine
Reihe von n e u e s t e n zitieren) trotz aller Aufmerksamkeit entgan-
gen sein könnten. E s b e d e u t e t für jeden, dervor der Kontinuität der
menschlichen G e s c h i c h t e eine g r ö ß e r e Freude empfindet als vor
ihrer dramatischen Zerfetzung, eine G e n u g t u u n g zu beobachten,
wie im sog. t e c h n i s c h e n Zeitalter, von allen Ecken her zu einem
Kristall h e r a n s c h i e ß e n d , so etwas wie ein modernistischer Tradi-
tionalismus entsteht. W i r befinden u n s , w ä h r e n d wir schreiben,
mitten in seinem g l ü h e n d e n W e r d e p r o z e ß , auch in der zeitgenössi-
schen Philosophie, die m e h r von d e n Vorsokratikern als von den
großen rationalistischen S y s t e m e n ausgeht. Es wäre aber banal zu
sagen, unser T h e m a liege <in der Luft>. Vielfach befinden sich viel-
mehr heutige E n t w i c k l u n g e n in einer Sackgasse. Sie sind außer-
dem verdeckt von d e n R u m m e l p l a k a t e n einer hybrid gewordenen
Massengesellschaft. K ö n n e n m a n c h e von diesen <Entwicklungen>
in so ungünstiger A t m o s p h ä r e d u r c h eine n e u e Konfrontierung mit
Geschichtlichem n i c h t n e u e Kraft gewinnen?
Die bereits g e n a n n t e Z e i c h n u n g Cambiasos führt uns sicherlich
einen Schritt ü b e r die E x p e r i m e n t e , auch über die selbstgefälligen
Ehard Schöns h i n a u s . 7 D i e <saturnische> oder aber die <elegante> 'Andere fttttmg im Städebdten
Expressivität der F l o r e n t i n e r , die Phantastik Roms mit ihren viel-
fach <faulenden F o r m e r n , die E x u b e r a n z Tintorettos und anderer
in Venedig w e r d e n von d i e s e m so gewaltsam-manieristischen
Kunstgriff, d e m C h a r a k t e r eines (konstruktivem Ligurers entspre-
chend, verdrängt. Nichts scheint d e m Zufall überlassen. Wenige
Striche g e n ü g e n : das D a s e i n wird m i t einem M i n i m u m von geo-
metrisch stilisierten F l ä c h e n eingefangen und gebändigt. Mit
Recht erklärt d a h e r C. M a r c e n a r o in der Einleitung zum Genueser 141
Katalog: <Diese Werke bilden die Einleitung zu einer neuen Ästhe-
tik. > Es wird ferner die Fähigkeit sichtbar, <kubische> Formen mit
einer illustrativen Thematik, vor allem mit mächtigen Bewe-
gungsrhythmen zu verbinden. Um den kubischen Christus-Kopf -
der so an Zeichnungen von Matisse erinnert- und um den entspre-
chenden Rumpf fluktuiert der <kubistisch> aufgegliederte Raum.
Hier steht Cambiaso, in neuer Originalität, zwischen Pontormo
und Tintoretto. Seine Zeichnungen gehören wie diejenigen Pon-
tormos und Tintorettos nicht nur zu den interessantesten, sondern
auch zu den schönsten des damaligen Manierismus.
Es soll nicht übersehen werden, daß Cambiaso von 1583 bis zu
seinem Tode (1585) wie Federico Zuccari am Hofe Philipps II. in
Madrid gearbeitet hat. 1582 war in Madrid die <Academia de Ma-
tematicas> gegründet worden. Ihr Direktor, der berühmte manieri-
stische Poet Juan de Herera, hat einen <Traktat über kubische Kör-
pen geschrieben. Den Traktatisten des Manierismus, G. R Lo-
mazzo und G. B. Armenini, ist Cambiaso bekannt. Giambattista
Marino widmet ihm in seiner <Galleria> ein Sonett. Enthusiastisch
lobt er Cambiasos Gemälde <Die büßende Magdalena), und wir
wissen, wie sehr diese Figur bei den Manieristen beliebt war. Cam-
biasos Gemälde zeigt eine kunstvolle Verschmelzung von Gestalt
und Raum durch abstrakte Hell-Dunkel-Effekte. Hier Marinos
Vierzeiler, den wir, frei im Sinne marinistischer Concetti, zu über-
tragen versuchen wollen: <Künstlich also soll sie sein? Wer sollte je
glauben / Daß Farbe belebt und Leinwand beseelt sein mag? /
Künstlich gewiß ist sie! Aber dank so seltener Kunst / Daß Sein
durch Schein ganz überscheint erscheint.) Der französische Ma-
nierist Georges de la Tour (1593—1652) malte um 1640 ebenfalls
eine <Büßende Magdalena) ganz im Hell-Dunkel-Stil der Noctur-
Bracellis Roboter
Der<Kub ismus> von Schön bis zu Cambiaso führt in der Malerei zu
einer immer individuelleren Gestaltung der zwar antinaturalisti-
sehen, aber strenger geformten einzelnen Flächen. Caravaggio
und Zurbarän sowie ihre zahllosen Nachahmer weisen wichtige
Elemente dieser <neuen Ästhetik> auf. Cezanne greift diese histori-
schen Elemente in neuer, neomoderner Radikalität auf. Sein Werk
und sein programmatisches Wort: <In der N^tur geht alles auf den
Kreis und auf den Kubus zurück) leitet den zeitgenössischen Ku-
Hsrnus Picassos, vorldlem Legers ein. Doch müssen wir uns b~e-
wußt bleib en, daß dieses alte und neue strengere Formstreben
nicht nur antinaturalistisch war und ist. Es ist in einer anderen Be-
ziehung <manieristisch>. Auch der Kubismus projiziert <Idea> in die
Materie. Wir finden dazu ein lehrreiches Wort bei Gino Severini,
in seinem Buch: <Du Cubisme au Classicisme> (1921): <Es fällt uns
schwer, Formen wahrzunehmen, wie wir sie sehen. Wir werden
ihnen Formen unterlegen, wie wir sie uns vorstellen.) Also anders-
artige Weiterwirkung der Idea-Ästhetik.
"Vir müssen uns aber daran erinnern, daß Federico Zuccari in
Einern ausführlich behandelten Traktat drei Stufen oder Arten der
concettistischen Idea-Kunst unterscheidet: 1. den <Disegno na-
turale), 2 . den <Disegno artificiale>, und 3. den <Disegno fanta-
stico). Wenn wir Pontormos Zeichnungen noch zur ersten Gruppe,
diejenigen Cambiasos zur zweiten Gruppe rechnen können, so
müssen wir uns fragen, ob wir im Rahmen der <kubistischen Idea>
n
°ch eine dritte entdecken können. Wir finden sie in einem der
merkwürdigsten Werke aus der Zeit Göngoras und Marinos, in
j-mer Sammlung von 48 Stichen, die der toskanische Kupferstecher
[ r c e l l i ^ Jahre ,624 dem Herzog Piero de'Medici widmete.
Ier
aus einige Beispiele: <Die Schauspieler) erinnern in der kubi-
1Schen
!! Struktur der Gestalten noch an Schön, in der Rhythmik an
. ja mbiaso. Die <Soldaten) befinden sich hingegen schon durchaus
01 Um
kreis des <Disegno fantastico). Hier ist eben auch das skepti- H3
sehe Kriterium eines vorkünstlerischen Charakters der bloßen Stu-
die nicht anwendbar. Wir stehen hier vor einem Endergebnis, vor
der Konstruktion phantastischer Figuren aus geometrischen For-
men. Aber sie sind noch starr, roboterartig. Ebenso irreale wie dy-
namische, bewegte Groteske von verabsolutierten formalen Prinzi-
pien bietet das <Tänzerpaar> dar. E s erinnert an die phantastischen
Drahtgeflechte, Blechkonstruktionen u n d Metallaufbauten vieler
Zeitgenossen, vor allem einiger E n g l ä n d e r , wie Butler, Armitage,
Clark, M e a d o w u n d des A m e r i k a n e r s Alexander Calder.
Die S a m m l u n g Bragellis trägt d e n Titel <Bizzarrie>. Das Wort ist
uns oft begegnet. W i r wissen, d a ß es sich nicht n u r u m ein Spiel,
eine Spielerei oder u m eine Kuriosität h a n d e l t , w e n n auch Figura-
tionen dieser Art im 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t m e h r als Stücke für
<Wunder- u n d Raritätenkabinette> beliebt w a r e n als für Kunst-
s a m m l u n g e n (so z.B. Bracellis <Doppelmensch>). Z u r Unterschei-
d u n g dieser d a m a l i g e n P r o d u k t e des <Disegno fantastico> von heu-
tigen m u ß m a n sich allerdings k l a r m a c h e n , d a ß , w e n n vielleicht
eine so heitere und poetische N a t u r wie C a l d e r n o c h <spielt>, wenn
auch sehr hintergründig, so doch viele u n s e r e r a n d e r e n Eisen-,
Bracelli: Doppelmensch Blech- u n d D r a h t k o n s t r u k t e u r e etwas <Tieferes> ausdrücken wol-
len. Bracelli u n d Calder: meist (wahrscheinlich) spielende For-
mengeometrie im R a u m , kuriose Poesie, abstruse Lyrik. Der
andere heutige Zweig bringt d e n <gefährdeten>, <unbehausten>
M e n s c h e n im Zeitalter der Kernphysik z u m Ausdruck. Aus einer
lyrischen F o r m e n g e o m e t r i e wird eine G e o m e t r i e der Angst. Die
Künstler erfinden sich eigene plastische F o r m e n , nicht nur um
neue Effekte im R ä u m e zu erzielen, nicht aus e i n e m hypersensi-
blen Beziehungswahn u n d einer verschmitzten L i e b e z u m non-
sense. Diese heutigen reduzierten oder a u f g e s c h w e m m t e n Gebilde,
die an Insekten, an phantastische M a s c h i n e n , a n abstrakte Chimä-
ren, aber auch an organische Urformen e r i n n e r n , sind Ausdruck
der «entseeltem Welt des <Hollow-Man> u n d des <Waste Land> von
T. S. Eliot geworden. <Unsere ausgetrockneten S t i m m e n sind,
wenn wir uns etwas zuflüstern, still u n d sinnlos wie W i n d i m Gras,
oder wie das G e r ä u s c h von Rattenfüßen ü b e r Glassplittern in unse-
rer ausgedörrten Zelle> (Eliot). D a s soll u n t e r s c h i e d e n werden, wie
m a n die M e t a p h o r i k Eliots von der <barocken> u n t e r s c h e i d e n muß-
Aber hat nicht Eliot die metaphysicalpoets des englischen 17. Jahr-
hunderts mit ihrer <Weltangst> für die m o d e r n e englische Lyrik
geradezu n e u entdeckt? Reduzierte oder aufgeschwemmte Ge-
bilde — fanden wir sie u. a. nicht bei L e o n a r d o u n d in den römi-
schen Grotesken? Gibt es bei Bosch u . a . nicht g e n ü g e n d insek-
tenartige U n g e h e u e r , was sie auch i m m e r symbolisch bedeuten
mögen! Phantastische M a s c h i n e n ? W i r w e r d e n n o c h davon zu
sprechen h a b e n , ebenso a u c h von abstrakten C h i m ä r e n . «Gleiche
Ausdruckszwänge) in verschiedenen J a h r h u n d e r t e n liegen nie so
parallel n e b e n e i n a n d e r wie a n a t o m i s c h e Schnittflächen. Über die
Differenzierungen gleicher Ausdruckszwänge w e r d e n Anhänger
der absoluten Individualität jeweils historischer E p o c h e n endlos
diskutieren wollen. Wer von einer m e t a p h y s i s c h e n Einheit des
Menschengeschlechts überzeugt ist, wird es vorziehen, zunächst
einmal <über-historisch> weiterwirkende Phänomene zu verzeich-
nen und zu deuten. Vielleicht gelingt es, auf diese Weise einige Ur-
<Ausdruckszwänge> der M e n s c h h e i t in ihrer E i n h e i t zu begreifen,
wobei wir i m m e r vor einer Plurivalenz stehen w e r d e n . Insofern ist
der M e n s c h der höchste Ausdruck d e r Welt als Labyrinth. E r ent-
zieht sich d a h e r in jeder Weise der Vereinfachung.
144 Bracellis <Geheimnis> wird schwer zu lösen sein, w e n n wir aul
ihn <existentialistische> S c h e m a t a a n w e n d e n wollen, zumal von
seinem L e b e n u n d v o n s e i n e m sonstigen Werk wenig bekannt ist.
Die <Erscheinungen in seinen Bizzarrie> werden indes immer kom-
plizierter, so die <Ballspieler>, in d e n e n n u n <Sphären> und <Kuben>
kombiniert w e r d e n . D e r <Ball> als Mittel des Spiels wird Bestand-
teil der abstrusen a n a t o m i s c h e n Beschaffenheit dieser Spieler, eine
Transposition des S i c h - E r e i g n e n d e n in denjenigen, der die Hand-
lung vollzieht, die aus so vielen surrealistischen Bildern bekannt
ist. Der Kopf der Tennisspielerin von Carrä <Die Tochter des We- siehe Farbabbildung 17
stens> hat die F o r m des Schlägers. Die manichini de Chiricos (Hek-
tar und A n d r o r n a c h e , 1917) b r i n g e n eine andere <Transposition> sieheFaibabbildung 18
zum Ausdruck. D i e <Geometrisierung> dieser so beliebten Maler-
Gliederpuppen, d e r e n H e r k u n f t u n d Geschichte in der bildenden
Kunst aufzuzeichnen eine interessante Arbeit wäre, wird dem Ge-
genständlichen wie eine ä u ß e r e Etikettierung (durch geometrische
Zeichnungen) angeheftet, nicht n u r damit m a n weiß, worum es
sich handelt, s o n d e r n d a m i t I n n e n u n d Außen, wie bei den Mani-
c/u'm-Ballspielern Bracellis, relativiert werden. Einfall oder Be-
rechnung in b e i d e n , in allen Fällen? Mit der Antwort wird man
nicht zögern k ö n n e n . Schöpferische manieristische Kunst ist —wie
jede b e d e u t e n d e K u n s t — eine Kunst der Inspiration und der Ratio,
des Gefühls und des Intellekts, des Erlebens und der Phantasie.
Nur m a n weiß: die M a n i e r i s t e n erstreben die Vereinigung des Ge-
gensätzlichen, aber die G e g e n s ä t z e sollen und dürfen in ihrer Ei-
genart zugunsten einer h a r m o n i s i e r e n d e n Idealvorstellung im
klassischen S i n n e nicht verschwinden, genauso wie in der Meta-
pher der m a n i e r i s t i s c h e n Lyrik. Discordia Concors also und gerade
im <Disegno fantastico> kubistischer P r ä g u n g , der schließlich im
20. J a h r h u n d e r t i m m e r abstrakter wird, so in Legers <Die Treppe>,
einem Bild, das sich von C a m b i a s o s und Bracellis Kuben-Figuren
außerdem n o c h d u r c h ein arg mystifizierendes Element unter-
scheidet: d u r c h d e n p a r a d o x e n Titel <Die Treppe>.
<Kubistische> F i g u r e n , t a n z e n d e , spielende, liebende, rasende,
weinende, verzweifelte, geängstigte und heitere Roboter, mani-
chini, abstraktere u n d k o n k r e t e r e irreale Wesen, halb Maschine,
halb Mensch, A u t o m a t e n also, sind sie in der Kulturgeschichte der 145
Menschheit wie <Abstraktionen> in der Malerei und Skulptur? Be-
lebte Figuren, Automaten und Roboter gab es im antiken Orient
und Griechenland. Arabische Roboter waren in Alexandrien große
Mode. Leonardo hat sich jahrelang damit geplagt, einen Maschi-
nen-Menschen zu bauen. Der Maschinen-Mensch, die Maschi-
nen, welche die Funktion der einzelnen menschlichen Sinne über-
nehmen sollen— davon werden wir noch hören. Curiositä heißt
nicht nur <Kuriosität>. Es heißt auch Neugier. Die Neugier ist einer
der mächtigsten Antriebe aller Manieristen. Die <klassischen> Wei-
sen verachteten sie. Sie lobten die <Adiaphora>, das <Ununterschie-
dene>, alles da, was einen, im Gegensatz zum Absoluten, nicht
mehr berühren, aufregen, entsetzen kann, was es einem verbietet,
neugierig zu sein — und modern.
146
16. B I L D E R - M A S C H I N E N
Instrumente
des extrem Künstlichen
Daß die Maschine eine Art Prothese des Menschen ist, daß sich aus
dieser menschlichen Fähigkeit, Prothesen-Maschinen zu erzeu-
gen, nicht nur Wunderbarkeit (meraviglia), hübsche und nützliche
Ergebnisse sowie Belustigungen durch das Anti-Naturalistische
des <Ingeniösen> ergeben können, sondern daß auch eine <neue>
selbständige Welt der Maschinen zu entstehen droht, eine <artifi-
zielle> Welt der Technik zwischen Mensch und Natur, das hat man
schon im 16. Jahrhundert, wenn auch in <magischen> Verträumt-
heiten befangen, zumindest geahnt. Die ersten <Maschinen> dieser
Zeit, die nicht unmittelbar in die jeweilige Umwelt bestimmter
Handwerke gehören (vor allem Bau- und Kriegswesen), sind aller-
dings noch <nutzlose> Produkte der <Imitazione fantastica>. Die
kunstvollsten technischen Empfindungen der Menschheit in den
Zeitaltern vor Anwendung der Dampf-, Elektrizitäts- und Atom-
kraft wirkten als Bilder einer faszinierenden <automatischen>, an-
organischen Welt des extrem Künstlichen. Eine weltberühmte
<Bentresch-Statue> aus der Zeit Bamses XII. konnte selbständig
gehen und mit dem Kopf nicken. Im delphischen Tempel gab es
Mädchengestalten, Heliaden, künstliche goldene Statuen, die sich
singend bewegen konnten. Aristoteles beschreibt eine automati-
sche Venus>. Leonardo baute zu Ehren Ludwigs XII. einen Löwen,
der den König, 1509, bei seinem Einzug in Mailand wie ein leben-
diges Tier entgegen schritt und vor ihm stehenblieb. Der artifizielle
Löwe öffnete sich dann mit einer Tatze die Brust, um auf ein Wap-
pen mit drei Lilien hinzudeuten. Künstliche Menschen, Androi-
den, haben Ägypten und Hellas begeistert. Ihr berühmtester Nach-
iahre ist der Golem aus dem Prager Ghetto, der dreizehn Jahre
<gelebt> haben soll und der, um dies wieder vorwegzunehmen,
Giuseppe Arcimboldi beeinflußt haben mag, denn dieser Golem-
Automat <starb> 1593, im gleichen Jahre wie Arcimboldi. Gerade
die Neuplatoniker, die geistigen Urheber der manieristischen
Idea-Ästhetik, sollen sich der Überlieferung nach künstliche
männliche und weibliche Diener geschaffen haben. Fabriziert wa-
ren sie aus Holz und Metall, aus Wachs, Glas und Leder. Schon
Albertus Ma gnus soll eine derartig gespenstisch-artifizielle Die-
nerschaft gehabt haben. Thomas von Aquin hat Gebilde dieser Art
angeblich zerschlagen, weil er sie für Teufelswerk hielt. Es gab
sprechende, singende, tanzende, rechnende Maschinen, reizvolle,
naive Vorläufer unserer <Kybernetik>. Eine wissenschaftliche Kul-
turgeschichte des <manieristischen> Maschinenkults der Vorzeit
fehlt uns noch.
<Anamorphose> als M o d e
Es wird Zeit, sich die <metaphorische Mausefalle> einer optischen
Doppelbülme in der Kunst einmal <mit Augen> anzusehen. Eines
der frühesten ist das sog. <Vexierbild> von Ehard Schön (etwa
1535). Man steht zunächst vor einer Wirr- und Wildnis. Die Trick-
Vorschrift heißt: Man sehe sich das Bild vom linken Bildrand her
genau an, indem man es umkippt und in Augenhöhe hält. Mit Ge-
duld, guten Augen und mit jenem Leonardo-Blick für die in <Flek-
ken>, <Wolken> usw. verborgenen Gestalten müßte ein Zeitgenosse
Schöns vier der berühmtesten Staatsoberhäupter und Kirchenfür-
Ehard Schön: Vexierbild mit sten dieser ersten manieristischen Epoche erkannt haben, denn
tr- J Mr *•*
Leonardo da Vinci:
Anamorphotische Zeichnung
(links) und
Projektions-Zeichnuiip (rechti)
dinandl., 3. Paul III., 4. Franz I. Wir sehen, mit einiger Mühe,
durchaus vier Gesichter, erkennen aber kaum noch Porträts dieser
als Herrscher wie als Menschen sicherlich problematischem Figu-
ren. Wir erkennen aber eins: die Klassik will die <Idea> in der Natur
erscheinen, der <konstruktivistische> Manierismus will die Natur in
der <Idea> durchscheinen lassen.
Auch das geht auf den <Ur>-Erfinder am Anfang der Neuzeit zu-
rück, auf Leonardo da Vinci. Dazu eine genial <abstrakte> Zeich-
nung aus dem Kodex Atlanticus. Man sieht — aus der <Normal>-
Perspektive — acht Linien. <Anamorphotisch> aber (vom linken
Bildrand in Augenhöhe) das Gesicht eines ziemlich mürrischen
Säuglings. Auf manchen Studienblättern Leonardos begegnet
man perspektivistischen Studien von ingeniösem, konstruktivisti-
schem) Zauber. Es sind dies sicherlich keine Kunstwerke. Sie sind
aber (wie wir sehen werden) für den zeitgenössischen Manierismus
zu Mustern für Gebilde geworden, konstruktivistisch traumhafter)
Art, welche als <Kunstwerke> betrachtet werden wollen.
Doch vorher noch einiges (mit Beispielen) aus der Geschichte
der Anamorphose, die uns jetzt als ein Abkömmling der manieristi-
schen <Idea>-Lehre, des Concettismus (im Sinne Zuccaris) vertrau-
ter geworden ist. Über die Nachfolger Schöns unterrichtet Baltru-
saitis. Wir entnehmen für uns daraus zwei wichtige Belege: in einer
<Pratica di Perspettiva> nennt Daniele Barbaro (155g) die Technik
der Anamorphose eine <prospettiva segreta> womit wir wieder auf
die Sucht nach Verschleierung, Geheimnis, Schwerverständlich-
keit, Unergründlichkeit stoßen. In seinem Traktat über die Malerei
spricht Lomazzo von der <maniera di fare la prospettiva universale).
Von 1600 bis 1660 vollends, am Höhepunkt des damaligen Ma-
nierismus, wird die Anamni^hose ebenso g^oße_Mj)de_wie_der____
Konzep^alismjjs in der Dichtung^wie_dexvielschichtige Madriga-
lismus mit seiner herausfordernden Chromatik und mit seinen
Dissonanzen in der Musik, wie der nun systematische Zweifel an
der Wirklichkeit der Erscheinungswelt (Cartesianismus). Nur
einige bezeichende Titel: 1614 schreibt Salomon de Caus eine
Perspektive avec la raison des ombres et des miroirs> und 1638
rrancois Niceron eine <Perspective curieuse>, die er <Künstliche
Magie wunderbarer Wirkungen) nennt. 1642 erscheint in Bologna
eine <Apiaria> von Mario Bettini. Bologna! Wir erinnern uns, daß
Dürer in einem Brief aus Venedig an Pirkheimer schon 1506 ge-
schrieben hatte, er werde nach Bologna reisen, um dort die <Kunst
ln
gehaimner Perspektive) zu lernen. 164g erscheint Du Breuils
^abinet des anamorphoses coniques>. Darin werden große ana-
m
orphotische Fresk en im Kloster des Bettlerordens der Minimen
*57
Athanasius Kircher:
China. 1667
Abraham Bosse:
Die Zuschauer
158
auf dem römischen Pincio geschildert, die heute nicht mehr exi-
stieren. Nun weiß man, daß das Kloster der Minimen in Paris zwi-
schen 1620 und 1640 ein Zentrum anamorphotischer Experi-
mente war und daß Descartes sich dort mehrere Male aufhielt
(1622 -1623, 1625, 1628 -1629). Wir befinden uns im glanzvoll-
sten Jahrzehnt des europäischen Manierismus! Die Minimen-Pa-
tres Mersenne, Niceron, Maignan entwerfen ganze Serien von
anamorphotischen Bildern wie die Jesuiten Graciän und Tesauro
Concetti. Für Baltrusaitis steht es fest, daß für Descartes die <Ana-
morphose> zu einem Beweismittel für das <Trügerische> {Inganno!)
der Erscheinungswelt und der Sinneswahrnehmung geworden sei.
Bilder dieser Art werden zu Automaten des Zweifels, der Mensch
mit seinen <trügenden> Sinnen zu einer bloßen <Maschine>.10 An- ifi.jft erschien <)»* erweiterte Pas-
dere bekannte, besonders scharfsinnige Anamorphotiker: Desar- sung des berühmten Traktate übet
den Coneedttnuu von Gracün. An
gues (von A. Bosse 1648 [!] herausgegeben), Gregoire Huret, Cas- Graciins MoraUehre (Handorakel)
par Schott und natürlich auch Athanasius Kircher. Dieser entwirft lobte Nietzsche die •listige Wi-stel-
li(ng>.
vollends Apparate zur Erzeugung von Anamorphose, die er <Magia
Anamorphotica> nennt. Alles im Leben wird schließlich zum
<Schein> der Erscheinung, zu einer unendlichen Bilderserie von
auswechselbaren Phantomen.
Dazu einige Beispiele: Auf einer Zeichnung mit dem bezeich-
nenden Titel <Maniere Universelle> von Bosse und Desargues
(1648) sehen wir drei äußerst beschäftigte Eheleute. Sie halten in
Augenhöhe ihre eigenen <visuellen> Strahlen wie Fäden, die sich
jenseits ihrer konstruktivistischen Funktion arabeskenhaft-lustig
im Räume verschnörkeln, um von jeweils verschiedenen Stand-
punkten aus die <relativen> Erscheinungsformen von Quadraten zu
studieren. Der bereits genannte Mario Bettini, (auch) ein Jesuit aus
Bologna, Dichter, Dramenschreiber und Mathematiker, führt uns
ein schon viel komplizierteres Anamorphose-Concetto im Rebus-
1
1
12
Karnevals.12 Mehr an Kirchers <anamorphotische> Maschinen Eugenio d'On (o.< i -n-lii im
Folklore- und im Kamevab-Riiui
erinnern hingegen Dalis <retrospektive> Konstruktion und <Har- zwei Abarten de« <Barock>.
monische Komposition).
Eine Kulmination in der Motiv-Reihe <Einzelnes Auge> plus
<anamorphotische> Konstruktion plus <Zerstörung> (vgl. zerbro-
chene Glasscheibe) ist Duchamps <Konstruktion> als <Ready-
made> mit dem nun schon vierdimensionalen Titel (zu diesem Mo-
tiv <Einzelnes Auge>): <Mit einem Auge zu betrachten, auch dies
geschlossen, etwa eine Stunde lang.> Auge = Raum-Erfassung, und
<eine Stunde lang> = Zeit werden hier angesichts eines völlig mutz-
losem, gegenstandlosen anamorphotischen Gebildes unerheblich.
Die <Kunst> ist so weit geraten, daß sie empfiehlt, man möge sie von
gar keinem Standpunkt mehr und <ohne Augen> betrachten. Damit
ist ein Gefrierpunkt des Manierismus erreicht. Das ist keine Kunst!
Aber es ist ein bemerkenswertes Kunst-Stück. Es hat nur doku-
mentarischen Wert, doch kann bei bedeutenden modernen Maler-
Poeten, wie wir meinen, dieses traditionelle Motiv auch zu einem
ästhetisch angenehmen Raum-Zeit-Puzzle-Spiel führen, so etwa
in Picassos <Studio>. Diese <Rationalisierung> des Blicks wird man
in Europa schwerlich vergessen können. Sie geistert höchst irratio-
nal in unserem Alltag herum. Wir begegnen ihr, wenn wir Zeitun-
Salvador Dali: Zeichnung
gen und Zeitschriften von heute aufschlagen, wenn uns Reklamen
für Zahnpasta und Hühneraugen, für Schreibmaschinen und '
Kunstausstellungen begegnen. Unser <modernes> Folkore: die
<Pubhcity> wird so manieristisch, daß wir uns kaum noch dazu ent-
schließen können, die durch sie angepriesenen Produkte zu kau-
ten. Unsere Sehnsucht nach einfachem, <gegenständlichem> Brot
und Wein wird zu einer Gier. Wir tun gut daran, zu erkennen, daß
beide. Sehnsucht und Gier, im Europa des Euratoms nur noch in
einem kaum erreichbaren klösterlich privaten Bereich zu erfüllen,
zu stillen sind. Glücklich sind wir nur noch in entlegenen Randbe-
zirken unseres Daseins. Aus den verspielten <Maschinen> und
<Anamorphosen> von einst stammen auch mittelbar die kyberneti-
schen Automaten der amerikanisch-europäisch-russischen Zivili-
sation von heute. Auch sie erhalten seltsame <Stupore>-Titel. So
heißen neue Büro-Roboter in den USA: <Auge>, <Choosey>,
<Henne>, <Tabby>. Eine hochgezüchtete Denkmaschine mit Elek-
tronengehirn heißt: <Charactron>, eine riesige Rechenmaschine
iür kernphysikalische Experimente gar: <Maniac>. Marcel Duchamp; R
MWnaklion
18. K R E I S ODER E L L I P S E
Über m a n i e r i s t i s c h e <Ordnung>
Doch in der <Gefahr> wächst das <Rettende>, u n d wir wollen nicht
übersehen, daß d a m a l s wie h e u t e g e r a d e d u r c h <konstruktivisti-
sche> B e m ü h u n g e n aller Art der Geist allmählich dilettantisch
w e r d e n d e Irrationalismen zu ü b e r w i n d e n versucht. J e a n Bodin,
der unerbittliche Bekämpfer von H e x e n u n d D ä m o n e n , eine der
zwiespältigen F i g u r e n dieser Zeit, entwickelt sich allmählich zu
e i n e m Verteidiger der Toleranz. I n d e n konstruktivistischen <An-
strengungen> des A n a m o r p h i s m u s k ö n n e n wir a u c h eine rein ra-
tionalistische R e a k t i o n auf die angeblich bloße Alogizität der Welt
e r k e n n e n , erste Einflüsse der n u n b a l d nicht m e h r <magischen>,
sondern empirisch-experimentellen Naturwissenschaft. Diese ma-
nieristisch-konstruktivistische A n a m o r p h o s e bereitet ferner das so
fiktive Gleichgewicht von R a u m u n d B e w e g u n g , die so <kalte> ba-
rocke <Dynamik>, die sich in e i n e m stets w o h l b e r e c h n e t e n eingren-
zenden repräsentativen R a u m entfaltet, ebenso vor wie die Propor-
tionslehre der n e u e n Klassik n a c h 1660. <Anamorphose> <defor-
miert> ja auch, wie wir wissen, u m Gestalt u n d D i n g wieder in den
R a u m einzugliedern, w e n auch in abstruser Weise. Der Intellekt
reagiert auf den a l l g e m a c h auflösenden Kult der Inspiration. Des-
cartes wehrt sich - gegen G i o r d a n o B r u n o . M a n beginnt, dem
M a n g e l an A n s t r e n g u n g zu m i ß t r a u e n . M a n k ö n n t e sagen, daß
auch der preziöse ästhetische Begriff der rigueur im Sinne Paul
Valerys seinen U r s p r u n g in der A n a m o r p h o s e hat. M a n fängt an,
sich buchstäblich vor d e m allzu <Expressiven< oder allzu <Phanta-
stischem zu fürchten. M a n sehnt sich w i e d e r n a c h O r d n u n g , Form,
Gleichgewicht, aber eben in <manieristischer> Weise. Nicht aus ei-
ner Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t der Welt>, die n a c h J e a n P a u l <Glück>
ist, s o n d e r n aus e i n e m dialektischen Verhältnis zur Welt versucht
m a n , der <Auflösung> entgegenzuwirken. A u c h ein Teil der Manie-
risten sehnt sich d u r c h a u s ebenfalls n a c h einer überrelativen Ord-
n u n g . M a n e r t r ä u m t e sie sich jedoch n i c h t als eine <Mitte> in einem
<Kreis> etwa. W i e w ä r e das a u c h u m 1600 möglich gewesen, als
auch die d a m a l s so p o p u l ä r e A s t r o n o m i e die alte L e h r e vom Kreis-
lauf der Sonne preisgegeben hatte u n d ihre elliptische Bahn nach-
wies
Ab 1580 etwa b e g i n n e n die n e u e n W i s s e n s e l e m e n t e der entste-
h e n d e n empirischen Naturwissenschaft die so vieldeutige Vorstel-
lungswelt der magia naturalis zu v e r d r ä n g e n , w e n n auch beides,
experimentelle naturwissenschaftliche Kenntnisse u n d magisch-
naturphilosophische Vorstellungen n o c h lange, bis weit über 1660
Über diese Zusammenhänge in hinaus, ständig interferieren. 1 5 E s ist dies vor allem z u m besseren
ihrer Beziehung ziu' bildenden
Kunst hat O. Benesch im Sinne der
Verständnis für das Werk der g r ö ß t e n M a l e r des Manierismus
Kunstgeschichte als Geistesge- wichtig, für das Tintorettos (1518—1594) u n d G r e c o s (1541—1614).
schichte> Dvoräks aufschlußreiches
\ H i e r sei jedoch z u n ä c h s t wiederholt, d a ß wir h i e r keine a u c h nur
Material geboten. <The Renaissance
in Northern Europe>. Cambridge, a n n ä h e r n d vollständige <Kunstgeschichte> des M a n i e r i s m u s etwa
Harvard 1947. auch als <Geistesgeschichte> schreiben wollen, sondern uns an ei-
ner P h ä n o m e n o l o g i e manieristischer E l e m e n t e zur <Problematik
des m o ernen M e n s c h e r n versuchen, an H a n d einer Reihe von
Motiven>, die in d e n jeweiligen einzelnen Abschnitten behandelt
wer3enT D e r Stoff selbst ist, allein in kunstgeschichtlichen Bezü-
gen, so umfassend, d a ß wir gerade hier auf diese Selbsteinschrän-
k u n g hinweisen m ü s s e n . Wer historische Vollständigkeit bean-
sprucht, m u ß die einschlägige L i t e r a t u r zu Rate ziehen. Besonders
über die Ausbreitung m a n i e r i s t i s c h e r Kunstprinzipien in Nord-
europa geben die e n t s p r e c h e n d e n Darstellungen im genannten
Werk von Benesch u n d ferner die entsprechenden ausgezeichne-
ten Arbeiten von F r i e d l ä n d e r Auskunft.
Es war zunächst e i n m a l b e h a u p t e t worden, daß auch manche
Manieristen, i n s b e s o n d e r e diejenigen größeren schöpferischen Fi-
guren, die sich e i n e m fast t y r a n n i s c h e n Modezwang entziehen
konnten, sich d u r c h a u s a u c h n a c h einer überrelativen Ordnung
sehnten, daß für sie a b e r d u r c h starke <Umwelt>-Einflüsse, insbe-
sondere aus der n u n n e u e n empirischen Naturwissenschaft, die
alte klassische Vorstellung der Vollendung im Bilde einer <Mitte>
im <Kreis> schon allein d e s w e g e n nicht m e h r wichtig erschien, ganz
abgesehen von der <antiklassischen> Einstellung, weil sie neuen
kosmologischen E i n s i c h t e n nicht m e h r entsprach. M a n hat solche
Beziehungen von Kunst u n d wissenschaftlichen oder philoso-
phischen E r k e n n t n i s s e n aller Art gelegentlich als fragwürdig be-
zeichnet. Schon allein ein H i n w e i s auf Leonardo und Michel-
angelo würde diesen E i n w a n d widerlegen. Die meisten Künstler
zwischen 1550 u n d 1650 w a r e n hochgebildet. Sie führten einen
Briefwechsel mit d e n h e r v o r r a g e n d s t e n geistigen Persönlichkeiten
ihrer Zeit u n d sie lebten keineswegs in einem nur <ästhetischen>
elfenbeinernen T u r m . Sie w a r e n vielfach intellektuelle und gesell-
schaftliche G r a n d s e i g n e u r s , ja sie arbeiteten zeitweise technisch-
experimentell m i t d e n Naturwissenschaftlern, so etwa am Hofe
Rudolfs II. in P r a g . D i e s e n P r a g e r Hof werden wir später als einzi-
ges Beispiel für d e n M a n i e r i s m u s in Mitteleuropa schildern, um
unser T h e m a in der g e b o t e n e n t h e m a t i s c h e n und auch r ä u m l i -
chem Grenze zu h a l t e n . Was die Beziehung der Künstler zu geisti-
gen Erscheinungen i h r e r Zeit a n g e h t , so läßt sich das gleiche für
die m a ß g e b e n d e n G e s t a l t e n u n s e r e r zeitgenössischen <Moderne>
feststellen. Ihre Briefe u n d Schriften bieten zahllose Beispiele für
diesen D r a n g n a c h Vertrautheit m i t d e m jeweils ganz <aktuell> er-
scheinenden Zeit-Geist, für das Bestreben, das Kunstwerk auch
zum Ausdruck sozusagen der jeweiligen E t a p p e zu machen, die der
Weltgeist in seiner Selbstentfaltung erreicht hat.
Heute also wie d a m a l s . 1543 h a t t e Kopernikus sein wichtigstes
Buch veröffentlicht: <De Revolutionibus Orbium Celestium libri
VI>; und wir h a b e n schon e r w ä h n t , welche Erschütterung dadurch
erzeugt wurde: die E r d e w a r n i c h t m e h r Mittel-Punkt der Welt.
Das ist auch in a n d e r e r H i n s i c h t weitgehend bekannt. Benesch ist
aber die Einsicht zu v e r d a n k e n , d a ß auch wichtige künstlerische
Formen der m a n i e r i s t i s c h e n K u n s t d u r c h diese zwischen 1550 und
1614 ( H ö h e p u n k t e d e r Schaffensjahre Tintorettos und Grecos)
aufeinanderfolgenden n e u e n kosmologischen Erkenntnisse ange-
regt werden. 1584 gab G i o r d a n o Bruno, ein Anhänger des Koper-
nikanischen Systems u n d ein <antiklassischer> Theoretiker ä la
lettre, eine Schrift h e r a u s , die b a l d in ganz E u r o p a b e r ü h m t werden
sollte: <Dell' I m m e n s o e degli innumerevoli, ossia den' Universo e
dei M o n d ü . Drei J a h r e später m a l t Tintoretto seine <Gloria del Pa-
radiso> im D o g e n p a l a s t zu Venedig. Auf unserer Teilaufnahme be-
wegen sich in drei elliptischen K r ä n z e n zahllose Figuren in einem
Raum, der sich i m U n e n d l i c h e n verliert. Schon Giordano Bruno
hatte behauptet, alle B e w e g u n g m ü s s e auf die D a u e r die Kreisform
verlassen. In Tintorettos Bild schwingt das endlos Erscheinende in
elliptischer F o r m i m u n e n d l i c h e n R a u m aus - wie in so vielen Bil-
dern Grecos. N a c h d e m Tode Tintorettos allerdings (aber vor dem
Ableben Grecos!), erschien die <Astronomia Nova> Keplers
Tintoretto: Detail aus der
<Gloria del Paradiso>
M anier un d M ante
Auf die entsprechende Bedeutung Grecos, dessen Werk hier schon
häufiger gewürdigt wurde, braucht man bei der auch hier überrei-
chen Literatur nur hinzuweisen. Zu unserem Thema ein Zitat aus
168 dem meisterhaften Abschnitt von Dvorak: <Greco und der Manie-
rismus>. <Es ist alles wie aus d e m L o t geraten, und an Stelle der
tektonischen R h y t h m i k trat eine anderem D u r c h Benesch wissen
wir nun, welcher Art sie war. Greco war von Michelangelos Alters-
werk beeinflußt, vor allem v o m J ü n g s t e n Gerichb. Dvorak spricht
von Gestalten, die <eine a m o r p h e Masse> bilden. G e n a u das gleiche
gilt für die letzten Bilder Tintorettos in der Scuola di San Rocco. Zu
Tintoretto stellt Dvorak weiter fest: ein <Kolorit>, eine <Aschermitt-
woch-Farbe>, aus der n u r einzelne T ö n e wie <feurige Blumen> her-
vorleuchten. Die Farbe wird ein Widerspiel subjektiver Seelenzu-
stände. Von M i c h e l a n g e l o ü b e r n a h m Greco <den Anti-Naturalis-
mus der Form>, von Tintoretto die <anaturalistische Farbe und
Komposition). D e r W a h n - S i n n i m Grenzenlosen des jetzt rational
formulierten u n e n d l i c h e n R a u m s u n d der im Hypersubjektivismus
jetzt endgültig säkularisierten n e u p l a t o n i s c h e n <Idea>-Lehre wird,
trotz oder gerade wegen der jetzt z u m i n d e s t schon viel nationalisti-
scherem Naturwissenschaft, verstärkt, die Abneigung gegen
<Kreis> und <Mitte> der Pienaissance-Klassiker bestätigt. Dvorak
berichtet vom A u s s p r u c h eines Küsters, der Grecos Gemälde vom
Begräbnis des Grafen Orgaz in der Kirche des hl.Thomas von To-
ledo zeigte: <Er (Greco) w a r ein Verrückter (Ya era loco). Doch die-
ser Wahnsinn ist ein a n d e r e r als derjenige der Psychopathen. (Ma-
nier) und <Manie> v e r e i n e n sich i n höchster künstlerischer Form
bei Tintoretto u n d Greco wie bei G ö n g o r a (der allerdings in geisti-
ger U m n a c h t u n g starb) u n d J o h n D o n n e , den beiden größten
Dichtern in der d a m a l i g e n manieristischen L i t e r a t u r . " Eine schi- "Leonardo. Michelangelo. ja,
zothyme Welt oder eine p a r a n o i s c h e ? Was besagt das? Die meisten Keinhnmdt weiten starke <ma N-
stischo Elemente auf. Sie »w kten
Psychiater, die nicht n u r von i h r e m Fach, sondern auch von Kunst aber wie Calderön und Shakespeare,
und Literatur etwas verstehen, sind sich heute darüber einig (wie die ebenfalls (genialste* Züge dieser
<Art< zeigen, wen ober die <Bedingl'
bereits erwähnt), d a ß m a n in vielen künstlerischen <Manifestatio- heil» dieser <Gebärde> brnaus. Für
nen> traumatische E l e m e n t e sehr verschiedener Art finden kann, diese MenschheiUgipfel - da/u muß
man auch Racine und Goethe wäh-
daß psychoanalytische u n d individualpsychologische Instrumen- len — werden (Atttdrucksxwangei
tarien aller Art u n s z u m Verständnis gewisser einzelner Elemente seilen dominierend. Das Gesamt-
(Phänomen) der Gräfte entzieh*
eines Werkes (oder der <Psyche>) eines Künstlers verhelfen kön- sich, und darin liegt ihr Merkmal al-
nen, daß sie aber n i e m a l s a u s r e i c h e n d sind für die erschöpfende len bloß <klassizistischen> oder <ma-
nierisiiscben» Interpretationen. Die
Erklärung eines wie a u c h i m m e r <verschrobenen> Kunstwerks, so- «Leuchttürme der Mena hhesl
fern ein Kunstwerk n i c h t n u r n o c h eine <Spiegelung> <paranoi- (Baudelaire) vereinen -beide l rge-
bärden>. weil sie räch, in einer letzt-
scher> Bilder aus d e m U n t e r b e w u ß t s e i n werden soll. (Über die
lich wohl nur durch den Begrifl der
<Paranoia> der Surrealisten w e r d e n wir später hören.) Aber wir Gnade zu erklärenden Weise, von
müssen kurz erklären, wie dieses <Irre-Sein> sich im Manierismus dem einseitig AttocTOwttictCQ&ca
Zwang des einen oder des anderen
entwickelt, wie aus der Manier z u n ä c h s t eine Manie des Artifiziel- Ausdruckstriebs zu befielen pernio'
len wird. gen. (Dazu Teil V Kap. ji, uiiii yi 1
170
Das mythische Ei
Weltharmonie im Kreis? Wahrheit in der <Mitte>? Selbstzufrieden-
heit in der <goldnen> mediocritas? Konformistischer Idealismus?
Spannungen dieser Art machen weder menschlich noch künstle-
risch eine <Synthese> möglich, weder in einem banausischen (ba-
nalen) Sinne noch in demjenigen Sinne, der sicherlich zur höch-
sten Perfektion im Menschlichen und im Künstlerischen gehört, zu
einer <Perfektion>, die immer wenige Jahre dauert, so etwa in der
Kunst des Perikleischen Zeitalters oder in der Musik des reifen
Mozart. Dennoch schließen solche Spannungen keineswegs ein
<geheimes>, vielfach geradezu schüchternes, rührendes, ergreifen-
des Streben nach <kosmischer Ordnung) aus. Im Gegenteil.
Der Manierismus, sofern er nicht nur <modern> sein will, ist ja,
wie wir von Eugenio d'Ors wissen, immer eine <Sehnsucht nach
dem verlorenen Paradies>, nie aber eine Gewißheit — in diesem
<Jammertal> bereits des Paradieses teilhaftig zu sein. Wie ein
unendlicher Kontrastpunkt schwingt in der A-Rhythmik und Anti-
Melodik des Manierismus ein Leitmotiv durch: die esoterisch-py-
thagoreische Vorstellung der trotz ihrer Gegensätze <übereinstim-
menden> Welten, der <Harmonici Mundi>, Keplers. Licht und
Lorenz Stoer: Holzschnitt
173
spiele. Pablo Picassos <Geige>, die anamorphotische Einordnung
einer Welt-Dissonanz in einen elliptischen Rahmen, führt die Tra-
siehe Farbabbildung 19 dition folgerichtig weiter. Fabrizio Clerici zeigt, wie <Strauße>, im
<manieristischen> Verhalten den Affen ahnlich, die im geometri-
schen Raum vorgezeichnete <Urform> des Eis preziös ausbrüten.
Nullpunkt-Situation im Übergang?
Fabrizio Clerici hat uns bestätigt, daß er jahrelang maßgebende
Literatur über Eier-Mythen in allen Weltkulturen gelesen hat.
Manche seiner Zeichnungen zeigen auch ganz <reale> Eier, aber
auch <Eierköpfe>, so z.B. ein ganzes Regal von <Eierkopf-Büsten>.
Fabrizio spielt und philosophiert. Auf einer anderen Zeichnung,
siehe Farbabbildung ao betitelt <Mesmer-Phänomen> scheint er uns zur Hoffnung anzure-
gen, daß der Mensch trotz seiner erschreckenden Gebrochenheit
zwischen <Oben> und <Unten>, über einem phantastischen Magnet-
feld experimentierend (wie Remelli und Kircher), noch immer die
Möglichkeit haben könnte, aus einem seltsamen Zwittergebilde
von Kreis und Ei etwas zu erzeugen. Was ist dieses <Etwas>? In der
Biologie wird die Eiform als <Dauerform> bezeichnet, als Form der
1 74 mehrzelligen Blastula. Sie aber stellt sich dar als eine <Annähe-
rung> an die Daseinsform der kugelförmigen, homaxoncn Mone-
ren, an die <Sonnentierchen>, die <Heliozoa>, die in primitivster Ge-
staltung im All schweben, das sich wieder in ihnen spiegelt wie in
einem Tropfen Tau. In d e m Zwittergebilde Clericis ist der Kreis
kein <absoluter> Wert, aber die elliptische Form scheint sich - wie
die Blastula d e m Heliozoon — der Kreisform anzunähern, sie also
noch nicht erreicht zu h a b e n . Irrationalismus und Rationalismus
stehen in einer <Nullpunkt>-Situation des Übergangs. Damit kön-
nen wir bei u n s e r e m D e u t u n g s v e r s u c h den biologischen Bereich
verlassen und u n s , u m weitere Vergleichsmöglichkeiten zu finden,
in den philosophisch-literarischen Bezirk begeben.
Was ist eine geistige <Nullpunkt>-Situation? M a n kann darüber
in einem Essay H a n s E g o n H o l t h u s e n s nicht nur Aufschlußreiches
Atlianasius Kirrher.
lesen, man k a n n die <Nullpunkt-Situation> dort ebensowohl in ih- Typus Sympatliii us
rem Kontrast z u m <Kreis> des rational-pragmatischen Denkens de-
finiert finden, wie als A u s d r u c k e i n e r elliptischen <Philosophie des
offenen Horizonts>. D e n k e n in d e r Nullpunkt-Situation geht von
der Überzeugung aus, <die W a h r h e i b sei <nur darum das endgül-
tige Objekt, weil sie in m e n s c h l i c h e n Begriffen (im Kreis) niemals
endgültig objektiviert w e r d e n kann>. <Es gibt verschiedene Wahr-
heitsebenen.> W i r schrieben: <Überzeugung>. Woher kommt diese
<Überzeugung> in e i n e m Teil der so oder so zu verstehenden exi-
stentialistischen P h i l o s o p h i e u n d Literatur, wenn sie schon nicht
begrifflich-rationaler E r k e n n t n i s e n t s t a m m e n kann? Auch hier
haben wir es mit der m a n i e r i s t i s c h e n Urgebärde zu tun, ihr «Aus-
druckszwang> widerstrebt g e s c h l o s s e n e m , <endgültigen> Vorstel-
lungen, r u h e n d e n H a r m o n i e n . D o c h m a n hört und liest auch, daß
der Nullpunkt a l l m ä h l i c h <überschritten> werde, daß irrationales
Denken, Blastula-Form, sich d e m rationalen Denken, Heliozoon-
Form, annähert.
Ernst J ü n g e r schreibt in s e i n e m Essay <Uber die Linie>: <Die
Überquerung der L i n i e , die P a s s a g e des Nullpunkts teilt das
Schauspiel; es d e u t e t die Mitte, doch nicht das E n d e an. Die Si-
cherheit ist n o c h sehr fern. Dafür wird Hoffnung möglich sein.>
<Das Haupt ist jenseits der L i n i e . Indessen steigert sich der niedere
Dynamismus weiter u n d d r ä n g t zur Explosion. Wir wohnen dem
schauerlichen H o r t e n von Geschossen bei, die auf unterschieds-
lose Vernichtung g r o ß e r Teile des Menschengeschlechts berechnet
sind.> Bei Jaspers lesen wir: <Der Sturz aus den Festigkeiten, die
doch trügerisch w a r e n , wird Schweben-Können, — was Abgrund
schien, wird R a u m der Freiheit, — das scheinbare Nichts verwan-
delt sich in das, w o r a u s das eigentliche Sein zu uns spricht.> Und
Heidegger fast zwanzig J a h r e vorher: Die <Neue Zeit>, die «dürftige
Zeit> steht <in e i n e m d o p p e l t e n M a n g e l u n d Nicht: im Nichtmehr
der entflohenen Götter u n d im Nochnicht des Kommenden).
Unter dem p h a n t a s t i s c h e n <Magnetfeld> in der Zeichnung Cleri-
cis liegt das Vlies eines Fuchses, <SinnbiId> der List, der List der
Geschichte, vor allem dieser Clerici-Geschichte? Erscheint hier
nicht der M e n s c h e r b a r m u n g s l o s zweigeteilt, erinnernd an die so
grausigen H i n r i c h t u n g s s z e n e n von Märtyrern in S.Stefano Ro-
tondo zu R o m ? 1 6 Versinnbildlicht d a s von diesem «gespaltenem Fresken von l'omaranrio und
Tempesti.
Menschen mit der G e b ä r d e eines Magiers über dem <Magnetfeld>
gehaltene Zwittergebilde, d a ß dieser M e n s c h in einer <abstrusen>
Ubergangsphase von Kreis u n d Ellipse steht? Wer die auch literari-
schen Aus sagen Clericis k e n n t , wird nicht daran zweifeln können.
Wir haben nichts <hinein-geheimnißt>. Wir interpretieren ein
<Emblem> im S i n n e des Künstlers selbst. «Näherungswerte^ «ap-
proximative B ü s c h e b , «statistische Summanden>, so sagt die m o -
175
derne Wissenschaft, und zwar die Biologie wie die Mathematik-
<Das sind die Werte der Wirklichkeit, also auch die der Organis-
men und des Kosmos.) Vielleicht steht hier ein Teil der zeitgenössi-
schen Philosophie also vor einem ihrer möglichen neomameristi-
schen Embleme. Formengeschichtlich und ikonographisch haben
wir es hier nämlich geradezu mit einem mustergültigen Emblem
zu tun. Dieses Rätselbild ist nicht schwerer aufzulösen als die Tau-
sende von Emblemen um 1600. Man muß nur die Symbole ken-
nen. Daher der Nutzen von <Kunstgeschichte> als <Geistesge-
schichte>.
Schließlich zum Problem <Kreis oder Ellipse> noch eines der ei-
genartigsten Kunstwerke des 1/.Jahrhunderts: die konstruktivi-
stische) Decke Borrominis in S. Carlo alle Quattro Fontane zu
Rom. Kreise, Ellipsen und <irreguläre> Fünfecke fügen sich zu ei-
nem Labyrinth von <Grundformen> — im Übergang. Sie berühren
sich, scheinen sich aber auch gegenseitig zu verwerfen, als stritten
sie allesamt um den Sieg. Doch behält das <magischste> Zeichen,
das Zeichen des Kreuzes, hier noch seine erlösende, seine bindende
Kraft.
Auch Salvador Dali gab bekanntlich in den letzten Jahren seinen
Bildern eine <religiöse> Wendung. Er legte Pius XII. in einer Pri-
vataudienz den Entwurf zu seiner nahezu drei Meter hohen <Ma-
donna von Port Lligat> vor. Auch h i e r <schwebt> alles, nicht nur die
einzelnen Stücke des B a l d a c h i n - T h r o n e s , auch die Madonna und
das Kind selbst. U n t e r d e n verstreuten anderen <Symbolen> finden
wir auch das mit einer S c h n u r an einer Muschel befestigte Weltci,
genau über d e m H a u p t e der M a d o n n a hängend. Über der rechten
Hand des J e s u s - K n a b e n schwebt allerdings eine Kugel, in der lin-
ken Hand hält er das Kreuz. Auf seinem rechten Schenkel vereinen
sich beide, Kugel u n d Kreuz, in e i n e m Schattenspiel. Also Ei (El-
lipse), Kreis (Kugel) u n d M u s c h e l (das I r r e g u l ä r e ) - a l l e s ist wie bei
Borromini in einer <Ubergangssituation> vereint. Der historische
Manierismus wird auf diesem Bilde <ingeniös> angewendet, doch
leidet es an der typischen Eiseskälte, welche gerade Dalis religiöse
Werke kennzeichnet. M a n h a t d a h e r den Verdacht, daß uralte
Symbole hier o h n e e n t s p r e c h e n d e Voraussetzungen in einem ech-
ten mystischen Gefühl bloß als <neue>, <verblüffende> Requisiten
benutzt werden. Auch die u n m i t t e l b a r e N a c h a h m u n g ist bezeich-
nend. Das Motiv des ü b e r der M a d o n n a herabhängenden und an
einer Muschel befestigten <Welteis> h a t Dali von der <Madonna
dell'uovo> von Piero della Francesca ü b e r n o m m e n , jenes <großen
Konstrukteurs) des Q u a t t r o c e n t o , der, wie schon erwähnt, m i t U c -
cello, Masaccio u n d M a n t e g n a einen so starken Einfluß auf die
zeitgenössische surrealistische Malerei ausgeübt hat. Wie ein
Senkblei schwebt, d u r c h a u s preziös an einer Muschel hängend, das
<Weltei> über d e m H a u p t e der M a d o n n a . Da die Muschel in oft
phantastischer Weise das <Irreguläre> zur Form werden läßt, ge-
hört sie bekanntlich a u c h zu e i n e m Lieblingsmotiv der späteren
Manieristen. E i n e M u s c h e l gebiert jene <irreguläre> schiefe Perle
<Barocco>, welche angeblich d e m <Barock> den N a m e n gegeben
hat. Der manieristische <barocke> Spätstil <Rokoko> bezieht seinen
Namen vom französischen Wort <Rocaille> = Muschelwerk. Ellip-
tik (Ei), <Irregularität> (Muschel) sind auf d e m Bilde Piero della
Francescas vereint wie in e i n e m E m b l e m , das höchst geheimnis-
voll auf Zukunftsformen hinweist. E m b l e m a t i k also auch im Quat-
trocento, E m b l e m a t i k wie bei Dali, a b e r w e i c h e Innigkeit bei Piero
della Francesca, w e l c h e feierliche D e m u t im Antlitz der Figuren,
die die M a d o n n a u m g e b e n ! H i e r h a t m a n den Eindruck, einer ech-
ten mystischen Situation b e i z u w o h n e n , die alles erfüllt: die Augen
der Menschen u n d die wundervolle Ausgewogenheit des majestä-
tisch schirmenden R a u m e s . Kein Schwebespiel des Kalküls mehr.
Hier ruht das Heilige in der Geborgenheit des Herzens.
VIERTER TEIL
Traumstädte
Europas
19. D A S R U D O L F I N I S C H E
PRAG
Der Problematiker
auf dem Kaiserthron
m Jahre 1576 wird ein typischer <Saturniker> im Sinne Marsi-
lio Ficinos Deutscher Kaiser; Rudolf II. (1552-1612). Als er
/ die Herrschaft über das schon schwankende Imperium antrat,
war er vierundzwanzig Jahre alt, ein sensibler, begabter und hoch-
gebildeter <Romantiker>, eine <problematische> Jünglings-Figur
aus der Porträt-Galerie Pontormos. Schon unter Maximilian IL
war Prag zu einer Drehscheibe europäischer <Extravaganzen> und
<Modernismen> geworden, zum <manieristischen> Mittelpunkt des
grämten transalpinischen Europa. Rudolf, der wie so manche sei-
ner vielen Künstlerfreunde unverheiratet blieb, herrschte lange: 56
Jahre. In dieser Zeit, bevor er allmählich in geistiger Umnachtung
seelisch und körperlich verfiel, machte er mit dem <Rudolfinischen
Kreis> aus Prag eine intellektuelle <Welt>-Stadt ganz besonderer
Art. Für den Geschmack, für den Stil der höfischen und großbür-
gerlichen Kultur in Wien, Dresden, Augsburg, Nürnberg, Mün-
chen, in Antwerpen, Haarlem usw. bildete sie gleichsam die mittel-
europäische Brücke zwischen Süden und Norden, zwischen Mit-
telmeer und Atlantik. Dieses Prag hat der sonderlinghafteste
Habsburger, und das will etwas heißen, bewußt im Hinblick auf
das Alexandrien des Kallimachos und auf das Rom Hadrians mit
zahlreichen europäischen Künstlern zu einem der interessantesten
Knstallisationspunkte des abendländischen Manierismus ge-
macht; durch seine persönliche Eigenart, durch seinen Geschmack
der genauso o b s t r u s grandseigneurab u n d unsicher-<verängsti°-t>
genauso <verstiegen> und <synkretistisch> war — in der weltenverei-
nenden Gebärde - wie derjenige H a d r i a n s . W e n n es je in Europa
eine enzyklopädische Umwelt des M a n i e r i s m u s , von nationalen
und regionalen Eigentümlichkeiten geradezu chemisch gereini<n,
gegeben hat: so in diesem Rudolfinischen Prag. H a d r i a n erstrebte
in Rom, insbesondere in seiner Villa bei Tivoli, eine discordia Con-
cors der damaligen imperialen Welt, einen <Zusammenfall> aller
Gegensätze durch einen funkelnden Synkretismus. Ähnliches hat
Rudolf II. gewollt: eine geistig-politische Vereinigung des <Dispa-
ratem in seinem bedrohten Reich, ein im Geiste vereintes Europa,
ein Europa, das zwar pluralistisch ist in bezug auf Nationen, Regio-
nen, Konfessionen, S t ä m m e usw., aber eine überrelative Einheit
findet in der intellektuellen Vereinigung aller Gegensätze; u n d es
ist interessant, daß Rudolf II. nicht v o m Bilde des Perikleischen
Athen oder des Augusteischen Rom, Vorbild aller Klassik, auch in
potiticis, fasziniert war, sondern von Alexandrien zur Zeit des <Mu-
seion>, dieser damaligen Gelehrtengemeinschaft auf Staatskosten,
sowie vom Hadrianischen Rom, in w e l c h e m das P a n t h e o n ent-
stand, Symbol des Synkretismus.
Eine derartige politische <Idea>-Konzeption, einmalig in ihrer
Art, mußte scheitern. Die <Zeit>, die <Völker>, die <Dynastien>, die
<Erkenntnisse> waren nicht reif genug, die wirtschaftlichen <Real-
faktoren> noch nicht genügend ausgeglichen. Seine Verwandten
stießen ihn, wie in einem zeitgenössischen Shakespeare-Drama,
vom Thron. Dennoch ging gerade von P r a g eine Kraft aus, ein Stre-
ben nach europäischer Einigung im Geiste, das in einem (vielfach
allerdings allzu preziösen) Lyriker wie Rjlke u n d in einem so änig-
matischen Dichter wie Kafka, von vielen a n d e r n zu schweigen, sich
später immer wieder regte. Der Verlust dieser Stadt für dasjenige
Europa, das weder einem ökonomischen noch e i n e m biologischen
Materialismus verfallen will, wird i m m e r spürbarer. <West>- und
<Ost>-Europa sind, getrennt, auf die D a u e r zu schweren geistigen
Funktionsstörungen verurteilt. Der europäische Geist läßt sich
nicht auf <Westen>, <Süden>, <Nordern oder <Osten> lokalisieren. Er
ist auch nie bloß <dialektisch> gewesen, im S i n n e einer Relation
von jeweils nur zwei <Windrichtungen>. E r war in seinen schöplen-
schen Zeiten weder monologisch n o c h dialogisch. E r war Aus-
druck eines starken Pluralismus von Werten, in voller Freiheit des
Wählens und Entscheidens, und w e n n es - in Schöpfungen und
gesellschaftlichen Gruppierungen - bisher i m m e r n u r kurz echten,
eindeutigen europäischen Geist gegeben hat, d a n n i m m e r nur
dann, wenn die Ausstrahlungskraft aller geistigen Konzentrations-
punkte Europas, ob sie n u n Florenz, R o m , M a d r i d , L o n d o n , Paris,
München, Nürnberg, Wien, Brüssel, Antwerpen, H a a r l e m , Prag.
Warschau. Moskau usw. hießen - zahlreiche <Strahlen> also - , zu
einem Kristall mit hundertfachem Feuer z u s a m m e n s c h o ß .
Wir müssen uns i m m e r wieder vor A u g e n halten, wollen wir
Rudolfinische P r a g richtig verstehen, d a ß die Herrschaftszeit Ru-
dolfs II. (1576-1612) zu den geistig fruchtbarsten E u r o p a s gehört.
Erst aus dieser damaligen gesamten europäischen Umwelt
m a n ermessen, was der <Rudolfinische Kreis>, sein Stil u n d se
Weiterwirkung bedeuten, bevor viel später Paris m i t n e u e r <
sik> und mit e i n e r n e u e n politischen Systematik des Absolutisniu.
ganz Europa auf einen einzigen, auf einen Stil von Versal
durchaus zu <verengen> suchte, im Sinne eines Stils also, der
180 tionab war, aber <universale> Gültigkeit b e a n s p r u c h t e . N u n einig
zur geistigen europäischen Umwelt des Rudolfinischen Prags: zwi- 'James Joyce 1882, TS. Hlii.i 1888,
Erza Pound 18K.-,. Marinetti 1878,
schen 1580 und 1610 entstehen die Meisterwerke Tintorettos, Gre- Apollinaire 1880. Andre Derain
eos Göngoras, Lope de Vegas, Marinos, Shakespeares, Donnes. 1880, Ernst Ludwig Kirchner 1880.
Geboren 1881: Feiice Carena. Juan
1612, im Todesjahr des entthronten, im Irrsinn sterbenden Kaisers, Ramön Jimenez. I 8 8 J : l tnberto
beendet Jakob Böhme seine <Aurora>. Es handelt sich hier um ein Boccioni. 188^: Kran/ Kafka, Walter
zeitliches Konzentrat schöpferischer Manifestationen, um vorerst Grupius, Erich Heikel. 1884: Mai
Beckmann. 1885: Robert DelaUIU)
nur auf die <Gipfel> zu zeigen, wie man es in dieser raschen Folge 188b: FeAice Casorati, Foujila, Gott-
und in einem <manieristischen> Stil, in einem kombinierten Stil fried Beim. Hans Arp. 188-: Georg
Hevm. Georg Trakt, Paul Klee, »an
von Kalkül und Wahn, nur noch in der Generation findet, die zwi- Dongen, Marcel Duchamp, Kaoul
schen 1880 und 1890 geboren ist.1 Diif'y. Juan (jris. 1888: Giorgio de
Chirico, Ungaretti. i88u,: Willi Bau-
Schon früh hatte der <römische Kaiser> Rudolf IL die Gruppe von meister. Marc Chagall. i8(|<>: Vve«
Gelehrten, Künstlern und Schriftstellern, die er am väterlichen Hof Tanguy, Naurn Gabb. 1891: Max
Ernst, usw. Die gleiche zeitliche
vorfand, erweitert. Um 1580, als er die Schlankheit seiner Jugend Dichtigkeit in diesen Jahren ergibt
verloren hatte und nachdem er einen der skurrilsten Maler Euro- sich für die europäische Literatur.
Die Biologen müssen hier voi einem
pas, seinen Porträtisten und Hofmaler, Giuseppe Arcimboldi (gest. Rätsel stehen, seihst bei Annahme
1593), zum Reichsgrafen ernannt hatte, konnte sein Hof sich an eines alternierenden Auftretens von
Internationahtät, Intensität und Phantasiereichtum des geistigen -starken, und 'Schwachen) Genen in
jeweiligen Epochen.
Lebens mit der Museion-Zeit Alexandriens, mit der <Akademie> in
Hadrians Villa zu Tivoli, aber auch mit dem Hofe des Hohenstau-
fen Friedrichs IL in Palermo vergleichen. Auf einer Büste Adriaen
de Vries', eines seiner Hofkünstler, sehen wir sein typisches Habs-
burger-Gesicht heroisch-idealisiert, aber die Reliefs auf seinem
Panzer verraten seinen unkriegerischen Sinn. Ganz anders tritt er
K siehe Farbabbildung 21
uns auf einem Porträt Arcimboldis entgegen, das man bisher für
2
die ultramanieristische Darstellung eines <Gärtners> gehalten hat." cf. Näheres darüber bei B.Geiget
o.e. Es gibt ein Gedicht des Traktati-
Wir haben es formal mit einer manieristischen, metaphorischen sten Cornaron) (cf. Kapitel li. um
Malerei zu tun (über Arcimboldi selbst Näheres im nächsten Ab- Geiger zitier!, aus dem einwandfrei
hervorgeht, daß es sich um ein .iinig-
schnitt), aber auch dieser <Gärtner> ist kein simpler <Gärtner>. Der
matisches) Porträt Rudolfs II. han-
Kaiser wird von Arcimboldi als Gott Vertumnus dargestellt, der sei- delt, um ein <Rätselbild>. In der-arte
nerseits viel mehr repräsentiert als etwa den <Herbst>. Wir machen nova>. schreibt Comanini. offenbare
sich ein <secreto>. Das Geheimnis ist
keinen kunstgeschichtlichen Exkurs, sondern wir nähern uns dem in diesem Fall der Kaiser, denn: re-
Sinn dieses Porträts und damit einem von Rudolf IL gehuldigten gia imago nascondo.. <ein königlich
Bild ist in mir verborgen».
geistigen Prinzip, wenn wir uns fragen, was diese mythische Figur
<Vertumnus> bedeutet. Es handelt sich sehr wahrscheinlich um
eine von den Römern übernommene etruskische Gottheit. Die
etruskische Bedeutung ist unbekannt. Für die Römer wurde <Ver-
tumnus>, doch wohl aus etruskischem Nachwirken, der Gott des
<Wechsels>, der <Verwandlungen>, der <Maske>, also zu einem ma-
nieristischen Symbol wie diejenigen der Circe, des Proteus und des
Pfaus. Schon Hadrian hatte seinen Liebling Antinous als Vertum-
nus darstellen lassen. Wie auf den Rühnen zwischen 1600 und
1610 bedeutet das <Sich-verwandeln-Können> auch erotische Am-
bivalenz, Vertauschbarkeit sozusagen der Geschlechtsmerkmale,
Homoerotik beider Art. Natürlich liefert Ovid auch dazu die litera-
rische~FoEe: Vertumnus macht der Gartennymphe Pomona den
Hof, und er übertrifft alle Jüngeren an Leidenschaft. Um sich die-
ser scheuen Nymphe nähern zu können, verkleidet er sich als
Landmann zur Weizenernte, die Stirn mit Halmen geschmückt
Us
w., und dann verwandelt er sich, um besser zu wirken, in einen
Soldaten, einen Fischer, ja sogar in eine alte Frau, und als solche,
als Matrone, gelingt es ihm, die scheue Pomona zu küssen, worauf
er
sich enthüllt und sich mit beredt-verführerischen Worten als
<Jung> und <schön> preist. Ovid schreibt: <Er ist jung, schön und
kann, wenn es sein muß, alle Formen annehmend Wie Hamlet! Wie
di
e Gestalten auf Rildern Arcimboldis, wie die Figuren in den zahl-
losen Balletten und Musikdramen der Zeit. Adrian de Vries: Rudolf IL
Macht und Anti-Macht
Dieser Herrscher, Rudolf II., hatte also nicht n u r I l u m o r und Sinn
für Mystifikationen. Das geistige Spiel wird zu einem Merkmal
echter Souveränität, die europäische Welt soll im Spiel geeint wer-
den, das ja als besonders starke g r u p p e n b i l d e n d e Kraft eines der
wesentlichen kulturformenden E l e m e n t e ist. M a n verzeihe die
Peinlichkeit, aber m a n kann sich, m i t t e n in u n s e r e m heutigen Ma-
nierismus, keine staatlich konzessionierten Porträts dieser Art von
Churchill, Roosevelt, Daladier, u n d erst recht nicht solche Porträts
von Hitler, Stalin u n d Mussolini vorstellen. D a s Arcimboldi-Por-
trät Rudolfs II. ist in P r a g entstanden, als ganz E u r o p a durch politi-
sche und religiöse Konflikte schwer erschüttert w u r d e . Es scheint,
als sei die <Macht> im 20. J a h r h u n d e r t gänzlich h u m o r - und phan-
tasielos geworden. Die Macht, welche Selbstpersiflage verträgt, ist
<manieristisch>, d.h. auf Neutralisierung der M a c h t , also zuinnerst
auf Ausgleich bedacht. Die Macht, die sich selbst nicht ironisieren
kann, verharrt im <Unheil>. In m e n s c h l i c h e r E r s t a r r u n g brechen
die Dämonen m e u t e r n d hervor, im vertraulich-spielerischen Um-
gang mit ihnen werden sie gezähmt. F ü r die <Manieristen> des
20. Jahrhunderts, u n d das k a n n m a n aus europäischer Literatur
hundertfach belegen, ist die Figur des <Staatsmanns> der bisheri-
gen europäischen Geschichte zu e i n e m Symbol des menschlichen
Scheiterns in der Geschichte geworden, sofern in der Geschichte
wirkende <absolute> Werte (im platonischen Sinne) des Guten,
Wahren und Schönen oder (im christlichen Sinne) der Liebe aner-
»Die .Mächligen» bei Shakespeare: kannt werden. 5 Politik ist für Baltasar G r a c i a n ein <Chaos aus
eine r^mdgrubezur Problematik der Staatsräson», u n d <die S t a a t s m ä n n e r treiben es heutzutage anders
Macht. . . . , ••
herum ais andere Leute>. E r meint terner, es sei <em ganz unerhör-
ter Unsinn, daß ein Blinder auf jede Weise d a n a c h trachtet, die zu
führen, die sehend sind>. <Politiker>, schreibt er, <wiü sagen At-
heist». <Die Mächtigen begünstigen d e n I g n o r a t e n , belohnen den
Schmeichler, unterstützen den Betrüger; d e n Würdigsten gilt kein
Gedanke, geschweige d e n n eine R e g u n g des Wohlwollens.»
<Wenn die Macht wechselt, so wechselt die Zeit n u r ihre Taschen
aus.» Auch die Heerführer finden bei i h m k e i n e n Gefallen: <Die
mit den Kriegen ein E n d e m a c h e n sollten, ziehen sie in die Länge;
ihr Amt ist kämpfen, denn sonst h a b e n sie ja w e d e r Pension noch
Rente; und da sie nach b e e n d i g t e m Kriege o h n e Dienst oder
Pfründe dastehen würden, hätscheln sie den Feind, weil sie sich an
ihm mästen.» Zweifellos ein A r g u m e n t , das sich auch bei unseren
heutigen Pazifisten findet. Unsere Kultur ist a u c h deswegen ge-
fährdet, weil die meisten H e r r s c h e r E u r o p a s u n d die revolutionä-
ren Ideologien nach 1600 von einer m i ß v e r s t a n d e n e n <Würde-An-
üke> ausgehen. Unter L u d w i g XIV., a m E n d e des damaligen Ma-
nierismus, wird —zumindest als Fassade — eine kalte Macht-Antike
wieder zum Ereignis, ebenso u n t e r d e r Französischen Revolution.
Wir haben nachgewiesen, d a ß die <Göttin der Vernunft» der Revo-
lution, die am 1 o. N o v e m b e r 1 70,3 feierlich in N o t r e - D a m e einge-
weiht» wurde, nichts anderes ist als e i n e politische Säkularisierung
im banalsten rationalistischen S i n n e jener <Aeneadum genetrix>
des Lukrez, der weltenzeugenden Venus; u n d es w a r dies die Idee
eines einzelnen Literaten, M a r i e Joseph C h e n i e r . Die lebenzeu-
gende Venus wird bald zur m e n s c h e n f r e s s e n d e n <Deesse de la Kai-
sern. Die Diktaturen des 20. J a h r h u n d e r t s , Faschismus, National-
sozialismus, Bolschewismus, sie alle suchen repräsentative Wurde
in entsetzlich banausischen Klassizismen. D e r M a n i e r i s m u s ist lh-
182 nen so verhaßt, d a ß unter ihnen (auch in Italien n a c h einer anfäng-
liehen Anerkennung des Futurismus) alles Nicht-<Klassische>, so-
fern es nicht biedermännisch realistisch ist, verboten wird. Die
<Klassik> wird zum Symbol errungener Macht-Größe, der Manie-
rismus zum Schlagwort für Ohn-Macht, ja zum Schlagwort für ei-
nen angeblich unterweltlichen antifatalistischen Nihilismus. Das
hat sich insbesondere in der idealistischen Ästhetik des 19. Jahr-
hunderts ergeben. Klassik = Ordnung, Würde, Macht. Manieris-
mus = Unordnung, Würdelosigkeit, Zerfall. Dieser Antagonismus
ist heute, selbst in Amerika, so verhängnisvoll geworden, daß ein
<Klassiker> als <konformistisch> gelten kann, ein Manierist als sub-
versiv. Solche Leistungen der <terribles simplificateurs> sind be-
ängstigend, weil dieser zweifellos bestehende Gegensatz nicht aus-
geglichen, vielmehr im Gegenteil verstärkt wird, statt daß versucht
wird, die Zugeordnetheit dieser beiden Urgebärden der Mensch-
heit zu erkennen und sie, wenn auch nicht zu <harmonisieren>, so
doch zumindest zu versöhnen. Im Zeitalter der Massen sind wir
von solchen Möglichkeiten weiter entfernt denn je.
Gewiß, <Fehler> im Charakter und in der <Regierung> Rudolfs II.
wird man sicherlich ebenso finden wie in der so eigenartigen Per-
sönlichkeit Ludwigs IL von Bayern. Aberglaube, Prachtliebe, Ei-
genbrötelei, Schwärmerei, <freie> Moral, aber man kann all dies
durch Gegenpole ersetzen. Liebe zur Wissenschaft: vom Belvedere
des Hradschin beobachtete Rudolf IL oft mit Kepler oder Tycho
Brahe, die er an seinen Hof geholt hatte, nicht nur <astrologisch>
die Sterne. Rudolf IL liebte Hadrian, aber er hielt sich für den di-
rekten Nachfolger des Augustus. Er begeisterte sich für alle Abnor-
mitäten der Welt, und sein <Wunderkabinett> wurde rasch in ganz
Europa berühmt, aber er liebte auch die Geometrie, die Physik, die
Naturwissenschaft, die Literatur. Sein erotisches Leben war
ebenso zweideutig-eindeutig wie dasjenige Hadrians, aber der
Sinn für Schönheit setzte dem bloß orgiastischen im banalen Sinne
eine Grenze. Immer wieder stehen wir vor der elementaren manie-
ristischen Tendenz: Vereinigung der Extreme. Schon der <Rudolfi-
nische Kreis > war in ausreichend abenteuerlicher Weise zusam-
mengesetzt. Wir finden in der Gesellschaft des <manieristischen
Kaisem, der einen Teil seiner Jugend am Hofe Philipps IL in Ma-
^HrTverbracht hatte, außer Arcimboldi: Giovanni da Bologna,
J^rzehJannützer, Bartholomäus Spranger, Hans und Philipp de
MoBttQffimeifcte Vries, Hans van Aachen, der eine Tochter Or-
lando di Lassos heiratete, Christoph Schwarz aus München, Kep-
ler, Brahe, zahllose berühmte Kunsthandwerker, Münzenstecher
wie Antonio Abondo, den Porträtisten Nicolas de Neuchätel, die
Sammler Giulio Lincio und Jacopo Strada. den Schweizer Joseph
Hemtz, die Gebrüder Bassano und viele andere: eine kosmopoliti-
sche Gesellschaft. Johannes Kepler hat Rudolf H. allein schon da-
durch unsterblich gemacht, daß er einem seiner in Prag geschrie-
benen Werke den Titel gab: <Tabulae Rudolphinae>. Im Jahre 1596
Schien Keplers Werk mit dem bezeichnenden Titel: <Mysterium
Losmographicurm, in welchem das <Irrationale> mit dem Natio-
nalem verschmolzen werden sollte. Und dies ist das Prinzip: alles
sammeln, darstellen in <Kunst- und Wunderkammerm, was den
Zwiespalt der Phänomene in der Welt erkennen lassen könnte, um
Jn Sinne dieser anderen symbolischen Gestalt im Manierismus
es N
°rdens, des Doktor Faust, selbst auf <abenteuerliche> Weise
jenes vereinigende Bild wahrer, großer, überrelativer Einheit zu
»nden: <das verlorene Paradies>. Kein Wunder, daß das Volk von
ra
g bald flüsterte, Rudolf II. stehe mit dem Teufel im Bunde, wie
ln
den Faust-Legenden der Spätrenaissance, wie in Goethes Faust, 183
wie im <Faustus> Thomas M a n n s , der n u r n a c h e i n e m Alles-Wis-
sen die neue, die letzte, die rettende Welt-Formel u n d -Form zu
finden hofft, nachdem er in Palestrina dem Leibhaftigen begegnet
war.
20. A R C I M B O L D I U N D DIE
ARCIMBOLDESKEN
.8*
Giuseppe Vmmbiildi: Figur aus
l öpfen gebildet
Siiio Musso:
Der Frauendieb
l88
Fabrizio Clerici: Ambulante
Musiker
welches (das Porträt) sich selbst erklärt, heißt es: <E pur si vario un
solo sono> (<So verschiedenartig ich erscheine, ein Einziger bin
ich>).
In der genannten neuen Literatur über Arcimboldi wird ein Be-
richt des Traktatisten Comanini, eines Freundes von Arcimboldi
übrigens, zitiert, wonach Arcimboldi als erster Europäer so etwas
wie ein Farbenklavier gebaut habe, eine sog. <Perspektiv-Laute>.
Der Name dieses für den Pythagoreismus Arcimboldis wie Keplers
und Brahes aufschlußreichen Apparats ist bezeichnend genug. Er
weist auf die konstruktivistischem Tendenzen hin, über die wir
bereits berichtet haben. Arcimboldis Bilder sind nur Pseudo-Defor-
mationen der Wirklichkeit, und dieses Farbenklavier hilft uns,
jeder willkürlichen Deutung seines Werkes auszuweichen.0 Mit
1
Darüber Näheres von Lionello
Levi in B.Geiger o.e. Dort auch ein
dieser <Maschine> habe, so berichtet Comanini, Arcimboldi <alle Aufsatz von Oskar Kokoschka übel
Töne und Halbtöne, alle anderen musikalischen Konsonanzen in- Arcimboldi. Kr wird von O.K. als
<Surrealist> untellektuaiitüschea
nerhalb der Farben gefunden, und zwar auf Grund jener Methode, und lantünagischen Charakters be-
mit welcher Pythagoras die gleichen harmonischen Proportionen zeichnet. An den «Surrealisten.
glauben wir nicht. Richtig ist der
erfand). Wenn man somit das <Eine> (Ton, Farbe usw.) aufteilt, so Hinweis O. K.s. dal) Arcimboldi mit
ergeben sich zwar Verschiedenheiten, aber sie klingen alle wieder den (technischen» Tendenzen der
zu <Einem> zusammen. Es bleiben, bricht man das <Eine> ausein- Zeit zusammenhänge, eine «natürli-
che> Well durch eine •mechanische»
ander, ewige <Correspondances> bestehen, ja sie werden auf diese zu ersetzen. Wir können, nach unse-
Weise überhaupt erst sichtbar, die gleichen <Correspondances>, ren bisherigen Untersuchungen, al-
lerdings nicht mit 0. K. übereinstim-
welche Baudelaire zwischen Tönen, Gerüchen und Farben fand, in men, Arcimboldi habe als certtei
seinem berühmten gleichnamigen Gedicht: <Die Natur>. Das und «ohne Vorläufer» das Verhältnis
<Ursache und Wirkung, umgestürzt
<Eine> ist ein <Wald> von Symbolen; in einer <dunklen> und <tiefen>
<Einheit> <vermischen sich die Klänge des Echos^, <die Düfte, die
Farben, die Klänge entsprechen einander>. Solche <Correspondan-
ces> entdeckten die Manieristen der anders verfahrenden concor-
dia discors nicht etwa, indem sie von einem allegorisch <Einen> aus-
gingen, sondern in den <disparaten Wunderm der Magie und vor
allem in ihren <Zeichen>, auch in einem neuen Chiffresystem der
Sprache. Die getrennten <Künste>: Dichtung, bildende Kunst, Mu-
sik sind - dieser Farbton-Maschine Arcimboldis entsprechend -
ursprünglich <ein Eines> gewesen. In seinen Studien zum Pythago-
reismus spricht Hans Kayser, angeregt von Albert von Thimus, von
«harmonikaler Perspektive). Wir dürfen den Ausdruck etwas ver-
ändert auf das Werk von Arcimboldi übertragen: harmonikaler
Perspektivismus.
!9 J
Allegorische Metaphorik
<Harmonik> ist eine <Grenzwissensehaft>. Von ihr sagte Max
Planck einmal, d a ß gerade sie allein befähigt sein solle, ganz neue
Gesichtspunkte zu eröffnen. Arcimboldis Kunst ist eine manieristi-
sche <Grenz>-Kunst. Auch sie sucht n a c h d e m <verlorenen Para-
diese Wir glauben aber nicht, d a ß sich aus seiner <Kunst> neue
Gesichtspunkte ergeben können, e b e n weil sie <allegorisch> und
nicht <emblematisch> ist. Die Gestalt Arcimboldis aber, sein histo-
risch <erstaunliches> Werk, die Z u s a m m e n h ä n g e , in denen erlebte
und wirkte, all dies <vereint> sich zu m e h r als zu einer n u r doku-
mentarischen Bedeutung. D e r I d e a - U r s p r u n g der zeitgenössi-
schen Kunst findet einen weiteren A h n e n , w e n n auch einen, der in
einem historischen E n g p a ß geendet ist. W i e a u c h i m m e r die <Me-
thode> der einzelnen Manieristen oder M a n i e r i s t e n - S c h u l e n ist, sie
alle wurzeln in der <Idea>-Ästhetik, sie sind alle durch die katego-
rialen Bestimmungen Federico Zuccaris <wesentlich> zu begreifen.
Für Arcimboldi gilt Zuccaris Begriff des <Disegno artificalo, ge-
nauso wie der des <Disegno f a n t a s t i c o u n d der des <Disegno meta-
forico>.
Rudolf II. hat sich im Adelsbrief, d u r c h den Arcimboldi 1592 die
Palatinatswürde verliehen wurde, a u c h weise beschieden. Er lobte
ihn wegen seines <Ingenium> in <picturis artificiosis>. Über seine
Beziehungen zum Pythagoreismus wissen wir, a u c h über seine ent-
sprechende n e u e M e t h o d e der concordia discors. Aber diese Art von
Allegorik ist d e m technischen Kunstgriff n a c h , w e n n wir unsere
historischen Z u s a m m e n h ä n g e überblicken, keineswegs so absolut
neu, wie Kokoschka meint. W i r wollen uns g e r a d e angesichts sol-
cher <Stupore>-Bilder nicht von S p e k u l a t i o n e n verführen lassen.
Im dritten Teil (Abschnitt <Abstrakte Metaphorik>) wurde Näheres
über die M e t a p h e r n l e h r e in der antiken Rhetorik mitgeteilt. Wir
erinnern uns an die verschiedenen Möglichkeiten einer <Ubertra-
gung>. Eine Form ist: <Übertragung von Belebtem auf Belebtes>
(<Wolf> = <Schlauer Mensch)). S e h e n wir uns die Bilder an, die aus
Tieren oder B l u m e n usw. M e n s c h e n bilden. E i n e weitere Form:
Übertragung von L e b l o s e m auf Belebtes: <Steinernes Herz>: Kü-
chengeräte ergeben einen Koch. Gibt es bei Arcimboldi auch eine
Übertragung von Belebtem auf Lebloses? (Etwa: <Gesicht> der
h
rf. Heinrich Lausberg, Elemente <Landschaft>.6) W i r w e r d e n i m n ä c h s t e n Abschnitt davon hören.
der literarischen Rhetorik, München
1949, und Heinz Werner o.e.. zur
Wenn wir die Kunst von Arcimboldi in e i n e m geistigen Zusam-
Übertragung von Leblosem auf Be- m e n h a n g mit europäischen Traditionen als e i n e n <harmonikalen
lebtes: Der Bantu-Stamm Bolokis
bezeichnet einen Regenschirm als
Perspektivismus> bezeichnet h a b e n , so dürfen wir sie in einem
«Fledermaus). Metaphorismus ist technisch-formalen (manieristischen) Z u s a m m e n h a n g als allego-
Ausdruck - nach Werner — «ma- rische Metaphorik bezeichnen im S i n n e einer Para-Rhetorik (be-
gisch-primitiven' Denkens, aber
auch — dementsprechend - «Folge wußte künstlerische Legitimierung alles dessen, was Aristoteles -
einer schwachen Erfindungskraft'. insbesondere im Buch V seiner <Rhetorik> — als <Fehler> für die
Rhetorik bezeichnete). Diese P a r a - R h e t o r i k w u r d e vom E n d e des
14. Jahrhunderts an auch für die europäische Literatur zu einem
höchst widerspruchsvollen Schicksal. Z u m N e u p l a t o n i s m u s und
Pythagoreismus gesellen sich also die aristotelischen Bildungsele-
mente, auf die wir schon so oft gestoßen sind.
Leider geht das rhetorische Wissen, das W i s s e n u m Urformen
der <Aussage>, also diese Aristoteles-Tradition, im zeitgenössi-
schen Europa i m m e r m e h r verloren. W i r vergessen deswegen
nicht, daß die elementare Bildung der J u g e n d i m 16. u n d 17. Jahr-
hundert, wie in der Antike u n d im Mittelalter, eine <rhetorische>
Bildung war. W i e ein Musiker die H a r m o n i e l e h r e beherrschen
192 m u ß , so erinnert uns E. R. Curtius, m u ß t e d a m a l s der Dichter und
der Schriftsteller die Kunst der Rhetorik in Fleisch und Blut haben.
Arcimboldi, dem man <universales literarisches) Wissen nach-
sagte war kein <Einsamer in seiner Zeit> (Kokoschka), er war ein
voll ausgetragenes Kind der damaligen manieristischen Epoche,
und dies vermindert wohl nicht die starke Eigenart seiner persönli-
chen Entfaltung zu einer der zumindest interessantesten Künstler-
gestalten Europas in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts.
21. A N T H R O P O M O R P H E
LANDSCHAFT
UND D O P P E L G E S I C H T
GiacomoTorelli:
Bühnenbild
\tluumsius Kircher:
Anthropomorphe Landschaft
Fabrizio Clerici:
Vater und Sohn
197
die alles (mindestens) einen doppelten Aspekt hatte, wie könnte
also eine solche Zeit das ganz konkrete Bild des altrömischen Tür-
gottes Janus übersehen haben, des Gottes <des Anfangs> auch, des-
sen Ursitz sich auf dem Mons Janiculus befand. Dieser Doppelkopf-
Gott wird schon in römischer Zeit zu e i n e m preziösen Dekorations-
motiv. Die H e r m e n an den b e r ü h m t e n neronischen Schiffen von
Nemi, die am E n d e des Zweiten Weltkriegs verbrannt wurden, be-
weisen, daß diese Stupore-Schönheit, in einer mythisch schon ver-
armtem Zeit also, bereits gefiel. L e o n a r d o h a t in den zeichne-
rischen Experimenten des Codex Atlanticus das Gesicht bereits
zerbrochen und verdoppelt, u n d auch das h a t Dali schleunigst
nachgeahmt, so z.B. in Z e i c h n u n g e n zu seiner Autobiographie.
Als Kunstmittel — über das Experimentieren h i n a u s — hat er den
<Trick>, denn das ist und wird es n u n , in seinem Porträt Sir Lau-
rence Oliviers als Richard HI. angewandt. Fabrizio Clerici verdop-
pelt) das <Doppelgesicht> gar in e i n e m Porträt von <Vater und
Sohn>. Chagall benutzt ihn in seinem <Dorfmärchen> in einem
ebenfalls <doppelten> Sinn, denn nicht n u r das Gesicht des <Cello-
spielers> (Titel des Bildes), sondern auch sein Körper wird zu dem,
<was er spielt>, wie ein Arcirnboldi-Jäger zu d e m wird, was er erlegt,
nämlich zu einem Reigen von Tieren. <Transponiert> in eine Kom-
position <halb> abstrakter Art findet m a n den römischen Janiculus-
Gott schließlich im Frauenantlitz eines Bildes von Picasso, das er
diskret <Der rote Sesseh nennt. Verschiedene Stufen der <Transpo-
sition> oder <Abstraktion> oder <Stilisierung>, aber uraltes <Prinzip>
oder <Motiv>. Es hat sicherlich nicht n u r einen europäischen Ur-
sprung, denn das Doppel- oder sogar das <Trias>-Gesicht findet
man in Indien oft, wie die <Trimurti> von Elefanta beweist. Auch im
<Gemachten> schaut uns somit noch mythische Urzeit, manieristi-
sche <Urgebärde> an.
Das <Doppelte>, das <Doppelwesen>, das Zwei- bzw. Vieldeutige:
der Wunsch wird wach nach psychologischen E r k l ä r u n g e n . Wir
werden es im letzten Kapitel dieses Buches versuchen. M a n sollte
jedoch schon hier davon überzeugt sein, d a ß wir es in solchen Fäl-
len nicht mit <isolierten> E x p e r i m e n t e n von <Narren> zu tun haben.
Die manieristische Literatur w i m m e l t von <Doppelgesichtern>. In
einem Theaterstück von Botrou, <Les Sosies> (1638), heißt es, alles
sei doppelt [double). Zwei M e n s c h e n w e r d e n zu <deux doubles>,
und <man verliert) sich (in dieser Konfusion), <man verdoppelt
sich>. In vielen Theaterstücken dieser Zeit spielt ein H e l d gleich-
zeitig zwei Rollen, er ist sein eigenes Doppelbild. E r ist zwar ein
<Einziger>, erscheint aber als ein <Doppelter>. Auf einer höheren
dramatischen E b e n e verwischt sich ü b e r h a u p t alles, fast jeder hat
ein <Doppelgesicht>, so in d e m - n e b e n <Hamlet> — großartigsten
literarischen Kunstwerk des M a n i e r i s m u s , in <Maß für Maß>.
Weltangst und Intellektualismus - d u r c h a u s echte <Sorge> im Da-
sein und eine spielerisch-verzweifelte oder verzweifelt-spielerische
Tendenz, diese <Angoscia> zu ü b e r w i n d e n - , sie beide führen zur
Gefahr einer Bewußtseinsspaltung.
Der Ausdruck <Intellektualismus> wird hier keineswegs in einem
polemischen Sinne gebraucht. Es soll jedoch hervorgehoben wer-
den, d a ß die Überbetonung intellektueller Kräfte, jede zerebrale
Hybris, die den Intellekt verabsolutiert, d. h. jede Gewohnheit, wel-
che die nur funktionelle B e d e u t u n g des Intellekts (im Sinne Berg-
sons) <hypostasiert> u n d den Geist d a m i t metaphysischen, mythi-
schen oder religiösen Bindungen entreißt, zu e i n e m Verlust h u m a -
ner Breite, menschlicher Ganzheit führt. Schon d a m a l s wird <Inge-
nium> mit Intellekt verwechselt. In der <Idea> b e g i n n t der Mensch,
nur noch sich selbst anzuschauen. Er sieht sich als <Wesen> in sei-
ner <Idea>, im Bewußtsein. Gleichzeitig schaut er sich - außerhalb
seiner selbst - in der Natur an. Der manieristische Mensch ent-
deckt damit, daß er einen Doppelgänger hat. Seinem <Idea>-Ich
tritt ein <Natur>-Ich gegenüber. Das führt - auf der Bühne - zu
tollen Identifikations-Rätseln. Pirandello und viele andere <Mo-
derne> haben dieses Spiel eines Rebus der Identifikation aufgegrif-
fen. Eines der Rätsel Kafkas: das Suchen nach der eigenen Identi-
tät.
Der moderne Kriminalroman verwandelt dieses einst durchaus
geistige, vor allem sinnbil dliche < S chach> - Spiel zu einem <krimino -
logischem Mensch-ärger-Dich-nicht-Rebus. Die genialen Identi-
täts-Metamorphosen des manieristischen Theaters, der manieri-
stischen Literatur und Kunst werden zum populären Rätselspiel
des <Enthüllens> von Doppelgesichtern in der Kriminalliteratur
unserer Tage. Bei besten Autoren ist dabei durchaus scharfsinniges
(acuto) <Ingenium> zu bewundern. In den gelungensten Kriminal-
romanen der letzten zwanzig Jahre ist die Poesie des Sinnlosen oft
<erstaunlich>, eine meraviglia für den Intellekt, ein Mittel des Er-
schauerns für das Gefühl, eine Landschaft von <Monstren> für die
Phantasie, ein inganno (Täuschung) für den Verstand. Insofern
entsprechen erstrangige Kriminalromane nach 1930 (Wallace ist
demgegenüber ein Biedermann) der manieristischen Theaterlite-
ratur von etwa 1600 bis 1630. Sie bilden also eine neue manieristi-
sche Gattung par excellence. Nur eines darf zur <Unterscheidung>
auch hier nicht übersehen werden: das <Doppelgesicht> unserer
Vorfahren hatte noch einen Rest <mythischen> Hintergrunds; zu-
mindest war es noch <Emblem> für ein <Zerbrechen> der Zeit, für
eine Ubergangssituation zwischen <Gestern und Heute>. Ähnliche
<Bindungen> wird man nur in ganz wenigen Kriminalromanen un-
serer Zeit finden. Hingegen ist das Doppelgesichtige, das Identi-
tätsproblem zu einem der wichtigsten Themata der europäischen
Lyrik und Problemliteratur geworden, so z.B. in Paul Valerys
<CycleTeste>.
22. D I E W E L T DES
TRAUMES
N e u e W a n d l u n g der <Idea>
'93° in Paris. Die Surrealisten wollten die Welt <schlafend> im
Traum erfahren, weil sie nur so <wahre> Bilder des Absoluten fin-
den zu können glaubten, Bilder, die jeder bloßen Zweckhaftigkeit,
jeder Verfälschung durch den Willen zu irgendeiner Tat, entzogen
waren. Auf einem Photo der Zeitschrift <La Revolution Surreali-
s t sehen wir die wichtigsten, damals noch geeinten französi- * i-yiWmber . 92q .
sc
hen Surrealisten, unter ihnen auch M.Ernst und S.Dali mit ge-
schlossenen Augen. Wenn es sich bei dieser Photomontage auch
n
"r um ein surrealistisches Gesellschaftsspiel handelt, so sind die
schlafendem Gesichter für den äußerst intensiven Traumkult be-
l e h n e n d genug, der damals von Dichtern, Schriftstellern und
Künstlern der europäischen Avantgarde gepflegt wurde. Bretons igg
<Nadja>, das Meisterwerk des Surrealismus, will beweisen, daß
diese durchaus romantische Heldin echter Wirklichkeit - träu-
m e n d und Wahnbildern folgend - in e i n e m ganz anderen Maße
teilhaftig wird wie die zu m e c h a n i s c h e m , <normalem> Verhalten
Das Phänomen der «Arbeitstei- gezwungenen Menschen unserer Zeit der Arbeitsteilung. 9 Die
lung« in unserer heutigen Zivilisa-
tion ist zu einen wichtigen wissens- Schriften Sigmund Freuds gaben den <Schlafenden> allerdings
soziologischen Begriff geworden. Schlüssel in die Hand, u m ihre T r ä u m e in e i n e m vorwiegend sexu-
Uer «Fragmentarinnu» in unterer
hetrugen Kultur ist durch die fort-
ell-symbolischen Sinne zu deuten, aber gerade das entspricht jeder
schreitende VrbertsteUung sicher zu Art von Manierismus. Der Manierismus ist in e i n e m entscheiden-
einem Teil zu erklären. Vgl. dazu den Sinne <Ausdruckszwang> eines pansexuellen Lebensgefühls.
Mai Si heier. Die VVissensformen
und die Gesellschaft. Leipzig 11)26. Die Manieristen zwischen 1520 und 1660 sind von sexuellen Pro-
blemen ebenso besessen gewesen wie u n s e r e h e u t i g e n Manieristen
— mit oder ohne Freud. Wenn wir h e u t e u n s e r e D . H . Lawrence
und Henry Miller haben, so verfügte das d a m a l i g e E u r o p a über
den <Pansexualismus> Aretinos u n d M a r i n o s .
Es ist für uns zunächst wichtig, noch nicht darauf zu achten, wie
Träume gedeutet werden, sondern darauf, daß sie ein weiteres Ele-
ment der <Idea>-Lehre sind. Von metaphysischer Bindung der
<Idea> (im Sinne Piatons u n d Plotins) ist allerdings n u n wirklich
keine Rede mehr. Das Ich n i m m t die <Idea>, d e n <Disegno Interno>
nun nicht m e h r wach, sondern schlafend auf. U m den <Disegno
fantastico metaforico> richtig zu erfassen, m u ß m a n sein Bewußt-
sein auslöschen. Die Natur ist jetzt vollends d e m inneren Blickfeld
entrückt. Natur u n d Bewußtsein gelten als für die Kunst geradezu
schädlich. Wer gut schreiben will, m u ß <automatisch> schreiben,
einer phantastischen Bilder-Maschine Kirchers entsprechend.
Wer gut malen will, m u ß Spiegelungen des T r a u m e s aufzeichnen,
Bilder des Unterbewußtseins, was in der M e t h o d e den Spiegclma-
schinen Kirchers ebenfalls entspricht. U n d sind die Träume nicht
geradezu <ungeheure> Landschaften von Chiffren, von Signaturen,
von E m b l e m e n für Geheimnisse, u n d w e n n es n u r in einem sehr
vereinfachten Sinne sexuelle <Geheimnisse> w ä r e n , wie das <Verti-
kale> als Symbol für den Phallus u n d alles <Runde> für die Va-
'" r'iir Tesauro schon sind Träume gina!11'
scharfsinnige Metapherin.
Der manieristische Urtrieb, die Welt in Bildern zu erfassen, die
man zwar in ihrer Zusammenhanglosigkeit erlebt, aber zu hiero-
glyphischen E m b l e m e n zusammenfassen k a n n , erhielt ab 1920
durch die Schriften Freuds einen n e u e n I m p u l s . Freud, der wie
Ficino erneut uralte orientalische Weisheiten in einem allerdings
oft merkwürdig rationalisierten Sinne d e m bürgerlichen Europa
vermittelte, hat als orientalischer Magier, wenigstens für eine Zeit-
lang, die Schaum-Schlösser des spätbürgerlichen Idealismus zer-
stört. Aber nicht n u r das. Sein größeres Verdienst liegt darin, den
<Traum>, diese unmittelbarste Manifestation des U n b e w u ß t e n , als
befreiendes Gegenbild dem <idealistischen> Bationalismus seiner
Zeit entgegengesetzt zu haben. Ein E i n w a n d gegen viele seiner
Nachfolger und vor allem gegen die g e s a m t e n <Anti-Bürger> der
späteren Zeit: sie n a h m e n sich bis zur totalen V e r g r ä m u n g zu ernst
in ihrer angeblich historischen Einzigartigkeit. E s k a m unter den
Hierarchien dieser Avantgarden zu entsetzlichen Konflikten. Das
spätere <ästhetische> Philosophieren wird zu e i n e m lasterhaften
Geschwätz. Es leidet an schriftstellerischen E r b s ü n d e n : Lang-
weiligkeit, Konfusion, historischer Unwissenheit u n d an einem
avantgardistischen Zopfstil. Sein M e r k m a l : pseudoesoterische
Arabeske. Wir wollen uns daher z u m T r a u m - M o t i v mit wenigen
Beispielen begnügen u n d für weitere F o r s c h u n g auf die ausge-
zeichnete Bibliographie von Maurice N a d e a u hinweisen.
A.Beloborodnfh
See im Forum
205
alogischen Metapher kennt keine G r e n z e n m e h r . M o n s ü ist - zu
seiner Zeit - in dieser Beziehung a u c h kein <Einsamer>, wie man
einer für uns n u n nicht m e h r allzu e i g e n a r t i g e m Darstellung des
Globe-Theaters, des Shakespeare-Theaters, in L o n d o n entneh-
men kann, das nach dem Brand von 1613 in achteckiger Form wie-
deraufgebaut und 1644 abgerissen w u r d e . Diese Gravüre stammt
also aus der Schaffenszeit Monsüs. Sie erinnert u n s a n ein zeitge-
nössisches Bild, an die <Kirche> Carlo Carräs. Die architektoni-
schen Formen bilden Gesichter. <Magische> Architekturlandschaf-
ten findet m a n in der zeitgenössischen Kunst E u r o p a s u n d Ame-
rikas häufig. Von dem in Rom l e b e n d e n M a l e r u n d Architekten
Andrea Beloborodoff, der für Paul Valery Illustrationen geschaf-
fen hat, gibt es eine ganze Serie derartiger Bilder, so z.B. <See im
Forum>. Wird hier eine Ruinenlandschaft (ohne Zeugen) <kata-
siehe Farbabbildung 30 strophisch> überflutet? Auf Fabrizio Clericis Bild <Venedig ohne
Wasser> findet das Umgekehrte statt: ein gespenstisches Ruinen-
Venedig trocknet über der versandenden L a g u n e aus.
Die <Magie> der Architektur war a u c h d e m Mittelalter gerade in
seiner <manieristischen> Zeit bekannt. Wieweit die eigenartigen
Häufungen von Figuren in den architektonischen Gebilden auch
Monsüs von damaligen Vorstellungen über Indien beeinflußt sein
mögen, kann m a n n u r vermuten, zumal uns n o c h n ä h e r e Einzel-
siehe Farbabbildimg 31 heiten über das L e b e n Monsüs u n d seiner Werkstatt fehlen. Daß
aber einer der bedeutendsten Darsteller solcher <abstrusen> Archi-
tekturlandschaften von Erlebnissen u n d E r f a h r u n g e n im Orient
beeinflußt ist, kann m a n beweisen. Fabrizio Clerici hat nach einer
Reise im Orient ein illustriertes <orientalisches> Tagebuch ge-
23. Z I E R S E U C H E
Kosmopolitismus
Die manieristische Kunst überschreitet in der Geschichte die
Grenzen von Raum und Zeit. <Nicht nur die Grenzen zwischen den
Ländern, Völkern und Sprachen werden überwunden, sondern
auch die Widerstände des Geistes und der Materie.) <Niemals war
die gegenseitige Beeinflussung größer, die ungehemmte Entfal-
tung der Ideen so allgemein, die Zusammenarbeit zwischen den
schöpferischen Städten Europas so eng und unauflösbar.) Die ma-
niera, von der nun so vielfältig erlebten und gedeuteten <Idea> an-
geregt, bildet in bestimmter Weise in allen Städten Europas, zwi-
schen 1550 und 1650 wie zwischen 1890 und 1950, auch die For-
men zu neuem Schmuck um, auch die Möbel, Gewänder, Geräte,
das Geschirr und die Bestecke, die Keramik. Das gesamte Kunstge-
werbe in diesen beiden Epochen wird manieristisch. Bruno Tho-
mas führt dazu folgende Merkmale an: Seltsamkeit, Seltenheit,
Extravaganz, das Außergewöhnliche, das Erstaunliche, Grausige,
das Ausgesuchte und Monströse, das Widerliche und Seltsame. Zu
den Formen: sie sind <gewunden, gebogen, willkürlich und sogar
gewaltsam verändert). Wir begegnen also einer universalen Aus-
breitung jenes <Mythos des Irregulären), von dem wir im dritten
Teil unserer Darstellung berichteten, gestern wie heute. Wie aber
war - damals - die relativ rasche Ausbreitung eines gemeineuro-
u
Über die damalige Bedeutung des
päischen Stils möglich? Wir haben es im Abschnitt über Parmigia- Ornament-Stichs als Aa< lm< hti-u-
nino bereits angedeutet: durch den Kupferstich, insbesondere mittel> (das damalige -Photo.!: Der
durch den <Ornament-Stich> als Vorlage für kunstgewerbliche in Prag unter Rudolf II. wütende
B. Spranger L B. kopierte um i >j8^
Schöpfungen. Der <Ornament-Stich> des 16. und 17. Jahrhunderts Stiche nach l'armigianimi und sol-
ist nun in einer doppeTteh"Weise~für uns interessant. Er führt die che von Floris. Die Gebrüder Sade-
lerz.B.. die fruchtbarsten kupferste-
ornamentakGroteske, die uns in den <faulen> Formen der Engels- cher um 1600. wirkten in JJHM? Eu-
burg begegnete, in extremer, geradezu <verrückter> Weise fort, und ropa. Johann ist 1 550 in Brüssel ge-
boren und stirbt 1600 in Vndig.
diese damaligen manieristischen Ornament-Stich-Blätter oder Raffael. 1561 in Antwerpen gebo-
-Bücher haben manche zeitgenössische Künstler zu neuen (irregu- ren, stirbt 1628 in München; Gilles
(geb. 1560 Antwerpen) arbeitet n,
lären) Formen angeregt. 12 Italien und Prag, wo er 1609 (ein Le-
ben beschließt. Die •l'bermitthuig
Doch wir können durch einen kurzen Einblick speziell in den der Formen >. die man jetzt erst zu
damaligen Ornament-Stich, wie gesagt, auch mehr verstehen als beobachten und zu verstehen be-
die Ursache für die damals schon so rasche gegenseitige Anregung ginnt, ist damals also durchaus
verkehrstechnisch gesichert. Gei-
«nd für die Internationalität des Manierismus (beide bedingen sich stesgeschichtlich ist es ja gewiß, daß
gegenseitig). Wir wissen ja bereits, daß der Manierismus nach <of- - wie schon Vasari berichtete - Pbn-
nen> tormo seine mamera änderte, als er
Politischen Systemen strebt, wie der Klassizismus nach (ge- Stiche von Dürer gesehen hatte
schlossenen). Die aristokratische Kultur Europas um 1600 war viel (Vgl. J.Adhemar. Amsterdamer Ka-
talog o.e.)
osmopolitischer als diejenige des frühen Liberalismus zur Zeit
Voltaires, des <mittleren> Liberalismus zwischen 1870 und 1914
und des zwischen <Links> u n d <Rechts> s c h w a n k e n d e n Liberalis-
mus nach 1950. Die m e h r ideologische Internationalität des Sozia-
lismus ist fast zu einer Fiktion geworden. D e r heutige Kommunis-
mus ist n u r noch insofern <international>, als er seine Slogans aus
Arsenalen Moskaus bezieht. Es gibt d a h e r im heutigen Europa,
außer der katholischen Weltkirche, wohl n u r n o c h einen geistigen
Kosmopolitismus neben demjenigen des a k a d e m i s c h e n Humanis-
mus: den <manieristischen> Esoterismus.
Desiderio Monsü:
Der babylonische Turm
2 1 0
heute eine manieristischer Altersstil allmählich der Formlosigkeit
verfallen könnte. Gäbe es keine echte Verzweiflung mehr? Werden
die Beziehungen zur <saturnischen> Weisheit vergessen? Es würde
dies zu einer der wahrhaft <monströsesten>, <alogischen> <Koinzi-
denzien des Gegensätzlichem der Menschheitsgeschichte führen
können: der Wahn-Sinn der hybriden Macht würde mit dem Wahn-
Sinn der hybriden <Anti-Macht> zusammenfallen. Wenn derartige
Opponenten die gleiche Wahn-Sinns-Sprache reden, was wäre
dies anders als eine exakte Wiederholung der babylonischen
Sprachverwirrung, deren Symbol, den <Turm zu Babeb, uns
Monsü in einer sicherlich nicht beruhigenden <Traumlandschaft>
zeigt. Zwei Welten mögen sich in diesem Labyrinth einer doppel-
tem Hybris gegenüberstehen... Sie laufen ständig aneinander vor-
bei. Sie haben keine gemeinsame Sprache mehr. Beide Welten se-
hen sich nur noch mit den Augen des Wahnsinns an.
24. WAHNSINN
Agonie im Extremismus
Schon Pietro Aretino (1492-1556), Publizist, Skandalmacher,
<panerotischer> Pornograph, Kunstsammler und Verfasser religiö-
ser Abhandlungen, hatte geschrieben: <Göttlich ist der schöne
Wahnsinn (follia) der Inspiration.> Das ist noch platonisch, selbst
bei diesem ersten genialen <Background>-Journalisten Europas,
den weltliche und geistliche Herrscher fürchteten und verfolgten
oder benutzten und belohnten. Diese <Theia Mania> wurde von Fi-
cino interpretiert und empfohlen. Sie ist ein Merkmal aller <satur-
nischen Melancholiker). Am Ende des Manierismus wird auch
dieses eine Merkmal der schöpferischen Persönlichkeit verabsolu-
tiert und säkularisiert. Aus der <Manier> wird allmählich also nicht
nur <Manie>. Der Künstler gilt nun erst dann als wahrhaft produk-
tiv, wenn er manisch ist. Sein Werk ist nur dann künstlerisch echt,
wenn es <wahn-sinnig> ist. Der Wahn-Sinn wird damit zum extre-
men Ausdruck des Manieristischen. Der englische Lyriker Cra-
shaw schreibt von der <glorious madness of a Muse>, vom glorrei-
chen Wahnsinn einer Muse, <deren Füße über die Milchstraße
schreiten können>. Einen der ergiebigsten Traktatisten der manie-
nstischen Literatur um 1650, Emanuele Tesauro, haben wir auch
m dieser Beziehung schon zitiert: <Die Irren (i matti) sind besonders
dazu befähigt, in ihrer Phantasie schillernde Metaphern und
scharfsinnige Symbole zu schaffen. Genaugenommen ist der
Wahnsinn nichts anderes als ein Gleichnis für die Fähigkeit, eine
Sache in eine andere zu verwandeln.) Tesauro rekapituliert schon
ln
der Todesstunde des damaligen Manierismus.
Wie hatte dieser <Wahnsinn> z.B. auf der Bühne von etwa 1600
bl
s zum Erscheinen seines <Gannochiale Aristotelico (1654) aus-
gesehen, um hier nur einige wenige Beispiele zu geben? Alle Er-
scheinungen lösen sich auf, d. h. jeder kann jetzt, wie bereits darge-
stellt, irgend etwas sein oder werden. Rousset führt dafür aus buko-
When Bühnenstücken von 1594 bis 1653 eine ganze Reihe von
geradezu <paranoischen> Verwandlungs-Motiven an. So wird aus
Faust Nymphe, diese aber erscheint dann als Artemis doppelt. In
einem Hirtenstück von Troterel d'Aves (1610) verwandelt sich ein
«Monstrum> in einen Jüngling, dann in einen Felsen. 1624 schreibt
Hardy einen <Alphee>. Darin verwandeln sich M e n s c h e n erst in
Felsen, dann in Fontänen, weiter in B ä u m e u n d schließlich wieder
in sich selbst zurück. Tote Lebende u n d lebende Tote sind beliebt,
vor allem aber Wahnsinns-Szenen, u n d welche B e d e u t u n g all dies
im unerschöpflichen M e n s c h e n - P a n d ä m o n i u r n von Shakespeare
erhielt, wollen wir hier n u r kurz darlegen. <Am I myself?> fragt ei-
ner der beiden Dromion in der <Komödie der Irrungen> (Spiel von
zwei Zwillingspaaren). Und er fragt sich weiter, ob er auf der Erde,
im Himmel, in der Hölle, wachend oder schlafend, wahnsinnig
oder bei Vernunft sei. M a n hält das seltsame P a a r für verrückt, und
sie halten die ganze Welt für irrsinnig. (<And h e r e we wander in
illusions.>) Ophelia hält Hamlet für irrsinnig: <die edle hochgebie-
tende Vernunft mißtönend wie verstimmte Glocke jetzt>, u n d wird
es dann selbst. Der <cursed spite>, der «höllische Kram> der Welt,
das unfaßbare Unheimliche des Lebens findet im W a h n - S i n n und
im Walmsinns-Spiel seinen höchsten Ausdruck. D e r Geist «perver-
tiert) sich, alle Werte «pervertieren) sich. Aus dem M u n d e der Mac-
beth-Hexen bricht in schriller Dissonanz die paradoxe Weltformel
«Fair is foul, and foul is fair>. D e m M e n s c h e n m i t «schizophrener
Neurose> entspricht die «gespaltene Welt> im Übergang. Es ist, als
dominiere nachwirkend im Epilog des damaligen Manierismus
siehe Farbabbildung 55 R Bruegels d. A. «Tolle Griet>, als sei sie — in einer vollendeten Irr-
sinns-Landschaft—zur letzten u n d höchsten M u s e des Spätmanie-
" Die .Tolle C.riet. und ihre nächste rismus geworden. 1 1 In einem bukolischen Theaterstück von Du
Umgebim«* enthält viele Motive, so j-. , ~ , 1 ,0 T 1 •n • i • 1 1• • i- e-
z.B. «Isoliertes AnSe» in «Anthropo- Ryer (1624) heißt es: «ich weiß nicht, wer ich hm, m diesem fmstern
mo
rpher Landschaft,
Traum-Landschaft>, .Ruinen-
Dämonen usw Labyrinth von Leid und Widersinn.> Das «Erschröckliche>, «er-
schröckenliche Geschientem, das <Wunderseltzame> wird zu einer
halluzinatorischen Thematik des deutschen Holzschnitts zwischen
1570 und 1630. Da sieht m a n «drei Schreiber, die z u s a m m e n nur
zwei H ä n d e haben>, abscheuliche <Mißgeburten> u n d «Wundcrge-
burten>, einen <Knaben>, der «weißes Blut> schwitzt, allerlei «Meer-
und H i m m e l s w u n d e n , lauter «faszinierende) Ver-rücktheiten.
Salvador Dali:
Gala Placidia
* \\ ^4ä •
216
deren <Ausweg> d e n k e n ? W e r k ö n n t e sich dieser ersten und höch-
sten Urgebärde, n e b e n den b e i d e n <ästhetischem Urgebärden der
Menschheit, entziehen, der d e m ü t i g e n Kraft gefalteter Hände?
Müssen wir n a c h der B e t r a c h t u n g u n d Lektüre so vieler Psycho-
gramme und I d e o g r a m m e der europäischen Geistesgeschichte
vom < Aufgang der Neuzeit> bis z u m <Atomzeitalter> also pessimi-
stisch sein? W e r d e n a u c h wir zu <intra-atomischen Maschinen)
(Titel einer Z e i c h n u n g von S. Dali)? M ü s s e n wir uns — im Geiste —
anschicken, von W a h n s i n n s - F i g u r e n u m g e b e n und mit atom-
staubsicheren M a s k e n versehen, <die Welt zu verlassem? Hoff-
nungslosigkeit g e h ö r t zu d e n <schweren) Sünden unserer Zeit.
Woraus aber k ö n n e n wir d e n n h e u t e n o c h Hoffnung schöpfen,
wenn wir dauernd mit u n s , mit der U m w e l t und Überwelt Kompro-
misse machen wollen, K o m p r o m i s s e , die uns den alltäglichen klei-
nen Lebensgenuß sichern? Alles w ü r d e sich verflüchtigen im Irr-
Sinn der manieristischen S p ä t p h a s e , genauso wie alles in jeder
klassizistischen S p ä t p h a s e zu unerträglicher Banalität zerfällt.
Manierismus b e d e u t e t magisches u n d auch mystisches Spiel mit
der Metapher, mit d e m Bild. Ist der M e n s c h selbst nicht gleichzei-
tig die <alogischste> u n d die <logischste> <Metapher> Gottes? Kann
sich der <Manierist> n o c h aus d e m dämonischen Trieb nach Über-
steigerung bis z u m W a h n s i n n retten, w e n n er sich einmal selbst im
Spiegel sieht, nicht i n d e m der Spiegel ihn in seiner Selbstgefällig-
keit (seiner E r b s ü n d e ) reproduziert, sondern indem er ihm sein un-
geschminktes Gesicht vorhält? W i r wollen in einem letzten Kapitel
den Versuch m a c h e n , d e n <manieristischen Menschentypus> — so-
fern er bei seiner Vieldeutigkeit ü b e r h a u p t genau abzugrenzen ist —
in einem dieser Spiegel zu sehen, die er in allen Zeiten seines kon-
zentrierten Auftretens so liebte. Begreifen wir wieder, daß der
Mensch die tiefste u n d in jeder Weise <änigmatischste> Metapher
ist? Ein E m b l e m sogar des ebenso u n e n d l i c h e n wie unberechen-
baren Gottes? D e r schöpferische <Manierist> hat es immer gewußt,
wenn das L e u c h t e n des Logos nicht gelöscht w u r d e . . . in seinen
ebenso rechnenden wie t r ä u m e n d e n Augen.
F Ü N F T E R TEIL
Eros v e r s u s Sexus
25. P A N S E X U A L I S M U S
<Terribile> u n d <Suave>
27. E I N H Ö R N E R , L E D A
UND N A R Z I S S
Deformierte Mythen
Eine solche <erotische> coincidentia oppositorum — w a n n ergibt sie
sich? Auch die <Manieristen> k ö n n e n nicht in e i n e m sexuellen In-
ferno verharren, wie n i e m a n d auf die D a u e r , sofern er kein Psy-
chopath ist. Auch i h n e n sind Bilder d e r L ä u t e r u n g und des Erlöst-
seins nicht fremd, w e n n auch sehr eigene Bilder. Doch werden
diese nicht sichtbar, bevor die <Deformation> alle Möglichkeiten
erschöpft hat. W i r h a b e n uns wieder aus kunstgeschichtlichen Be-
zügen gelöst, wir erinnern aber wieder d a r a n , daß Dvorak eine
Kunstgeschichte als Geistesgeschichte forderte. Wilhelm Pinder
bezeichnete die Kunstgeschichte als nicht <sich allein gehörend),
^ Wilhelm Pinder, Zur Physiogno- sondern der <Kunde vom M e n s c h e n dienend). 8 W i r möchten mit
mik des Manierismus. Festschrift
für Ludwig klages. Leipzig 1932. unserem Versuch, wie wir i m m e r wieder betont h a b e n , der Erhel-
Biriswanger bezeichnet es daher als lung der <Problematik des m o d e r n e n M e n s c h e r n dienen, es jedoch
sein gutes Recht, in seinen Untersu-
chungen zum (daseinsanalytischen
immer wieder vermeiden, die G r e n z e n zwischen der <ästhetischen>
Verständnis der schizophrenen Da- und <klinischen> S p h ä r e zu verwischen. Kunst- oder Literaturge-
seinsformen und ihres Daseinsgan-
schichte k ö n n e n also Beiträge zur Geistesgeschichte u n d zur philo-
ges> auch manieristische Stilele-
mente als Material zu einem Ver- sophischen Anthropologie liefern, sie verraten aber ihre funda-
ständnis für schizophrene 'Manie- mental <ästhetische> Aufgabe, w e n n sie ihr Anschauungsmaterial
riertheit mitzubenutzen. Zu einigen
Schlüssen von Binswanger cf. über- aus den Augen verlieren, w e n n sie auf <Büdbeschreibung> oder
nächsten Abschnitt. <Textinterpretation> verzichten. Deswegen g l a u b e n wir, daß die
Konzeption von Peguy, Schlumberger, W a r b u r g , E . B . Curtius
u. a., in den konkreten Verzahnungen von <Motiven> die <Wirklich-
keit> des <Geistes> sichtbar zu m a c h e n , sinnvoller ist, als <Systeme>
zu entwerfen. Dies gilt besonders für eine Zeit, welche angeblich
gerade den <Nullpunkt> des <Nihilismus> zu überwinden beginnt.
Sie wird damit k a u m Erfolg h a b e n , w e n n sie Geschichtlichem
nicht mit n e u e n A u g e n in einer konkreten Weise begegnet. Der
Historismus ist tot. E i n e sokratische Geschichts-Erhellung als
Kunde des M e n s c h e n in seinem So-Sein u n d D a - S e i n beginnt be-
230 reits m a n c h e n Vertretern der mittleren u n d j ü n g e r e n Generation
Europas über diesen <Nullpunkt> hinwegzuhelfen, sofern <Weltpo-
litib nicht alle Ansätze dieser Art wieder vernichtet.
Hinsichtlich unserer bald folgenden <gewagten> Versuche müs-
sen wir also wieder auf <Konkretes> lenken, diesmal auf eines der
zauberhaftesten und gleichzeitig wieder vieldeutigsten Lieblings-
motive des Manierismus: auf das Einhorn. Das <Unicorne ma-
gique> ist ein Lieblingstier der Manierismus - im Sinne eines
deformierten Mythos. Wir haben es aber jetzt mit einem <manieri-
stisch-erotischen> Märchen zu tun; aber auch dies übernehmen die
Manieristen des 16. und 17. Jahrhunderts wie die unserer Gegen-
wart von ihren wahlverwandten Vorläufern. Es handelt sich um ein
abenteuerliches Märchen, und wir wollen es an Hand einer ausge-
zeichneten Monographie zu diesem Thema so kurz erzählen wie
möglich. In der indischen Legende gilt das Einhorn als seltenes,
scheues, geheimnisvolles Tier: sein Körper ist weiß, der Kopf rot,
die Augen blau, das Hörn ist gewunden, es mißt etwa eine Elle; an
der Stirne ist es weiß, in der Mitte schwarz, die Spitze leuchtet pur-
purrot. Das Hörn dieses Sagentieres verfügt über wunderbare
Kräfte, es neutralisiert Gifte. Dieses Tier, das Einsamkeit liebt und
wie ein Element der Vorzeit in unsere Tage hineinragt, ist unwi-
derstehlich. Man kann es nur mittels eines jungfräulichen Mäd-
chens fangen, denn von der Reinheit, von der Unberührtheit fühlt
sich dieses Wesen — eine Mischung von <Anmut und Geheimnis>,
von <Schönheit und Grauem — <magisch> angezogen. Um dieses
Einhorn fangen zu können, bringt man eine nackte Jungfrau in die
Nähe seiner Jagdgründe. Kaum wittert das Rätsel-Tier die Rein-
heit, springt es der Unberührten sofort auf den Schoß. Die Jäger,
die sich in der Nähe versteckt halten, haben ein leichtes Spiel. Sie
können das verzauberte Tier nun töten oder sogar fangen. Leo-
nardo bezeichnet das mythische Tier als <grausam und wild>.
Das Phallus-Symbol
Wir sagten es: zwischen 1520 und 1650 wird das Einhorn zu einem
der Lieblingsmythen des Manierismus, aber eben zu einem in be-
zeichnender Weise nun nicht nur <seltsamen>, sondern zu einem
typisch erotisch <deformierten) Mythos, wenn auch zu dieser <De-
tormation> Traditionen des Mittelalters Anregungen gegeben ha-
ben. Das <Einhorn> wird - schon in mittelalterlicher Überlieferung
-vom <Geruch> der Jungfrau angezogen. Sie <öffnet ihm ihre Brü-
ste und die Knie>. Dort wird das <wilde Tier> sanft, ruhig. Wir kön-
nen alle geradezu hyperphantastisch theologisch-symbolischen
Deutungen des Einhorn-Mythos (denn ein solcher wurde er in der
Patristik) nur andeuten: Symbol Christi (Gott unüberwindbar, als
Mensch von der Jungfrau gehalten usw.). Wir beschränken uns
also auf ein Element, das in erster Linie übernommen wurde: das
Emhorn als phallisches Symbol, als <Meraviglia>-Gestalt, als ma-
gisch-erotische Allegorie, als Hauptsymbol in pansexualistischen
" Die patristische Literatur als eine
mblemen. Schon bei den Kirchenvätern 9 heißt es (>manieristisch der unerschöpflichsten Schatzkam-
genug>): <In u terum Virginis singulare deposuit omnipotentiae mern Europas für <manieristis<)u--
cornu>. Wir werden an die erotischen Metaphern der Nonnen-My- Bilder ist in dieser Beziehung langst
nicht genug erforscht.
im 16. Jahrhundert erinnert. Viel wichtiger aber ist, daß das
orn im Laufe der Jahrhunderte zu einem der faszinierendsten
P Univalenten Symbole der europäischen Geistesgeschichte wird,
* l e er etruskisch-römische Gott Vertumnus. Das Einhorn symbo-
1S1Crt e i n m a
l Christus, dann den Teufel, auch die Heiden, die 231
Dame mit dem Einhorn (um 1500)
Tapisserie im Musee Clunv. Paris
Gottlosen, die Unkeuschen, die Juden (weil sie nur an ein Testa-
ment glaubten), den Hochmut, den Glauben auch an nur eine gött-
liche Person.
Wir müssen innehalten und uns fragen, was dieses mythische
Tier für die Manieristen bedeuten konnte! Aber müssen wir noch
fragen? Sehen wir uns zunächst einige Bilder an. Im Mittelalter
öffnet das <mystische Einhorm dem Papst noch als religiöses Sym-
bol die Augen (Miniatur aus den Papstprophezeiungen von Mon-
reale). Eine ähnliche (mystische), wenn auch schon typisch franzö-
sische, <preziöse> Bedeutung hat das <änigmatische> Tier noch in
einer Teppichfolge um 1500: <Die Dame mit dem sich spiegelnden
Einhorm (Musee Cluny in Paris). In einer Studie von Leonardo
verschwinden die theologischen Umrisse vollends. Man war ver-
sucht, in dieser ebenso nervösen wie entrückt-ruhigen Zeichnung
eine Metapher... für Sodomie zu sehen. Hier fängt eine weitere
manieristisch-deformierende Tendenz in bezug auf <Mythen> an,
sichtbar zu werden: das patristische religiöse Bild (Maria und Ein-
horn) beginnt sich mit einem der populärsten <invertierten> Motive
alexandrinischer (hellenistischer) Kunst zu begegnen, mit dem
Motiv: Leda mit dem Schwan.
Das mächtige, wilde, urtümliche, elementar starke <Einhorn>
wird für Manieristen, von denen Kenner dieses (erotischen) The-
mas, wie Eduard Fuchs, behaupten, sie hätten meist an einem be-
232 stimmten vitalen Minderwertigkeitskomplex gelitten, zu einem
entsprechenden kompensierendem, halluzinatorischen Bild. Ein-
deutig kann man diesen Reformiertem Mythos erkennen an dem
bisher noch nicht (in dieser <schwebenden> Allmacht eines indirek-
ten Phalluskults) beachteten Einhorn in den dekorativen Fresken
der Engelsburg. Wieder offenbart sich in der Umwelt dieses uner-
schöpflichen Kastells am Tiber etwas Neues: die Schwermut der
Männlichkeit, d.h. der erotisch unzulänglichen Männlichkeit,
auch wieder eines Leonardo-Themas, eines geheimnisvoll ver-
schleierten) Ur-Motivs der Manieristen. Über das Impotenz- und
Unzulänglichkeits-Motiv (in diesem spezifischen Sinne) könnte
man aus der manieristischen Literatur aller Zeiten mit Beispielen
allein ein ganzes Buch füllen. Zwischen 1550 und 1650 scheinen
die manieristischen Künstler (und ihre Auftraggeber) vom Thema Salvador I);(li: Einhorn
Demaskierung
<Fernste Z u s a m m e n h ä n g e m i t e i n a n d e r verbinden), wir erinnern
uns, daß eine der wichtigsten concettistischen Vorschriften Tesau-
ros so lautete. G.B. della P o r t a verglich Tiergesichter mit
Menschenantlitzen, Pflanzenformen mit Tiergesichtern. Auch die
mythische !<Leda mit dem Schwäri) g e h ö r t zu e i n e m der n u n popu-
lärsten Motive des Manierismus. L e o n a r d o h a t sich wiederholt die-
ses T h e m a s bemächtigt und eine d u r c h a u s k e u s c h e heda gemalt,
allerdings von einer derart a n m u t i g e n Preziosität, daß sie nicht nur
Parmigianino, sondern die gesamte <Geziertheit> der Schule von
Fontainebleau vorwegzunehmen scheint (Teilaufnähme aus Leo-
nardos <Leda mit dem Schwan>). D o c h dieses T h e m a wird in viel
lasziverer Form auffallend oft bearbeitet. K a u m übertroffen wurde
diese <sodomistische> M e t a p h e r - w a s Laszivität a n g e h t - v o n einer
u m 1600 berühmten Skulptur, der r ö m i s c h e n Kopie eines helleni-
stischen Originals, das 1586 vom P a t r i a r c h e n G . G r i m a n i der Re-
publik Venedig geschenkt w u r d e . H i e r wird die <sodomisüsche>
Vereinigung des Unvereinbaren z u m <perversen> Ereignis. Man
vergleiche nun das <ekstatische> Gesicht L e d a s mit einem my-
stisch-lasziven Ereignis wie die Vereinigung des noch weniger zu
Vereinbarenden, des religiös-sexuellen, im raptus des Antlitzes der
hl.Theresa von Bernini. Hier <concordia discors> des Menschlichen
mit dem Göttlichen, dort <discordia concors> des Menschlichen mit
dem Tierischen. Mit Recht stellt a b e r G i u s e p p i n a Fumagalh fest:
<AIle diese Bilder sind nichts anderes als M y t h e n der Liebe, Urhe-
berin des Lebens u n d des Todes, der O r d n u n g u n d Unordnung,
der Verdammnis u n d E r h a l t u n g , des Verzichts u n d der zügellosen
Selbstaufgabe, der Gewalt u n d Auslöschung.)
Doch diese <invertierten> <Disegni metaforici> sind in der geisti-
gen, in der <Idea>-Vorstellung doch m e h r , w e n n wir uns an Zuccari
erinnern: immer wieder versucht m a n d e n <gewissen Punkt) (Rre-
234 ton) zu entdecken, <wo L e b e n u n d Tod, Wirkliches u n d Dargestell-
tes, Vergangenes u n d Zukünftiges, Mitteilbares und Unsagbares,
Oben und U n t e n nicht m e h r als Gegensätze wahrgenommen Wer-
dern. Doch wollen wir darin auch nicht nur <Metaphysisches> su-
chen. Die angeblich <schamlosen>, <lasziven>, jedenfalls höchst
realistischen D a r s t e l l u n g e n erotischer u n d sexueller Probleme von
Leonardo bis M a r i n o , von d e n französischen Spätromantikern bis
zu James Joyce (der <Innere Monolog> der D a m e Bloom, am Ende
des <Ulysses>, H ö h e p u n k t des manieristischen <Pansexualismus>),
sind auch gelegentlich d u r c h a u s listige und verschmitzte Folgen
eines Wunsches n a c h <Demaskierung>. N u r derjenige, der dau-
ernd eine <Maske> trägt u n d die <Maske> liebt, mui3 wissen, welche
ganz und gar unsexuelle <Wollust> es ist, endlich die <Maske> abzu-
legen, endlich e i n m a l <natürlich> zu sein (Otto Müller. <Paar in der
Kaschemme>). D e r oft so <schamlose> manieristische <Pansexualis-
mus>, hängt er nicht a u c h m i t einer uneingestandenen, aber um so
tieferen Sehnsucht n a c h <Natürlichkeit> zusammen, nach Einfach-
heit, nach N u r - n o c h - N a t u r ? W e r Labyrinthe erfindet und Laby-
rinthe liebt, wird sich i m m e r n a c h der <Lust> des Befreit-seins seh-
nen, also nach e i n e m i m G r u n d e doch <einfachen> Erlebnis: nach
klarer, eindeutiger Befreiung v o m Komplizierten, vom Irr-Sinn der
Irr-Wege. Die erotische Inversionstendenz des Manierismus hängt
also, was Triebstruktur u n d metaphysische Vorstellung angeht,
auch mit einer <Idea> der Welt als Labyrinth zusammen. Die so
sibyllinische M e l a n c h o l i e der m e i s t e n Manieristen ist existentiell 2
zu erklären durch den ihnen auferlegten <Zwang>, kompliziert zu
sein, sich aber i m m e r wieder n a c h <Einfachheit>, <Natürlichkeit>zu
sehnen. Sie suchen also doch - auf ihre Weise - die <Mitte>, den
Kernraum des Labyrinths, aber sie scheitern, a u c h wenn die Liebe
ihnen den roten Faden gibt, weil sie wohl die echtesten Kinder der
<unerlösten> E r b s ü n d e sind. F ü r sie gibt es k e i n e n <einfachen> Er-
lösungsweg und erst recht keinen Aus-Weg. Sie müssen die Bela-
stung Kains austragen. <Labyrinth> (Verwirrung) steht jetzt gegen
<Harmonie> (Ordnung).
Will m a n mit zwei N a m e n , damit die (Unvereinbarkeit) der zwei
<Ausdruckszwänge> noch deutlicher wird, zwei Antipoden? Hier
sind sie: L e o n a r d o u n d Bach. Die <Natur> rächt sich, da sie so ver-
nachlässigt wird, in eigenartiger Weise an d e n <Manieristen>. Sie,
welche die <Natur> <hassen>, erscheinen schon der nächsten Gene-
ration als <bloße> Interpreten der N a t u r . D i e großen <Klassiker>
hingegen (wohlgemerkt: nicht die Klassizistcn), welche nur die
<Natur> zu <idealisicren> scheinen, b e g e g n e n u n s i m m e r wieder als
die wirklich sublimen <Erfüller> der <Natur>. In diesem Sinne er-
scheint als das un-manieristischste, <keuscheste> Genie Europas,
trotz so vieler <manieristischer> E l e m e n t e in seinem Werk, über
Dante, über Shakespeare, R e m b r a n d t u n d selbst über Mozart und
Goethe hinaus, ein <Leuchtturm der Menschheit>: Johann Seba-
stian Bach, u n d zwar in zwei W e r k e n , welche die heilige Union des
Disparaten am großartigsten vollziehen: im Violin-Konzert in
E - D u r und in der M a t t h ä u s - P a s s i o n .
Sexuelle Ein-samkeit
Wir halten also zunächst fest: die zwei UrgebärdenJ_ejH\Iensch-
heit, die beiden, vor allem in Kunst, D i c h t u n g u n d Musik bestim-
m e n d e n <Ausdruckszwänge>, sind e i n m a l <natürlich> oder <künst-
lich>. <klassisch> oder <manieristisch>. Die klassische Gebärde
bezeugt Ungebrochenheit der Instinkte, die manieristische Gebro-
chenheit. Die Gebrochenheit entsteht i m manieristischen Urtrieb,
in der sexuellen Libido, nicht n u r in u n d durch die N a t u r Erfüllung
zu finden, sondern oft auch a u ß e r h a l b von ihr u n d sogar gegen sie.
Der Tendenz zur Artifizialität in Kunst u n d L i t e r a t u r entspricht die
Tendenz, den stärksten Erlebnis antrieb eben nicht in der <Natur>,
sondern in der <Idea>, in eigenen, <inneren> W a h r n e h m u n g s b u -
dern zu suchen. W i r erinnern uns a n das Wort Leonardos: <Sie
finden die Erfüllung n u r . . . in der eigenen Vorstellungskraft.)
Demzufolge herrscht eine <autistische> Introversion vor, wenn sie
auch sehr differenziert erscheint. Gelegentlich zeigt sich ein be-
stimmter Typus des Manieristen o h n e <Verkleidung). Er gibt nicht
nur zu, Erfüllung im Anblick selbstcrzeugter Bilder zu suchen. Die
<Träume des Verliebten) w e r d e n lasterhaft (cf. <Die Träume des
Verliebten). Bosch-Schule). D e r M a n i e r i s t k a n n sich sogar zum
<Autismus> gleichsam b e k e n n e n , als z u m antinaturalistischen La-
ster par excellence. L i e b e u n d L a s t e r k ö n n e n ebenfalls zu einer Ko-
inzidenz führen, zur Koinzidenz der damnes u n d maudits. (Der
<Autismus> bringt in der <Idea> deformierte B l u m e n des Bösen her-
vor. Vgl. <Die Liebe> von Alberto Martini.) E i n Bild Adrians van der
Werff (17. J a h r h u n d e r t ) zeigt eine n a c k t e Frau mit ekstatischem
Gesichtsausdruck vor einem in Wolken e r s c h e i n e n d e n <Traurn-
bild) des Geliebten. Das Bild h a t d e n Titel <Die Vorstellung ist
236 m e h r wert als die Wirklichkeit). I m preziös-verzärtelten, dekaden-
ten Manierismus des 18. J a h r h u n d e r t s , im Rokoko, wurden häufig
Mädchen in noch viel eindeutigeren, intimeren, <autistischen> Si-
tuationen dargestellt. M a n n a n n t e den Vorgang d'agreable Illu-
sion). Die Libertins, Freigeister, Avantgardisten sammelten gerade
dieses erotische Motiv in der Kunst mit verdächtigem Eifer. Das
Allerintimste sollte nicht n u r <entschleiert> werden. Bilder des <Au-
tismus> regten nicht n u r zur Schlüpfrigkeit an. M a n empfand den
<Autismus> als v o r n e h m e s , antibarbarisches, antianimalisches La-
ster. Man n a n n t e ihn: <Le r o m a n dangereux>, besonders dann,
wenn ältere Kavaliere aus i r g e n d e i n e m Versteck junge Damen da-
bei beobachteten.' l cf. Fuchs O.e. Im Rokoko wird au-
ßerdem die Technik der nisammen-
Dieser Verlust von N a t u r als Widerstand und als Anregung führt gesetzlen köpfe An imboldis m ei-
zu einem Persönlichkeitsschwund, k a n n zu einem Versagen in der nem Ereignis. Man setzt Kopfe ron
berühmten Zeitgenossen - aus sati-
Umwelt führen, z u m Verlust jeglicher Du-Beziehung, sei sie reli-
rischen Gründen - aus Phallen zu-
giöser, metaphysischer, politischer, sozialer oder erotischer Art, zu sammen. (Phallische Porträts- ^ibi
einem Verzicht a u c h auf u n m i t t e l b a r e <klare> Kommunikation, auf es u.a. von Rousseau und Miralieao
Erst im 20. Jahrhundert tauchen
ein <verstehendes> P u b l i k u m . Die <Hieroglyphik> ist in diesem Elemente dieser Art in den psycho-
Sinne auch Ausdruck eines Mit-sich-selbst-zufrieden-Seins, einer analytischen Emblemen der Surrea-
listen wieder auf.
Verachtung von a u c h intellektueller Partnerschaft.
Doch selbst dieser <artifizielle> Typus steht noch immer, wenig-
stens in der <Idea>, m i t p h a n t o m i s c h e n Partnern, mit selbsterzeug-
ten Du-Bildern in Verbindung. D e r extreme, gleichsam der <ab-
strakte> Typus der autistischen Verhaltensweise wäre demzufolge
der Narziß, der M e n s c h , der in sein eigenes <Spiegel>-Bild verliebt
ist, der sich nicht snobistisch vor einen Spiegel stellt, u m <zu schla-
fen) (Baudelaire), s o n d e r n u m - sich selbst zu lieben, sich im ver-
liebten Anblick seiner selbst Befriedigung zu s c h e n k e n . u Hier wird dieses Typus bei Kraffl-Ebing, Psy-
wieder ein < Gefrierpunkt) des M a n i e r i s m u s erreicht: der bilderer- chopathie Sexualis. Zürich np>~
28. H E R M A P H R O D I T E N
Das Zweigeschlechter-Wesen
In der magischen Weltvorstellung <primitiver>, aber auch g e -
schichtlicher) Völker ist der H e r m a p h r o d i t , das <Zweigeschlechter-
Wesen>, ein kosmisches Urbild. D a s g e s a m t e N a t u r - L e b e n verbin-
det Männliches u n d Weibliches in sich. D e r H e r m a p h r o d i t wird zu
einem Symbol des fruchtbaren L e b e n s . D e r <Doppelcharakter> von
M a n n u n d Frau war - auch o h n e entwicklungsgeschichtbxne
240 Kenntnisse — diesen Primitiven schon aufgefallen. Ein Herrn
aphrodit im anatomisch abnormalen Sinne erhält in der Mentali-
tät der Primitivem gottähnlichen Charakter. In Sexualriten pri-
mitiver Völker wird der Weihling durch die Operation der Subinzi-
sion in ein Weib, bzw. in ein Mann-Weib oder einen Weib-Mann
verwandelt. Dann erst gilt er als ein vollkommenen Mensch, er ist
Abbild des doppelgeschlechtigen Gottes geworden. Dieser Mythos
taucht - wie so viele andere - bekanntlich bei Piaton auf: die Men-
schen waren ursprünglich <androgyn>. Deswegen wurden sie den
Göttern gefährlich, sie trennten sie daher: in Mann und Weib.
Nach einer apokryphen Überlieferung war Adam ursprünglich
ebenfalls androgyn. Auch der Gott Tuisto der Germanen ist ein
Hermaphrodit. Die Magna Mater der Antike galt als doppelge-
schlechtig. Der <Päderastie> in gewissen Mysterien der Griechen
hatte ursprünglich einen <mystisch-religiösen> Sinn. Die Angelolo-
gie bezeichnet die Engel als androgyne Wesen. Nach den geistes-
geschichtlichen und völkerkundlichen Forschungen von Winthuis
bezeugen der Hermaphroditen-Kult und die ihm zugehörende
1
erotische Praxis in religiösen Zusammenhängen, den Willen, dem Zweigeschlechtig ist <IMS »Unwe-
sen) der Dravidat (Indiens I rhe-
höchsten Wesen gleich zu werden. Im Hermes Trimesgistos, dem wohner), der aruebe Rudra (1 r^nii-
<Lehrbuch> aller Esoteriker, war Gott hermaphroditisch. Der altrö- heiien der Mexikaner, Inka*, li.iln-
lonier, Sumerer, da orphtM hea My-
mische Januskopf wurde ursprünglich mit einem männlich-weib- sterien im pela*gi*chen Griechen-
lichen Gesicht dargestellt. lD land usw.). Cf. O.Karre! o.i
241
In der magischen Naturphilosophie u n d in der manieristischen
Kunst des 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t s wird der H e r m a p h r o d i t zu ei-
n e m der «vereinendem Zentral-Mythen. In der Romantik und in
der esoterischen Literatur des späten 1 g. J a h r h u n d e r t s und unserer
Gegenwart blüht er wieder auf, w ä h r e n d <klassische> Mythen wie
Zeus, Apoll, Hera usw. eher Gegenstand von Travestien werden.
Dazu hier n u r einige ikonographische u n d literarische Beispiele.
In der magischen Naturphilosophie des 16. J a h r h u n d e r t s ist der
Hermaphrodit ein Sinnbild des <in> der Welt wirkenden, des in der
Oberwelt aufgehobenen Dualismus, E m b l e m einer magischen
<Chymischen Hochzefb. In der alchimistischen Traktatsammlung
<Splendor Solis>, angeblich von Salomon Trismoscin verfaßt, fin-
det m a n in der Ausgabe von 1532 eine faszinierende hermaphrodi-
tische discordia Concors. Im Text des Traktats zu diesem maturphi-
losophischen Sinnbild> liest m a n , d a ß diese <zween Cörper> nicht
n u r M a n n u n d Weib symbolisieren, sondern a u c h <Sonn und
Mon>, <Erd u n d Wasser>. Diese Gegensätze sind jedoch nicht nur
in der Hermaphroditengestalt ü b e r w u n d e n , sondern sie sind im
<Ay> (Ei) umschlossen. Dieses <Weltei> hält die eine, vom Betrach-
ter aus rechte, <Hälfte> in der H a n d , die andere zeigt konzentrische
Kreise: Symbol nicht des <zeugenden> L e b e n s , sondern der tran-
szendentalen H a r m o n i e . Hier ist die Z u o r d n u n g Magie — Kunst
noch eindeutig, n o c h überzeugend <rein>. Diese Reinheit, wenn
auch keine <naive> m e h r , findet m a n n o c h bei L e o n a r d o . Viele sei-
ner Bilder werden als <hermaphroditische> E m b l e m e gedeutet. Wir
k o m m e n an H a n d einer <phantastischen> Interpretation des Spät-
manierismus im fin de siede darauf zurück. D o c h der Manierismus
- w i e alles Menschliche i m m e r auf des Messers S c h n e i d e - v e r l i e r t
bald, schon zur Zeit des <Splendor Solis>, seine religiöse Beziehung
zu diesem Mythos. W i e d e r eine Anti-Klimax! Spätantike Darstel-
lungen regen auch jetzt zur <Deformation> an, zu <kuriosen> Mera-
u/g/j'a-Produkten. G. B. Marino w i d m e t diesem <seltsamen> P a a r in
seinem <Adone> eine Strophe u n d findet dazu den für ihn bezeich-
n e n d e n Vers: <Um den l a u e n Appetit zu verbessern^ Als der
<Adone> erschien (1623), wimmelte es auf d e n B ü h n e n Europas
schon von Androgynen. Sie erscheinen im Kostüm <hermaphrodi-
Doch am <Aufgang> unserer manieristischen <Neuzeit> gewinnt das
hermaphroditische Emblem seine intellektuell mythische Bedeu-
tung zurück; und dies ist für den <Manierismus> aller Epochen in
einem neuen Sinne kennzeichnend: er liebt nicht nur <seltsame>
Mythen, er <deformiert> nicht nur einige Menschheitsmythen, er
bildet sich - im Sinne der <Idea>-Tradition - intellektuelle Mythen,
er rationalisiert Mythen (und zwar immer nur bestimmte) auf seine
Weise. Er <benutzt> Mythen, um seinem immer wieder beobach-
tenden Verhältnis zur Welt einen metaphysischen Bild-Hinter-
grund zu verleihen. Es wäre (wiederum) falsch, diesen bezeichnen-
den Umweg einer Intellektualisierung von Mythen aus einem
unproblematischem Verhältnis zur Welt und zum Mythos zu <ver-
datmnen>. Im Gegenteil: das Suchen nach der Einheit in
schicksalhafter Gespaltenheit hat eine (wie auch immer fragwür-
dige) erregende, geistige, besser intellektuell-<elektrische> Kraft,
die Dynamik aller künstlichen Kraftgeneratoren. Daher die so oft
getadelte <Kälte> der Manieristen. Wie der Eros vorwiegend von
den Reizzentren der Großhirnrinde angeregt wird, so das Verhält-
nis zum < Absoluten) von einer intellektuellen Leidenschaft zur Kon-
struktion.
Imfin de siede, wir sagten es schon, wird der <Hermaphrodit>, im
bewußten Zurückgreifen auf genau die gleichen Tendenzen am
Anfang des 16. Jahrhunderts, zu einem wesentlichen Bestandteil
einer (neuneoplatonischen) <Erotologie de Piatom. 16 Peladan zu- "Titel eines Traktat;, von Peladan
folge ist der Hermaphrodit <der künstlerische Sexus par excellence>. (1859-1918), Cf. Mario l w • },.<
Carne.LaMorteeilDiavolo ,, ,
Leonardo habe den <Kanon des Polykleb gefunden: er heißt <An-
drogyn>. Er ist der künstlerische Sexus, weil er beides vereint, das 2
43
Männliche und das Weibliche. Die <Gioconda> von Leonardo wird
in dieser Beziehung als weltgeschichtliches Emblem bezeichnet: in
ihr (oder in ihm) vereinige sich die <gehirnliche Autorität des Man-
nes) und das Sinnliche <der entzückenden Frau>. Im <Heiligen Jo-
hannes) (von Leonardo) wird der Sexus zu einer <Änigme>. Leo-
nardo habe das <animistische> Hell-Dunkel entdeckt. Peladan lobt
in seinem Buch <Höchstes Laster> den <Ephebismus> des Primatic-
cio und Antinous, den Liebling Hadrians, sowie die sagenhafte
Dichterin von Lesbos. Er schreibt einen Roman <Androgyne>
(1891) und besingt (rhetorisch) darin den <uranischen Eros>, die
<monströse Maske>, die sich der Profanen zu erwehren hat. Man
findet darin folgende Sätze: <0 Geschlecht der Urzeit, o abge-
schlossenes Geschlecht, o Absolutes der Liebe, der Form: Sexus,
der den Sexus negiert, Sexus der Ewigkeit. Lob D i r . . . Androgyne.>
Die <Gioconda> Leonardos und den <Hamlet> Shakespeares,
können wir sie in diesen Zusammenhängen anders begreifen? Ste-
hen sie nicht, wie ein <Hermaphrodit> Salvador Dalis, in vielen my-
Salvador Dali: thischen, historischen und auch psychologischem Schnittpunk-
1 lennaphrodit ten? Alles bleibt <pansophisch> verschlüsselt, aber schwankend
zwischen dem echten Signaturen-System des wirklich erschütter-
ten <Magiers> oder <Mystikers> und den pseudohintergründigen
<Chiffren> kleiner, halb psychopathischer und meist hochintelli-
genter <Nachahmer>. Wollen wir den Manierismus objektiv werten
und damit die <Problematik> des modernen Menschen aus diesen
<Zeichen> begreifen, müssen wir immer nur die Gipfel betrachten,
das, was Baudelaire die Leuchttürme der Menschheit) nannte. So
gesehen entspricht der Hermaphroditen-Kult der genuin schöpfe-
rischen bildenden Künstler des Manierismus der Sehnsucht Jakob
Böhmes nach einer <adamischen> Ursprache. Böhme sucht das
<himmlische> Alphabet, den <Zusammenfall> aller Sprachen. Die
<adamische> Sprache ist somit <hermaphroditisch>.
Muß aber gerade sie für denjenigen, der diese Sprache, aber
auch diese Kunst nur <rationell> begreifen will und nur vital begrei-
fen kann, nicht (im Umkreis des alltäglichen Tuns und Wollens)
zwangsläufig <änigmatisch> und einige zeitliche Stufen weiter <ab-
strakt> werden? Sie muß es werden! In diesem Sinne sind das ma-
nieristische Bild, das manieristische Wort, der manieristische
Klang diesem Schicksal einer fortschreitenden Abstraktion verfal-
len. Die <intellektuellen> Mythen werden zu abstrakten Dämonen.
Robert Musil läßt im <Mann ohne Eigenschaften) Ulrich anläßlich
einer Betrachtung über den Hermaphroditen-Mythos sagen: <Die-
ses Verlangen nach einem Doppelgänger im anderen Geschlecht
ist uralt. Es will die Liebe eines Wesens, das uns völlig gleichen,
Ktuid Merrild: aber doch ein anderes sein soll, eine Zaubergestalt, die wir sind, die
\ lennaphrodit aber doch eben auch eine Zaubergestalt bleibt und vor allem, was
wir uns bloß ausdenken, den Atem der Selbständigkeit und Unab-
hängigkeit voraus hat. Unzählige Male ist dieser Traum vom Flui-
dum der Liebe, das sich unabhängig von den Beschränkungen der
Körperwelt, in zwei gleichverschiedenen Gestalten begegnet, schon
in einsamer Alchimie den Retorten der menschlichen Köpfe ent-
stiegen.) In diesen wenigen Sätzen sind alle <Motive> Leonardos
enthalten. Aber Unterscheidungen! Die irr-sinnige Ciarisse bietet
sich später Meingast (alias Klages) als . . . Hermaphrodit an, als ge-
eignetes Weibobjekt für... einen Männerbund. Ulrich spricht in
seinem Inzestverhältnis zu seiner Schwester Agathe von <dieser ge-
heimnisvollen Doppelgeschlechtigkeit der Seele>. Das <maniensü-
sche> Wien von 1914 <differenziert) durchaus anders als Leonardo
2 4 4
und auch anders als das Paris von 1890. Was im 16. Jahrhundert
noch echter kosmischer Mythos, in der Pariser Decadence nur
noch intellektueller Mythos war, wird jetzt zu einer abstrakten se-
xualpsychologischen Dämonologie. Aber der <unbefriedigte> Le-
bensantrieb, die Problematik der Triebstruktur ist die gleiche. Ul-
rich sagt es mit der ganzen Melancholie des ständig <unerfüllten>
<Mannes ohne Eigenschaften>, das Leonardo-Motiv des <Piacere-
Dispiacere> abwandelnd: <...im Traum, im Mythos, Gedicht,
Kindheit und selbst in der Liebe ist der größere Anteil des Ge-
fühls... erkauft... durch einen Mangel an Wirklichkeit^ Im
Traum erleben wir <hundert Prozent... im Wachen ist es kein hal- n (i. Robert M»*'1- ' j "
bes!> <Alles Unrechte und Schiefe gewinnt die Anziehungskraft ei- S^orbebiwgen ww " " ' / "'"
ner ungeheuren Versuchung, sobald man ihm im letzten nichts ent- Hermaphroditen-Mob' i
gegensetzen kann.> <Akustik der Leere .. .>17 , ll0t u 1 1
'' ' ' " '
29. M A N I E R I S M U S UND
MANIERIERTHEIT
<Verbergung> i n d e r <Lichtung>
30. M E T A P H E R N GOTTES
Das Absolute
in <zweifachcr> Weise
Wir fragten bereits: M ü s s e n wir uns m i t <zwei Absoluta> abfinden?
In der N a c h - H e i d e g g e r s c h e n j ü n g e r e n deutschen Philosophie
fragt z. B. Weischedel: <Gibt es n e b e n der W a h r h e i t noch ein zwei-
tes Absolutes, in d e m die E r d e in ihrer Verborgenheit u n d Dinge
und M e n s c h e n in i h r e m Bestehen gründen?> Die <Philosophie im
kritischen Weiterdenken der Entwürfe Heideggers> müsse <davon
ausgehen, daß das E i n e u n d G a n z e der Wirklichkeit beides um-
faßt, sowohl das Insichsein der D i n g e u n d M e n s c h e n , wie ihr Auf-
gehen in der Verborgenheit. So k o m m t sie zu der Frage, ob nicht
jenes Absolute, das H e i d e g g e r allein gelten lassen will, die Wahr-
heit' als der U r s p r u n g der Offenbarkeit des S e i e n d e n , u n d das an-
dere Absolute, der G r u n d der Dinge u n d M e n s c h e n in ihrer erd-
haften Verschlossenheit, ein und dasselbe Absolute sind, das in einer
zweifachen Weise sich darstellte Hier wird der Metaphysik mit Ein-
dringlichkeit u n d sokratischer B e h u t s a m k e i t wieder eine ihrer
größten Aufgaben gestellt: aus dem B e g e g n e n mit Kunst, sofern sie
j£a&-iAbsolute> erschließt, speziell mit m o d e r n e r Kunst. Wir haben
es hier abschließend mit einem a n d e r e n P r o b l e m der Integration
zu tun, mit der Tatsache, d a ß <das Absolute> sich <in zweifachen
Weise darstellen k a n n , d. h. i n s b e s o n d e r e in der Kunst. Wir sagen.
in der klassischen und in der manieristischen <Urgebärde>.
In diesem Epilog k a n n m a n also nicht darauf verzichten, noch
zwei Fragen zu beantworten, die m a n c h e r L e s e r sich gewiß schon
oft gestellt haben wird. Erstens: W i e erscheint d e n Manieristen das
<Absolute>, sofern es <Gottheit> ist, u n d ist diese geheimnisvollste
Hieroglyphe, sofern sie im M a n i e r i s m u s in <Deformation> oder
<Konstruktion> oder gar <Abstraktion> auftritt, in e i n e m ursprüngli-
chen Sinne religiös legitim oder nicht? Zweitens: Lassen sich di
beiden <Urgebärden> in e i n e m auch n u r ästhetischen Sinne <inte-
grieren>? Wenn schon die <methaphysische> Problematik <offen>
gelassen wird, wie es d e m S t a n d e unseres Denkens im Übergang
zu entsprechen scheint, so wollen wir doch entsprechende <Ten-
denzen> sichtbar m a c h e n . G e h e n wir wieder von Tesauro aus: Gott
offenbart sich, n a c h i h m , in d u n k l e n Concetti. Die göttliche Weis-
heit offenbart sich d e n Weisen durch Symbole und scharfsinnige
Anigmen. <Die h ö c h s t e n u n d fremdartigsten Dinge werden uns
verhüllt gezeigt, in S c h a t t e n gehüllt, im chiaro-oscuro ent-deekb,
und zwar in einer dreifachen maniera von Symbolen. Diese drei
<maniere> des verhüllten Offenbarens des göttlich Abgründigen
hätten die Griechen <metaphorisch> genannt. 211 ""'Die drei metaphorischen IIMJUMII
der GoOetoBeabarua^ lind nach
Der Manierismus ist nicht n u r Ausdruck eines saturnisch-tragi- Tesauro Iropologiidi, (ilegoroch
schen Lebensgefühls. E r ist a u c h Manifestation einer durchaus und anagoinicti (rinndeutoad, u *i-
aiisihauliclieiid. auflegend).
ragTsch-unglücklichen L i e b e zu Gott. Der manieristische Künstler
von Rang, von d e m — in bezug auf ein objektives Wertsystem -
immer wieder die R e d e w a r u n d ist (gerade dann, wenn wir ihn von
seinen zahllosen N a c h a h m e r n unterscheiden), versuchte, faszi-
niert wie er i m m e r w i e d e r vorn <Zusammenfall der Gegensätze> ist,
sich mit mythischen Bildern zu helfen, z.B. mit dem Mythos des
Androgynen, des A d a m i s c h e n . D a s gelang ihm nur zeitweise. Das
mythische Erfahren, besser das sich darin auf die Dauer Gebor-
gen-Fühlen, setzt ein naives, un-schuldiges Verhältnis zur Welt
voraus. Dies h a b e n die M a n i e r i s t e n gerade dann nicht, wenn sie
am sichersten zu sein g l a u b e n , etwas <Elementares> zu erleben.
Zur <Tragik> des M a n i e r i s t e n gehört es, daß er stets von Bildern
fasziniert ist, d a ß er aber i m m e r dann, wenn er Gott oder dem
<Göttlichen> zu b e g e g n e n glaubt, ihn (oder es) nicht mehr in einer
<Gestalt> sieht. E r glaubt, ihn (oder es) dann nur in den Umrissen
einer zwar gestaltlosen N a t u r , aber eben einer <Natur> dementspre-
chend auch darstellen zu m ü s s e n , d.h. in Metaphern für entweder
pantheistisch v e r s t r ö m e n d e , m a g i s c h e Natur oder in Metaphern
für <konstruktiv>-wirkende, abstrakte Natur, jedenfalls nicht in ei-
nem <gestalthaften> Bilde. Dieser gestaltlose Gott, der selbst ja
keine <abstrakte Metapher> m e h r sein kann <für etwas>, was außer-
halb seiner selbst liegt, wird also in einem erschreckenden Sinne
wieder Natur: p a n t h e i s t i s c h - m a g i s c h e oder <konstruktiv>-ab-
strakte <Natur>, jedenfalls nicht Gestalt-Bild. Auch hier könnte
marTvön einer R a c h e der N a t u r a n ihren Verächtern sprechen. Der
Erschaffende k a n n n u r n o c h im Erschaffenen oder in den Wir-
kungskräften i n n e r h a l b des Erschaffenen versinnbildlicht werden,
obwohl m a n die N a t u r — das Erschaffene - doch so mißachtet. An
diesem P u n k t wird m a n a u c h mit d e n <Daseinsanalysen> unserer
neuplatonischen Existenzphilosophie kaum noch auskommen
können. Gott oder das <Göttliche> als Abgrund, als Ursprung, als
die Tiefe usw., w e l c h e n <Sinn> h a b e n diese metaphysischen <Ab-
strakta> für religiöse E r f a h r u n g ? N a c h Thomas von Aquin ist Gott
Einheit von <essentia>, u n d <existentia>, Wesen und <Dasein>. Das
Bild der <Dreifaltigkeit) Gottes bringt ihn uns <nahe>. Indem Gott
sich selbst erkennt, geht aus ihm der ihm adäquate Gedanke her-
vor, d.h. der Logos, das Wort, der Sohn, also das Mitteilbare, das
gestalthafte Bild. I n d e m Gott sich selbst will, geht aus Vater und
Sohn die L i e b e hervor, d.i. der Heilige Geist.
2
53
Gott als Wesen oder Wirken
Gott als <metaphorische> <Gestalt> u n d Gott als <metaphorische>
<Natur>, für uns ergibt sich zunächst die Frage, ob eben auch diese
letztere Vor-Stellung einer pansophisch-manieristischen Urge-
bärde der Menschheit entspricht. Sicher ist es vom P a n t h e i s m u s der
Jl <magischen> Manieristen bis z u m <Pan-logismus> der <mystischen>
rf. O t t o k a r r e r . Das Religiöse in
der M e n s c h h e i t und d a s Christen- Manieristen ebenso n u r ein Schritt wie von der <Deformation> Pon-
tum. Freiburg 1954. D e r Begriff tormos und Max Ernsts bis zur <Anamorphose> der Pariser Mini-
< Natur' ist übrigens einer der viel-
deutigsten der europäischen Gei- men und bis zur Abstraktion P a u l Klees. Doch mit dieser metaphy-
stesgesi lochte. <Natura» k o m m t von sisch-religiösen <Inversion> stehen die Manieristen aller Zeiten
tat. nasci = G e b o r e n w e r d e n . Als In-
begriff des «Entstandenen, G e b o r e -
durchaus auch in der Tradition jenes i h n e n eigenen Ausdrucks-
nen, G e w a c h s e n e m . In diesem «anti- zwangs. Wie stellen die M e n s c h e n aller Z o n e n u n d aller Zeiten
k e m S i n n e ist die G l e i c h u n g Klassik
=• Natur noch, sofern es sich um
Gott dar? E i n m a l in «konkretem M e t a p h e r n : als Mensch, als Tier,
« N a c h a h m u n g ) (Mimesü) der Natur als Gestirn, als Pflanze; oder in <abstrakten> M e t a p h e r n : als Kraft,
handelt, angängig. Schon im Mittel- Wirkung, <Seele>, Wille usw. D e r M e n s c h mit e i n e m u n g e b r o c h e -
alter w u r d e das Wort vieldeutig,
k a u t hat eine vorsichtige <oberbe- n e m Natur-Instinkt und ohne Bewußtseinsspaltung stellt Gott als
griffliche. Definition gegeben: «In- Gestalt dar, als <Mensch> vor allem, die <göttlichste> Metapher, so
begriff möglicher G e g e n s t ä n d e sinn-
licher u n d zugleich begrifflicher Er- in paganen Religionen, so im C h r i s t e n t u m . D e r von der eigenen
fahrung'. In der zeitgenössischen <Idea>-Welt faszinierte M e n s c h sieht ihn als <Wille>, <Kraft>, als
Naturwissenschaft wird <Natur> eine
Folge von m a t h e m a t i s c h e n Sachver-
m e h r oder weniger abstrakte Figuration von S p a n n u n g e n und
halten. Wirkungen in der Natur.'1 Der klassische <Urtrieb> <geht> auf ein
persönliches Wesen, der manieristische auf ein abgründiges Wir-
ken oder auf eine gesichtlose W i r k s a m k e i t . D e r <Klassist> stellt
Gott in seiner Essenz, der <Manierist> Gott in seiner Existenz dar.
Es gibt eine welthistorische Polarität von persönlicher und un-
k a r r e r bemerkt dazu: «Auf k e i n e m persönlicher Gottesanschauung."" Sofern die manieristische Urge-
von beiden Polen k a n n der d e n -
kende religiöse Mensch verweilen.> bärde auch nach Gott greift, n a c h e i n e m <unpersönlichen>, gestalt-
Vgl. dazu die e n t s p r e c h e n d e Bemer- losen Gott (von in der N a t u r so oder so w i r k e n d e n Kräften), ist sie
k u n g von Weischedel. Zeitgenössi-
sches religiöses und philosophisches also viel m e h r <naturalistisch> als die <naivere> des ästhetisch so
Denken b e r ü h r e n sich. <naturgebundenen> Klassisten, der Gott als Gestalt sieht, ja mehr
noch, der Gott als Mensch sieht, also als die <abstruseste> Metapher,
die es eh u n d je ü b e r h a u p t gegeben hat. D e r gewaltige Unterschied
ist nicht zu übersehen, w e n n n ä m l i c h e i n m a l gesagt wird: Gott ist
<Kraft>. <Wille>, <Seele> usw., oder aber: Gott ist <Person>, <Vater>,
<Sohn>, <Herr>, <Richter>, <Heiland>. Also: der M a n i e r i s m u s ist an-
tinaturalistisch, u n d er m u ß zwangsläufig zur <totalen> Abstraktion
gelangen. Das <Mysterium> in seinem Dasein liegt darin, daß diese
höchste u n d letzte Abstraktion, die er vom U r g r u n d der Welt als
Gottheit macht, letzthin ganz <naturalistisch> ist, während der
<Klassist> in seiner <Natur>-Nähe sich das metaphysisch Unbild-
lichste, nämlich Gott, h i n w i e d e r u m u n t e r oder in der alogischsten
M e t a p h e r der Menschheitsgeschichte vorstellt: als Mensch.
NACHWORT
Integration?
Eine letzte Bemerkung soll jedoch auf eines dieser letzten Ziele
hinweisen. Die aus räumlichen Gründen hier summarische Dar-
Stellung von Ausdrucksproblemen von(ij32o bis 1650 und von 1850
bis 1 g e f ü h r t zu dem Schluß, daß der europäische Geist vor 400
Jahren die materiellen Entwicklungen der Geschichte in einem
viel stärkeren Maße als heute vorweggenommen, aus eigener Sou-
veränität vorherbestimmt hat. Damals dominierten also die <Ideal-
laktoren> gegenüber den <Bealfaktoren>, wenn es auch vielfach zu
höchst aufregenden Verschiebungen kam. Heute stellt sich die
Frage, ob der <Unterbau> in seiner jetzigen hybriden Form (Hyper-
technisierung, Massengesellschaft) das damals zumindest noch
wechselseitige Verhältnis von Ideal- und Bealfaktoren, wegen ei-
nes <totalen> Übergewichts des <Unterbaus>, nicht vollends unmög-
lich gemacht habe. Man ist sich in der ganzen Welt - auch in China
- außerhalb der orthodoxen marxistischen Geschichtsanalysen
darüber klar, daß dies u. a. die endgültige Abdankung jeder Kunst
w
äre, die noch die <Signatur> eines mehr als gesellschaftlich
Zweckbestimmten tragen will. Kann das <Mystische> der <offenen
Gesellschaft) und das <Mechanische> der geschlossenen Gesell-
schaft) (Bergson), im Sinne einer geistesgeschichtlichen Vereini-
gung des Disparaten, sich jetzt schon im Werk der zwischen Form-
streben und Ausdruckswillen vielfach so zerrissenen Mitlebenden
vereinen? Das Problem einer solchen Integration ist denen, die
keine Macht haben, denen, die nur mit Worten, Tönen und Farben
umgehen, nicht mehr so gestellt wie den Manieristen der Spätre-
naissance und des Frühbarock. Die Vereinsamung des Geistes in
der Vorrenaissance wiederholt sich. Europa hat im Hochmanieris- 259
mus seine Einheit gesucht, aber n u r sehr bedingt gefunden. Die
damalige Spaltung zwischen aristokratisch-subjektivistischer und
bürgerlich-ständischer Kultur ist inzwischen zu einer Kluft zwi-
schen Kloster- u n d Massenkultur geworden.
Die Geschichte k a n n uns helfen, sie k a n n uns sicherlich aber
nicht aus dieser zeitgenössischen terribilitä retten. Wir stehen mit-
ten in ihr, ober- u n d unterhalb der Sehnsucht n a c h manieristischer
S p a n n u n g und klassizistischer E n t s p a n n u n g , also <unbehaust>.
Dennoch ließe sich wohl <Nutzen>, Hilfe von solcher historischen
Betrachtung erwarten, wenn m a n ihr dialektisches Wechselspiel
schließlich überwindet. Wie ist das möglich? Geschichte und Ge-
genwart transzendierend, dennoch mit genialer Hellhörigkeit ihre
vitalsten Bezüge stets konfrontierend, aus ihnen u n d über sie hin-
aus, aber nie ohne sie lebend u n d wirkend, stehen heute vor uns
jenseits aller relativierenden Diskussionen: Shakespeare und
Rembrandt. Der eine steht mitten im europäischen Manierismus,
der andere an seinem äußersten E n d e . Beide n e h m e n seine ma-
gnetischen Schwingungen auf, beide gehen d a r ü b e r hinaus, ohne
den klassizistischen Vereinfachungen des <Akademischen>, ohne
dem manieristischen Alexandrinismus der maudits zu verfallen.
Sie sind <Nachahmer> u n d <Erfüller> aus der Mitte ihrer <Person> -
im etymologischen Sinne. Shakespeare u n d R e m b r a n d t warten
noch auf ihre zeitgenössische D e u t u n g als <Europäer> zwischen
Klassik und M a n i e r i s m u s , zwischen d e m lateinischen u n d germa-
nischen Europa, zwischen dem <Ordo>-Begriff der Tradition und
dem <Existenz>-Begriff der Gegenwart. D o c h m a n wird zur Em-
phase verführt. Sie gehört freilich in eine andere, zu vereinfachend
<integrierende> E p o c h e , ins Barock. E r i n n e r t sei d a h e r an ein
<Concetto> H e r d e r s über das <Nachahmen> (also nicht über die
<Nachahmer>), soweit es jene M a n i e r i s t e n angeht, die schließlich
ihren <eigenen Weg> finden. <Die A n a n a s , die t a u s e n d feine Ge-
würze in ihrem Geschmack vereint, trägt nicht umsonst eine
Krone. >
Literaturhinweise
Nachfolgend wird n u r b e n u t z t e L i t e r a t u r in der Reihenfolge der Studie über dieses engere Thema einer Bibliographie der nui-
teile (Vorbemerkung) u n d I—V, also w e d e r in alphabetischer nieristischen Kunst bietet die schon genannte • Sloriografia del
noch in chronologischer R e i h e n f o l g e jeweils h i n t e r d e n Teilen Manierismo» von Giusta Nicco Fasola. Die beste Bibliographie
zitiert. Die in d e n A n m e r k u n g e n b e r e i t s g e n a n n t e n W e r k e wer- zur <modernen> europäischen Kunst enthält das ebenfalls zi-
den also noch e i n m a l a n g e f ü h r t , m i t A u s n a h m e der dichteri- tierte Werk von W. Haftmann, -Malerei im 20. Jahrhundert..
schen Texte, die i m n ä c h s t e n B a n d g e w ü r d i g t w e r d e n . Die aus- Eine allgemeine Bibliographie über den Manierismus im weite-
führlichste, w e n n a u c h n o c h n i c h t v o l l s t ä n d i g e Bibliographie sten Smne,insbesondere(außerKunst)in Literatur. Musik
über den M a n i e r i s m u s in d e r K u n s t findet m a n i m Ausstellungs- auch Psychologie, Soziologie. Philosophie. Theolog»-, fehlt I üe
katalog <Fontainebleau e la M a n i e r a italiana> (Neapel 1952). nachfolgend zitierte Literatur liefert dafür einige Elemente. Sie
Weitere Kataloge von M a n i e r i s m u s - A u s s t e l l u n g e n von 1946 bis werden, wie gesagt, in den Hinweisen zu unserer D a n t e u u n g
1956 sind in der V o r b e m e r k u n g a n g e m e r k t . E i n e erste kritische über manieristische Dichtung ergänzt werden.
Zur Vorbemerkung
Hartlaub, G. F., Z a u b e r d e s S p i e g e l s . M ü n c h e n 1951 - , Der antiklassische Stil um 1 390 und sein Verhältnis zum
Croce, B., Eta Barocco in ltalia. B a r i 1 9 5 3 Übersinnlichen. Vorträge der Bibliothek Warburg
- , Problemi di E s t e t i c a . B a r i 1 9 5 4 1928-1929
Curtius, E. R., E u r o p ä i s c h e L i t e r a t u r u n d l a t e i n i s c h e s Mittelal- Voss, H., Die Malerei der Spätrenaissance in Koni und |- Ion
ter. Bern 1954 Berlin 1920
d ' O r s , E . , L o Barocco. M a d r i d 1 9 4 5 Weisbach, W.. Der Manierismus. Zeitschrift für Bild. Kund
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Riegl, A., Die E n t s t e h u n g d e r B a r o c k k u n s t in R o m . W i e n 1908 rich 1953
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italienischen M a l e r e i u m 1 5 2 0 . R e p . für K u n s t w . 1925 chen 1956
-,. Pontormo:
Studie zu einem Männerakt,
nach rechts gedreht
,. Pontormo:
Kreuzabnahme.
Santa Felicita Florenz,
um ijii'2"
-,. Pontormo:
Jugendbildnis
AJessandro de Medici
(i. Pontormo:
Bildnis Cosimo I. de Medici
7. P a r m i g i a n i n o :
M a d o n n a con collo lungo,
u m 1535
8. Parmigianino:
M a d o n n a mit der Rose,
um 1531
g. Rosso Fiorentino:
Moses verteidigt die Töchter der Jethro,
um 1523
i o . H e n r i Rousseau:
Der T r a u m , 1910
11. Tintoretto:
Auffindung der Leiche
des hl. Markus (1562-66)
Milano.PmacotecaBrera
12. Paola Veronese:
Musik-Fresko in der Villa Barabaro,
Treviso, 1560 — 62
15. Aloyse:
Liebespaar mit Napoleon. 1963
16. El Greco: Laokoon
17- Carlo Carrä:
Die Tochter des Westens, 1919
18. Giorgio de Chirico:
Hector und Andromache, 1917
19. Fabrizio Clerici:
Kleines Straußennest, 1955
1
2g. Desiderio Monsü:
Zerstörung von Sodom
*f
•
i ; Ml
JT
**v* 7*J
34. Parmigianino:
Amor
ZWEITES BUCH
Manierismus in der
Literatur
Sprach-Alchimie und esoterische
Kombinationskunst
Beiträge zur vergleichenden
e u r o p ä i s c h e n Literaturgeschichte
Paul Ludwig Landsberg
gewidmet
<Wir werden auf die Geschichte hingewiesen, da erscheint uns ein neues Licht. Nach und
nach lernen wir den Vorteü kennen, der uns dadurch zuwächst, daß wir bedeutende Vorgän-
ger haben, welche aus der Folgezeit bis zu uns heran wirkten. Uns wird ja dadurch die
Sicherheit, daß wir, insofern wir etwas leisten, auch auf die Zukunft wirken müssen, und so
beruhigen wir uns in einem heiteren Ergehen.) Goethe
«Begriff von Philologie: Sinn für das Leben und die Individualität einer Buchstabenmes-
sung. Wahrsager aus Chiffren; Letternaugur.> Novalis
INHALT
Zweites Buch
E i n f ü h r u n g in d e n P r o b l e m k r e i s 271
1. E u r o p a s v e r b o r g e n e S p a n n u n g s f e l d e r 27g MAGISCHE
. . , . . _ , , BUCHSTABE
Aus dem <mundus subterraneus> der Geistesgeschichte 27g
- Exoterik und Esoterik 280 - Formenkunde des
Irregulären 281 - Geistesgeschichtliche Speläologie 281 -
<Natürlich> u n d <Künstlich> 282 - Attizismus und
Asianismus 282 - Mimesis und Phantasia 283 - Alte und
neue Redeweise 284 - Hellenistische Ursprünge der
<Phantasia>-Ästhetik 284 - Merkmale erster Wandlungen
285 - <Ungesunde> Bilder 285 - Kontinuität im Irregulären
286 - Schreibkünstler 286 - Gestik und Duktus 288 -
Poetische Labyrinthe 289 - Literarische Kuben 2g 1 -
Pangrammatische Kunstgriffe 293 - Petrus - Proteus 2g4
4. Ars C o m b i n a t o r i a ö1 ^
Gegen Gefühlsgeschwätzigkeit 316 - Das Über-Buch 317 -
3 6 2 8 800 319 - Weltschlüssel 320 - <Geheimnis der
Geheimnisse> 322 - Das amphibische Ingenium 322
5. S o p h i s m e s M a g i q u e s -2c;
Lyrische Trugschlüsse 325 - Absichtlicher Zufall 326 - Der
Babylonische Turm 327 - Das montierte Gedicht 328 -
Unübersehbare Gefilde 328 - Scheitern 330
7. B a n n u n g d e s D ä m o n i s c h e n 337
Lob des Zweideutigen 337 - Geborgenheit u n d U n b e -
haustheit 337 - Furcht und Lüge 338 - Intellektualisierung
339
8. G o n g o r i s m u s , M a r i n i s m u s u n d P r e z i ö s e n t u m 34i
<Sinnreiche> Verwicklungen 341 - Roter Schnee 341 - Clef
brillante 342 - Der Paganini der <Lyrik> 343 - Tönendes
Atom 344 - Der Dichter als <Seiltänzer> 345 - Der
blutgierige Ritter 346 - Im Spiegel des 20. J a h r h u n d e r t s
346 - Preziosität 347 - Ratgeber der A n m u t 348 - Ochse auf
dem Turm 350 - <Antiques vocales> 351 - Neo-Marinismus
354
9. S h a k e s p e a r e s D e f o r m a t i o n e n 354
Sprachlicher Perspektivismus 354 Schwermütiger
Leichtsinn 355 - Sprachliche Illusionsperspektive 356 - Die
<Metaphysicals> 358 - <Der Welt letzte Nacht> 358 - Herz =
<roter Pavillon> 359 - Verschobener Schwerpunkt 35g -
Marionetten und Ziererei 360
10. B i l d e r w i t z 361
15. F o r m e l n d e r S c h ö n h e i t 402
Lyrik der Peripetie 402 - Abstruse Allegorik 404 - Anti-
Natur 404 - Das alexandrinische Epigramm 406 -
Concettistische Zeitenwende 407 - Übergang zur
poetischen I m m a n e n z 407 - <Das Grauen wird schön> 410
16. M a n i e r i s t i s c h e P r o g r a m m a t i k e r 411
Lyrik u n d Essayistik 411 - Das <Seltene verhindern 411 -
Pestilenz des U n m a ß e s 412 - Vater der modernen Bildung
413 - Magazin von <Denk-Manierismen> 415 - Der
Deutschen <Poetischer Trichter> 417 - <Deutscher Gegend
lieblicher Safb 417
Musik: <Aus sich selbst Erfinderin) 427 - Madrigalistik 429 DER MENSCH
- <Musica Poetica> 430 - <Stilus phantasticus> 431 - Das ALS KÜNSTLERISCHE
<dunkle Findern 432 - Krypto-Akustik 434 FIKTION
Literaturhinweise 507
Quellenangaben 530
«
EINFÜHRUNG
IN D E N P R O B L E M K R E I S
Der magische
.Buchstabe
VORBEMERKUNG:
Z U R T R A D I T I O N DES
IRREGULÄREN
iese Darstellung über <Manierismus in der Literatur)
»+ A T H A N A S I I KIRCHER.I
jener Bestandteile der europäischen Kultur, die je und eh die
<Problematik> seines Wesens (in der Geschichte) sichtbar gemacht
haben. Er sucht nach psychischen Archetypen, nicht nur im Klini-
schen, nicht nur im Psychologischen. Er will das ihn — gerade heute
- so unheimlich umdringende Problematische aller sogenannten
<Kultur> in und aus d e m begreifen, was gemeinhin als <Ästhetik>,
als die Lehre vom <Schönen>, bezeichnet wurde.
Vielleicht wird überhaupt der intelligente moderne Europäer,
sofern er nicht im Malstrom der technisierten Massengesellschaft
untergegangen ist, dadurch zu einem neuen, durchaus schöpferi-
schen Repräsentanten seiner geistigen Umwelt, daß er Wissen
über das Absolute, Erlösung aus neurotischer Problematik in den
Werken der Künstler, der Dichter oder Komponisten sucht. Welch
ein Wandel! N i e m a n d wird übersehen können, daß wir wieder
mitten in einer n e u e n alexandrinischen Gnosis stehen, in einer
Gnosis, die <Ur-Wahrheit>, Begegnung mit einem Absoluten, vor
allem in Kunst, Literatur u n d Musik finden möchte, also im <vor-
kirchlichen> Raum. Das kann uns als ein Zeichen der Hoffnung
gelten. Es liegt aber auch die Gefahr störender Neurosen nahe,
Symptomen der heutigen politischen Selbstzerstörungs-Tenden-
zen. Unsere Ästhetik hat mit unseren psychologischen Errungen-
schaften nicht Schritt gehalten, sofern es u m Grundelemente geht.
Wir verfügen über eine Tiefenpsychologie. Es wird Zeit, nach Ele-
menten einer Tiefen-Ästhetik zu graben.
Geistesgeschichtliche
Speläologie
Daher ergibt sich die Notwendigkeit, in einer Krisenzeit geistesge-
schichtliche Speläologie, systematische kulturelle Höhlenfor-
s c h u n g z u t r e i b e n . Sie soll weder vor-täuschen, noch ent-täuschen.
Sie soll einen Ariadne-Faden vermitteln, der in einem Labyrinth
von Selbst-Täuschung zumindest zu einem Ausgang verhilft. Wer
diiinit nicht zufrieden ist— am E n d e unseres Weges—, der m a g s
andere Ausgänge suchen. Wer sich in diese Schächte h i n a b - un
auch liinaufbegibt, weiß, daß er sich zu e i n e m Abenteuer an-
schickt, aber er wird hoffen dürfen - im Sinne der <Theologia üor-
dis>, des dntelletto d'Amore>-, in seit l a n g e m nicht durchwander-
ten Gängen auf jene Geheimzeichen zu stoßen, von denen berei s
die Rede war. Doch m a g es dann geschehen, d a ß diese Gebilde)
bringt man sie ans Licht zurück, allzu <schockartig> auf Helle rea-
gieren. Sie könnten dann — im Empfinden u n d Urteil des Lesers —
wie Tiefwasserfische, hält m a n sie in die Sonne, nicht n u r sterben,
sondern blitzschnell zu Staub zerfallen, u n d das geschieht, wie
man weiß, auch m a n c h e m archäologischen Ausgrabungsgut.
Doch wollen wir versuchen, solchen Zeichen, Niederschlägen ur-
sprünglicher Gebärden, zu einer wenigstens dokumentarischen
Dauer zu verhelfen. In einem speläologischen Spiegel des europai-
schen Geistes mögen sie dann erhalten bleiben, Buchstabe u m
Buchstabe, Wort um Wort, Satz u m Satz.
:Natürlich> u n d <Künstlich>
Zwei Ausdrucksgebärden wird dieser Menschenspiegel zunächst
immer wieder verzeichnen, elementar gesagt, einen <natürlichen>
und einen <künstlichen>. U n d die gleiche Zweiheit wird dieser
Spiegel auch angesichts des Urduktus des Schreibens vermerken.
Stellt man der <knappen>, zwar auch stilisierten, aber un-<verblüm-
1
Georg Philipp Harsdorfler emp- ten> Weise die Art des verschnörkelnden, ver-blümten1 Mitteilens
firfiU im (Poetischen Trichter> (ver-
blümte Beschreibung). Ausgabe gegenüber, so ist der literarische M a n i e r i s m u s (als Ausdrucksform
Nürnberg 1655, Bd. III. p. 13. des problematischen Menschen) so alt wie die Literatur selbst. Die-
ses Gegensatzes wurde m a n sich schon zur Zeit Piatons bewußt.
Das Streitgespräch zwischen Attizisten (Klassizi sten) u n d Asianern
(Manieristen) gehört zu den archaischen S p a n n u n g e n des europäi-
schen Geistes. Das Wort <klassisch> ist ein Spätling in u n s e r e m Vo-
kabular. In Altrom war es zunächst ein steuerrechtlicher Ausdruck.
Ein classicus gehörte der höchsten Steuerklasse an.
Attizismus u n d A s i a n i s m u s
\ttizistisch bedeutet in der antiken Rhetorik: b ü n d i g , konzentriert.
knapp, kunstvoll, wesentlich. Asianisch weist auf das extrem Ge-
genteilige hin, auf Ü b e r m a ß , Vieldeutigkeit, gekünsteltes Begin-
nen mit dem Unwesentlichen u n d listiges, wortreiches Umzingeln
des Kerns, subjektives, perspektivistisch b e w u ß t <täuschendes>
Darstellen. E d u a r d Norden n a n n t e d e n attizistischen Stil konser-
•' tf. auch Franz Altheim. Klassik vativ, den asianischen: modern. 2 Wir k ö n n e n u n s e r e Begriffspole
und Barock in der römischen Ge-
also erweitern: klassisch = attizistisch, h a r m o n i s i e r e n d , konserva-
schi ile. In: Retorira e Barorco. Atti
del III. Congresso Int. di Stud. Uma- tiv. Manieristisch = asianisch, hellenistisch, disharmonisierend,
nistici. Rom 1956- p-'^- 'Asianis-
mus als Form war. wenn irgend
modern. Der attizistische Stil hat das Ideal der e n t s p a n n e n d e n Re-
twav Barock.) Attizismus und Asia- gularität, der asianische Stil dasjenige a u c h der <Phantasiai>, des
nismus - <ein Gegensatz von welt- spannungsvollen Irregulären.
geschichtlicher Bedeutung» (p. 25).
Warum heißt dieser Stil <asianisch>? E r ist — schon im 5. und
4. Jahrhundert v.Chr. — im griechischen Kleinasien entstanden.
Durch die Begegnung des griechischen M u t t e r l a n d e s mit altorien-
talischen Kulturen erhielt er entscheidende I m p u l s e . Als seine älte-
282 sten Vorbilder gelten Gorgias von Leontini, E m p e d o k l e s und vor
allem der <dunkle> Heraklit, <Urahne des Surrealismus> (Breton)
mit seinen verrätselnden Antithesen, Metaphern und Wortspielen.
Schilderungen des damaligen Konflikts zwischen diesen beiden
Stilen findet m a n in den rhetorischen Abhandlungen Ciceros und
in Quintilians Lehrbuch der Rhetorik. <Das höchste Gesetz des
Asianismus liegt in der Willkür> (Norden), aber es handelt sich, wie
wir sehen werden, sehr oft auch u m eine wohlerwogene, ja, berech-
nete Willkür.
Hellinistische U r s p r ü n g e der
<Phantasia> -Ästhetik
Kann man den Ursprung unserer zeitgenössischen Kunst- und Li-
teratur-Revolution in hellenistische Zeit verlegen? Wir dürfen uns
für erste Ansätze auf Kenner der Antike berufen wie z.B. Bernhard
Schweitzer. Fassen wir seine Forschungsergebnisse über den Be-
griff <Phantasia> kurz z u s a m m e n . <Phantasia>, Vorstellungsbild,
wurde schon von Aristoteles mit der Kunst in Verbindung gebracht.
In der stoischen Philosophie wird aus diesem m e h r psychologi-
schen ein kosmologischer Begriff. D u r c h P h a n t a s i a erfaßt man den
Weltgrund. Phantasia wird zu einer <Durchgangsstelle zwischen
göttlichem Willen und menschlicher Ausführung). Die mythische
Ordnungswelt der Mimesis gerät allmählich aus d e n Angeln. Es
erfolgt <die Geburt der revolutionären Persönlichkeit) - nach dem
Erlebnis des Sonder-Daseins der P h a n t a s i a . Dieses sieh in einem
neuen Sinne frei fühlende Subjekt will sich <nicht m e h r dem Her-
kommen beugen und nicht m e h r im h a n d w e r k l i c h e n Sinne Stein
auf Stein zur gemeinsamen sterblichen Welt u n d z u m gerneinsa-
men Weltbild fügen). Es fordert <seine eigene Welt>. Der mythi-
sche Objektivismus der Mimesis wird d u r c h den zunächst noch
mythischen Subjektivismus der P h a n t a s i a - G n o s i s verdrängt. Es
beginnt die <Auf-sich-Bezogenheit allen F ü h l e n s u n d Denkens).
Daraus ergeben sich <neue Quellen der Kraft). D e r Künstler be-
zieht jetzt sein <Gesetz aus d e m Innern>. E s entsteht <ein neues Be-
wußtsein von schöpferischem, individuellem Gestalten). Das Vor-
stellungsbild des Künstlers, die P h a n t a s i a , wird üdentisch mit dem
Angelpunkt des ganzen seelischen u n d geistigen Lebens>. Dieser
Bruch erfolgte also im frühen H e l l e n i s m u s ( 4 . - 3 . Jh. v. Chr.).
Merkmale
erster Wandlungen
<Ungesunde> Bilder
Davon, von der Gefahr, die Inhalte der Phantasia zu verabsolu-
tieren, hat Quintilian (35-86 n.Chr.), als er von bestimmten
>Phantasiai> als von <seelischen Lastern) schrieb, offenbar schon
gewußt. 6 Die demiurgische Verabsolutierung der Phantasie-In- ' ' D i e s e Quintilian-<Kritik> an den
Phantasiai wird von Schweitzer
nen-Welt m u ß t e also durchaus Baudelaire als Vorboten zu seinen nicht berücksichtigt.
<Paradis Artificiels> erschienen sein. Eines ist sicher: vom schöpfe-
rischen <irregulären> Phantasia-Kunstwerk von Rang bis zu den
zahllosen künstlerischen manieristischen Manifestationen der
Phantasia als <seelischer Laster) ergibt sich eine unendliche Skala
von individuellen Entfaltungsmöglichkeiten. Wir werden sehen,
daß diese n e u e n Aspekte einer manieristischen Gebärdenkunde
dazu verhelfen, einen starren Schematismus zu vermeiden. Das
<Phantastikon> k a n n irrational, aber, in einem besonders typisch 28*
manieristischen Sinne, auch sehr <ingeniös> sein, also stark de •
Kontrolle e i n e r - im Sinne des Labyrinth-Erbauers Daidalos - he
rechneten Technik des phantastisch-intellektuellen Kunstinee-
meurs unterliegen.
Kontinuität im Irregulären
Dürfen wir den Asianismus mit dem Oberbegriff einer antinatura-
listischen Kunst der Phantasiai kennzeichnen? Gibt es eine euro-
päische Kontinuität des Anti-Harmonischen, des Irregulären? Wir
wollen schrittweise vorgehen. Der Archäologe R e i n h a r d Herbig
hat den antiken (literarischen) Gegensatz von Attizisten u n d Asia-
nern mit zeitgenössischen Begriffen auf die bildende Kunst über-
tragen, anläßlich einer Abhandlung über antike Fresken im Pom-
peji und in Boscoreale. Die (attizistischen) Fresken der Mysterien-
Villa bei Pompeji sind: klar, einfach, schlicht, ungebrochen, ruhig,
nicht überanstrengt, ohne überflüssige Akzente. Die (asianischen)
Fresken von Boscoreale sind übersteigert, der formale Reichtum
überwuchert den Inhalt. Diese Kunst überredet, überspannt, über-
rennt, aber eben auch mit gesuchten, berechneten Mitteln. In
der <manieristischen> Kunst Altgriechenlands (z.B. in der perga-
menischen Plastik) <verläuft keine Kontur o h n e vielfache zittrige
Brechungen, keine ohne stete W e n d u n g u n d Wiederwendung>.
Nirgends begegnet man <großen ungebrochenen Schwüngen des
Verlaufs). <Die Übergänge vollziehen sich in heftigem Bruch.> Wie
rund igoo Jahre vorher Quintilian, so hat auch Baltasar Graciän
vor 500 Jahren, 36 Jahre nach Shakespeares Tod, in seinem für den
dichterischen Manierismus dieser Zeit m a ß g e b e n d e n Traktat über
<Agudeza y Arte de Ingenio> auf diesen Dualismus eines natürli-
chen (<laconico>) und künstlichen (<asiatico>) Stils hingewiesen.
Schreibkünstler
Um auch den literarischen Manierismus als Konstante der euro-
päischen Geistesgeschichte und in u n s e r e m Sinne als Ausdruck
einer Triebstruktur zu begreifen, wird m a n m i t dem Buchstaben,
mit dem Alphabet beginnen müssen. M a n i e r i s m u s in der Literatur
fängt nicht beim Wort, beim Satz, bei der Periode an. Schon der
Buchstabe regt den Trieb zur Symbolisierung, Bereicherung, Aus-
schmückung, Verdunkelung u n d Verrätselung an, zur Kombina-
tion von Phantasie und berechnender Künstlichkeit. Der Buch-
stabe stellt nicht nur einen Laut dar. Er ist selbst ein bildhaftes
Zeichen, das vor allem in den frühen Kulturen des Vorderen
Orients einen magischen oder mystisch-religiösen Symbolwert
hatte. Nimmt m a n Buchstaben zunächst als <Bilder>, so wird damit,
nachdem wir einige Elemente des M a n i e r i s m u s in der Kunst un-
tersucht haben, in optisch faßbarer Weise ein Ü b e r g a n g geschaffen
für eine Darstellung des Manierismus in der Literatur.
Ein attizistisches, <klassisches> Zeichen für einen Buchstaben
findet man in der Darstellung des Buchstabens <M> aus dem
< Gründlichen Bericht der alten lateinischen Buchstaben) (um
1540) des deutschen Schreibkünstlers J o h a n n Neudörffer. Dieses
Zeichen dient dem klaren E r k e n n e n u n d der Schönheit, die un-
286 mittelbares Bedeuten auszustrahlen vermag. M a n a h n t attische
Geschlechterbuch der Familie
Tucher. Auftragswerk von Jost
Amman. 158g
Struktur antiker Tempel. Vergleicht m a n n u n damit einen anderen
Buchstaben aus der Shakespeare-Zeit, das Initial <W> von P a u l
Franck aus dessen Versalienbuch < S c h a t z k a m m e r (1601), so be-
gegnet m a n der a n d e r e n , der asianischen Welt. Wie der Sinn eines
manieristischen Kunstwerks oder Gedichts verdunkelt erscheint,
so geht hier die E r k e n n b a r k e i t des e l e m e n t a r e n Mitteilung-Zei-
chens verloren. Subjektivismus herrscht vor. Die entfesselte P h a n -
tasie wird antiklassisch. <Ein ausschweifendes Schnörkelwesen
b r i n g t . . . das statische R e g e l s c h e m a der Renaissance ins Schwan-
k e n s I n k o m m e n s u r a b l e Kurven bilden <Vexierbilder>. <Das Prin-
zip der Veränderung u n d Verwandlungen, ein echt manieristi-
sches, triumphiert in den G r o ß b u c h s t a b e n der Kurrent.> Die Mit-
teilungwird deformiert. E s entsteht ein verschlüsseltes L i n e a m e n t .
Alles kann m i t e i n a n d e r vertauscht werden.
Doch dieses Verfahren verliert sich keineswegs im grenzenlos
Überschwenglichen. A u c h der M a n i e r i s m u s h a t seine O r d n u n g ,
sein metaphysisches Idealgefüge. Sein Symbol ist das Labyrinth.
M a n findet zur Zeit des römischen u n d florentinischen Manieris-
mus Buchstaben- u n d Wort-Labyrinthe. In d e m <Neu F u n d a m e n t -
buch) vorTÜrban Weyss u n d Christoffel Schweytzer (Zürich 1562)
k a n n m a n in dieser kunstvollen Konstruktion lesen: <Wer will er-
fahren der weit wesen D e r t h u o disen r e i m e n lesen, D a r i n n e n wirt
erfinden geschwind, W i e die ganze weit ist w o r d e n blind> usw. Die
y^ ^Verdeckung des Funktionswerts von Buchstabe u n d Wort beginnt
beim literarischen M a n i e r i s m u s also schon b e i m Schreiben der
Schriftzeichen. Es wäre voreilig, dies als <barockes> Schnörkelwe-
sen ab- und geringzuschätzen. A u c h die manieristische Schreib-
kunst ist ein Versuch, d u r c h Kalkül das Berechenbare der Kunst-
hchkeit mit d e m U n b e r e c h e n b a r e n der Phantastikon zu vereinen.
Es handelt sich ursprünglich noch u m alchimistische Verbin-
dungs-Kunst auch b e i m Kunstschreiben sinn-bedeutender Zei-
chen, u m den eigengearteten Ausdruck einer uralten <Alchimie du
Verbe>. Die D e k a d e n z läßt nicht lange auf sich warten.
287
Nürnberger
Schreibmeister
Gestik und D u k t u s
Bevor wir weitergehen, müssen wir schon u n d gerade hier an r i a n
unserer beiden Schreibmuster auf ein wichtiges Erkenntnismitte
hinweisen. Wenn Manierismus Ausdrucksgebärde eines bestimm-
ten Ausdruckszwanges ist, so wird m a n seine Gestik (Cicerosgestus
' Nach Aristoteles gibt Quintilian in orationis)' in den abstrakten Lineaturen der manieristischen
seiner Rhetorik eine minuziöse Ge-
bärdenJehre (0.C.XI.3). üemosthe-
Schreibmeister Nürnbergs besonders gut e r k e n n e n k ö n n e n . Man
nes bat seine Gebärden vor einem hat hier geradezu graphologisches Material zur D e u t u n g psychi-
Spiegel einstudiert. Kr tadelt die scher Voraussetzungen des Manierismus, E l e m e n t e für eine ma
übermäßig bewegten Gebärden als
<magis proprietates>, als Eigentüm- nieristisehe Ausdruckskunde. (Geste von gerere = tragen, aber
lichkeiten der Magier. auch zeigen, eine Weise, etwas zu zeigen, se gerere — sich zeigen.;
Dem manieristischen Gestus entspricht ein manieristischer Du
tus. Die Art, wie man einen Buchstaben malt, offenbart den Duktus
einer Gebärde. Man sieht also in konkreter Weise manieristischen
Gestus und Duktus, wenn m a n sich noch e i n m a l den angeführten
Buchstaben <W> ansieht und ihn mit dem <klassischen> Buchstaben
<M> vergleicht. Eines unserer Hauptgesetze ergibt sich auch aus
dieser Konfrontierung. Die manieristische D a r s t e l l u n g fugt hin 211 '
288 bereichert, überhöht. Durch Phantasiai verstärkt, verdunkelt sie
und übertreibt. Die Welt erscheint weder einfach, noch wird sie in
einfacher Weise dargestellt. Daher führt der Duktus der manieri-
stischen (iestik i m m e r wieder ins Labyrinth, in eine künstliche
O r d n u n g des (anscheinend) Krausen. Wirren. Versteckten, des un-
durchdringlich Beziehungsreichen, u n d zwar in der Kunst wie in
der Dichtung, in der Musik wie im Denken und im Lebensstil.
Wir wollen jedoch liier darauf verzichten, weitere Äußerungen
einer solchen »Ausdriu kskunde> zu verfolgen. Wir haben uns die
Aufgabe gesetzt, eine historische Entwicklung darzustellen und
eine manieristische Konstante in der europäisclien Literatur mit
Beispielen zu belegen. s Wir ziehen dieses empirische Verfahren " u , r manierisüsch« tanomene
vor. weil es uns vor Abstraktionen sichert, den Ursünden m a n c h e r mit (lim Mitteln der -Ausdrucks-
kuiide> untersuchen will, findet im
Literaturwissenschaft^ Wir werden dabei zunächst mit der Anti- Werk von Kiages, Ausdrucksbewe-
, . . . . . . j i i ,,. K""{! imil Gestaltungskraft (luui),
U
lese: Atti/.isinus - Asuunsmus onerieren, m der l lottuung. z u m ,, . , .,-, , .
r o einige nützliche begriffliche Voraus-
S c h l u ß e i n e Ü b e r z e u g e n d e I n t e g r a t i o n v o r t r a g e n ZU k ö n n e n . Setzungen. Empfohlen seien ferner:
Hermann Strehle. Mienen, Gesten
und Gebärden. 1954. Theodor Pide-
rit. Mimik und Physiognomik. 1925.
L.Binswanger. Drei Formen miß-
P i j 1 • 1 glückten Daseins. Tübingen 1956.
gnomik, W iesbaden m v
oetische Labyrinthe w aJlem: Rudol{ i u « r , |.|1>si„.
Kehren wir zu unserem Alphabet — nun als Literatur — zurück.
Wenn dem problematischen M e n s c h e n die Welt als Labyrinth er-
scheint und wenn Daidalos, wie wir noch sehen werden, als mvthi-
Literarische Kuben
Labyrinthische Gesetzmäßigkeit! Im J a h r 1 704 veröffentlicht Joh.
Christoph M ä n n l i n g d e n E u r o p ä i s c h e n Helikon>, ein L e h r b u c h
der Poetik, angeregt durch das W i r k e n der M a r i n o - S c h ü l e r Hof-
m a n n s w a l d a u u n d Lohenstein. Beide bezeichnet M ä n n l i n g als
seine <Ariadne-Fäden>. W i e später M a l l a r m e , Valery, Benn geht er
Daniel Caspervon Lohenstein
auf die ursprüngliche B e d e u t u n g des griechischen Wortes <Poie-
(1655-1683), Kaiserlicher Rat und
tes> zurück; es k o m m t von <Machen>. Höchste Kunst des <poieti-
Syndikus zu Breslau
schen> M a c h e n s b e k u n d e m a n bei der Herstellung eines <Irrge-
dichtes>, eines <Cubus>, d.h. eines <Carmen Labyrintheum>, <wel-
ches in einen Irrgarten führt, u n d links u n d rechts, oben u n d unten,
überzwerch, in die Breite u n d L ä n g e gelesen wird. E s besteht aber
das ganze Kunststück in d e m allermittlersten Buchstaben, welcher
groß gesetzt steht, von d e m g e h e n h e r n a c h alle a n d e r e n in die an-
deren Linien ab, wie solches hier als E x e m p e l a m deutlichsten
§äerot
fcon Titelblatt einer Gedichtanthologie
von Hofmannswaldau. Leipzig
imt>anfcrcr£>eutfd)cti 1697
«usrrlefcnce
unt>
fcifftcr ungc&rucftcc
ct(!ec tfjeit/nebesft
einer iwrefa
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5Hitg!)urf!.g&d)f.©n. P R I V I L E G 10.
^epS&omaö 3 ^ 1 6 9 7 ,
291
/ / c e f s p e c n c e P s f e c i §
Inschrift auf dem Grabstein des
Fürsten von Silo in der Kirche San / c e f s P e c n • n c e P s f e c i
#
Salvador zu Oviedo
c e / 5 P e c n • r n c eP s f e c
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c e f *
s P € c n i r n c € P «f / e c
i c e f s •
P e c n n c e P s f e c i
*
t i c e f s P e c n c e P s f e c i t
kann zeigen, da wir die Worte nehmen wollen: Gott ist mein Trost.
Also in der Mitten G den Anfang zu lesen machet, und mehr als
4omahl können gelesen werden.) In Oviedo (Asturien) findet man
eine vom Fürsten Silo erbaute Kirche San Salvador. Der Grabstein
ihres Erbauers trägt eine Inschrift, die wie ein Geheimkode aus-
sieht. In der Mitte nach den vier Ecken t, t, t, t läßt sich der Satz
<Silo princeps fecit> auf 45 760 verschiedene Arten lesen.
Das geheimnisvolle <Magische Quadrat), Anagramme und Pa-
lindrome vereinigend, ist die berühmte Sator-Arepo-Formel.
s A T 0 R
A R E P 0
T E N E T
0 P E R A
R 0 T A s
A
P
A
T
E
R
A P A T E R N O S T E R O
O
S
T
E
R
O
Pangrammatische Kunstgriffe
Es gibt uralte formale M a n i e r i s m e n . Auch sie führen auf die grae-
co-orientalische Antike zurück. W i r k ö n n e n sie als manieristische
Grundformen, als das kleine Einmaleins gleichsam ansehen für
starke Spannungsverhältnisse zwischen N a t u r und Geist.
Älteste formale M a n i e r i s m e n in bezug auf Buchstaben-Kombi-
nationen sind die <lipogrammatischen> (z.B. Gedichte ohne den
Buchstaben <s> o.a.) u n d <pangrammatischen> Kunstgriffe (z.B.
möglichst viele aufeinanderfolgende Wörter mit demselben Buch-
staben). Eines der b e r ü h m t e s t e n p a n g r a m m a t i s c h e n Kunststücke
stammt von E n n i u s . E s lautet: <0 Tite, tute, Tati, tibi tanta, ty-
ranne, tulisti.> Ernst Robert Curtius findet - a u ß e r diesen beiden
formalen M a n i e r i s m e n u n d den Buchstaben- oder F i g u r e n - G e -
dichten - weitere vier <Hauptarten>. E s sind: 1. Die <logodaedalia>,
d.h. Verwendung von n u r einsilbigen Wörtern in Versen; oder je-
der Vers beginnt u n d endet mit e i n e m Monosyllabon, wobei das
Schlußwort jedes Verses als Anfangswort des nächsten wieder- tr&t mcu (fö*tKU cScjirtiL..
kehrt. 2. Das versfüllende Asyndeton, d.h. die Worthäufung im Qcrm.MU IruwfJ cirnuJus, OpiTrus
1 $ ei#!jlrt/<mt>mtt tjKttf
O Petrus — Proteus
Alle diese formalen Manierismen stammen aus der antiken Litera-
tur. Sie kennzeichnen insbesondere den noch ausschließlich rheto-
rischen Charakter der <Manierismen> der lateinischen Literatur
des Mittelalters. Sie tauchen aber auch in allen späteren manieri-
stischen Epochen wieder auf, wobei sich allerdings, wie wir später
sehen werden, eine fortschreitende Verwandlung und schließlich
eine Preisgabe der überlieferten, der attizistischen rhetorischen
Rezepte ergibt. Dies zu verfolgen und zu belegen, gehört zu den
wichtigsten und reizvollsten Aufgaben einer Phänomenologie und
Geschichte des literarischen Manierismus. Die Liste formaler Ma-
nierismen wird zwangsläufig länger werden.
Das manieristische Streben nach Wirkung und Verblüffung, die
meraviglia Marinos, führt also zu einem ersten elementaren <Han-
tieren> mit Buchstaben. Nur einige Beispiele aus der dazu beson-
ders geeigneten lateinischen Sprache! Paronomasie: amans -
amens = verliebt = verrückt. Gleichklang bei verschiedener Vokal-
länge und Bedeutung: malo malo malo malo. (Ich möchte lieber ein
294 Apfelbaum sein als ein schlechter Mann im Unglück.) Hinzutreten
und Wegfall eines Buchstabens: Amore, more, ore, re coluntur ami-
citiae. (Durch Liebe, Sitte, Wort u n d Tat werden Freundschaften
gepflegt.) A n a g r a m m e : Aus <Roma> lassen sich durch Umstellen
der Buchstaben verschiedene Wörter bilden: Roma amor anno
maro mora oram ramo. Aus <Berolinum> (Berlin) wird <lumen orbi>.
Aus dem Englischen G r u ß werden durch A n a g r a m m e 1200 L o b -
lieder auf Maria gemacht. Aus d e m schwankenden O Petrus wird
<Proteus>. B e r ü h m t war der Vers von Bernard von Banhuysen: <Tot
tibi sunt dates, Virgo, quot sidera caelo>. M a n hat ausgerechnet,
daß m a n diesen Vers i 0 2 2 m a l umschreiben, n e u kombinieren
könne, der Zahl der damals b e k a n n t e n Gestirne entsprechend. Er
hieß deswegen <Das homerische Wunder>.
Es k o m m t aber eine weitere Tendenz hinzu: die gewollte Ver- Giambattista Marino (1569— 1625).
dunkelung, das B e m ü h e n u m ein geheimnisvolles Chiffre-System, Stich nach einem Gemälde von
um verbergendes Bedeuten. Novalis: <Rätselweisheit oder die Leoni
Kunst, die Substanz u n t e r ihren Eigenschaften zu verbergen.> Bal-
tasar Graciän preist in seinem schon e r w ä h n t e n Traktat <Agudezay
Arte de Ingenio> die Technik der Buchstaben- und Wort-<Verdre-
hung>. Auf diese Weise erzeuge m a n Wort-<Labyrinthe>. Die
Buchstaben u n d Silben k ö n n e m a n so vertauschen, d a ß sich eine
<Nueva y misteriosa significaci6n> ergibt. A n a g r a m m e u. ä. dienen
also nicht n u r d e m Spiel, d e m Vergnügen, d e m nur b a n a l e n Witz.
2. S P R A C H L I C H E S
DOPPELLEBEN
<Ehrliche Verstellung)
Künstlichkeiten dieser Art dienen einem verbergenden Esoteris-
mus, genauso wie die d a m a l s so geschätzte Hieroglyphik u n d E m -
blematik. Buchstaben-Kombinationen w e r d e n in den verschiede-
nen Formen des literarischen M a n i e r i s m u s im E u r o p a des
17. J a h r h u n d e r t s (in S p a n i e n Conceptualismo, Cultismo und Gon-
gorismo, in E n g l a n d Euphuism, in Italien Marinismo, in Frank-
reich Preciosite, in D e u t s c h l a n d <Vernunft-Kunst>) auch zu M e t h o -
den, u m eine doppelte sprachliche Schicht zu erzeugen, einen
sprachlichen Doppelsinn, eine sprachliche Ver-Stellung. Z u m L e -
bensstil der E p o c h e gehört die so vielfach angepriesene Verstel-
lung des persönlichen Verhaltens. M a n lebt auf zwei E b e n e n , einer
intim-persönlichen u n d einer öffentlich-gesellschaftlichen. Diese
auch charakterliche Esoterik u n d Exoterik bilden ein G r u n d t h e m a
im <Handorakel> von Graciän. E i n italienischer Dichter, Torquato
Accetto, schrieb 1641 eine Schrift über die <Dissimulazione one-
sta>, die ehrliche Verstellung. Gepriesen wird die Kunst der Verstel-
lung. M a n soll <änigmatisch> sein u n d <hintergründig>. Ja, die
Schönheit ist nach Torquato Accetto nichts anderes als eine <lie-
benswürdige Vorstellung) (<Tutto il bell o non e altro che u n a gentil
dissimulaziono). Graciän erkennt Göngora, der n e b e n Shake-
speare u n d J o h n D o n n e a u c h für uns noch der größte Lyriker des
1 7. J a h r h u n d e r t s ist, als Meister an, weil er <con m u d a r alguna le-
tra>, mit der U m s t e l l u n g einiger Buchstaben höchste Wirkungen
erziele. D u r c h die Verstellung von Buchstaben k ö n n e m a n vor al-
295
lern rätselhafte <correspondencias>, Entsprechungen, erzeugen.
Sogar theologische Mysterien würden uns avif diese Weise er-
schlossen. So wird aus <Dios> (Gott) <Di> <os> (Gib uns) z.B. das
Leben, das Sein usw. Es entstehen auf diese Weise geistvolle Zwei-
deutigkeiten (<Equivocos ingeniosos>). Wort-Labyrinthe sind so-
mit nicht n u r Ausdruck einer höchsten Subtilität. Sie dienen auch
einer Verschlüsselung der Welt.
Geheimbotschaften
In den Tragödien und Komödien Shakespeares wimmelt es nicht
nur von Wortspielen. Durch Buchstaben-Kombinationen u n d ge-
\ \ illiam Shakespeare heime Wortentsprechungen soll es darin ganze <Geheimbotschaf-
(1 5 6 4 - 1 6 1 6 ) ten> geben. M a n bemüht sich seit vielen J a h r e n u m ihre Entziffe-
rung. Bis 1950 sind darüber H u n d e r t e von Büchern erschienen.
M a n hat aus solchen Chiffren vor allem herauslesen wollen, daß
Bacon sich als Verfasser einzelner Stücke enthüllt. Vor kurzem ist
über diese chiffrierten Geheimbotschaften im Werke Shakespea-
res ein neues scharfsinniges Werk erschienen.
Es gibt eine europäische Kryptologie und Anigmatologie am
Rande der Literatur, aber auf die Literatur stärker einwirkend als
der Nicht-Adept glaubt. Die <Geheim>-Schriften stehen besonders
im 16. u n d 17. Jahrhundert in hoher Blüte. L e o n a r d o ist auch hier
der unerreichte Ahnherr. Reuchlin hat eine Geheimschrift entwor-
fen. Galilei schrieb an Kepler chiffrierte Briefe über seine E n t d c k -
kungen. Von Trittenheim gibt es eine <Polygraphia> mit <Clavis>.
Meist handelt es sich u m Buchstaben-Kryptogramme, d.h. jeder
Buchstabe kann mit einem anderen vertauscht werden. Das b e -
rühmteste Chiffre-System hat Lord Francis Bacon entwickelt. 11
Dazu gehört schon ein <Alphabet mit zwei Buchstabens Bacon er-
L e o n a r d o da Vinci: Polvhedron (aus
d e m Codex Atlanticus. 263 r-b)
läuterte sein System mit folgenden Worten: <Die Chiffre hat die
Eigenschaft, daß durch sie irgend etwas als irgend etwas bezeich-
net werden kann.> Hier findet m a n zumindest einen Schlüssel für
die Mentalität Hamlets, für die Vertauschbarkeit von Leben u n d
Spiel, von Traum und Wirklichkeit... im <Schnittpunkt> der
<Phantasie>. Athanasius Kircher schuf die erste praktisch brauch-
bare Kode-Schrift in seiner <Polygraphia nova et universalis) (Rom
1665), einem der heute am meisten gesuchten Bücher dieses uner-
schöpflichen deutschen Jesuiten. Ein Lehrbuch der Kryptographie
schrieb (1665) ein anderer deutscher Jesuit, Gaspar Schott, die
<Schola Stenographica>.
Novalis fragt: <Sollten . . . die Kräfte die Verba . . . Dechiffrie-
rungskunst sein?> Im 20. Jahrhundert entwirft Karl Jaspers seine
" <Of the Advancement of L e a r n -
ing>. 1609. u n d <De Auginentis Philosophie als ein System z u m Lesen der <metaphysischen
Scientiaruin». 1625. Chiffre-Schrifb. Das Lesen von Poesie w u r d e schon früh zu einer
'-' Rom 1540. Über die ursprünglich Dechiffrierungskunst. Die Tendenz des Versteckens u n d Verber-
kultische Bedeutung des Rätsel- gens kann in extrem verspielten Fällen sogar zur <Poesie> des Re-
spiels cf. J o h a n Huizinga, H o m o Lu-
d e n s . Reinbek bei H a m b u r g 11)87.
bus-Rätsels führen, wie in den <Sonetti figuratb von G.B. Pala-
12
p. 108ff. ( = re 455). tino
296
Buch staben-Zauber er
Arthur R i m b a u d h a t eine <Alchimie du Verbe> geschrieben und in
einem Gedicht <VoyeIles> die Farben der Vokale (z.B. A noir, E
blaue usw.) durch Farben charakterisiert. In seiner <Alchimie du
Verbe> schreibt er: <Je notais l ' i n e x p r i m a b l o (<Ich schrieb das Un-
aussprechbare nieder>). <Ich erklärte m e i n e magischen Sophismen
mit der Halluzination der Wörter.) M a l l a r m e hat den Dichter
einen <Buchstaben-Zauberer> g e n a n n t und in einem Brief die
<Alchimisten> als <Vorfahren> bezeichnet. Kennzeichnungen von
Buchstaben durch Farben findet m a n schon in alten tibetischen
Sekten. Über B u c h s t a b e n - M a g i e h a b e n neben vielen anderen zeit-
genössischen Autoren auch J ü n g e r u n d Benn geschrieben. <Wenn
Sie in Zukunft auf ein Gedicht stoßen>, empfiehlt Gottfried Benn,
<nehmen Sie bitte einen Bleistift wie b e i m Kreuzworträtsel.) Der
Dichter <besitzt einen Ariadnefaden). Jeder M e n s c h hat ein beson-
deres Sensoriuni, <es gilt der Chiffre, i h r e m gedruckten Bild, der
schwarzen Letter, nur ihr alleim. D e r Erfinder des heutigen <Let-
trisme>, Isidore Isoü (geb. 1925 in R u m ä n i e n ) , schreibt in einem
Traktat: <Die Zentralidee des Lettrisme geht davon aus, daß es im
Geiste nichts gibt, was nicht Buchstabe ist oder Buchstabe werden
kann.)
Die Traktatisten des literarischen Manierismus im 17. J a h r h u n -
dert empfehlen als besonders wirkungsvolle maniera ausdrücklich
die künstliche Buchstaben- u n d Wort-Verbindung. Nichts darf
einfach sein, schreibt Matteo Peregrini in seinem Traktat <Delle
Acutezzo (1639), s o n d e r n es m u ß auf das <grandemente raro> ge-
achtet werden, auf das höchst Seltene. Concettistisches Schreiben
heißt über <maniere di legamento> verfügen. <Schöne Dinge wer-
den gemacht.) Gottfried Benn schreibt: <Ein Gedicht wird ge-
macht.) Manieristisches Dichten heißt souveräne Beherrschung
einer sprachlichen Verbindungskunst, ein wissendes, geistig be-
stimmtes Dichten. D a h e r wird Dichtkunst für P a u l Valery eine
<fete de l'intellect), eine Feier des Geistes.
Dichten hat im 17. J a h r h u n d e r t vielfach wenig m e h r mit dem
klassischen Mit-teilen zu tun. Dichten heißt in erster Linie ästheti-
sches Wirken durch sprachliche Kombinationen. Das ist eine wei-
tere entscheidende Feststellung für den gesamten europäischen Initialen aus Paris.
um 1568
Manierismus, vom antiken <Phantasiai-Asianismus>, von der spät-
römischen Literatur, von der spätmittelalterlichen Dichtung über
die Epoche Göngoras, Marinos, D o n n e s , Shakespeares, Harsdörf-
j e r s , der zweiten schlesischen Dichterschule bis zur romanischen
und germanischen Frühromantik, zur <antiklassischen> und <anti-
idyllischen> Lyrik von 1880 bis heute. 1 5 Dj^jVlittel der Mitteilung,
die Sprache, der Buchstabe, das Wort, die Metapher, der SatzTdie
13
Periode, die lyrische Sinnfigur (concetto) w e r d e n autonom. Es wird Dichter der europäischen Roman-
s
tik und der deutschen Frühromantik
auf ihren ursprünglichen Funktionswert verzichtet. Novalis: <Die greifen auf die Traditionen ver-
Kraft ist der u n e n d l i c h e Vokal, der Stoff der Konsonant.) <Es kön- schlüsselnder Wort-Kombinationen
zurück, insbesondere auf solche des
nen Augenblicke k o m m e n , wo A B C - B ü c h e r . . . uns poetisch er- 17. Jahrhunderts. So Friedrich
scheinen.) Schlegel. Clemens von Brentano.
Victor Hugo. Richard Wagner.
Das b e w u ß t e H a n t i e r e n mit <rein äußerlichen) Buchstaben-
Kombinationen beobachtend, sind wir schon auf den D r a n g zur
Verschlüsselung, Verdunkelung, Verstellung gestoßen. Wir fan-
den eine G r u n d t e n d e n z : das b e w u ß t e , wissende, <machende>
Dichten. Wir b e g e g n e n schon am E n d e dieser Motivkette weiteren
Elementen.
297
Georg Philipp Harsdörffer <der
Spielende» (1607-1658). Stich von
Joachim von Sandrart
Leporismus
Durch den Vokalreichtum der Sprache erreichte m a n in Italien
stärkere Effekte u n d kunstvollere Kombinationen. Schon am An-
fang der wiederauflebenden antiken u n d mittelalterlichen M a n i e -
rismen steht Luigi Groto (1541—1581) mit seinen <Rime>. Er gehört
zu den ersten u n d k ü h n s t e n Buchstaben- u n d Wort-Ingenieuren
des italienischen 16. J a h r h u n d e r t s , M a r i n o bewunderte ihn. Seine
Glanzleistung ist ein Sonett mit 52 R e i m e n . P a u l Valery, der d e n
leoninischen, den mehrsilbigen Reim schätzte, m ü ß t e Groto u m so
m e h r in sein P a n t h e o n a u f g e n o m m e n h a b e n , als dieser ausdrück-
lich erklärte, der G e g e n s t a n d eines Gedichts sei völlig gleichgültig.
Hier nur die erste Strophe dieses b e r ü h m t e n Sonetts:
Declique u n li clictis
Tretis petit fetis
Du pli qu' il multiplie
II siffle au floc flori
Du buisson, favorit
D ' E c o qui le replie. 1 9 '" H o p k i n s hat verschiedene E c h o -
Verse, so z.B. o . c . p . 8 8 . p. 1-6. Fast
für alle formalen Manierismen ist
H o p k i n s eine F u n d g r u b e .
Schließlich einige Verse aus d e m b e r ü h m t e n Lerchengedicht
Giullaume du Bartas' ( 1 5 4 4 - 1 5 9 0 ) : <La gentile alouette avec son
tirelire / Tire l'ire ä l'ire e tire lirant tire / Vers la voute du ciel / Puis
son vol vers ce lieu / V i r e , et desire adieu Dieu, adieu Dieu.> 20 U n d -"'.La S e m a i n e . . V. Tag. Mit Bei-
spielen dieser Art aus 2=, J a h r h u n -
aus dem <Kleinen Bestiariurm von J o h a n n Klaj ( 1 6 1 6 - 1 6 5 6 ) : derten manieristisrher Dichtimf;
könnte m a n ein dickes Buch füllen.
Die L e r c h trierieret ihr Tiretilier,
es binken die F i n k e n den Buhlen allhier.
Die Frösche coaxen u n d wachsen in L a c h e n ,
rekrecken, mit Strecken sich lustiger m a c h e n ,
es k i m m e r t u n d w i m m e r t der Nachtigall Kind,
sie pfeifet und schleifet mit künstlichem Wind.
3 0 1
<Cabala simplex>
302
Von Z bis A u n d von A bis Z
Neorhetorisch erscheint z. B. das <pangrammatische> Gedicht ei-
nes der bedeutendsten zeitgenössischen Lyriker Italiens, Edoardo
Cacciatore, in seinem Gedichtband <La R e s t i t u z i o n o . Der erste
Buchstabe des ersten Worts ist <Z>; jeder weitere Anfangsbuch-
stabe des ersten Worts der nächsten Zeile folgt der Reihenfolge des
Alphabets bis A. Jeder Vers weist a u ß e r d e m starke Alliterationen
auf. Sie w e r d e n von d e n jeweiligen ersten Buchstaben des ersten
Worts lautlich bestimmt. Nachfolgend als Beispiel die ersten vier
Verse, als lyrische Buchstaben-<Musik> zu werten.
Der Uhren-Kleber
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304
dichte nach diesem Prinzip gemacht, so z.B.: <Ein Greis in Gold
mit einer U h r in Trauer>, <ein Professor für Porzellan mit einem
Flicker von Philosophie^ <ein Feldwebel in S c h a u m mit einer
Pfeife im Ruhestand) usw." 5 Doch schon Morgenstern, Apollinaire Aus <Cortege>, «Panorama Criti-
que des nouveaux Poetes Irancais».
und Hans Arp sind darin Meister. Auch Morgenstern wollte <die Paris 19,^5, p- 76.
Sprache zerbrechen). D e r M e n s c h erschien ihm als <im Spiegelker-
ker gefangen). Morgenstern erfindet Wort-<Phantasiai>: <Ein Stie-
fel wandern u n d sein Knecht / von Knickebühl gen Entebrecht.)
Ähnliche Beispiele findet m a n in seinem Werk oft. H a n s Arp
k o m m t auf: <Kakadu-Kakasie> und auf <Schneewittchen-Hagel-
wittchen>; d a n n meint er: >Solche Kopfzerbrechen erklärt die Un
zahl zerbrochener Köpfe.) In Apollinaires <Alcools> findet mai
zahllose Buchstaben- u n d Wortspiele. Apollinaire (jüdisch-polni
scher Herkunft, in R o m geboren, Wahl-Franzose) hat, was m e l a n -
cholische Brillanz u n d N e u e r u n g s s u c h t angeht, etwas von einem
Erzneapolitaner zur Zeit M a r i n o s u n d L u b r a n o s . E r stellt aus-
drücklich fest: <Die Ü b e r r a s c h u n g (surprise) u n d das Unerwartete
gehören zu den wichtigsten Anregern der heutigen Poesie.) 2 4 M a - 24
<L'Esprit Nouveaux et les Poetes».
rino hatte <stupore> empfohlen u n d die <bizzarria della novitä>. <Mercure de France>. Dezember
1918. Rimbaud schrieb: 'Verlangen
wir vom Dichter Neuheit.» Laiorgue
verlangt: .Neuheit, immer wieder
Neuheit.» Diese Tendenz zum Nur-
Neuen tadelten schon die Attizi-
sten . . . am Asianismus.
3. I R R E G U L Ä R E P O E S I E
Die <Heteroclites:
Literaturgeschichtlich k a n n m a n solche <Poesie> formelhaft als
desintegrierten Leporismus bezeichnen. D o c h h a b e n Artaud u n d
andere französische Lettristen im eigenen L a n d e Vorbilder. Ita-
liens poeti bizzarri (wie Groto, Leporeo u.v.a.) heißen in Frank-
reich <poetes heteroclytes) (unregelmäßig, irregulär). Es ist das
Verdienst von R a y m o n d Q u e n e a u , in einer S o n d e r n u m m e r der
Zeitschrift <Bizarre> vergessene A h n e n der heutigen <Heteroclites>
entdeckt u n d eine ganze Galerie von bisher u n b e k a n n t e n Vertre-
tern dieser ver-rückenden Wortverstellungs-Kunst vorgestellt zu
haben. Einer dieser französischen A h n h e r r e n des <Irregulären>
heißt Louis de Neufgermain. E r lebte — wie zu erwarten war — im
17. J a h r h u n d e r t . 1630 veröffentlichte er zu Paris ein Buch <Poesies
et Rencontres>. Wir finden darin Buchstaben-Gedichte, Buchsta-
ben- u n d Silben-Kombinationen, uns jetzt schon b e k a n n t e P r o -
dukte des Leporismus u n d auch des gerade damals in Paris ge-
schätzten M a r i n i s m u s . F ü r einen M o n s i e u r Lope schreibt er ein
<bizarres> Gedicht, von d e m wir n u r die letzten drei Verse zitieren:
Spiel der H o m o n y m e
Als Vorläufer des zeitgenössischen Lettrisme glaubte ein französi-
scher Philologe, Professor Jean Pierre Brisset, sogar eine n e u e
Weltordnung aus Buchstaben-Kombinationen gefunden zu haben,
und zwar viele J a h r e vor dem Dadaismus. Sein System der Welt-
^ a u f s c h l ü s s e l u n g durch Buchstaben- und Silben-Kombinatorik hat,
laut Breton, die verbalistische <Pataphysik> Alfred Jarrys angeregt,
die <Paranoia-Kritik> Salvador Dalis, die Lyrik Raymond Roussels,
Robert Desnos' u n d Marcel D u c h a m p s . Es wird vor allem James
Joyce genannt, dessen Werk sicherlich den H ö h e p u n k t der euro-
306 päischen Alchimie du Verbe darstellt.
Brisset findet g e h e i m e metaphysische <Entsprechungen>, wenn
m a n Wörter auf folgende Weise verstellt (dislocation):
(Aus Je sais que c'est bien wird [je oder] jeu sexe est bien.)
308
Worte
Einfalt erfundener Worte,
Die m a n hinter T ü r e n spricht,
Aus Fenstern u n d gegen die M a u e r n ,
Gekalkt mit geduldigem Licht.
Buchstaben-Mystik
Jede Hieroglyphe war für die Ägypter Bild eines Gotteswortes. F ü r
die J u d e n hatte Buchstabe u n d Schrift nicht n u r einen göttlichen
Ursprung. Sie führten - symbolisch u n d kombinatorisch — auf Gott
zurück. Der Buchstabe Aleph zum Beispiel bedeutete ganz bildhaft
'' Clemens Brentano noch deutet Gott.-' In der orientalischen und graeco-orientalischen Literatur
die Dreieinigkeil in cAleph> hinein.
ct. Kran/ Dornseiff. Das Alphabet in i der Antike wimmelt es von Theologien, Kosmogonien, Angelolo-
Mystik und Magie, und K.Selie- gien und Anthropologien auf G r u n d von Buchstaben-Kombinatio-
mann, Le Miroir de la Magie. Paris
«957-P-257.a65.273-*75
nen der verschiedensten Art. F ü r den Alchimisten Zosimos hatten
Buchstaben Eigenschaften, u n d sie verteilten Eigenschaften. Die
esoterische Buchstaben-Mystik der orientalischen Urantike ist
(wie die chinesische) in erster Linie theognostisch. Sie bildete E l e -
mente der Mystik, der Magie, der heilenden u n d bewältigenden
Magie, aber auch der gottrufenden, der evokativen Klangmagie.
Mit Buchstaben konnte m a n zaubern und verzaubern. Verzaubern
durch den bloßen Klang von Buchstaben? <In Ägypten preisen die
310 Priester sogar die Götter durch die sieben Vokale, i n d e m sie diese
der Reihe nach ertönen lassen, und statt Aulos u n d Kithara wird
der Schall dieser Buchstaben gehört wegen ihres Wohlklanges.>
In dieser theologischen Buchstaben-Kryptographie wurden
ganze Systeme von Buchstaben-Symbolen entworfen. Im uner-
gründlichsten Buch der jüdischen Kabbala, im Sepher Jetzira, bil-
dete Elohim sein U n i v e r s u m mit den drei Büchern: Sepher (die
Schrift), Sopher (die Zahl) u n d Siphur (das Wort). Also: Univer-
sum, Zeit, Körper. Von d e n Sephiros, die Elohim erschafft, hat der
<Geist des Geistes> <22 Buchstaben geschnitten und in Stein gebil-
dete diese 22 Buchstaben sind die G r u n d l a g e n der drei Mütter, der
sieben Doppelten u n d der zwölf Einfachen. Aus ihnen ist die ganze
Welt gebildet. Das Alphabet wird zu einem kosmischen Chiffre-Sy-
stem.
Lettristische P e r m u t a t i o n e n hatten auch im bloßen Klang von
Buchstaben u n d B u c h s t a b e n - G r u p p e n noch einen transzendenta-
len Sinn. U m 1150 v.Chr. m a c h t e m a n in Ägypten die <Entdek-
kung>, daß die wirksamste Gestalt des Urgott-Namens aus absolut
sinnlosen Z u s a m m e n s t e l l u n g e n von Buchstaben bestünde. Sogar
das <Zungenreden> ergab also mythischen Sinn. Auf diese Weise
glaubte m a n eine <chemisch reine Gottheit) zu erhalten. Die
spätere kabbalistische Bezeichnung Ziruph für Buchstaben-Ver-
setzung bedeutet auch <Schmelzung). D u r c h B u c h s t a b e n - P e r m u -
tationen schmilzt m a n also gewissermaßen das Urwesen ein.
Es gab bestimmte Techniken dazu, so etwa die uns schon be-
kannten Palindrome, Rücklinge oder Krebsworte, die Kaimata
(Worte werden u n t e r e i n a n d e r geschrieben, wobei m a n jedesmal
einen Buchstaben wegläßt, z.B. unser schon zitiertes Amore, more,
ore, re' ) u n d Analogien. So bringt der Klostergründer S.Sabas in Im altjüdischen Zauberwesen
seiner Schrift <Die Mysterien der griechischen Buchstaben), he- wird der D ä m o n Schubriri a n g e r u -
fen: <Schabriri, briri. riri. rL> Aus
bräischen Vorbildern folgend, die 22 Buchstaben des hebräischen
Biau. Das altjiidische Z a u b e r w e s e n .
Alphabets mit den 22 Schöpfungswerken Gottes, den 22 Büchern Zitiert nach Dornseiff o.e.
J e a n - F r a n c o i s Bory:
Komposition
>C o Z v
' £ *° 5 m^\m^x^-^
ZI- <"<*
«. < & -
%.
« « UM 311
des Alten Testaments, den 22 000 Rindern Salomons, den 22 Aretai
(Tugenden) Christi in Beziehung. Es gibt sieben Vokale, so wie es
sieben Planeten, sieben Sphären, sieben Leiersaiten, sieben Töne
in der Oktave, sieben Tonarten gibt.
Isopsephie
Eine weitere Technik der antik-semitischen und orientalisch-grie-
chischen <Arithmomantik> und <Gemantrie>: die sogenannte <Iso-
' psephie>. d.h. die Herstellung verborgener Beziehungen in den
Wörtern durch Kombinationen von Buchstaben und Zahlen, eine
der beliebtesten Methoden in den Talmud-Schriften, in der Kab-
bala, in der Alchimie, aber auch schon in der althebräischen Lyrik.
So ergibt sich für die heutigen Deuter der Geheimnisse u m Shake-
speare, nach dem System a = 1, b = 2, usw. bis y = 23, z = 24,
<additiv> aus dem Wortmonstrum in < Verlorene Liebesmüh>: <ho-
norificabilitudinitatibus> (Zahlenwert = 287): <Hi ludi, tuiti sibi,
cf. auch Louvier, Chiffre und Fr. Bacono nati.> 29
Kabbala in Goethes Faust. Berlin
i8y _ . sowie Oskar Fischer-Döbeln, Die Sucht nach den <Psephos>, nach der Entsprechung, führt al-
Orientalische und griechische Zah- lerdings schon in der Antike zu einer Psephomanie, zu einer popu-
lensymbolik. Leipzig 1918.
lärmagischen Onomatomantik, zu einer preziös-manieristischen
Buchstaben-Orakelei für Markt u n d Pöbel. N e b e n Isopsephie u n d
Ziruph (Buchstaben-Umstellung) finden wir schließlich noch die
"' Eine Liste davon in A. Kirchers <Temura>, die Buchstaben-Versetzung. 3 0
«Oedipus. Aegyptiacus> (o. c. p. 249).
Labvrinthkomposition des
deutschen Kalligraphen I.C.
Hiltensperger. Anfang
18. Jahrhundert
512
Federico Zuccari: Selbstporträt.
1595. Accademia di San Luca in
Rom
3*3
Buchstaben-Seelen
Das alles taucht, nachdem es im Mittelalter in <magisch>-religiöser
Weise auf mannigfache Art weitergelebt hatte, zwischen Renais-
sance und Hochbarock, wie wir später sehen werden, in n e u e r
Form wieder auf. Pico della Mirandola, Agrippa von Nettesheim,
Athanasius Kircher u.a. verwenden die alten mythischen Alpha-
bet-Manierismen zu neuen Konstruktionen, zu methodischen Mit-
teln einer magischen Natur-<Wissenschaft>, die sich vielfach auch
von der Astrologie herleitet. Den Gestirnen waren Buchstaben zu-
geordnet. M a n n i m m t sogar an, daß die Reihenfolge der Buchsta-
ben des Alphabets astrologischen Ursprungs ist. In Hölderlins <Hy-
perion> findet m a n noch einen Niederschlag dieses Glaubens: <Das
sind nur Sterne, Hyperion, nur Buchstaben, womit der N a m e n der
Heldenbücher a m Himmel geschrieben ist.>
Vor allem Novalis hat diese Überlieferungen gekannt u n d viel-
fach über <grammatische Mystik> spekuliert. Spätere Schriftsteller,
stellt er fest, hätten <diese alte Manier aus romantischen u n d m o -
dernem Instinkt ergriffen>, diese <alte M a n i e n , des <ägyptischen
und orientalischen Mystizismus). <Je größer der Magus, desto will-
kürlicher sein Verfahren, seine Mittel.) <Der Zauberer ist ein Poet>,
<ein Künstler des Wahnsinns), und der Dichter weiß u m die (magi-
sche) Sympathie des Zeichens mit dem Bezeichneten. (Eine der
Grundideen der Kabbalistik.)
Novalis findet auch hier eine seiner überraschenden Formeln:
<Die Seele ist ein konsonierter Körper. Vokale heißen bei den H e -
bräern Buchstabenseelen.)
Diese noch religiös gebundene Buchstaben-Kunst ist selbstver-
ständlich auch im 16. und 17. J a h r h u n d e r t zu finden. John Dee
(geb. 1527) konstruiert phantastische Zahlen- u n d Buchstaben-
Symbole, aber er sucht durch sie noch Verbindung mit den Engeln,
mit Gott - genau wie A. Kircher in der Mitte des 17. J a h r h u n d e r t s .
In Moscheroschs <Wunderlichen wahrhaftigen Gesichtern Philan-
ders von Sittewald> (1665) liest m a n dazu schon die Satire: <Wenn
ich des Morgens aufstehe, sprach Gschwebbt— ein Kroat—, so spre-
che ich ein ganzes ABC, darin sind alle Gebett einbegriffen, unser
Herr Gott m a g sich danach die Buchstaben selbst zusammenlesen
und Gebethe drauss machen wie er will. Ich könts so wol nicht, er
kann es noch besser.)
Europäischer Scherbenhügel
In der Shakespeare-Zeit erfolgt der Bruch, die <Säkularisierung>.
Shakespeares Theater k a n n m a n noch in e i n e m mythischen Sinne
als alchimistisches Theater) bezeichnen, w e n n auch— wie wir se-
hen werden - Shakespeare formale M a n i e r i s m e n oft in einer
Weise benützt, welche an die spätere Verblüffungs-Technik der
Leporeo und Genossen erinnert. <Kaum ein anderes Werk unter-
richtet uns besser über das (esoterische) Glaubenssystem im
16. J a h r h u n d e r t als das Werk Shakespeares.) Die n e u e r e For-
schung dringt i m m e r tiefer in die alchimistisch-hermetischen Ele-
mente im Werke Shakespeares ein. Fast gleichzeitig - vor allem an
einer so vielseitigen u n d vieldeutigen E r s c h e i n u n g wie M a r i n o
s i c h t b a r - tritt eben jene <Säkularisierung> ein, die n u r noch artisti-
sche Verwendung von ursprünglich religiös bestimmten formalen
<Manierismen>. D a r ü b e r werden wir in den nächsten Kapiteln
[Itc-enlerAriel. Inxlalble, playlng and ilaging;
Ferdinand followlng. j
Arlefs Song.
Come unto these yellow sands,
And tben take hands:
Courtsied when you have and kiss'd
Tbc wild wavts wbist:
Foot it featly henc and there;
And, swcct Sprites, the burtben bear.
Hark, barkl
Hunnen \dlaperacdly\ Bow-wow.
Ariel. The watch dogs bark:
Burihca [dlapcnextly]. Bow-wow.
Ariel. Hark, bark I I hear
The ttrain of struttingr chaaticleer
Cry, Cock-a-diddle-dow.
4. A R S C O M B I N A T O R I A
Gegen Gefühlsgeschwätzigkeit
Der französische Dichter Stephane M a l l a r m e (1842 — 1898), den
m a n als Vater eines besonders verschlüsselten Typus der zeitgenös-
sischen <hermetischen> Lyrik E u r o p a s bezeichnen k a n n , beginnt
316 auch in Deutschland von einer jüngeren Generation besser ver-
standen zu werden als von George u n d dessen damaligem Kreis.
Ein M i ß t r a u e n g e g e n ü b e r <Gefühls- oder Inspirationslyrik> ist fest-
zustellen. E r i n n e r n wir an die Sentenz Nietzsches: <Dies (horazi-
sche) Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als
Begriff nach rechts u n d links und über das Ganze hin seine Kraft
ausströmt, dies M i n i m u m in U m f a n g u n d Zahlen der Zeichen,
dies damit erzielte M a x i m u m in der E n e r g i e der Zeichen - das
alles ist römisch u n d , w e n n m a n mir glauben will, vornehm par
excellence. D e r ganze Rest von Poesie wird dagegen etwas zu Popu-
läres - eine bloße Gefühls-Geschwätzigkeit.. .>33 " <*• <Götzendämmerung>. -Was ich
Vergessen wir nicht, d a ß für den <Romantiker> Novalis <der Ver-
stand der Inbegriff aller Talente> war. <Der Dichter h a t n u r mit
Begriffen zu tun.> <Ich bin überzeugt, daß m a n durch kalten, tech-
nischen Verstand u n d ruhigen, moralischen Sinn eher zu wahren
Offenbarungen gelangt als durch P h a n t a s i e , die uns bloß ins Ge-
spensterreich, diesen Antipoden des w a h r e n H i m m e l s zu leiten
scheint. >
Uns dient dieser Hinweis dazu, eine der großartigsten Figuren
der n e u e n europäischen Literatur hervorzuheben, Stephane Mal-
larme, den Erzgegner alles n u r Zu-fälligen in der Lyrik, aber auch
den Extremisten, <für sein Denkbild blutend>, den <Priester>, der,
mit k a u m faßbarer G ü t e u n d Geduld, individuelle Selbsttäu-
schung u n d Massenkult zurück- u n d zurechtwies.
In der Kunstgeschichte ist mit Recht i m m e r wieder das intellek-
tuelle — wir m ö c h t e n sagen das daidalische E l e m e n t des Manieris-
mus hervorgehoben worden, eine fast wissenschaftliche Kälte des
Schaffens bei stärkster E m o t i o n , eine für m a n c h e erschreckende
Bewußtheit. W e n n manieristische Eigenschaften dieser Art auch
positiv gewertet werden k ö n n e n , so m ü ß t e dies anläßlich Mallar-
mes geschehen. Valery h a t einmal gesagt, daß der dichterische
Schaffensprozeß interessanter sei als das dichterische Kunstwerk
und daß die m o d e r n e Lyrik das Entstehen von D i c h t u n g zum
Hauptgegenstand habe. W e n n dies für M a l l a r m e richtig ist, so
m u ß ein Einblick in seine Schaffensprozesse ganze Landschaften
manieristischen Verhaltens in der Literatur freimachen.
Das Über-Buch
Ein Ziel lockt uns: die Erforschung eines der großartigsten euro-
päischen Scherbenhügel. W i r stoßen dabei auf ein neues Laby-
rinth-Geheimnis. E i n e Zahl, der wir zufällig begegnen, führt uns
zu einem n e u e n Ariadne-Faden. In einer n e u e n Veröffentlichung
hinterlassener Notizen M a l l a r m e s fanden wir die Zahl: 3 6 2 8 8 0 0 .
Wir erinnerten uns d a r a n , daß dies eine S u m m e von Kombinatio-
nen der <Ars M a g n a Sciendi sive Combinatoria> von Athanasius
Kircher darstellt. Kircher schöpft seine Anregungen aus der <Ars
Compendiosa> von R a y m u n d u s Lullus ( 1 2 2 3 - 1 3 1 6 ) . Wir fanden
bestätigt, daß M a l l a r m e zumindest Schriften von Lullus, diesem
ebenso vielseitigen wie umstrittenen Philosophen u n d Dichter des
Hochmittelalters, diesem Vermittler alter orientalischer E r k e n n t -
nismittel u n d Weisheiten, studiert hat. Doch zunächst einiges zu
Mallarmes Konzeption eines universalen Über-Buchs, eines
Buchs, das sämtliche Möglichkeiten der Sprache erschöpfen sollte.
Ein schmaler Rest des Nachlasses von M a l l a r m e ist, wie gesagt,
jetzt erst veröffentlicht u n d gedeutet worden. Es handelt sich u m
Entwürfe zu einem <gewaltigen Werk>, g e n a n n t zunächst <Le 3*7
S t e p h a n e M a l l a r m e (1842 — 1898).
nach e i n e m G e m ä l d e von E d o u a r d
M a n e t , 1876
Livre>, das <die enge Beziehung der Dichtung mit dem Universum>
darlegt, wobei aber, damit die Dichtung rein sei, diese <von ihrem
Traum- und Zufallscharakter befreit wird> (so M a l l a r m e selbst in
einem Brief). <Schönheit> soll das <Buch> spiegeln. Es soll g l a n z -
volle Allegorien) des Absoluten enthalten, auch wenn dieses Abso-
lute <Nichts> sein sollte. Diese B e m ü h u n g u m ein poetisches Welt-
buch vergleicht Mallarme mit dem alchimistischen Suchen n a c h
dem Absoluten. Auch Leonardo da Vinci n e n n t er als Vorbild. Wir
finden dazu in den Fragmenten des Novalis den geheimnisvollen
Imperativ an sich selbst: <Aufgabe, in einem Buche das Universum
zu finden.) Außerdem: <Von der Bearbeitung der transzendentalen
Poesie läßt sich eine Tropik erwarten, die die Gesetze der symboli-
schen Konstruktion der transzendentalen Welt begreift.) M a l l a r m e
beurteilt das Nachlassen des religiösen Glaubens nach der Franzö-
sischen Revolution als eine folgenschwere Tragik. Er fand es aller-
dings für einen Dichter seiner Epoche schwer, das Religiöse mit
den Bildern und Mitteln geoffenbarter Religionen zu vermitteln.
Als das Wahre, Letzte bleibt ihm n u r doch die logische Struktur des
Universalen. Das erinnert an den metaphysischen Skeptizismus
und universallogischen Instrumentalismus von Wittgenstein, der
bekanntlich nicht nur in England auch auf die Literatur einen E i n -
fluß ausgeübt hat. F ü r Mallarme ist das W a h r e das Logische. E r -
kennbar wird es - als Weltsubstanz - aber n u r im Bild. (Wittgen-
stein: <Der Satz sagt nur insoweit etwas aus, als er ein Bild ist.>)
Von Mallarmes Entwürfen ist n u r wenig erhalten: Skizzen, erin-
nernd an geometrische und algebraische Aufzeichnungen eines
Architekten, anscheinend sinnlose Wortgruppen, durch Striche,
318 Kreuze und Klammern miteinander in Verbindung gebracht. Sie
geben einen erstaunlichen Einblick in die geheimsten Werkstatt-
winkel eines Dichters, der sie wie Valery als Ingenieur-Daidalos
empfand. U m eine g e h e i m e Stenographie handelt es sich, die mit
kombinatorischen Mitteln <Alles> umfassen sollte. Mallarmes
Wort ist bekannt: <Tout a u m o n d e existe, pour aboutir ä un livre>
(<Alles hienieden besteht, u m in ein Buch zu m ü n d e m ) . Dieses
Weltbuch sollte orphisch sein. D u r c h ein bestimmtes Verfahren
wollte M a l l a r m e orphisches Weltwissen sammeln, jedoch in <ma-
thematischer Sprachen Als Anreger m ö g e n die romantisch-manie-
ristischen F r a g m e n t e von Novalis u n d Wagners Idee einer Vereini-
ym &- - '
gung aller Künste mitgewirkt h a b e n . Das Buch, das zehn Teile £
haben sollte, war als Vorlese-Buch gedacht. Es sollte in einer Serie
von festlichen <Aufführungen> vermittelt werden.
Wir müssen uns dazu Einzelheiten ersparen. Was uns in diesem
Z u s a m m e n h a n g interessiert, ist ein weiterer formaler Manie- P a u l Valery ( 1 8 7 1 - 1 9 4 5 ) .
rismus: die A n w e n d u n g der sprachlichen Ars Combinatoria beim L i t h o g r a p h i e von Picasso, i g 2 0
lyrischen Kalkül, beim <Machen> von Lyrik, die sprachlogische Er-
zeugung einer — wie M a l l a r m e schrieb — <reinen Ganzheit von Be-
ziehungen jedes zu allem>, eines <hohen Z u s a m m e n k l a n g s t Das
Ur-Buch, das <Buch aller Bücher> Mallarmes ist nie beendet wor-
den. Diesen gigantischen Kampf gegen den <Zufall> der bloßen
Eingebung zugunsten eines <höheren> lyrischen Weltsystems, ei-
nes Buches o h n e u n m i t t e l b a r e Aussage, Personen u n d H a n d l u n -
gen, hat der zarte Gymnasiallehrer, der <Prince des Poetes>, der
sich selbst als (neuer Hamlet> empfand, nicht beenden können.
Der Tod m a c h t e diesem einzigartigen literarischen Traum eines
Buches der geheimsten Beziehungen von Buchstaben und Worten,
die er Arabesken n a n n t e , ein E n d e .
3628800
Das Ur-Buch Mallarmes sollte also in seinen verschiedenen Teilen
mit einem Buchstaben, e i n e m Wort, einem Satz beginnen. Daraus
werden dann Systeme von Beziehungen abgeleitet, eben mit jener
kombinatorischen M e t h o d e von B a y m u n d u s Lullus, dessen (Kom-
binationstafel) (aus symbolischen Buchstaben) ein theologisch-on-
tologisches Weltsystem ergibt. Diese kombinatorische Methode
des Lullus galt schon im 16. J a h r h u n d e r t als von Adam erfundene
«hebräische Kunst>. Sie w u r d e auch als (alchimistische Kunst> be-
zeichnet. In Schriften ü b e r Lullus n a n n t e m a n seine Kombina-
üonstafeln auch <Ars clavigera>. <Liber secreti secretorum>, (Alpha-
betum divinum> u n d <Geheimtestament der Engel). Lullus wurde
schon in der Renaissance-Zeit als ein Meister des <alquimia de la
palabra> bezeichnet. 5 4 >+
Über die sog. «Cabala cristiana>
von Lullus u n d über den Einfluß sei-
Mallarme b e k a n n t e in einem Brief: <Hier liegt das ganze G e - ner Kombinatorik auf die mittelal-
heimnis: verborgene Beziehungen h e r s t e l l e n ) . . . durch sprachlogi- terliche Rhetorik cf. M . M e n e n d e z
Pelavo. p. 400 ff. Die Rhetorik als
sche P e r m u t a t i o n e n . Allerdings, dies sei jetzt n u r angedeutet, und «Alchvmia verborum>! Der «Arbol de
hier liegt, wie wir sehen w e r d e n , das tiefere Geheimnis der <Inge- la Ciencia» von Lullus w u r d e schon
im Mittelalter benutzt als G r u n d l a g e
nieur>-Lyrik, sollten derart hergestellte Beziehungen nicht gegen- für ein kosmisches Aufschlüsse-
ständlich benannt, sondern <suggeriert> werden. Doch bleiben wir lungssystem. Mit Rhetorik und Lo-
zunächst bei der traditionellen M e t h o d e . gik glaubte m a n die Weltgeschichte
in Weltformeln bringen zu können.
Der <Ingenieur> oder (Operateur) - als solcher empfand sich Davon werden wir später noch lesen.
Mallarme - verfügt jetzt über einen M e c h a n i s m u s . D u r c h Ablei-
tungsverfahren ergeben sich G r u p p e n von Wortfolgen. Eine Wort-
gruppe k a n n in vielfacher Weise interpretiert bzw. permutiert wer-
den. F ü r jeden Vers ergeben sich somit viele sprachliche Neben- 5*9
u n d Randfelder und entsprechend viele Bedeutungen. So entste-
hen lauter einzelne Kombinationsstücke. Sie werden zu Faszikeln
vereint. Die Sprache kombiniert - mit Hilfe des Operateurs - gera-
dezu selbständig weiter. Auch Sätze k ö n n e n auf vielfache Weise
permutiert werden, z.B. durch Inversion. M a l l a r m e wollte d a n n
aussieben, aber das Ur-Buch hätte auch d a n n noch mindestens
zwanzig dicke Bände mit 4 8 0 0 0 0 Teilen umfaßt. M a l l a r m e hatte
sich bereits die Kosten einer staatlichen Subvention ausgerechnet.
Die < Aufführungen) sollten fünf J a h r e dauern.
Weltschlüssel
Erneut werden wir auf spezifische <Gesetze> des europäischen M a -
nierismus hingelenkt, d.h. auf formale Automatismen der m a n i e -
ristischen Tradition. Doch müssen wir zwei entscheidende Fest-
stellungen machen: Mallarme hat diesen <Lullismus> in der m a -
gisch, <alchimistisch> veränderten Form ü b e r n o m m e n , die i h m in
der literarischen Glanzzeit des europäischen Manierismus aus
älteren kabbalistischen Traditionen gegeben worden ist. Er über-
nimmt ihn in der Form der oben schon erwähnten <Ars Magna> des
Jesuiten Athanasius Kircher, den wir in der Kunstgeschichte des
" cf. W L p. laaff. Dieses Werk Kir- Manierismus bereits kennengelernt haben. 5 5 Dieser kabbalistische
cliers erschien i 6 6 y in A m s t e r d a m .
Lullismus Kirchers ist den strengen Lullisten mit Recht ein Ärger-
nis, seiner <magischen> E l e m e n t e wegen. F ü r uns ist diese histori-
sche Filiation aber aus vielen G r ü n d e n wichtig. Die G r u n d z a h l der
symbolischen Ableitungsbuchstaben bei Lullus ist, wenigstens ab
1290, <Neun>, bei Kircher ist sie ebenfalls <Neun>, in anderer Folge
aber auch <Zehn>. Daher findet m a n bei i h m die P e r m u t a t i o n s -
reihe aus Z e h n mit der Zahl 3 6 2 8 800 b e i m Buchstaben K, bei i h m
wie bei Mallarme. Kircher will in seiner <Ars M a g n a Sciendi sive
Combinatoria> eine eigene sprachliche u n d vor allem ontologische
Kombinatorik geben, eine Methode zur erweiterten Erfassung des
göttlichen Welturgrunds durch Wort- und Zahlenkombinationen.
Das geht von einem <Alphabetum Artis> bis zu einer entsprechen-
den rhetorischen Kombinationskunst. Kircher bietet uns seinen
<Weltschlüssel>.
Die Kombination der gesamten Buchstaben des Alphabets mit
Zahlenpermutationen ergibt andere Möglichkeiten als die n u r
neun symbolischen Buchstaben des Lullus: B, C, D, E, F, G, H, I, K
^Bönitas, Magnitudo, Duratio, Potentia, Cognitio, Voluntas, Virtus,
Veritas, Gloria. Bei Lullus sind dies die <principia absoluta>. Dazu
kommen die <principia relativa>: <Differentia, Concordantia, Con-
trarietas. Principium, Medium, Finis, Majoritas, Aequalitas, M i -
noritas.> Auf die Kombinatorik dieser G r u n d e l e m e n t e {prmcipia
primitiva) können alle Formen des Seienden zurückgeführt wer-
den. Sie heißen deswegen <Absoluta>. Das wird ergänzt durch die
Grund-<Regeln> einer uralten stilistischen Kompositionslehre: An,
Quid, Cur, Quantum, Qui, Quäle, Ubi, Quando, Quibuscum, be-
kannt aus dem Sekunda-Unterricht. F ü r die Kunst gibt es entspre-
chend - in Kirchers kombinatorischem Weltsystem — <Symbole>:
Dem, Angelus, Coelum, Elementa, Homo, Animalia, Plantae, Mine-
ralia, Materialia. Das Prinzip lautet: Nichts gibt es im Sein, was
nicht auf ein anderes zurückgeführt werden kann. E i n e einzige
Tafel, eine <Tabula Alphabetorum Artis nostrae>, wie Kircher sei-
ne Aufstellung nennt, k a n n also eine alphabetische Urontologie
320 enthalten, sozusagen die ontologische Struktur eines Ur- u n d
Über-Buches. Aus diesem k a n n <alles Mögliche> durch einlaches
<commutare>, durch einfache A u s t a u s c h u n g (<Reversibilität>!) ab-
geleitet werden. Die noetische Weltmaschine ist perfekt. Das Ent-
scheidende ist: mit einer derartigen Kombinatorik kann auch alles
abgeleitet werden. Das ist ein Problem Kirchers. Es ist ein Grund-
problem des literarischen M a n i e r i s m u s .
Die andere Reihe, die Z e h n e r r e i h e , bei Kircher hat pythago-
reisch-neuplatonische M e r k m a l e . Sie weist, wie ü b e r h a u p t sein
ganzes Werk, m e h r auf Ficino, auf Geheimkulte in Alexandrien
und auf die kabbalistische Wort-Alchimie d e n n auf Lullus. Die
kombinatorische Kryptographie Kirchers ist <asianisch>, nicht <atti-
zistisch>. M a n weiß, d a ß Kircher sich jahrelang mit semitischer
Sprachkunde u n d mit Hieroglyphik beschäftigt hat, wie schon
Marsilio Ficino und Pico della M a r a n d o l a . Sein seltsamer Neu-
Lullismus enthält sicherlich noch g r u n d l e g e n d e plato-aristoteli-
sche E l e m e n t e . Aber diese w e r d e n — eine manieristische Denkform Hellte 161 5 seine «Janua linguarum*.
— synkretistisch ergänzt, aus salomonischer Weisheit, Talmud- Darin sind die Wörter und Redens-
arten, die zu lernen waren, nach
Wissen, Kabbala u n d N e u p l a t o n i s m u s . Diesen Neo-Lullismus hat
sachlichen Rubriken derart zusam-
Mallarme, wie wir aus der Zahl 5 6 2 8 8 0 0 wissen, als methodische mengestellt, d a ß gleichzeitig so et-
Basis für sein entsprechendes lyrisch-chiffriertes Weltsystem einer was wie ein Weltspiegel gegeben
w u r d e . Arnos Komensky (Come-
All-Kombinatorik g e n o m m e n . Aus späteren Verarbeitungen sol- nius) hat in seiner «Janua linguarum
cher Stoffe im Frankreich der HI. Republik, wo <Magie> besonders reserata> (1631) in etwa 1200
(Jbungssätzen die Dinge der Welt
beliebt war, m a g M a l l a r m e , der solche L e k t ü r e schätzte, diese dargestellt. Um einen Weltkatalog
kombinatorischen Verfahren in ihrer <magischen> A n w e n d u n g internationaler S p r a c h e n hat Bacon
sich b e m ü h t («Descriptio globi intel-
kennengelernt haben, d e n n nichts beweist, d a ß er das allerdings
lectualis), 162^). Leibniz hat mit
oft popularisierte Werk des <Grand Jesuite Allemand>, Kircher, Kircher über dessen <Ars Magna>
selbst gekannt hat. Kombinationstafeln dieser Art findet m a n aller- korrespondiert. <Zum Verständnis
von Dichtungen>. meint Dornseiff.
dings im Werke des m i t i h m befreundeten Erzmagiers Papus. <die ein relativ geschlossenes Voka-
Doch brauchen wir uns nicht in derartige Gefilde zu begeben, bular durch i m m e r n e u e Variationen
h e b e n und steigern, wie etwa . . . die
wenn wir für unsere Leser einen Ariadne-Faden bis zur Gegenwart Gongoristen. Marinisten. E u p h u i -
geben wollen, d e n n nichts wäre falscher, als a n z u n e h m e n , wir be- sten. Preziösen. Schlesier des 17.
J a h r h u n d e r t s , m a n c h e Romantiker
wegten uns in A b g r ü n d e n längst vergessener Geschichte. Wieder u n d die Symbolisten, wäre es
ist es Novalis, der diesen Ariadne-Faden bis zu uns hinüberreißt. äußerst förderlich, einen solchen
Seine <Fragmente> zur Kombinationskunst sind m e h r als Stich- Wortschatz nach Sachen zu inachen:
Die Stellen erläutern sich gegensei-
worte. Es sind Zeichen, die uns dazu verhelfen, E p o c h e n zu über- tig in oft ü b e r r a s c h e n d e r Weise.>
brücken. Hier einige seiner z e i t u m s p a n n e n d e n Durchblicke: <Die D i c h t u n g wäre somit «die letzte und
höchste S t e i g e r u n g des Svnonv -
Analyse ist die Divinations- oder die Erfindungs-Kunst auf Regeln menschubs>. Von Homonvmen-
gebrachte <Alle Ideen sind verwandt. Das Air de Familie n e n n t m a n S c h ü b e n w e r d e n wir noch hören.
Sprachliche Ableitungsyerfahren
Analogie.) <Sippschaften von Gedanken.) <Mein Buch soll eine dieser Art gehen auf den b e r ü h m t e n
szientistische Bibel werden, ein reales u n d ideales Muster und Hebräer Porphyrius von Tvros
( 2 ^ 2 - 5 0 4 ) zurück, auf seine "Einlei-
Keim aller Bücher.) <Es lassen sich auch eine Perspektiv u n d m a n -
t u n g zu den Kategorien des Aristote-
nigfache tabellarische Projektion der Ideen denken, die u n g e h e u - les) (Eüagoge). Aristotelismus wird
ren Gewinn versprechen.) <Eine sichtbare Architektonik und Ex- von diesem Schüler Plotins mit Neu-
platonismus vermengt. Der k o n z e p -
perimentalphysik des Geistes, eine Erfindungskunst der wichtig- tualismus des Porphyrius gab mit
sten Wort- u n d Z e i c h e n i n s t r u m e n t e läßt sich hier vermuten.) Anlaß z u m Universalienstreit zwi-
schen Nominalisten und Realisten.
Nach d e m nominalislisehen Kon-
Manieristische T r a d i t i o n e n . . . auch gerade in der Kombinato- zeptualismus sind Begrille rein sub-
rik! Die kombinatorische Erfindungskunst war in der antiken u n d jektive Operationszeichen, sie haben
mittelalterlichen Literatur wie im Schulwesen bekannt. S a m m l u n - also keine objektive Wirklichkeit.
E i n m a l ist die ästhetische Vorzugs-
gen des Wortschatzes n a c h Begriffskreisen findet m a n vor allem in stellung d e s <Concetto> im ^ . J a h r -
Alexandrien; auch dort w u r d e n sie mit magischen Kosmogonien in h u n d e r t aus diesen Z u s a m m e n h ä n -
gen zu erklären, d a n n aber auch die
Verbindung gebracht. Z u r A b t ö n u n g des Ausdrucks suchte m a n U b e r b e t o n u n g der Dichtung als
schon im lyrischen Esoterismus des Kallimachos-Kreises nach Z y - «reine Sprache*. Schon im Mittelal-
ter w u r d e der Nominaiismus als «via
klischem W e n d u n g e n . Im Mittelalter entsprach insbesondere dem m o d e r n a . bezeichnet. Die Realisten
scholastischen Syllogismus diese M e t h o d e sehr. Wort-<Maschi- folgten der «via antiqua.. Vgl.
Freund. M o d e r n u s und a n d e r e 7-eit-
nen> sind d e n Mystikern u n d Kabbalisten der Renaissance be-
begriffe des Mittelalters. In «Mün-
kannt, von Agrippa von Nettesheim bis zu Giordano Bruno, vor sterische Beiträge zur Geschichtsfor-
allem dem M a n i e r i s m u s der Nachrenaissance. 3 6 schung> Bd.4, Köln-Graz 1 9 , 7 .
<Geheimnis der Geheimnisso
Wortmaschinen? Auch Begriffe werden zu Phantasiai! Manieristi-
sche Kombinationskunst mit begrifflichen Phantasiai. Begriffe
werden, wie im Nominalismus, n u r noch subjektive, phantastische
Operationszeichen, wobei wir nicht übersehen, daß <die Funktion
des Nominalismus genau der Rolle entspricht, die die Sophistik in
der Geschichte der antiken Kunst u n d Kultur spielte. Beide gehö-
ren zu den typischen philosophischen L e h r e n antitraditionalistisch
denkender u n d liberal gesinnter Epochen.) Im 17. J a h r h u n d e r t er-
reicht diese <Via moderna> einen neuen H ö h e p u n k t , doch werden
wir eine weitere wesentliche Unterscheidung zu m a c h e n haben.
Die kombinatorische Erfindungskunst wird als Mittel für die Zu-
sammenstellung von abstrusen Metaphern gepriesen. Diese lassen
sich dann, wie wir später sehen werden, im <Concetto> mit sophisti-
schen <Paralogismen> <vereinen>. E m a n u e l e Tesauro stellt in sei-
n e m <Cannocchiale Aristotelico> einen <Kategorialen Index> auf.
Hier handle es sich, so schreibt er, u m das <Geheimnis der Ge-
heimnisse), u m eine unerschöpfliche Quelle für M e t a p h e r n , Sym-
bole und lyrisch-paralogische Sinnfiguren (concetti). An H a n d der
Kategorien des Aristoteles zeigt Tesauro, wie m a n ganze Wortfa-
briken in G a n g setzen kann. Diese Ableitungsreihen lassen sich
n u n kombinieren. Es ist nach ihm dies die beste maniera, u m (Wäl-
57
o.e. p. 68. H. Deeimalor veröffent- der von Metaphern> zu erzeugen. 3 7 Auch Joh. Christoph M ä n n l i n g
icht if>ob eine <Sylvae vocabu-
anim>.
empfiehlt Ableitungstabellen. Das sind n u r zwei Beispiele für viele.
Hier ist der Zeitpunkt für die in Aussicht gestellte Unterscheidung
gekommen.
A R 1 S T O T E LICO,
Ofia, Idea
DElVARGVTAET INGENIÖSA EL0CVT10NE,
Che ferue ä tutta l'Artc
ORATORIA, LAPIDARIA, ET SIMBOLICA.
ESAMINATA Co' PRINCIPII
LORENZO DELFINO
IN VENETIA*jPre{ßP4ohB*zlb*l. M.DC._LXnL
Con Liccnza de' Superiori» c Priuilcgio.
/t++->
:
^^^ f^jFi£T
Lyrische Trugschlüsse
Der Problematiker neigt zur <irrationalen> K o m b i n a t o r i k . . . u n d
zum Trugschluß! Die Technik der Versetzung von Wörtern bzw.
Buchstaben n a n n t e n die Sophisten z.B. <Logogriph> (aus logos =
Worte u n d griphos = Netz, Rätsel). Es k ö n n e n w a h r e u n d täu-
schende (fallaci), labyrinthische Wortnetze gebildet werden. Irra-
tionale Wortnetze führen zur M e t a p h e r n f i n d u n g , zum Concetto
(Paralogismus plus Oppositions-Metapher) u n d zum Symbolis-
mus. Die Sophisten b e d i e n e n sich jedoch nicht n u r der t ä u s c h e n -
dem rhetorischen F i g u r e n , so etwa u. a. der H o m o n y m i e (absichts-
volle Verwechslung der v e r s c h i e d e n e n Bedeutungen desselben
Wortes), der Amphibolie (Mehrdeutigkeit des Satzes) und der listig
verstellten Disposition ifallacia consequentis). Sie schaffen nicht
nur eine Art von manieristischer Para-Rhetorik durch solche ab-
sichtsvoll deformierenden sprachlichen Mittel. Sie operieren auch
und gerade mit P a r a l o g i s m e n , m i t Trugschlüssen, auch Sophismata
genannt. Sie v e r d r e h e n u. a. d e n Beweissatz, verändern den Streit-
punkt, sie lassen d e n Beweisgrund i m ungewissen ifallacia falsi
medii), sie m a c h e n d e n Beweissatz z u m Beweisgrund (Zirkelbe-
weis) oder <springen> im Schließen usw. Tesauro r ü h m t solche
<fallacia>, solche <paralogismi> geradezu als Gipfelleistungen des
dichterischen I n g e n i u m s . D i e manieristische Dichtung ist schon
im <Asianismus> der Antike d u r c h solche pararhetorischen u n d
paralogischen Kunstgriffe g e k e n n z e i c h n e t . Entscheidend ist im-
mer das, was U n a m u n o einmal, hinsichtlich des spanischen Kon-
zeptualismus, als <Vergewaltigung>, wir wollen sagen, als Ver-
drehung, U m k e h r u n g (Reversibilität) <der Logik durch die Logik>
bezeichnet. Das H a u p t der preziösen Nürnberger, Harsdörffer,
nannte dies <Vernunft-Kunst>, Friedrich von Schlegel n a n n t e sie
<Vemunftdichtung>. 39 <Die r e c h t e Quelle der Kombinatorik liegt 59
In einer Besprechung von Jean
Pauls <Vorschule der Asthetik>. Zum
in der Poesie, also m ü ß t e m a n freilich mit Hieroglyphen anfan- erstenmal herausgegeben von Ernst
gen.) Behler in der <Neuen Rundsrhau>.
1957, Heft4.
Rimbaud prägte den Ausdruck: <Sophismes magiques>.
Wie entsteht n u n aus d e m Paralogismus durch <Verarbeitung>
mit Oppositions-Metaphern ein manieristisches Concetto? G e h e n
wir von d e m Paralogismus aus: <Was m a n nicht verloren hat, hat
man noch. D u hast H ö r n e r nicht verloren. Also hast D u Hörner.>
Für diesen Paralogismus, mit Oppositions-Metaphern <orniert>,
im Sinne des <delectare> mit Phantasiai, wollen wir zwei von uns
selbst <kombinierte> scherzhafte Beispiele geben, eines auf franzö-
sisch-preziöse u n d eines auf deutsch-barocke Art: 1. <Im Spiegel
siehst Du i m m e r D e i n Gesicht / D o c h fehlt das Auge Dir für Vor-
sicht / Da Du das nicht verlieren kannst, / was D u noch hast, so hast
Du wohl die Liebste n o c h / doch ihre Treue hast D u längst verlo-
ren.) 2. <Das Nicht-Verlorene ist unverloren / Das Un-Verlorene
steter Besitz / D a s heimlich H ö r n ist auserkoren / Ist keineswegs ein
bloßer Witz / D a s H ö r n , das bläst u n d das H ö r n , das ziert; / das
laute Hörn oft das stille gebiert.) Tesauro gibt zu diesem Verfahren
onigmatischer Reflexionen) eine ganze Liste von maniere, u n d
zwar zum T h e m a : <Die Biene im Elfenbein), so z.B. (als Kombina-
tionsmöglichkeiten für Paralogismen): <Hic iacet; non iacet; in la-
Pide; non lapide; clausa, n o n clausa; volucris, non volucris; rapta,
dum rapit> usw. D a z u ein Vers aus unserer Zeit (von H a n s M a g n u s 325
Enzensberger): <Die Wespe im Bernstein bebt / unterm Gejaul der
Geräte.)
Damit kommen wir der manieristischen Reversion der Ars Com-
binatoria näher, doch haben wir ihre Bedeutung auch für die zeit-
genössische Dichtung vorher noch zu belegen. Die Geschichte der
Rhetorik in Verbindung mit der Geschichte der Logik ist <noch ein
unerforschtes Feld>. Für die neue französische, spanische, italieni-
sche und englische Literatur hat die Rhetorik als Instrumentarium
von Kunstgriffen, nicht also das, was m a n populär als <Redekunst>
versteht, ihre Bedeutung behalten. P a u l Valery z.B. tadelt einmal
zeitgenössische Kritiker, weil sie die Bedeutung rhetorischer Topoi
vernachlässigt haben. <Die Figuren>, schreibt er, <spielen eine
maßgebende Rolle in der bewußten und gestalteten Dichtung,
dann aber auch in jener ständig aktiven Poesie, die unseren erstarr-
ten Sprachsatz aufwühlt, die Bedeutung der Wörter erweitert oder
verengt, die durch Symmetrien oder Verwandlungen operiert.) Un-
merklich verwandle sie andauernd die Sprache. Wenn m a n Lyrik
verstehen wolle, müsse m a n mit Rhetorik anfangen. 4 0
Entsprechend positiv äußert sich Valery über die Kombinations-
kunst. «Die Gestalt dieser Welt ist Teil einer Familie von Figuren,
von denen wir, ohne es zu wissen, alle E l e m e n t e unendlicher
Gruppen besitzen. Das ist das Geheimnis der Erfinder.) <Die Lo-
gik). <eine mystische, kultivierte Logik>, <schenkt uns m e h r innere
Kombination, als wir zum Leben brauchen>. Sie geht aus <von einer
kleinen Gruppe von Zeichen und Symbolen). Es können «mecha-
nische Kombinationen) sein, <wie im Traum>. Es handelt sich u m
«psychische Onomatopoesien), u m «elementare Kontraste und
Symmetrien>. <Das Kunstwerk n i m m t den Charakter eines Mecha-
nismus an.> Dichten wird somit ein «induktives Verfahren). Kunst
ist: konstruktive Permutation. Leonardos A b e n d m a h l ist ein Sy-
stem «geheimnisvoller Kombinationen).
Apollinaire will das «synthetische Gedieht). Poesie ist «urlyrische
Alchimie). «Man m u ß sich vor dem Mißverständnis hüten, als be-
deute dieses Verhalten moderner Lyriker einen Ersatz für schöpfe-
rische Kräfte. Vielmehr ist zu beachten, daß die intellektuellen Be-
sonnenheiten die Sprache gerade dort zum lyrischen Siege führen,
wo sie ein kompliziertes, traumhaft verschwebendes Material zu
bewältigen hat.) Auch für Strawinsky ist der Künstler ein <homo
faber>, Poetik, in ihrem letzten Grunde, <Ontologie>. Der Kompo-
nist ist in erster Linie «Erfinder). Daidalosl
Aber sind in Deutschland, auch nach d e m 17. J a h r h u n d e r t ,
diese «geistigen Urformen der sprachlichen Mitteilung) je ganz
vergessen worden? Mitnichten, und gerade nicht in der deutschen
Romantik. Hören wir wieder Novalis: «Rhetorik . . . begreift die an-
gewandte oder psychologische Dynamik u n d die angewandte, spe-
zielle Menschenlehre überhaupt in sich. Technische M e n s c h e n -
lehre.)
Absichtlicher Zufall
Nun haben wir genügend Elemente, um die «geheimnisvolle) M e -
thodologie zu begreifen, die Mallarme faszinierte, als er Entwürfe
für sein Über-Buch machte. Die Dinge, als Chiffren für das Welt-
mysterium, sind da; wir haben sie nicht zu schaffen, wir h a b e n n u r
ihre Beziehung zu erfassen. Mallarme hatte «alle Bücher gelesen).
Sprache entsteht aus Sprache, Dichtung aus Dichtung, wie bei
Zuccari, dem Traktatisten der manieristischen Kunst, Kunst aus
Kunst entsteht.
Mallarme wollte <die g e h e i m e n Identitäten) herstellen, u n d er
unternimmt es mit Hilfe einer paralogischen u n d alogischen Kom-
binationskunst. E r vereint, wie die Manieristen des 17. J a h r h u n -
derts, Kombinatorik u n d g e r a d e jene rhetorischen Kunstgriffe, die
Aristoteles für die R e d e k u n s t als fehlerhaft, für die Poesie als er-
laubt bezeichnet hatte. U n d a u c h das empfahl bekanntlich schon
Tesauro, unser manieristischer Enzyklopädist aus dem 17. Jahr-
hundert.
Mallarme wählt ein Wort u n d stellt d a n n Wort- bzw. Bilder-
Netze her. 4 1 Aber er vermeidet dabei i m m e r das Naheliegende. Aus
41
Vgl. H.Friedrich o . c . p . g 8 , Inter-
pretation des Gedichts: >Ses pures
den Entwürfen zu seinem U b e r - B u c h erfährt m a n , daß er aus drei ongles>.
Grundwörtern, aus <chasse>, <yacht> u n d <guerre>, alle Z u s a m m e n -
hänge von wichtigen m e n s c h l i c h e n Ereignissen ableiten wollte:
Begräbnis, Taufe, E h e . So schafft das U b e r - B u c h sich, paralogisch
— alogisch — kombinatorisch, gleichsam selbst seinen Inhalt. Der
Zufall ist vernichtet. D o c h t ä u s c h e n wir uns nicht! Wir werden
noch genau sehen, wie diese Vernichtung des Z u f a l l s . . . durch be-
absichtigte <Zufälle> erfolgt. I m extrem Artifiziellen offenbart sich
wieder eine natürliche U r o r d n u n g , die kombinierte alogische on-
tologische O r d n u n g des M a n i e r i s m u s .
Es wäre jedoch ein Irrtum a n z u n e h m e n , diese <fabrication>, im
Sinne des griechischen Wortes <poieo> = ich m a c h e , ich dichte,
gelte nur für die r o m a n i s c h e n Literaturen. In E n g l a n d ist die Ver-
bindung von Poesie, Logik u n d Rhetorik auch im 20. J a h r h u n d e r t
erhalten geblieben. Die formalen M a n i e r i s m e n der metaphysical
poets des 17. J a h r h u n d e r t s sind in England, wie vielfach in A m e -
rika, auch für die b e d e u t e n d s t e n Lyriker des 20. J a h r h u n d e r t s vor-
bildlich geblieben, u n d zwar in einem sehr wissenden und b e w u ß -
ten Sinne. T. S. Eliot h a t die metaphysical poets meisterhaft analy-
siert, die <far-fetched association of the dissimilar^ die gesuchte
Vereinigung des U n ä h n l i c h e n , geistvoll beschrieben. 4 2 Der Con-
4i
rf. <Donne in our Tiine>. <A Gar-
land for J o h n Donne> und <The M e -
cettismus ist allein schon d u r c h die Shakespeare-Tradition in E n g - taphysical Poets>. Z u r reichen Lite-
land lebendig geglieben. Poesie u n d Scharfsinn (acutezza) sind ratur zu diesem T h e m a vgl. die Bi-
bliographie in d e m Werk von Sona
dort — von Outsiders a b g e s e h e n —nie als Kontraste empfunden wor- Raiziss. T h e Metaphysical Passion.
den. Syllogismus verstärkt die Möglichkeit des r a d i k a l e n Bildes>. Seven M o d e r n Poets and the Seven-
t e e n t h - C e n t u r y Tradition. Philadel-
phia 1952. Ferner u . a . <La Poesia
metafisica inglese del Seicento».
104^: C.Brooks. M o d e r n Poetrv and
the Tradition. C h a p e l Hill 1939. Der
Der Babylonische Turm zeitgenössischen englischen Kritik
gebührt für die E r h e l l u n g dieser Z u -
s a m m e n h ä n g e der höchste R u h m .
Was Deutschland angeht, so wächst das Verständnis für manieri- Die E n g l ä n d e r haben dabei den
Vorteil, o h n e den Begriff <Barock>
stische Z u s a m m e n h ä n g e in der sogenannten Barock-Lyrik, ohne a u s k o m m e n zu können.
sie nur negativ zu werten, in z u n e h m e n d e m M a ß e . Auch die m a -
nieristischen E l e m e n t e in der D i c h t u n g der deutschen Romantik,
nicht nur bei H e i n e , wo sie b e k a n n t u n d offensichtlich sind, wer-
den i m m e r deutlicFer erkannt. Novalis hat, wie schon angeführt, in
seinen F r a g m e n t e n bewiesen, d a ß er viel von k o m b i n a t o r i s c h e r
Analysis> gewußt hat. E r w a r dazu durch die L e k t ü r e von Leibniz
angeregt worden, wie dieser von Kircher u n d dieser wiederum von
Lullus. Die <Zahlen-Kompositionskunst> in Poesie wie Musik hat
Novalis geradezu fasziniert. D i e <kombinatorische Analysis als kri-
tischer Algeber> h a t i h n zu d e m folgenschweren Wort veranlaßt:
<Der Dichter ist der oryktognostische Analyst i m mathematischen
41
o . c . p . 19. Oryktognosie = klassifi-
Sinne, der das U n b e k a n n t e aus d e m B e k a n n t e n findet.) 4 5
zierende Mineralogie.
Folgenschwer? Die Dissertation eines der begabtesten Dichter
der neuen Generation in D e u t s c h l a n d , die Arbeit von H a n s M a - 327
enus Enzensberger: <Über das dichterische Verfahren in Clemens
Brentanos lyrischem Werk>, bietet dafür lehrreiches Material. Wir
lesen dort vom syntaktischen Choc als Entstellungsmittel>, von
<der Zerstörung) traditioneller <Materialien> <zur Gewinnung
neuer sprachlicher Möglichkeiten), von entstellender Poetik>,
vom berechnenden Zerbrechen geläufiger Wortketten, von metho-
discher Verdunkelung an Stelle von Präzisierung, von dabyrinthi-
schem Dursttraum>, von Einflüssen aus dem 17. Jahrhundert.
Brentano schreibt selbst von <bizarrer Manien der <Umkehr>, der
<Entstellung>.
Zur <Labyrinthik> werden wir an Friedrich Schlegels Wort erin-
nert: <Der Anfang aller Poesie (ist), den Gang und die Gesetze der
vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die
schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der
menschlichen Natur zu versetzen.) Zentral dazu wieder ein Wort
von Novalis: <Der Poet braucht die Dinge und Worte wie Tasten,
und die ganze Poesie beruht auf tätiger Ideenassoziation, auf
selbsttätiger, absichtlicher idealischer Zufallsproduktion. >
Die Methode, derart Paradoxales zu erreichen wie absichtliche
ZufaIlsproduktion>, ist uns nun bekannt. Der <absolute> Zufall
wird also vernichtet, wir sagten es schon, durch den beabsichtigten
Zufall. Labyrinthisches Mysterium! Wieder saturnischer Wahn-
... Sinn. Streben nach Ordnung aus reversiblen Ordnungen.
Künstliche Anti-Ordnung als Emblem für verborgene Ordnung!
Daidalische Phantasiai!
Unübersehbare Gefilde
Wir glauben es, wenn Benn sagt, es handle sich da nicht um Nihi-
lismus und Laszivität). Aber er weiß es selber: <Sie verlassen die
Beligion, sie verlassen das Kollektiv und gehen über in unüberseh-
bare Gefilde.) Die sprachlich-lyrische Kombinatorik führt zu ei-
Titelkupfer zum (Mysterium
Magnum> von Jakob Böhme.
Amsterdam 1682
nem metaphorischen Fiktionalismus und schließlich zu einem
Wort-Pantheismus. Sie ist zu einem erregenden Ersatz geworden
für das Wort als Träger metaphysischer Symbolik, als konkret of-
fenbarendes Logos-Zeichen. Die säkularisierte Kombinatorik
führt zur gegenstandslosen Wörter-Hieroglyphik unseres Jahr-
hunderts.
Es ist bezeichnend, daß man neuerdings die Kombinatorik auch
zur Herstellung von Weltraum-Romanen, von <science-fiction>
empfiehlt. Durch Ableitungen kann man alle Planeten mit kombi-
natorisch Erfundenem beleben. Wir begegnen auch hier einem
nur anscheinend neuen kombinatorisch-kosmogonischen Rebus-
Spiel. Nicht Jules Verne, sondern Athanasius Kircher hat die ersten
Weltraum-Reisen beschrieben, das Landen auf Mars und Saturn.
Die Phänomenologie der Komposition mag grenzenlos sein. Trotz-
dem darf man nicht übersehen, wie eine abstrakte Choreographie
von Metaphern zu einer wieder <zufälligen> Mechanik der Bil-
derfolge führen kann und damit zu einer sprachlich erstarrten Re-
bus-Landschaft. Gedankenlyrik ohne Gedanken ist die Folge,
Poesie ohne Menschen, Rede ohne Gegenüber. Es ergibt sich eine
esoterische Liturgie der Dichtung ohne authentisches Dasein>.
Solche Literatur wird zum Religionsersatz. In der Grenzenlosigkeit
der manieristischen Erfindungskunst liegt nicht nur ihre Dunkel-
heit, sondern auch ihr nächtliches Schicksal, ihr tiefer Abgrund,
ihre chimärische, unersättliche Zeugung des Satzes mit dem Satz,
des Wortes mit dem Wort, des Buchstabens mit dem Buchstaben.
Das Bild des Turms zu Babel steht vor unseren Augen, das Ursym-
bol für konstruktivistische Hybris. Wie sein Bau durch Sprachver- 32g
wirrung unterbrochen wurde, gehört zu den erschreckenden
Wahrheiten aller Mythen. M a n begreift, daß Jakob B ö h m e gerade
im 1 7. Jahrhundert die dingua adamica> wieder suchte, die Ur-
und Natursprache, die durch den Sündenfall verfiel u n d dadurch
die babylonische Sprachverwirrung verursachte.
Scheitern
Manierismus ist stets ein Ergebnis starker polarer S p a n n u n g e n
" Übel Polarität, z u m \ u m i n o s e n : zum Nominosen, zur Gesellschaft, zum eigenen Ich. <Das Naive>,
i l . Leopold Ziegler, Überlieferung.
Leipzig iij^fi. Über Polarität zur G e -
erkennt Novalis genau, <ist nicht polarisch. Das Sentimentale (sen-
sellschaft: cl. Arnold Gehlen, Sozio- timental im Sinne des Sentimentalischen Schillers) ist es.> Doch
logischer K o m m e n t a r zur modernen
Malerei. .Merkur.. München, IV
gibt es auch eine ästhetische Polarität, speziell im Manierismus:
I958. I 'her psychische Polarität: cf. diejenige der künstlerischen Vollendung und diejenige des Schei-
Harald Schulz-Hencke, Der ge-
terns. Der <Manierist> wird künstlerisch überzeugen, w e n n es sich
h e m m t e Mensch. Leipzig 1940;
Mai V\ieser, Der sentimentale um eine tragische, saturnische P e r s ö n l i c h k e i t . . . im Scheitern
Mensch. Stuttgart it)J !•• handelt. Scheitern wird der Manierist dann in seiner Kunst, w e n n
die Spannung zum Scheitern bei i h m eine bloß künstliche ist.
Scheitern wird er auch, wenn er nicht nur <Manierismen> kopiert,
sondern überdies das äußere dämonische Lebensbild wirklich
schöpferischer Manieristen n u r nachahmt. W i e d e r u m ergibt sich:
Bloße N a c h a h m u n g und <Natur> im Sinne einer säkularisierten
Mimesis ist eher in der aurea mediocritas verflachter Attizisten
möglich. Im saturnischen Bereich der Manieristen führt die be-
rechnende N a c h a h m u n g noch mythisch g e b u n d e n e r oder auch
' Schon QuintiHftn o.e. hat von
nur subjektiv bestimmter Phantasiai 4 5 unvermittelt zur extremsten
berechnender Nachahmung der
• Phantasiai- gesprochen. Clownerie: zur Clownerie nur noch vor dem Spiegel. Ist der Baby-
lonische Turm nicht auch ein Symbol des Scheiterns?
ZWEITER TEIL
Die Welt in
.Bildern
6. M E T A P H O R I S M U S
Königin Metapher
D
er M a n i e r i s m u s ist also stets ein Ergebnis polarer Span-
n u n g e n z u m Geist, zur Gesellschaft, zum eigenen Ich. Da-
mit wird er z u m legitimen Ausdruck eben dieser Proble-
matik, zur a n g e s p a n n t e n Ausdrucksweise der Problematik des so-
zusagen <modernen> M e n s c h e n , im Gegensatz zur entspannten
Ausdrucksart des noch traditionalistisch g e b u n d e n e n , des konser-
vativen M e n s c h e n im besten Sinne, der, auch nach heftigsten Er-
schütterungen, i m m e r wieder zur Seinsgewißheit zurückfindet.
Das Erlebnis des Seinsverlustes jeder Art in weltgeschichtlichen
Krisen verstärkt g e r a d e im Problematiker, im Melancholiker, in
seiner sehr spezifischen Empfindlichkeit, das Gefühl der Verwan-
delbarkeit und Verwandlungsfähigkeit aller Dinge. Wenn die ob-
jektive Welt nichts Konkretes, eindeutig Geltendes m e h r zu bieten
zu haben scheint, beginnt die Welt der subjektiven Beziehungen
ihre M a c h t zu zeigen. D e s w e g e n erhält die Metapher, die Übertra-
gung eines Dinges auf ein a n d e r e s , im M a n i e r i s m u s den Charakter
eines für diese strukturlose Welt höchst angemessenen Mittei-
lungsmittels, ja, eines Zaubermittels. Das unendliche Verwand-
lungsspiel, das die M e t a p h e r erlaubt, ein verwegener Reigen von
abstrusen M e t a p h e r n , erreicht im H o c h m a n i e r i s m u s geradezu die
Bedeutung eines Spiegels der Welt. In ihm erscheint das C h a o -
tische der P h ä n o m e n e d u r c h ein ingeniöses Metaphern-Ballett ar-
tifiziell geordnet. Die M e t a p h o r i k schenkt die Scheingewißheit
einer künstlich h a r m o n i s i e r t e n Welt. Sie trägt auch dazu bei, ge-
wohnte Bilder einer zu optimistischen Ordnungswelt zu zerstören.
jedoch auch dazu, in Paradoxien höchster Künstlichkeit eine magi-
sche Welt überrelativer Zaubereinheit herzustellen. Insofern ge-
winnt die Metapher für jeden Manierismus, für den noch mythisch
gebundenen des Hellenismus wie für den säkularisierten der Neu-
zeit, eine dämonische Macht.
Deswegen gilt es gerade hier scharf zu unterscheiden. F ü r den
bei allem Subjektivismus noch mythisch g e b u n d e n e n Manieris-
mus der Antike ergibt sich die Gleichung: <Metapher gleich Gott>
das heißt die Verwandlungskraft Gottes spiegelt sich in der Meta-
pher, und es ist dies ein Ausdruck Tesauros, des Manieristen im
17. Jahrhundert. F ü r den säkularisierten M a n i e r i s m u s wird die
Metapher zur Gleichung: <Metapher gleich Mensch>, u n d es ist
dies schon eine Formel von Novalis, dem Romantiker des i g . Jahr-
hunderts. Schließlich aber, in der Spätliteratur europäischer und
amerikanischer Großstädte des 20. J a h r h u n d e r t s , wird die Meta-
pher n u r noch zur Gleichung: M e t a p h e r gleich Rätsel, Ausdruck
also nur noch der letztlich n a m e n - und gesichtslosen <Wirklich-
keit>. So Andre Breton, der Surrealist im 20. J a h r h u n d e r t .
Das sind Kernformeln des manieristischen M e t a p h o r i s m u s . In
jeder Epoche will er aber, auf gleiche/orma/e Weise, durch Über-
tragungen (griech. metaphora = Übertragung), in Bildern letzte,
unergründliche Dinge vermitteln. Die sogenannte orphische Me-
tapher hat mythischen Ursprung, sie k a n n diesen C h a r a k t e r sogar
in einer Epoche der Massenzivilisation behalten. Gleichzeitig aber,
schon in älteren Kulturen, erfolgt das bloß ingeniöse H a n t i e r e n mit
Metaphern, das verdeckende Verwandlungsspiel, die sinnentleerte
Kettenbildung von Metaphern, der literarische Ornament-Stil.
Schon die Wortzerbrechung ist ein Anlaß zur Metapher. Aus
dem Wort <Onix> kann <Oh, Nix> (Schnee) w e r d e n u n d d a n n <oh,
nix flamma mea> (Oh, Schnee, meine F l a m m e ) . <Onix> = <Schnee>
= <Flamme> — das Gegensätzliche wird v e r b u n d e n durch eine
kunstvolle Vereinigung von Wörtern, eines der beliebtesten manie-
ristischen Stilmittel. Eine Metapher erzeugt zahllose andere. Asso-
ziationsketten von <Bildern> entstehen, ob es sich u m Metaphern,
Gleichnisse, Vergleiche, Symbole, E m b l e m e u n d Katachresen
(Gebrauch eines Wortes in uneigentlicher B e d e u t u n g wie z.B.
<Bart eines Schlüsselst, u m Allegorien, Personifikationen handelt
oder um Oxymora (sinnreich pointierte Verbindung sich gegensei-
tig ausschließender Begriffe) wie z. B. <eisige Flamme>.
Die Metapher ist in diesem besonderen Sinne für den manieri-
stischen Dichter, wie es schon im 17. J a h r h u n d e r t heißt, die <Köni-
gin der Wort-Figuren>, die <geistvollste> u n d <scharfsinnigste>, die
<wunderbarste> und fruchtbarste>. Sie ist die geistvollste, weil sie
das Entfernteste miteinander verknüpft, Korrespondenzen des
Entlegenen bildet (Graciän). Sie ist scharfsinnig, weil sie das <Ab-
struse paart>. Auf diese Weise erzeugt sie das W u n d e r b a r e (meravi-
glioso). und wir wissen, daß Tesauro u n d A n d r e Breton, der Theo-
retiker des heutigen Surrealismus, das <Wunderbare> als <schon>
preisen, <ganz gleich, welches W u n d e r b a r e , es ist sogar n u r das
Wunderbare schön>. Das höchste Ziel der Poesie wird von Andre
Breton in gleicher Weise definiert wie von Tesauro: <Zwei Dinge
miteinander vergleichen, die voneinander so weit entfernt sind wie
möglich oder — ganz andere M e t h o d e - sie in ü b e r r a s c h e n d e r Ma-
nier gegenüberstellen.) Die Vereinheitlichung des Unvereinbaren
erzeugt <Stupore> (Überraschung). D u r c h die N e u h e i t wird der
Geist <überrascht>, sagt Tesauro, u n d auf diese Weise <genießt er>.
Wir haben es hier mit einer elementaren Technik zur Erfassung
von <Phantasiai> zu tun. Schon Heraklit schrieb: <Das E n t g e g e n g e -
Holzschnitt im Stil
des 16. Jahrhunderts
setzte p a ß t z u s a m m e n ; aus d e m Verschiedenen ergibt sich die
schönste H a r m o n i e . )
Schon fremdartige, fremdländische, seltene, künstlich zusam-
mengestellte W ö r t e r k ö n n e n diese W i r k u n g erzeugen. Baudelaire
stellt fest: <Das U n r e g e l m ä ß i g e , d. h. das Unerwartete, die Überra-
schung, das E r s t a u n e n stellen ein wesentliches E l e m e n t des Schö-
nen dar.> W i e die alogische M e t a p h e r , so bewirkt die Wahl selte-
ner, <gebildeter> Wörter <Rarität> u n d <Novität>. Der <Cultismo> von
Göngora bis M a l l a r m e u n d T. S. Eliot 1 vermengt abstruse M e t a - ' T. S. Eliots eigener Kommentar zu
«Waste Land> zeugt nicht nur von
phorik mit entlegenen Bildungsstoffen. <Seltene Dinge sind u n - <Cultismo>. Es handelt sich gera-
sterblich), schreibt Graciän. Dafür gibt es viele <Maneras>. Doch dezu um preziösen <Cultismo>. cf.
«Collected Poems). London 19^4.
beschäftigen die scharfsinnigen lyrischen Pointenfiguren {concep- p.ojff.
tos) Graciän viel m e h r als die M e t a p h e r . F ü r Tesauro hingegen
bleibt sie die <Königin der Poesie>. Die gesuchte, paralogische M e -
tapher hat den Vorteil, <Änigmatisches> zu erzeugen. Sie spricht
aut <dunkle Weise klar>. Sie zwingt den Leser <zu eigener Interpre-
tations-Kunst). Der R e d n e r m u ß sich vor Übertreibungen hüten,
der Dichter darf sich ihrer b e d i e n e n . Tesauro schenkt uns eine voll-
standige M e t a p h e r n - S t i l l e h r e . Auch hier wird dargelegt, wie m a n
aul künstliche Weise M e t a p h e r n bilden kann. Tesauro weist acht
maniere nach. Gelobt wird vor allem die <Oppositions>-Metapher,
so etwa: <Die Schildkröte ist eine Lyra o h n e Saiten>, <die Orgel ist
eine Nachtigall o h n e Federn>. M a r i n o wird als Musterautor oft zi-
tiert. Tesauro regt an, n a c h diesen acht maniere besonders verblüf-
fende M e t a p h e r n zu <machen>. Sie sollten d a n n als Material zur
manieristischen Kernfigur, z u m Concetto, dienen, zu einer bildli-
chen Kombination von Ideen, zu einem metaphorisch-lyrischen
Paralogismus. 333
Pablo Picasso: Illustration zu «Vingt
! )•
P o e m e s de (J6ngora>. Paris 1948
1 4
I /"
I /
Metaforeggiare
Mit dem Neologismus <metaforeggiare> kennzeichnet Tesauro
eine Mode, deren Übertreibungen sogar er tadeln m u ß . Gracian
gebraucht das Verbum <conceptuar>, u m das <moderno escribir>
zu kennzeichnen. Dichten heißt für Tesauro, ein <Worttheater
bauen>. Metaphorische Kunst ist die Wurzel aller anderen. Die Op-
positions-Metapher, d.h. diejenige, die das Gegensätzliche vereint,
ist das beste Erzeugnis des Scharfsinns, denn —und das ist wichtig -
<die Rhetoriker k e n n e n sie nicht). U m sie zu finden, soll m a n sich
der Kombinationskunst bedienen. M a n wird sich nicht wundern,
wenn Tesauro den <ingeniösen> Dichter als denjenigen preist, der
<alles in alles verwandeln kann, eine Stadt in einen Adler, einen
M a n n in einen Löwen, eine Schmeichlerin in eine Sonne>.
Men-
schen, die dies vollbringen, müsse m a n mit E n g e l n vergleichen.
Graciän setzt fähige Concettisten mit C h e r u b i n e n gleich. Gongora
ist deswegen <Schwan, Adler, P h ö n i x - i m Klanglichen, im Scharf-
sinnigen, im Extremismus>.
Der Wahnsinn wird zum Synonym für Metapher. Dichter, Ma-
thematiker und Irre haben für Tesauro etwas G e m e i n s a m e s . <In
Metapherm, schreibt Tesauro, <werden P h a n t a s m e n vertauschte
334 Am E n d e seines Romanes <Nadja> schreibt A n d r e Breton: <Die
Schönheit wird ,konvulsivisch' sein oder sie wird nicht sein.> In ei-
nem anderen Werk gibt Breton uns eine verschwenderische Defi-
nition: <Die konvulsivische Schönheit wird verschleiert-erotisch,
explosiv-starr, magisch-zufällig sein oder sie wird nicht sein.>2 Das
ist Neo-Asianismus in surrealistischer Quintessenz, mit dem Wil-
len, <klassische> bzw. <bürgerliche> Wirklichkeit zu zerstören. Doch
gehört dies zu der ersten P h a s e des Surrealismus. In einer späteren
will m a n — vor allem im W e r k e Eluards - eine n e u e Welt in n e u e r
Poesie erstehen lassen.
<Schöpfungsgerät>
Spanien ist ein L a n d der M e t a p h o r i k e r , durch jahrhundertelange
enge Verbindung mit d e m <Asianismus>, auch mit der späteren
arabischen Kultur. R a y m u n d u s Lullus ist Spanier wie Seneca,
Lukan und Martial, M u s t e r a u t o r e n für Gracian. Solche Beziehun-
gen wirken nach, w e n n Ortega y Gasset von der M e t a p h e r sagt, sie
sei <die größte Macht, die der M e n s c h besitzt. Sie grenzt an Z a u b e -
rei und ist wie ein Schöpfungsgerät, das Gott im Innern seiner Ge-
schöpfe vergaß, wie der zerstreute Chirurg ein Instrument im Leib
des Operierten liegen ließ>. D a s ist die Sprechweise Graciäns u n d
des in Südamerika g e b o r e n e n L a u t r e a m o n t , aber auch diejenige
Tesauro* u n d Peregrinis. M a n h a t viel d a r ü b e r geschrieben, wel-
ches das europäische U r s p r u n g s l a n d des Concettismus im
17. J a h r h u n d e r t sei. M a n schwankte dabei zwischen Italien, E n g -
land und Spanien. Gewiß ist der sogenannte E u p h u i s m u s älter als
Gongorismus u n d M a r i n i s m u s . Dafür sind formale und auch <in-
haltliche> M a n i e r i s m e n bei Tasso, bei Petrarca und selbst bei
Dante älter. Der U r s p r u n g des M a n i e r i s m u s in der europäischen
Literatur liegt zeitlich tiefer u n d r ä u m l i c h weiter entfernt, er liegt,
wir wiederholen es, im <Asianismus>. In Italien h a b e n sich aller-
dings nach d e m provenzalischen trobar clus u n d nach den mittella-
teinischen formalen M a n i e r i s m e n der neuzeitliche Metaphoris-
mus und Concettismus zweifellos, w e n n auch in Ansätzen, zuerst
entwickelt. D e r Italiener Tesauro ist jedoch, so reich seine Schatz-
kammer ist, längst nicht so scharfsinnig u n d keineswegs ein so gu-
ter Schriftsteller wie Gracian. A u ß e r d e m ist Göngora (wie Donne)
ein Dichter von Rang, w ä h r e n d Marino n u r ein literarisches Inge-
nieur-Talent ist. Italien h a t a b e r — aus Epigonenschulen Petrarcas
und Tassos — sicherlich als erstes europäisches L a n d die neuzeitli-
chen Theorien <alogischer> D i c h t u n g entworfen. Es lenkt uns dies
auf einen a n d e r e n K r o n z e u g e n für die <manieristische> M e t a p h o -
rik, auf Matteo Peregrini (1595—1652) mit seinem Werk: <Delle
Acutezze>, erschienen 165g, also noch vor den manieristischen
Traktaten Tesauros u n d Graciäns.
Sieben Quellen
Die sieben Quellen des lyrischen Scharfsinns sind, nach Matteo
Peregrini, <das Unglaubliche, das Zweideutige, das Gegensätz-
liche (Täuschende), die d u n k l e Metapher, die Anspielung, das
Scharfsinnige, der Sophismus>. Übertragungs-Kunst (Metaphorik)
besteht in der B e r e i n i g u n g des Gegensätzlichem. Es k a n n dies in
vielerlei moniere erfolgen. Gelobt wird das Wort Corydons, als m a n
ihm schwarzes Brot brachte: <Bring mir keines m e h r , sonst machst
Du Nacht!> U m gute Metaphern zu bilden, m u ß m a n sich vorn G e -
meinem entfernen und das <Seltene> suchen. U m seltene Meta-
phern zu finden, bediene m a n sich der Kombinationstafeln. Man
erhält damit zahllose Möglichkeiten. Doch h ü t e m a n sich vor
Übertreibungen. M a n wiederholt sonst die Fehler <asianischer
Redner>. Die <Asianer> sündigten nicht, weil sie den spielenden
Scharfsinn einführten, sondern weil sie darin kein M a ß hielten.
Doch Matteo Peregrini galt bei den dezidierten Manieristen sei-
ner Zeit, seines allzu milden revolutionären P r o g r a m m s wegen, als
rückständig. Gerade die asianischen <Übertreibungen>, die u.a.
Cicero zugunsten des attizistischen Stils bekämpft hatte, gelten den
Erzmanieristen des 17. Jahrhunderts als mustergültig. W e n n Ci-
cero an den Asianern die Wortvertauschung, die bis zur Unver-
ständlichkeit pointierten Sinnfiguren (concetti), den Metaphern-
Reichtum, die Überladenheit des Stils, die E m p h a s e , die Dunkel-
heit, die Geschraubtheit und Gesuchtheit tadelte, so trat er ein für
einen neuen lateinischen Attizismus, für einen lakonischen Stil
' cf. G e n n a r o Perrotta, Disegno Sto- <gesunder< Republikanität. 0 Matteo Peregrini, Typus einer Über-
r n o della Letteratura Greca. Mai- /
land 1 c)-,8. Cicero wurde zum Wort-
gangszeit, ist noch halb Ciceronianer geblieben. Deswegen erken-
führer einer literarischen Selbst- nen wir in seinem Werk besonders klar den Bruch, u n d zwar mit
stilisierung Roms, freilich e i n e m
dem deutlichen Hinweis auf den <Asianismus>, vor d e m er, im Ge-
e n t s p r e c h e n d e n Idealbild Attikas
folgend, gegen die «Fremdem Roms, gensatz zu Graciän, noch warnt, w e n n auch schüchtern, schon
gegen die Dichter. Schriftsteller und überwältigt vom Sieg der n e u e n alten M o d e .
R e d n e r aus Afrika und Asien. G e g e n
Hegesias aus Lvdien (geb. <Die wichtigste uneigentliche Sprachform ist die Metapher>
2 4 0 v . C h r . ) stellt Cicero die 'salubri- (Wolfgang Kayser). Nicht die Verwendung der M e t a p h e r ist ma-
tas> u n d <sanitas> des Atheners Lv-
sias (geb. 4 4 5 v . C h r . ) . W ä h r e n d der nieristisch, sondern der Metaphorismus, d.h. die exzessive Verket-
späteren, silbernen Latinität werden tung von Metaphern u n d die spezielle Verwendung der <Opposi-
d a n n , neuen asianischen geistigen
Strömlingen folgend. Seneca wieder
tions>-Metapher. Dabei k a n n m a n die Ergebnisse eines solchen
gegen Cicero auftreten. L u k a n ge- <metaforeggiare> in einzelnen Wort-Kunstwerken jeweils verschie-
gen Vergib Juvenal gegen Statins.
dener Dichter u n d Epochen leicht voneinander unterscheiden. Wir
Kompliziertheit. Subtilität. Preziosi-
tät und M e t a p h o r i s m u s werden wie- wollen diese Differenzierung nicht übersehen, auch w e n n wir vor-
der M o d e — gegen die ciceroniani- wiegend zeitlich kontinuierliche/brmaZe M a n i e r i s m e n nachzuwei-
sche Latinität. AJexandrieii siegt
wieder über Athen, die P h a n t a s i e sen haben. Wolfgang Kayser vergleicht z.B. Verse von Trakl mit
wieder über che <Mimesis> und g e - lyrischen Erzeugnissen von <Barock>-Dichtern. E r stellt mit Recht
gen den späteren imperialen Hof-
Klassizismus, cf. auch: R e n e Pichon. fest, daß im älteren Falle <durch den Verstand zwei selbständige
r listoire de la Litterature Latine. Pa- Elemente zu einer Mischung verbunden w u r d e n , w ä h r e n d (bei
ris i 9 4 7 , p - 4 3 5 f .
Trakl) in dem Glutstrom des Empfindens oder der Visionen eine
Verbindung entstand, die die Autonomie der E l e m e n t e aufhebt
und aus ihnen ein Neues, Drittes macht>. E i n Vergleich von meta-
phernreichen Gedichten von H o f m a n n s w a l d a u u n d Hofmanns-
thal macht dies in den D e u t u n g e n Kaysers n o c h deutlicher.
Was manieristische Formprinzipien angeht, stellen wir zunächst
wieder fest: manieristische Kombinationskunst wie mameristi-
scher Metaphorismus aller Zeiten dienen, im Sinne einer intendie-
renden Urgebärde, einer <paralogischen> Gestik der uneigentii-
chen Sprachform. Es ist begreiflich, daß Goethe die Metaphorik
(in seiner <klassischen> Zeit) genauso ablehnte wie die Hyperbe -
Wie auch i m m e r Gefühlskräfte oder <visionäre> Antriebe in jeweils
historisch verschiedenen Situationen, in verschiedenen nationalen
Z u s a m m e n h ä n g e n oder bei wertmäßig verschiedenen individue -
len Anlagen walten - seinem konstitutionellen Ausdruckszwang
und der entsprechenden Gestik entgeht kein Dichter, von Kalhma-
chos bis Eluard und Gottfried Benn.
Die manieristische Gestik des uneigentlichen Sprechens is
meist nur negativ beurteilt worden. M a n ü b e r s a h vielfach, daß so-
gar noch im exzessiven, im grotesken Bildertaumel, w e n n es si
u m Dichtung von Rang handelt, auch asianische Bilderranken ei
336 n e m elementaren <Metapherngeist> (Herder) e n t s t a m m e n , einem
durchaus ursprünglichen Ausdruckstrieb. Ahnlich entspricht der
groteske O r n a m e n t - S t i l in der Kunst d e m Fruchtbarkeitszauber
uralter Vegetationsgottheiten, von d e n e n die <Rankengöttinnen>
der Kunstgeschichte a b s t a m m e n . Sie sind Ausdruck einer >mytho-
logisch o r n a m e n t a l e n Idee>. Diese Motive k ö n n e n wuchern, sinn-
los wuchern, wie, w e n n der Ausdruck erlaubt ist, mythisch u n -
fruchtbares U n k r a u t . W i e dies in der manieristischen Kunstge-
schichte geschieht, bis z u m Jugendstil u n d z u m Surrealismus, ist
uns bekannt.
7. B A N N U N G
DES D Ä M O N I S C H E N
Intellektualisierung
Die <Intellektualisierung> der M e t a p h e r hat ihren Ursprung in der
<Poetik> des Aristoteles. Die M e t a p h e r ergibt sich daraus, d a ß m a n
auf ein D i n g einen N a m e n überträgt, d e r einem anderen gehört.
Diese Ü b e r t r a g u n g erfolgt von der G a t t u n g auf die Art, von der Art
aui die Art oder mittels Analogie (Poetik XXI). Es folgt d a n n eine
Kombinationslehre mit Hilfe von Buchstaben, die, wie wir wissen,
auf das <Machen> von D i c h t u n g über Lullus u n d Kircher speziell in
manieristischen E p o c h e n einen e n o r m e n Einfluß ausgeübt hat.
Iesauro n e n n t seine manieristische Literaturästhetik nicht u m -
sonst <Cannocchiale Aristotelico. M e t a p h e r n r e i c h e Sprache wird
von Aristoteles <änigmatisch> g e n a n n t (Poetik XXII). Die Änigme
entsteht d u r c h die <Vereinigung> unmöglicher Dinge. Aristoteles
tadelt die Kritiker, die d e n Dichtern a m Z e u g e flicken, wenn sie
sich solcher Stilmittel b e d i e n e n (XXII), verlangt aber das <rechte
Maß>. Die M e t a p h e r <Die Küsten brüllen) (anstatt <die lärmenden
Küsten>) wird gelobt. M e t a p h e r u n d gut ausgesuchte seltene Wör-
ter (Cultismo!), alle diese moniere des Schreibens, veredeln den
Stil; m a n findet sie nicht in d e r Sprache d e r Gemeinen. Meta-
p h e r n - E r z e u g u n g beweist Geist, d e n n m a n b e k u n d e t damit, d a ß
m a n die Ähnlichkeit unter den Dingern erkennt. Im dritten Buch
seiner <Rhetorik> (für die Manieristen eine Art Bibel) erklärt Ari-
stoteles sogar ausdrücklich: <Auch in der Philosophie bekundet
man ungewöhnlichen Scharfsinn, w e n n m a n eine Ähnlichkeit zwi-
schen zwei voneinander entfernten Dingen sieht> (Buch III, n ) .
Hier liegt das Vorbild für die <correspondencia> Graciäns u n d für
das <accoppiare> Tesauros.
In diesem Abschnitt 11 findet m a n noch zahlreiche a n d e r e prak-
tische Hinweise für einen <ungewöhnlichen> Stil. E m p f o h l e n wer-
den, außer der Metapher, Buchstabentausch, W o r t u m k e h r u n g e n
als <Mittel zum Erwecken von S t a u n e m , H o m o n y m i e , Ellipsen,
Hyperbeln usw. Aristoteles, wie bereits angedeutet, läßt für die
Dichter viel gelten, was für Redner ein Fehler wäre. Aber gerade
dies, die äußersten Lizenzen für Dichter u n d die Fehlerelemente
für Redner, wird, wie wir schon hervorgehoben h a b e n , bei den Ma-
nieristen des 17. Jahrhunderts zum antiklassischen Stilmittel. Ari-
stoteles, der Gesetzgeber strenger Klassik, was die Geschichte des
Theaters angeht, ist in der Geschichte der sogenannten intellektu-
ellen Lyrik Europas zum mustergültigen Lehrmeister einiger der
wichtigsten formalen Manierismen geworden. Aber diese <Manier>
des Artifiziellen interferiert mit einer <Manie> des Artifiziellen.
Maniera kommt von manus (Hand), übertragen: manu von Men-
schenhand, <von der Hand>, <durch Kunst>. M a n i e ist abgeleitet
PA ms us
Apnd IoanncnulcRoigny.vi.i.id D.lacobuivi.
fub Bjdliico gc quatuorEletncntis.
' 5 J J-
34O
vom griechischen mania = <Wut, Raserei>. Der Begriff <Manie>
entspricht dem, was G i o r d a n o Bruno in seinem antiklassizistischen
Dialog <Degli Eroici furori> (1585) mit <furore> meint; der wahre
Dichter verachtet die <Regeln>, er ist dnspirierb, er findet alles nur
in sich, w e n n er in <Raserei> gerät. Diese M a m a - Ä s t h e t i k geht auf
den <Enthusiasmus> P i a t o n s zurück u n d führt zu einer A b l e h n u n g
der aristotelischen Ästhetik, mit A u s n a h m e eben der <gekünstel-
ten> rhetorischen Topoi. D e r Aristotelismus wird mit der Lehre
Piatons u n t e r der P l a t a n e a m Bissos über d e n <Wahnsinn> ver-
mengt. Hier eine Wurzel für einen a n d e r e n bezeichnenden Duktus
der manieristischen U r g e b ä r d e , für das Phantastische u n d Gro-
teske! Aus der m e t a p h o r i s c h e n M a n i e r wird eine metaphorische
Manie. Doch sehen wir u n s jetzt einige Vitrinen mit manieristi-
schen M e t a p h e r n an — aus europäischen Landschaften, in Vergan-
genheit u n d Gegenwart.
8.
GoNGORISMUS,
MARINISMUS
UND P R E Z I Ö S E N T U M
<Sinnreiche> Verwicklungen
Die Deformation der normalklassischen M e t a p h e r wird im spani-
schen Gongorismus zu einer höchst ingeniösen Artistik. Anläßlich
der spanischen Literatur im <romantischen Siglo d'oro>, anläßlich
Calderöns u n d Cervantes' sprach Friedrich Schlegel vom u n g e -
heuer Künstlichen, Tiefsinnigen u n d Absichtsvollem, <von einem
Labyrinth von sinnreichen Verwicklungen u n d phantastischen
Verzauberungen, das in ü p p i g e r Farbenpracht die edelsten, lieb-
lichsten Blüten entfaltet, die je die romantische Poesie hervor-
gebracht hat>. E s gilt dies besonders für Luis de Göngora
(156 1—1627) u n d seine Nachfolger bis h e u t e . Göngora zeichnet
sich a u ß e r d e m vor allen a n d e r e n manieristischen Dichtern seiner
Epoche, mit S h a k e s p e a r e u n d J o h n D o n n e , durch überwältigende
Calderön de la Barca
dichterische Kraft aus. (1600-1681)
Roter Schnee
Man findet bei i h m längst vor P a u l Eluards: <Die E r d e ist blau wie
eine Orange> die <absurde> Metapher: <... Schneeweißer P u r p u r
oder roter Schnee> (<Polyphem>). <Quellen> werden zu <Perlen-
schlangem (<Soledades>), <Reiher> beschreiben <das durchsichtige
Papier des Himmels> <mit Federn ihres eigenen Fluggewimmels>
(<Soledades>). 4 U n d n u r zwei Beispiele aus der Metaphernfülle ' Diese und die nachfolgenden Bei-
spiele aus dem <Soledades> in der
Calderöns: <Das Schweigen steinigt mich>. Semiramis, das Licht Übersetzung von Hermann Brunn:
auslöschend: <Wie ich, eine M ö r d e r i n a m Lichte, mich selbst <Soledades>. München 19^4.
Clef brillante
Göngora hat 1615 ein Sonett über Greco gedichtet. Ein Schlüssel
(Grabstein) aus herbem Porphyr, heißt es dem Sinne nach, ver-
schließt der Welt den Mann, welcher der Natur die Kunst vererbte,
der Kunst das Wissen, Iris die Farbe, Phöbus die Strahlen und Mor-
pheus die Schatten. Dieses Sonett hat Jean Cocteau übersetzt. In
der französischen Fassung rückt es Göngora (und Cocteau) in die
Nähe Mallarmes. Daraus nur die beiden ersten Verse im französi-
schen Text:
ARGOMENTO.
1
E K T A la Maga inuan I'ani profane;
Poi Ichernlr cerca Adon focc'alcra forma.
L'addormerua.l inganna.e lo trasforrna,
tgli fugge,altriillcgue,clla tiroane.
II.
BlfinAtala Du quäl forta fatal, che gli corregge",
tun Imgua, 0 da qualpattofin legati eßretti'.
o Zoroaflro, £' neceßaria , o <volontaria legge,
| Qmccfic m Che siglirende altruifirui, e/oggetti!
prima au- Qua/i chi tuttopui, chi tutto regge
toruä co - Tema äam huom dtfubbidtrc ai dtttii
umtat Ptaltnto,h timor qudchegli moue
\ Dornte tp - Tant opre afarproiigvfe e novo,
prtfi il tuo III.
tngegno od Deh quante motte dcle lieui rote',
effer ma - (he ß molgon s> ratto intorno oifoli,
flro Veduto ha cm ßupor reßarfi immote
Dd' arte deteßalde, cti ineanta i (jiout limmenfe efinifurate moli}
L'arte , ehe contro ogni pejfanzjt d" aßro Quante <vid' egli alt malnagt nute
Vmeer Natura, i dommarß <vanta f Le Lnne in Cid moltiplkarfi, e i Soli!
E ctme ponno iniqui earmi e fei Scorrere i tuoni afuo ai/petto, t i lampi,
Dtt Inferno, t dd Cid sfinar gli Dti i Scoterfi il mundo, t tknlarne i campst
Oo iij
Tö nendes Ato m
Giambattista Marino schreibt: <müde Ruhe>, dreiwilliger Wahn>,
s c h ä d l i c h e Nützlichkeit), <kühne Angst>. Ganze Reigen solcher
Luis de G ö n g o r a y Argote
Oxymora findet m a n . Metaphern: Marino n e n n t die Rose <Aprü-
(1561-1637)
auge> oder <Rubinkelch>, <Lächeln der Liebe, vom H i m m e l ge-
lacht). Über die Nachtigall: <Sie vergießt ihre zitternde, zarte Seele,
die Zauberin der Wälder, m a n fragt sich, wie es möglich sei, daß
dieses winzige Geschöpf so viel Kraft in Adern u n d Gebein spei-
chert.) Sie ist ein <tönendes Atom>. Von einem dichten Wald sagt
Marino, es <vermodern in ihm die Schatten). Die S o n n e wird be-
sonders (konvulsivisch) geschildert. Sie ist der <Henker, der mit
7
cf. «Opere scelte di G. B. M a r i n o e Strahlensicheln die Schatten köpft). 7
dei Marinistb. Turin 195 y. und ' M a -
rino e i Marinistb. Milano 1954 (A Wir begreifen einen n e u e n Zug: <Sonoritä>. Es ist einleuchtend,
cura di G. G Ferrero). Mle nachfol- daß dies dem n e u e n <Colorismo> in der manieristischen Kunst, die
g e n d e n Beispiele in eigener ( a n n ä -
hernder) Ü b e r t r a g u n g aus d e m
Marino liebte, entspricht. <Mit heiserem Beilen beißt die Welle das
<Adone>. in -Marino e i Marinistb. Ufer.) Wogen sind <schäumende Alpen>. Rose = <Ruhm der duf-
O. c.
tenden Familie) oder <Kleid der Morgenröte). E i n e virtuose Vers-
kombination über das beliebte N a r z i ß - T h e m a : sie Geliebter, er
Gehebte, Frost und Glut, Pfeil u n d Ziel zugleich, Bogen u n d Bo-
genschütze. Der Pfau <zieht hinter sich h e r einen Garten). L>ie
Liebe ist ein <modernes Monstrum). In der Liebe ist das Gedic
ein <süßer Köder> und der Phallus ein <Gewehr>. <Liebesruhm> i s
344
<Berühren des letzten Ziels> u n d <Hafeneinfahrt des Holzes>. <Ver-
liebter Schlüssel öffnet das Tor.> <Der Kuß erlischt in einem Grabe
düsteren Rubins.)
Doch <lyrischere> Beispiele: <Die Nachtigall, Sirene der Wälder,
verwandelt eine Z u n g e in t a u s e n d Klänge.> Die Nachtigall ist b e -
fiederter Atem>. Z u e i n e m B r u n n e n mit verschiedenen Schalen:
<Das geteilte Wasser giert vor Durst.> 8 Beiläufig sei vermerkt: im 8
Die Oktave Marinos diente C. F.
Meyer als Vorbild zu seinem Gedicht
<Adone> (XV, n ) findet m a n drei Oktaven, die in auffallender über romische Brunnen. Zum «Ma-
Weise, w e n n auch im Sinne eines k n a p p e n <Schematismus>, an nierismus) bei C. F. Mever vgl. Ro-
bert Mühler, Dichtung in der Krise.
Goethes <Osterspaziergang> i m <Faust> erinnern.
Wien—München 1951. Insbeson-
dere die Aufsätze: <C. F. Meyer und
der Manierismus> sowie «Narziß und
der phantastische Realismus». Un-
tersuchungen, die unseren Einsich-
Der D i c h t e r als <Seiltänzer> ten über das zeitlich oder schul-
maßig nicht begrenzte Kontinuum
manieristischer Kunstübung entge-
JVIarmo schätzt Seiltänzer-Metaphern. E r vergleicht den Seiltänzer genkommen.
346
Giuseppe Artale
(1628-1679)
Preziosität
Ist es möglich, d e m Z a u b e r der manieristischen Dichtung einzel-
ner Nationen bei der Ubiquität formaler Kunstgriffe und erst recht
bei dem in keiner Weise zu r e d u z i e r e n d e n Reichtum an Individua-
litäten gerecht zu w e r d e n ? D a s ist, will m a n G e m e i n s a m e s feststel-
len und gleichzeitig d e m Besonderen gerecht werden, ein schwieri-
ges Unterfangen. D e n n o c h m e i n e n wir, daß eben dieser einzigar-
tige Duft, das Mysterium des unverwechselbar Persönlichen, auch
im Verbundensein m i t literarischer Kollektivität spürbar sein
müßte, gerade was <Manieristen> angeht, w e n n m a n , anstatt Theo-
rien, M e t a p h e r n liest.
Die<P reziösen>! Frankreich hat, unmittelbar vor seiner welter-
347
obernden Klassik, keinen Göngora, aber es h a t eine Reihe von poe-
tae minores, deren Wert m a n jetzt erst allmählich begreift.
Rene Bray hat in einer meisterhaften Analyse die französische
<Preciosite> vom Mittelalter bis zu M a l l a r m e u n d zur Gegenwart in
" Rene Bray, La Preciosite et les Verbindung gebracht. 1 1 Tatsache ist, daß eine Tradition französi-
Precieux. Paris 1948, u n d Victor L.
scher Dichtung von Maurice de Sceve über du Bartas, Desportes
Tapir. Barcxjue et Classicisme, Paris
• 957' und das Hotel Rambouillet bis zu Verlaine, Valery u n d bis zum
Surrealismus als <preziös> im <manieristischen> Sinne begriffen
wird, und wir werden dabei - in der Kunst — an den spezifischen
Manierismus der Schule von Fontainebleau, aber auch an die Gro-
teske Callots denken müssen.
ORIGINE D'AMORE
Karikatur auf die Allongeperücke,
die um 1625 in Frankreich in Mode
kam
LEBICHON POUDRE.
Hommcen pmniqucbnjneouDlcmcle
Pcnse efecüarmev tout Je m onde
Mai'&deccs va'mschevcuxJamas pix>digictix
Lencnoirdetabacetpoudre ;usqticsäißc \cux
Quön nc c o n n o i t plus la naturc
Dans saermicre blanche enfle comme vn
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MA ON
I
353
marinistisch - <Die ganze Welt hängt von D e i n e n reinen Augen ab
/ Und all mein Blut fließt hin in ihren Blick >. <Die E r d e ist blau wie
eine Orange.> <Wir haben die N a c h t gemacht.) <Ich reise in Deinen
Augen.> <Meines Bettes leere Muschel.) <An die M a u e r n meiner
Langeweile schreib' ich Deinen Namen> (Paul Eluard).
Neo- Marinismus
Frankreich, im Avantgardistischen an der Spitze, hat als erstes eu-
cf. Sondernummer: <Cahiers du ropäisches L a n d Marino und die Marinisten für heute entdeckt. 13
Sud». Marseille 1955, Nr.332. Übersetzt wurden Marino, Dotti, L u b r a n o u. a. M a r i n o erscheint
überdimensioniert (in einem Vorwort Boussets), L u b r a n o ist <ad-
mirable>. Das Erstaunliche aber ist: d u r c h die Übersetzungen
ins Französische gewinnen die Marinisten, n e u e M o d e nach 350
Jahren, eine überraschende Geschmeidigkeit u n d Eleganz, die
nüchterne Kantilene Mallarmes. Aus d e m u n s schon bekannten
Gedicht Lubranos hier wenigstens einige Verse, diese n e u e franzö-
sische <tournure> bekundend: <Les angles d'incidence / mesurent
les perspectives de ces tours.) - <La native b e a u t e de cedres fanati-
ques.> - <Un Vertumne navigateur / debarque sur les rives des Pe-
rous de forets dorees.)
9. S H A K E S P E A R E S
DEFORMATIONEN
Sprachlicher Perspektivismus
<Schon im Metaphorischen ist der M e n s c h doch auf ein Eigentli-
ches gerichtet. Zu jedem Gleichnis gehört auch ein Wesen. In der
Wechselbewegung gleichnishaften Spiegeins aller D i n g e ineinan-
der durch die Sprache ist nicht die Nichtigkeit des Spiegeins von
„ . nichts, sondern in der Tat eine Stufenfolge von Wesen für uns ge-
l i . " 2 Z £ * 2 S £ ß«™ärtig.>» Manieristische Metaphorik k a n n zu e i n e m Wortge-
'947. P599- spenster-Tanz von nur noch Ab-bildern der Welt führen, sie kann
aber auch dazu dienen, Ur-weltliches aufleuchten zu lassen. Nir-
gendwo wird dieses moderne D i l e m m a größer u n d überwältigen-
der sichtbar als in der Wortwelt Shakespeares. Die englische Dich-
tung von Shakespeare bis Crashaw b e d e u t e t in mannigfaltiger
Hinsicht einen Höhepunkt des europäischen M a n i e r i s m u s , in ei-
nem schöpferischen Sinne. E n g l a n d blieb, wie schon angedeutet,
die Barockisierung des Manierismus z u m großen Teil erspart.
Überdurchschnittlich wurde antiklassische D i c h t u n g , das Gegen-
teil also dessen, was die E n g l ä n d e r augusteische D i c h t u n g nennen,
im 1 / . J a h r h u n d e r t n u r in E n g l a n d u n d Spt
lanien.
354
Frontispiz einer Shakespeare-
Edition, London 1846
Schwermütiger Leichtsinn
Wir erinnern an den Oxymora-Reigen Marinos über die Liebe, so
etwa: <Blinder L u c h s , v e r b u n d e n e r Argus, säugender Greis und al-
tes Kind> - <Ewiger A b g r u n d von discordie concordb. In <Romeo
und Julia> heißt die Liebe: <Schwermütiger Leichtsinn, ernste
Tändelei>. dichter Rauch> u n d <kalte Glut>, <stets wacher Schlah
und diebreicher Haß>! D o c h wirken im gewaltigsten pararhetori-
schen D u r c h b r u c h der europäischen Literatur (unter Bewahrung
des rhetorischen I n s t r u m e n t a r i u m s ) , bei Shakespeare, solche M e -
taphern noch konventionell. Sie werden allerdings auch in Augen-
blicken höchster Gefühlserregung gesprochen, so Julia beim Be-
richt der Wärterin über den Tod Romeos, aber bei Shakespeare tritt
dann eine seltsame, Tesauro w ü r d e sagen <irre>, Deformation ein.
Die konventionelle M e t a p h e r wird, u m eine tiefere Seelenschicht
zu offenbaren, u m auf eine a n d e r e Daseinsebene zu lenken, in ei-
nem doppelten Sinne irrational. Sie wird durch ein intellektuelles
Zerbrechen u n d d a n n d u r c h ein rationales Kombinieren mit Buch-
staben und Worten der emotionellen Konventionalität entrissen
355
und in einen Bezirk magischer Artifizialität (etwa der Verzweif-
lung) gedrängt. Wir wissen allein schon d u r c h unsere Hinweise auf
Graciän und Tesauro, daß dies als Beweis für dichterische Potenz
im Sinne eines radikalen Anti-Naturalismus galt. Shakespeares
diesbezügliches <Ingenio> wird in Übersetzungen allerdings kaum
Sichtbarwerden. Zitieren wir also diese Stelle (III, 2) im englischen
Originaltext, u m die Beversion einer M e t a p h e r (Perspektivismus
im Sinne Borrominis und Tesauros) zu belegen. D e r Ausdruck
<puns\ Wortspiele, m u ß hier allerdings d u r c h einen anderen er-
setzt werden. Wir schlagen, kunstgeschichtlichen Erscheinungen
im 16. Jahrhundert entsprechend, den Begriff einer sprachlichen
Illusionsperspektive vor. Die Stelle lautet:
16
WoHgang Clemen, The Develop-
ment of Shakespeares tmagery.
Sprachliche Illusionsperspektive
Neuausgabe London 1951 . und Max
Lüthi, Shakespeares Dramen. Ber- Über die Metaphorik bei Shakespeare gibt es so viel ausgezeich-
lin K)-,-. Darin über «Manierismus»
bei Shakespeare, auch und gerade in nete Literatur, daß wir uns mit n u r wenigen <abstrusen> Beispielen
bezug auf inhaltliche Bestimmun- begnügen wollen. <Oh, sie lehrt die Kerzen hell zu glühn! Wie in
gen und Bühnentechnik (Rausch.
Wahnsinn. Grausamkeit, Kontraste dem Ohr des Mohren ein Bubin> (<Bomeo u n d Julia> I, 5, 45~44-)-
usw.). p. 1 joff. Dazu die noch immer <Tat, ein Sklave der Beschränkung> (<Troilus u n d Cressida> III, 2,
maßgebenden Darstellungen von
l.evin L. Schücking in: Charakter- 164). <Gold> = <roter Sklave> (<Timon von Athen> IV, 3, 2 8 - 3 0 ) .
probleme hei Shakespeare. Leipzig <Des Mutes Auswurf) (<Timon von Athen> I, 2, 56). <Am Schaudern
1937, und: Shakespeare und der
Tragödienstil seiner Zeit. Bern satt gespeist> (<Macbeth> V, 5, 14). Wie Kunstwerke vergangener
1947. Weiter empfohlen: Elisabeth Zeiten sich jeweils neuen Generationen anders erschließen, so ge-
Holmes. Vspects of Shakespeare's
Imagery. Oxford 1929, und Edward schieht es mit Meisterwerken der Dichtung. M a h o o d zitiert Addi-
V Vmstrong. Shakespeares Imagi- sons Frage: <Sind wir zu einer Basse von Wortspielern geworden?)
nation. London 1946. t 'her Marinis-
mus in England vor allem Mario Tatsache ist, laut Mahood, <daß die Augusteer (wir sagen Attizi-
Praz, Secentismo e Maruiismo in sten) Shakespeares Wortspiele ablehnten, d a ß das Zeitalter Victo-
Inghilterra, Studi sul Concettismo.
Florenz 1946, La Poesia metaftsica
rias sie mißbilligte, daß wir sie aber schätzen). 1 6
inglese deJ Seicento. Rom 19 w und Eine Generation, die <Finnegans Wake> von J a m e s Joyce liebt,
Richard Crashaw. Brescia 19 (6. Zur
literalurgeschichllicheu Orientie- kann der Gefahr, vor Wortsubtilitäten bei Shakespeare blind zu
rung: Douglas Bush. Englisch Lite- sein, nicht verfallen. Im Gegenteil. Wort-Kunststücke, so lesen wir
ralure in Earlier Se\euteenth Cen-
tury (1600— 1660). Oxford 1945 (vor
bei Mahood, <werden von der heutigen Kritik als Zeichen hoher
allem p. IOLIO. sowie Itrat Hussain. dichterischer Begabung anerkannt). A u c h darin sind sich das
The Mvslical Element in the Meta-
physical Poet) of the Seventeenth
17. Jahrhundert und das 20. J a h r h u n d e r t ähnlich. Die soziologi-
Century. Edinburgh—London 1948. schen G r ü n d e liegen auf der H a n d : im 1 7. J a h r h u n d e r t Verteidi-
Darin (wie hei Sona Baiziss o.e.) er- gung einer aristokratischen Kultur gegen revolutionäre Verschie-
schöpfende Bibliographie.
bung der Stände, im 20. J a h r h u n d e r t Verteidigung einer Eliten-
Kultur gegen Massenzivilisation. Was nicht ausschließt, daß die
damaligen Verteidiger der Aristokratie arge Libertins und die Ver-
teidiger der heutigen Eliten-Kultur aggressive Revolutionäre (ge-
gen alles u n d jedes) sein k ö n n e n .
Shakespeares M e t a p h o r i k ist vielfach assoziativ, im Sinne einer
Vereinigung des Disparaten. Aber es offenbart sich in Shakespea-
res Werk (das D r a m a galt i h m als <ausgedehnte Metapher>) für uns
mehr. Sein Trieb zur Zwei- u n d Mehrdeutigkeit der Sprache ist ein
Ausdruck tiefen sprachlichen Zwiespalts, einer unsicher geworde-
nen sprachlichen Unschuld, eines tiefen Skeptizismus, der ganzen
Zeit damals eigen, einer Zeit im Ü b e r g a n g . Wie in der Moralistik
Graciäns — k n a p p eine G e n e r a t i o n später - ist alles doppeldeutig
geworden. Hamlet zerdreht, zerspielt Wörter u n d Sprache min-
destens n e u n z i g m a l im L a u f e seines problematischen B ü h n e n -
schicksals. Timon, eine der vielleicht modernsten Gestalten Shake-
speares, nicht weniger häufig. König Lear, eine Figur, die Shake-
speare Aischylos verbrüdert, sprudelt ü b e r vor alogischen, defor-
mierten M e t a p h e r n , in extremer seelischer Situation. Shakespeare
stand an einem sprachlichen Höllen-Kreuzweg zwischen heute
und morgen. Die kabbalistische u n d auch neuplatonische Über-
zeugung, ein Wort bezeichne absolut ein Ding, und ein Wort sei
daher so gut wie ein Ding, w a r von Shakespeare, wenn wir n e u e n
englischen Forschungen folgen, zeitweise aufgegeben worden.
Eine Generation von Skeptikern versuchte, der konventionellen
Sprache das zu verleihen, was wir <Illusionsperspektive> g e n a n n t
haben. Worte werden, in diesem Skeptizismus, anamorphotisch.
Im Umformen sieht m a n i h r e n G r u n d . Wieder wird der Einfluß
des Nominalismus spürbar, u n d wir werden daran erinnert, daß
Francis Bacon mit der realistischen Tradition gebrochen hatte, u m
neue Beziehungen von Wort, D i n g u n d Subjekt aufzudecken. <Ein
Wort liebem, schreibt Bacon, Wittgenstein u . a . vorwegnehmend,
<heißt ein Bild lieben.> <Worte sind nicht Zeichen der Dinge selbst. >
Die Sprache erliegt bei den Besten dieser unerhört tiefgründigen
Zeit einer <reductio ad absurdum>.
Doch Shakespeare, u n d das ist einer seiner tiefsten Wesenszüge,
stand mit geradezu b e g n a d e t e r Überlegenheit mitten in diesem
Taumel einer sich selbst ent-wortenden u n d gleichzeitig ver-wor-
tenden Welt. E r stand in der S p a n n u n g , aber er verfiel weder dem
nihilistischen H y p e r - M a n i e r i s m u s m a n c h e r seiner Zeitgenossen
noch der Kompromißbereitschaft der stets als Ausweg vorhande-
nen klassizistischen <Augusteans>. Im Spätwerk findet er den Aus-
gleich. Die sprachliche L a n d k a r t e entspricht wieder stärker einer
weisen M e n s c h e n k u n d e . D o c h bleibt — w e n n m a n Shakespeare
hört — i m m e r wieder, seitdem der Zweifel erwacht ist, auch die
r r a g e lebendig, welche die Sprache an sich selbst zu richten
scheint: <Who is it that can teil m e who I am?>
Die literarische M o d e r n e w a r längst vor der Renaissance in vie-
len Ansätzen vorbereitet w o r d e n . In Shakespeare bricht sie vulkan-
artig aus. Das Bardenbild Shakespeares, das Modell für Kraft-Ge-
nies, ist endgültig z u s a m m e n g e b r o c h e n . Schon Friedrich Schlegel
stellte fest, d a ß m a n <Shakespeare nicht m e h r für einen rasend tol-
len S t u r m - u n d - D r a n g - D i c h t e r , sondern für einen absichtsvollen
Uichter> zu halten beginne. Die neue Forschung drückt immer
wieder ihr E r s t a u n e n ü b e r das <learning>, über die handwerkliche
Meisterschaft Shakespeares aus. E r gehört in das E m p y r e u m der
größten Ingenieure u n d O p e r a t e u r e der Dichtung. Aber er ist we-
der Attizist noch Asianer, w e d e r Manierist noch Klassizist. E r ist
nur S - H - A - K - E - S - P - E - A - R - E , u n d keiner weiß genau, was dieses
Kryptogramm bedeutet. H u n d e r t e von B ü c h e r n , wie gesagt wur-
den geschrieben, u m in <Chiffren> seines Werkes seinen Namen
sein Antlitz zu suchen. Von seiner Identität bleibt als sicher nur
übrig d i e Folge dieser elf umstrittenen Lettern, die Chiffre für
höchste, für delphische Kunst.
Die <Metaphysicals>
Schon z u Lebzeiten Shakespeares wirkte eine Schar von Dichtern,
die —wie so oft — aus bloß polemischen Bezügen den N a m e n erhiel-
Aus ambivalenter Polemik ent- ten: metaphysical poets.1' Shakespeare wird in E n g l a n d , was seine
standen auch tlie Ausdrücke: Gotik,
Barock. Romantik, und erst recht Lyrik angeht, ihnen zugeordnet. Die M e t a p h e r n der <Metaphysi-
viele der heutigen <lsmen>. cals> sind von herausfordernder elementarer Kraft wie von syllogi-
stischer Geistesschärfe. Ihre Dichtung w u r d e b e w u ß t n u r für einen
Kreis von happy feiv geschrieben. Veröffentlicht w u r d e n diese
Verse zu Lebzeiten der Autoren n u r selten. Von diesem Kreis von
rund dreißig Dichtern sind die ältesten geboren 1564 (Shake-
speare), die jüngsten gestorben u m 1669 (Henry King), also in der
uns vertrauten manieristischen Epoche. J o h n Lilly, der Verfasser
der gespreizten u n d preziösen <Romance Story>, <Euphues, the
Anatomy of Wit> (1578), gehört hingegen n o c h in jenen höfischen
Frühmanierismus, dessen erste vorsichtige A n k l ä n g e m a n bei Ca-
stiglione findet. Seine Gestik ist Tassos schon gewagter, aber stets
gebändigter Metaphorik verwandter als derjenigen Marinos oder
Göngoras. D e n n o c h wurde der Ausdruck <Euphuism> zu einem
Synonym für literarischen Manierismus in E n g l a n d . D a s ist jedoch
nur richtig im Sinn eines manieristischen Prologs, was unsere Lre-
nesis angeht. Die im <paralogischen> Sinne reicheren u n d die the-
matisch verwegeneren Motive findet m a n im Werke der metaphysi-
cal poets. Ihre N e u - E n t d e c k u n g u n d <moderne> Anerkennung
haben d e n literarischen R u h m E n g l a n d s g e r a d e h e u t e wieder ver-
größert.
Verschobener Schwerpunkt
Alles dieses ist nicht n u r Ausdruck auch für eine Zeit im Übergang.
£ s wird hier auch eine spezifische ingeniöse Poetik erprobt. <Was>,
ruft John D o n n e mit E m p h a s e aus, <was - wenn diese Gegenwart
der Welt letzte N a c h t wäre?> Apokalyptische Ellipsen dieser Art
erinnern uns a n L e o n a r d o d a Vincis Endzeit-Visionen. Sie gehören 359
jetzt nicht m e h r zum Instrumentarium n u r formaler Manierismen
Sie entsprechen manieristischen D e n k f o r m e n , ü b e r die wir Hin-
weise gegeben haben. Die wichtigsten stehen uns noch bevor.
T. S. Eliot hat die Metaphorik seiner Vorläufer im 17. Jahrhun-
dert, die uns u.a. aus Peregrini, Tesauro, Gracian vertraut ist, mit
den Worten bezeichnet: <An eccentricity of imagery, the far-fet-
ehed association of the dissimilar, or the overelaboration of one
metaphor or simile.> Logischer Begriff u n d lyrisches Bild interfe-
rieren. Das gilt vor allem - weit über die M e t a p h e r h i n a u s - für den
Concettismus. Wenn aber alogischer Sophismus u n d poetisches
(<ingeniös> gemachtes) Bild sich (wie in e i n e m Chiasmus) über-
schneiden? Berühren wir damit eines der <Geheimnisse> Kirchers,
Tesauros, Graciäns, Mallarmes? Das gespenstisch-<irreguläre> La-
boratorium des Manierismus, in Fällen eindeutiger Begabung,
wird uns seine Irrgänge bald n o c h tiefer erschließen.
36l
tfl£)T-irt£4i£ui£
Jean Paul gebraucht das Wort <Witz> (ahd.: wizzi — Wissen Ver-
stand) im Sinne von irigerüo (Grariän), von itigegno (Tesauro), von
esprit im Sprachgebrauch der Preziösen u n d von englisch wit (<Eu-
phues, or the Anatomy of Wit>). Das lateinische ingenium heißt:
<Gabe geistreicher Erfindung.) D e r <Witz> allein erfindet, und zwar
unvermittelt. Witz in diesem etymologisch ursprünglichen Sinne
verbindet Entferntes und trennt Ähnliches auf überraschende
Weise. O h n e ingenium also kein stupore. D o c h z u m Witz m u ß sich
Scharfsinn gesellen, agudeza (Garciän), argutezza, acume, acu-
tezza (Tesauro). Im Lateinischen bedeutet acutus spitz, geschärft,
scharf, scharfsinnig, geistreich. W i r e r i n n e r n u n s : Graciäns manie-
ristische Literaturtheorie trägt den Titel: <Agudeza y arte de Inge-
n i ö s Tesauros Werk den Untertitel: <Idea dell' arguta e ingegniosa
elocutione>. Scharfsinn ist, nach J e a n P a u l , dazu da, <um die Un-
ähnlichkeit zu finden>. Der Witz findet m e h r <die ähnlichen Ver-
hältnisse in kommensurabler Größe>, also <er paart die entfernte-
sten Umstände> (Tesauro). Scharfsinn befähigt vor allem zu lo-
gisch-kombinatorischem D e n k e n . F ü r Novalis ist Witz <geistige
Elektrizität). Doch wir lernen von ihm Tieferes: <Humor (dieser
Art) ist willkürlich a n g e n o m m e n e Manier. D a s Willkürliche ist das
Pikante daran.) <Wo Phantasie u n d Urteilskraft sich berühren, ent-
steht Witz.) (Witz immer gemeint als Scharfsinn geistreicher Erfin-
dung.) <Witz zeigt ein gestörtes Gleichgewicht: er ist die Folge der
Störung und zugleich das Mittel der Herstellung. D e n stärksten
Witz hat die Leidenschaft. Der Zustand der Auflösung aller Verhält-
nisse, die Verzweiflung oder das geistige Sterben ist am fürchterlich-
sten witzig.y Mit diesen Sätzen werden <manieristische> Abgründe
blitzartigerhellt.
Zwei Grundbegriffe der manieristischen Literatur: Witz {agu-
deza) und Scharfsinn (ingenio)l Sie gilt es jetzt zu erklären, wieder
aus dialektischen Ausgangssituationen der europäischen Litera-
tur. Durch sie wird m a n zur Buchstaben-, Wort- u n d Silbenvertau-
scliung befähigt, zur künstlichen M e t a p h e r n b i l d u n g , zur Kombi-
nationskunst und, wie wir später sehen w e r d e n , a u c h zur Kunst der
Concetti.
Schon Quintilian tadelte den M a n i e r i s m u s Ovids, weil dieser
zwar <ingenium> habe, seine Erfindungskraft jedoch nicht durc
maßhaltendes üudicium) bändige. Diese u n d ähnliche Barbans-
men bringt auch Quintilian mit dem Asianismus bzw. Afrikarns-
mus und mit Spanien in Verbindung. Witz u n d Scharfsinn sin
Bekundungen manieristischer Denkformen. Sie erzeugen forma e
Manierismen. Witz (als ingenio, wit usw.) manifestiert sich, wie
Novalis so prägnant feststellte, vor allem in spannungsvollen Epo-
chen, in konfliktreichen Übergangszeiten, in dialektischen Sorge
und Angstsituationen. Witz und Scharfsinn dieser Art sind Eigen-
schaften problematischer N a t u r e n {Hamlet) in Zeiten, die aus den
Fugen geraten, und zwar seit d e m E n t s t e h e n großer literarisc ie.
Kulturen. Das Streben nach dem P a r a d o x a l e n entspringt dem Er-
leben eigener und fremder Paradoxien.
Der politische Absolutismus tadelt den <ingeniösen> u n d <a'U-
ten> Manierismus. Cicero sprach, wie wir wissen, für die ia e
sehe O r d n u n g , wenn er den manieristischen Asianismus ta ^
Das Moderne ist immer <akut>. Es w u r d e in allen zur geschlosse^
nen Repräsentation drängenden Nationalstaaten E u r o p a s sc o
früh als das Neuerungssüchtige, Schillernde, Gefährliche e m p un-
den. Witz und Scharfsinn sind die Eltern des Artifiziel e r j - *
Zwei- und Vieldeutigen, der verärgernden U n d u r c h d r i n g l i c h ^ .
dann der Libertins und geistig Subversiven. Im frühen i ••
hundert gefiel sich die Hofkultur noch an ihren Erzeugnissen, so-
fern es sich u m <Spiel> h a n d e l t e , doch waren die Zensurbestim-
mungen schon in elisabethanischer Zeit i m m e r enger geworden.
Man fürchtete die Dissonanzen des Scharfsinns u n d die verhüllt
aggressiven Verschnörkelungen des manieristischen Ingeniums
(u.a. Heines späteres Schicksal). Begabungen dieser Art waren in
<magischen>, unerforschten Labyrinthen zu H a u s e , nicht in from-
men Tempeln gutgearteter Traditionen. <Der Witz ist von Natur
ein Geister- u n d Götterleugner> (Jean Paul). F ü r Gracian macht
die agudeza <den M e n s c h e n z u m Adler, zum Engel, zum Mitglied
extravaganter Hierarchien).
fragmentarische GenialitäU
Wir stehen vor einer Renaissance des kritischen Werkes Friedrich
von Schlegels ( 1 7 7 2 - 1 8 2 9 ) . Mit Recht! M a n beginnt jetzt erst,
seine Tiefe, seinen Scharfsinn u n d seine Universalität zu begrei-
fen. Friedrich Schlegel ist n u r zwei Jahre später geboren als Hegel.
Aber wie weit überragt er, was Differenziertheit des ästhetischen
Urteils und tiefe Kenntnis der gesamten europäischen Literatur
angeht, seine Zeitgenossen, ja, in bezug auf Sensibilität u n d <Witz>
sogar Hegel!
Schlegel hat, im Gegensatz zu Hegel, die (Vorschule der Ästhe-
tik) von Jean Paul begeistert gelobt, dessen Definition der Witzkul-
tur als neues Aufschlüsselungsmittel für die Literatur zwischen
Renaissance u n d Barock ü b e r n o m m e n u n d - n e b e n Goethe - zum
Friedrich Schlegel, nach einer ersten Mal einen <Manierismus im h ö h e r e n Sinne> e r k a n n t und
zeitgenössischen Kreidezeichnung anerkannt, bei schärfstem Tadel gegen epigonale Manieriertheit.
Fassen wir die verstreuten B e m e r k u n g e n Schlegels zu diesem
T h e m a kurz zusammen.
<Vernunft-Dichter> werden positiv gewertet. Sie sind Manifesta-
tionen einer d y n a m i s c h e n Rhetorik) (wir sagen Para-Rhetorik)
des Zeitalters. Werner, A d a m Müller u n d Fouque z. B. bezeichnete
Schlegel als <im höchsten Sinne des Worts Manieristen>. J e a n Paul
rechnet er dieser Gruppe in diesem Sinne zu. Sie unterstehen dem
Einfluß des <Orients>, den H e r d e r n e u erschlossen h a b e . <Unsere
Kunst ist d a h e r eigentliche Kunstpoesie, d.h. m e h r durch die
364 Theorie und die begeisterte Nachbildung fremder Genialität als
Illustration von Tony Johannot zum
<Don Quijote.. 1856
Goethes Reflexionen
Schlegel hat die historische S t e l l u n g u n d F u n k t i o n des Manieris-
mus auch innerhalb der d e u t s c h e n <Vernunft-Kunst> erkannt, aber
mehr noch: seinem kritischen Scharfsinn entging die spätere D e -
kadenz nicht, die sich aus d e m Abstieg von M a n i e r i s m u s zu M a n i e -
riertheit ergeben sollte. G o e t h e h i n g e g e n w a r — aus seiner o l y m p i -
schem Perspektive — viel weniger vi sionär, aber sicherlich auch viel
weniger polemisch. E r s a h . . . P h ä n o m e n e . U n d wie über so viele
andere Erscheinungen, so h a t er sich a u c h über diese wohlwollend
geäußert. <Das Manierierte), schreibt er, <ist ein verfehltes Ideelle,
ein subjektiviertes Ideelle, d a h e r fällt i h m das Geistreiche (Witz)
nicht leicht.> Der Manierist <macht sich selbst eine Sprache, in wel-
cher sich der Geist des S p r e c h e n d e n u n m i t t e l b a r ausdrückt u n d
bezeichnet;-. Goethe will also d a s Wort <Manier> <in e i n e m h o h e n
und respektablen Sinne> g e n o m m e n wissen. D e r M a n i e r i s m u s
wurde anerkannt, aber — wie das R o m a n t i s c h e — noch als etwas
<Krankes>. <Romantisches>, <Saturnisches>. So ist für ihn das <Ro-
mantische>: <Einsamkeit, A b w e s e n h e i t , Abgeschiedenheit). Goe-
the hat sich zahllose M a n i e r i s m e n erlaubt (<Faust Eh), aber— selbst
im höchsten Alter, wo er mit allen F o r m e n der d a m a l i g e n europäi-
schen Literatur souverän spielte, blieb i h m <das S c h ö n e eine M a n i -
festation geheimer Naturgesetze). D i e <Idee>. so e r k e n n t er, <kann
uns in eine Art W a h n s i n n versetzen>. B e o b a c h t u n g der Natur> —
aus fast göttlicher Perspektive — rettet vor solchen Exzessen. E r
weicht letztlich dieser i h m im g a n z e n L e b e n stets b e w u ß t e n P r o -
blematik mit einem etwas v e r d ä c h t i g <weisen> H u m o r aus. Wo das
Spannungsverhältnis von <Natur> u n d <Idee> i h m u n g e m ü t l i c h zu
werden beginnt, <flüchtet> er sich <in die S p h ä r e der Dichtung) u n d
<erneuert> <ein altes L i e d c h e n mit einiger Abwechslung): <So
schauet mit b e s c h e i d e n e m Blick / der ewigen W e b e r i n Meister-
stücke
Schlegel ist also in b e z u g auf dieses europäische <Phänomen>
durchdringender, aggressiver u n d k o n s e q u e n t e r gewesen. E b e n s o
Herder in seinen <Anmerkungen ü b e r das griechische E p i g r a m m ) .
Herder hat die epigrammatisch-concettistische Vereinigungskunst
deutlich erkannt. (<Zwei wirklich g e t r e n n t e G e g e n s t ä n d e werden 367
im Gesichtskreis des Dichters v e r b u n d e n e ) In dieser Beziehung
hätten wir <viele nachgeahmt: d e n n wir fanden viel Vortreffliches
nachzuahmen. Wer zuletzt k o m m t , täte sehr unrecht, wenn er
nicht nachahmten Wie Schlegel h a t H e r d e r die historische Konti-
nuität des <Manierismus> erkannt, die Tradition des <Witzes> im
europäischen Concettismus, in der deutschen Vernunft-Kunst.
Autogramm
von Charles Baudelaire
s%
V L
fancj f &** "£r! t-f»* *™~ *! *?'
^68
Die romanische u n d angelsächsische R o m a n t i k hat m a r k a n t e
manieristische Z ü g e . Die d e u t s c h e R o m a n t i k will selbst in ihren
<ingeniösen> F o r m e n einer ironischen <Witz>-Kultur (Schlegel,
Jean Paul, Brentano, H e i n e ) , einer h o c h g e s p a n n t e n <Vernunft-
Kunst> (Novalis) oder einer b e r e c h n e n d e n Phantastik (E. T. A.
Hoffmarin) I n g e n i u m , Ratio u n d P h a n t a s i e i m m e r wieder vom Ge-
fühl beherrscht wissen. D a s ist ein wesentliches M o m e n t zur U n -
terscheidung in b e z u g auf manieristische E l e m e n t e gerade in der
deutschen Romantik. D e r C o n c e t t i s m u s der S h a k e s p e a r e - Z e i t u n d
der abstruse <Sensationalismus> der lateinischen Romantik such-
ten in erster Linie das <Neue>, das <Seltsame>, das <Wunderbare>,
das antiklassisch Zukünftige, a u c h w e n n m a n m a n c h e F i g u r e n in
Rittergewänder steckt. Die d e u t s c h e R o m a n t i k historisiert. Sie ent-
deckt das christliche Mittelalter, sie sehnt sich n a c h einer <absolut>
gebliebenen Gefühlswelt. Diese S p a n n u n g e n m a c h e n die aben-
teuerlichen W i d e r s p r ü c h e in der so reichen, so abstrusen Welt J e a n
Pauls aus. In der lateinischen R o m a n t i k wird das Psychopathische
Mode, vor allem das Sexualpathologische — wie schon im M a n i e -
rismus der Shakespeare-Zeit. D i e Per-version lockt — wie die Re-
version. Sie gilt als h e r v o r r a g e n d <anti>-klassisch. In der deutschen
Gefühls-Romantik (Schlegel bildet wie B r e n t a n o u n d H e i n e eine
Ausnahme) gehört das <Ungewöhnliche> z u m <Neuen Stib, selten
aber das Pervertierte, u n d w e n n es <Mode> wird, so m e h r im krimi-
nell (Sturm u n d Drang) als i m sexuell P a t h o l o g i s c h e n . Die lateini-
sche Romantik spielt mit d e m Gefühl, bleibt aber in die Vernunft-
Künste des Scharfsinns verliebt. D i e d e u t s c h e n R o m a n t i k e r erfah-
ren Elementares: das Erlebnis. Sie verabsolutieren es bald, auch
wenn sie es — manieristischen Traditionen folgend — i m m e r wieder
ironisieren. M a r i n o sucht das N e u e wie ein M a t h e m a t i k e r - auch
in der Dunkelheit. B a u d e l a i r e will in A b g r ü n d e t a u c h e n , gleich-
gültig, ob solche des <Himmels> oder der <Hölle>. E r will <in der
Tiefe> das <Neue finden>. B a u d e l a i r e will erleben u n d erschüttern.
Marino will konstruieren u n d verblüffen. D i e deutsche <Erlebnis>-
Romantik will ent-führen, in T r a u m l a n d s c h a f t e n . Sie will verzau-
bern. Sie will d e m hyperindividualisierten Subjekt einen Welt-Ur-
grund durch Verzauberung, d u r c h M ä r c h e n , d u r c h oft äußerst raf-
finierte Volkslied-Melismen n e u vermitteln, u m «Ursprüngliches>
zu schenken. Gewiß, a u c h b e i d e n R o m a n t i k e r n Deutschlands
fehlt es nicht an Bewußtheit, Intellekt, W a c h h e i t . Meist wird aber
das Über-Bewußte als G e g e n s a t z z u m L e b e n d i g e n e m p f u n d e n .
Wir wollen damit das P r o b l e m <Manierismus> u n d <Romantik>,
anläßlich unserer H i n w e i s e auf Schlegel, Novalis u n d J e a n Paul,
wenigstens kurz k e n n z e i c h n e n . D a ß die europäische Romantik,
mit allen E i n s c h r ä n k u n g e n a u c h die deutsche, der manieristischen
Tradition zuzuordnen ist, k a n n schon aus bisherigen Belegen ein-
leuchten. Wir hoffen, d a ß dieses P r o b l e m - wie das P r o b l e m Ba-
rock-Manierismus - im folgenden n o c h e n g e r u m g r e n z t wird.
Überzeugung wird m a n n u r aus d e r i m m e r wiederholten Begeg-
nung mit dem vermutlich K o n k r e t e s t e n der Welt erfahren: mit d e m
dichterischen Wort.
ii. D E U T S C H E
VERNUNFT-KUNST
Hier blüht aus der Vernunft-Kunst schon die blaue B l u m e der Ro-
mantik auf, der Symbolismus in einem erst witternden geistigen
Vorfrühling. Dazu noch zwei Beispiele aus Versen Harsdörffers. In
seinem <Schwulst> k a n n m a n Halbedelsteine finden, so in dem Ge-
dicht über <Violenzucht>:
Der <Natur Kunst>! Wieder spannt sich ein Bogen von den <Phanta-
siai> der antiken Asianer über den spätmittelalterlichen Manieris-
mus, über Graciän, Tesauro, Zuccari, über Schlegel u n d Novalis,
über Oscar Wilde, Hugo Ball bis Breton u n d Aragon, der den Sur-
realismus definierte als <die in U n o r d n u n g gebrachte u n d leiden-
schaftliche A n w e n d u n g des Rauschgiftes Bild>.
Der deutsche Manierismus des 17. J a h r h u n d e r t s findet jetzt m e -
taphorische Weltzusammenhänge, welche diese Vernunft-Kunst
einer allerdings auch abstrusen Mystik verbindet. So metaphori-
siert Christian Knorrvon Rosenroth:
Das Verleugnungsmesser
Lyrisches Esperanto
Im Begegnen deutschen Geistes des 1 7. Jahrhunderts mit europäi-
schen Manierismen ergibt sich, immer mehr die <existentielle>
Thematik des deutschen 20. Jahrhunderts vorwegnehmend, eine
Einheit von formalen und denkerischen Manierismen, ähnlich wie
in England. T. S. Eliot meint, die <Metaphysicals> des 17. Jahrhun-
derts hätten <Gedanken> erlebt wie den <Duft einer Rose>. Gerade
im 17. Jahrhundert lehnten sich die Dichter, wie wir sehen werden,
gegen das nur Lehrhafte und Deskriptive auf. T. S. Eliot entdeckt
darin, wie wir schon sagten, eine <dissociation of sensibility>, und
darin besteht die größte Ähnlichkeit zwischen der Poesie des 17.
und des 20. Jahrhunderts. T. S. Eliot vergleicht ein Gedicht Jean
Epsteins mit Versen John Donnes: <0 Geraniums / diaphanes,
guerroyeurs sortileges / Sacrileges monomames! / Emballages, de-
vergondages, douches! / O pressoirs / Des vendanges des grands
soirs!> Das ist, was Buchstaben- und Klang-Kombination einer sol-
chen verlängerten Metapher angeht, unübersetzbar. Alle großen
Manieristen waren polyglott. Daher ihr Traum von einem lyri-
schen Welt-Esperanto, den Joyce mit hinreißend nüchterner Ver-
rücktheit zu verwirklichen versucht hat. <Finnegans Wake> kom-
biniert etwa 20 Sprachen. Die jeweils national eigentümlichen
<Manierismen> der europäischen Nationalliteraturen werden dem-
jenigen, der, außer zu Hebräisch, Griechisch und Lateinisch, nicht
mindestens zu den fünf europäischen Hauptsprachen Zugang hat,
nur unvollkommen verständlich werden. Auch das ist ein Charak-
teristikum des Manierismus: polyglotte Esoterik, Vertauschung
(Beversibilität) der Nationalsprachen, Kombinatorik mit lingui-
stisch <Entferntem>. Das gibt es auch im deutschen <Barock>. Ge-
dichte, welche zahlreiche europäische Sprachen kombinieren, wa-
ren damals nicht selten, ebensowenig wie zwischen 1880 und 1950.
<Übergelbes Weiß>
Beenden wir unsere Hinweise auf die deutsche < Vernunft-Kunst>
des i 7. Jahrhunderts mit letzten Beispielen. Zunächst Laurentius
von Schnüffis:
Alle meotische, / Wendisch und gothische / Nächte sind nur /
Eine noch glänzende / Morgen angrenzende / Lieblich
bemalte, / Sonnenbestrahlte / Schattenfigur / Gegen der
schwarzen Nacht/ So mir die Sünde gebracht.
Ganz im Stile Marinos <bildet> Hofmann von Hofmannswaldau:
<Der Schultern warmer Schnee.> Er bedauert denjenigen, der den
<Zuckerstrom> (des Kerns der Welt) <unbeschifft verschießen> läßt.
Kuß ist ihm <ambrierter Saft>. Johann Klaj läßt, ähnlich wie Lu-
brano, der <Linden weitstreifende Schatten... sich gatten>; vor den
Brunnen <ist die Begrünung geronnem. Für Quirinus Kuhlmann
gibt es <übergelbes Weiß>, und der <Tag> wird <Nacht vernünftiger
Vernunft). Und dann fragmentarisiert sich im <simultanischen>
Summationsstil die Metapher zu einem Mosaik (bei Kuhlmann, in
dem Gedicht: <Der Wechsel menschlicher Sachem):
Was gut, stark, schwer, recht,
lang, groß, weiß, eins, ja, Luft, Feuer.
hoch, weit genennt,
Pflegt bös, schwach, leicht,
rkumm, breit, klein, schwarz, drei, neun,
Erd, Flut, tief, nah zu meiden.
Auch Daniel Casper von Lohenstein ist überreich an marinisti-
schen Metaphern. (Menschen) sind <Verwürflinge des Himmels>.
(Schönheit ist Magnet>. Als Verfasser eines Gedichts (Aufschrift
eines Labyrinths>, von dem wir später einige Verse zitieren werden,
hält Lohenstein Gott für <einen Zirkel ohne Maß>. Das Alter aber
ist <ein falschgesetzter Wahn>. Die Zeit schließlich ist für Harsdörf-
fer ein (kugelrundes Haus>, während Johann Klaj die Zeit als
(schneeicht> empfindet. (Zeit ohne Zeit> aber gilt Johannes Rist als
(Ewigkeit>.
Zeitgenössische <Monstren>
Auch die zeitgenössische deutsche <Moderne> bekundet, wenn sie
auch wie die poesia nuova des 17. Jahrhunderts besonders Frank-
reich und England viel zu verdanken hat, eine unverwechselbar
eigene Linie des manieristischen Duktus. Expressiver Trieb und
ingeniöses Machen ergänzen sich auf faszinierende Weise, bei den
Schöpferischen. Die alte (Vernunft-Kunst> taucht auf, aber nuan-
cenreicher, differenzierter. Auf den Inseln des Abstrusen entwik-
kelt sich in Deutschland, nach 1945, vielfach ein Sinn für expres-
siv-ingeniöse Miniaturen, für Gewebe oft angestrengter, aber nicht
selten wertvoller Wortkostbarkeiten. Doch schwankt alles - wie
stets im vielschichtigen Reich der deutschen Literatur - zwischen
dem Präzisen und dem... Monströsen. Karl Krolow stellt fest: (Ein
Gedicht aktiviert sich durch seine Metaphern. Sie sind Fleisch und
Sensorium des Gedichts zugleich. Eine Metapher muß das Präzi-
seste sein, was man sich denken kann.> Aber: Metaphern können
ein Gedicht auch zu einem (Monstrum> machen. Imgagines insa-
nes? Monstren? Auch sie gehören bekanntlich zu Lieblingswesen
manieristischer Landschaft.
Gottfried Benn ist der deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts, der
nicht nur der jüngste Großvater der allerjüngsten (Verwegenen)
und (Zornigen> ist. Er stand in der Tradition der Irregulären, der
Spätmanieristen, ja, der decadents, und er gab es zu. (Merkwürdi-
gerweise), schreibt er, eigenwillig und herausfordernd wie so 01t,
an Kasimir Edschmid, sind es allein (die großen französischen Ly-
riker des ig. Jahrhunderts, die auch heute noch lebendig sind>. Er
gab auch zu, daß ein (Zusammenhang) von meuer>, speziell von
(expressionistischer) Lyrik (mit dem Barock) bestehe. Diese Darle-
gungen hätten (immer etwas Überzeugendes gehabt). An dieser
Stelle formuliert Benn das Wort, das uns zu einem heuristischen
Prinzip geworden ist: <Im Verlaufe einer Kulturperiode wiederho-
len sich innere Lagen, es treten gleiche Ausdnickszwänge wieder
hervor. > Ist Expressionismus (und neue Lyrik überhaupt) nichts an-
deres als (fäkales Barock)? Eines ist (für Benn) sicher: diese Dich-
tung (die neue) ist (Auflösung der Natur, Auflösung der Ge-
Titelbild zu Lohensteins Tragödie
<Epicharis>. 1665
Alexandrinische Gesänge
Erinnern wir hier nur an folgendes: Kuzmin schrieb <Alexandrini-
sche Gesänge>, Erdmann erschöpfte alle erdenklichen (lipogram-
matischen) formalen Manierismen der Zeit des Kallimachos. Ma-
jakowski bewegte sich <wie ein Gulliven in einer trunkenen Flut
von asianischen Metaphern. Solowjow, einer der Anreger <neuer>
russischer Lyrik, gehörte einer russischen Gesellschaft an, die
Nonsense im Sinne Shakespeares und Edward Lears trieb. Beliebt
waren dort Wortspiele, kunstvolle Metaphern, verwegene Concetti.
Das Mystische und das Groteske wurden vermengt. Iwanow galt
als ein <alexandrinischer Magien, seine Frau (Lydia) als eine <asia-
tische> Dionysos-Priesterin. Belyj kann als Vorläufer Gottfried
Benns gelten. Die Deformation ist total, frenetisch, aber meist
dichterischer, zumindest überzeugender als in anderen Wort-Fa-
briken. Alexander Blök, der gefallene Engeh aus Petersburg,
empfindet sich selbst - wie Mallarme - als neuer Hamlet.
Imaginismus
Ab 1910 entsteht in Rußland eine Laboratoriums-Lyrik, aber mit
seltsam schweren östlichen Kunststoffen. Dichter werden auch
dort zu philologischen Ingenieuren), sie nehmen das rhetorische
Instrumentarium wieder vor, aber sie streben gleichzeitig nach ei-
ner adamischen Universalsprache. Vitalität und Naivität verbinden
sich mit Wollen und Kalkül, Wirkenwollen mit verängstigter Reli-
giosität. Der Manierismus erhält im damaligen Rußland bald
tragische Akzente, apokalyptische Züge. Pasternak, der Shake-
speare-Übersetzer, wurde (in Rußland) mit John Donne und
Mallarme verglichen, aber er bleibt einer nur ihm eigenen hiero-
glyphischen Wirklichkeit verbunden, einem transzendenten Sym-
bolismus. Ein bedeutungsvoller <Imaginismus> entsteht, eine letzte
Bildhoffnung zwischen einer entschwindenden Überrealität und
der neuen grausamen Realität des Massen-Totalitarismus. Dut-
zende von <sprachsprengenden> Schulen entstanden in Moskau,
allein zwischen 1920 und 1922. Gedichte aus dieser Zeit gleichen
asianischen Metaphern-Katalogen. Schon den damaligen russi-
schen Kritikern fiel immer wieder die Nähe zum 17. Jahrhunde
auf.
Proletpoesia
Dann folgte die <Proletpoesia>. Sie allegorisierte allerdings nur
noch. Wie schlechte mittelalterliche Kirchendichtung. Das <Bi
wurde säkularisiert. Es entstand eine praktische lyrische Industrie
Metaphorik. Die Rebus-Metapher galt wieder einmal als gefahr-
lich. Eine der großartigsten geistigen Blütezeiten Rußlands ging zl
Ende. Für unseren Z u s a m m e n h a n g m u ß z u m i n d e s t deutlich wer-
den, daß der n e u e schöpferische <Asianismus>, der sich einst in
Großgriechenland aus d e m O r i e n t entwickelte, u m 1900 n a c h Pa-
ris. Berlin, L o n d o n u n d New York a u c h stark von R u ß l a n d aus ein-
drang, in einem halb zeitgenössischen, halb altertümlichen Ge-
wände. Das Slawentum, in seiner M i s c h u n g aus Scharfsinn und
Mystik, aus Vitalität u n d M e l a n c h o l i e , aus Formfreude und E h r -
furcht (auch vor <Kunst>) h a t zur Vergeistigung und Verinnerli-
chnng alter formaler M a n i e r i s m e n u n d manieristischer Denkfor-
men in Europa stark beigetragen. M a n spürt es in m a n c h e n jünge-
ren lyrischen Schöpfungen n o c h h e u t e ; m e h r als dreißig Jahre,
nachdem sich der nächtliche V o r h a n g b l o ß e n Z w e c k d e n k e n s , wie
der Fall Pasternak e r n e u t b e w i e s e n hat, erstickend über eins der
begabtesten Völker E u r o p a s g e s e n k t hat. P a s t e r n a k ! Wer kann die
zynische Frage Alexander Bloks ü b e r h ö r e n , diese urasianische
Frage, die heute für West wie für Ost gilt?
Para-Ähetorik
und Concettismus
12. A L C H I M I E UND
WORTZAUBEREI
Orientalischer Hermetismus
~T / T 7" enn der Mensch Wertsysteme, in denen er lebte, gefähr-
I / I / det sieht, beginnt er meist neue geistige Weltbezirke zu
V f entdecken. Diese Begegnung mit neuem Weltstoff regt den
Uaidalos, den <Erfinder> im <Problematiker> auch und gerade zu
neuen sprachlichen Ausdrucksmitteln und zu neuen dichterischen
Formen an. Buchstabenkünste, Wortkonstruktionen, paralogische
Kombinatorik und Metaphorismus sind dafür nur einige Sym-
ptome. Es ist vor allem der <Concettismus>, der zu einem Höhe-
punkt sprachlicher Artifizialität führt, und zwar in besonderer
Weise zu Beginn der Neuzeit, von Italien ausgehend, in ganz Eu-
ropa. Um diesen bis heute nachwirkenden Concettismus besser zu
verstehen, darf man einen historischen Vorgang nicht übersehen,
die Entstehung einer Para-Rhetorik in der Spätrenaissance. Mit
ihr haben wir uns zunächst zu beschäftigen, mit historischen Bele-
gen aus dem Manierismus von Tasso bis Harsdörffer. Es wird uns
dann auch möglich werden, den Manierismus nicht nur vom Klas-
sizismus, sondern auch vom Barock schärfer zu unterscheiden.
Gehen wir also vom Anfang der Neuzeit aus, von der Renais-
sance, um das weitere entscheidende Element des Concettismus zu
begreifen, denn er wird, außer durch paralogische Wortkombina-
torik, auch und gerade, wie nachzuweisen sein wird, durch das
Entstehen dessen gekennzeichnet, was wir hier zunächst einmal
als Para-Rhetorik bezeichnen wollen. Doch müssen wir uns zu-
mindest das Panorama dieser historischen Landschaft wieder be-
wüßt machen. In der Renaissance, also schon zwischen 1450 und
1550, wurden, wie wir schon erklärt h a b e n , a u ß e r der griechischen
und römischen Antike auch die graeco-orientalischen Kulturen in
neuer Bewußtheit erfaßt. Es entstand ein spezifischer philoso-
1
Esoterisch (griech.) = mach innen phischer <Hermetismus>, der zunächst von der Kirche und dann
zu>. Bezeichnung tiir eine Lehre
oder Dichtung, die zu ihrem Ver-
später vom klassischen H u m a n i s m u s u n d vom liberalen Rationa-
ständnis Eingeweiht-Sein, Wissen lismus wieder verdrängt wurde. In E u r o p a ergab sich eine esoteri-
um spezifische Symbole und Be-
griffe erfordert. Man mußte, um in
sche Kultur>. F ü r diesen Teil unserer Darstellung, der historisch
«esoterische» (geheime) Lehren ein- ist, aber durch die Hervorhebung von Strukturverhältnissen auch
dringen zu können, erst «würdig» die grundlegende Problematik des m o d e r n e n M e n s c h e n mit um-
sein. Roger Baron (1919-1304)
schreibt in seinen .Opus tertium\ es faßt, ist und bleibt es entscheidend, daß d u r c h die Begegnung mit
sn Wahnsinn, dem Ksel Salat zu ge- diesen neuen geistigen Landschaften, mit d e n <Geheim>-Gründen
hen, da er mit Disteln glücklich sei.
Das einfache Volk verderbe tiefe der Kabbalistik, der hermetischen Alchimie u n d der okkulten Wis-
Weisheiten, die «Bösen» verfälschten senschaft, wieder eine bezeichnende D e n k - u n d Gefühlsspannung
sie. Weisheit müsse «geheim» blei-
hen. Vor jedem I )enklahoratorium entsteht. Sprache und dichterische Formen m u ß t e n daher, im An-
müsse ein Engel mit einem r'euer- sturm antiklassischer Denkweisen, verändert, ja, verbogen werden.
sihvverl stehen, (cf. Serge Hutin.
I. Alchimie. Pressea Universitaires,
Das spezifische magisch-alchimistische A n a l o g i e - D e n k e n der Re-
Paris 1951, |>- ii).) — Hermetisch = naissance findet seine ästhetische E n t s p r e c h u n g in den <corre-
von /Irrnirs THsmegUtoS. — Okkult
spondencias> der <Concetti> der Shakespeare-Zeit, d a n n wieder im
(von lat. occultum = das Verbor-
gene). Zunächsl was die Geheimleh- romantischen, im <magischen Idealismus> Novalis' u n d anderer
ren religiöser Mysterien angeht, spä- Romantiker sowie in der später zu erörternden Evokationstechnik
ter erst «Okkultismus», Terminus der
Parapswhologie. der <esoterischen>, <hermetischen> u n d <okkulten> Lyrik. 1
«Corpus H e r m e t i c u r n ;
Im Anfang des n e u e n europäischen M a n i e r i s m u s als Denkform
steht Marsilio Ficino ( 1 4 3 3 - 1 4 9 9 ) mit seiner <Idea>-Lehre. In sei-
ner <Theologia Platonica> erneuert er den alexandrinischen Neu-
platonismus. E r übersetzt das <Corpus Hermeticum> oder den <Poi-
mandres> des Hermes Trismegistos, des ägyptischen <Gottes> der
Schrift und der Weisheit, Thoth, 1471 ins Lateinische. D a m i t geht
vom damaligen Florenz ein geistiger H e r m e t i s m u s aus, der in
späteren Zeiten der europäischen Geschichte i m m e r wieder ver-
sinkt und neu auftaucht. Ernst u n d Tiefe dieses florentinischen Re-
naissance-Hermetismus sind allerdings später selten erreicht wor-
cf, Über kabbalistischen Esoteris-
iiiiis und harmonisierende Schola-
den." Ficino bleibt, wenn auch Alexandriner, so doch Grieche. Für
stik im spanischen Spatmittelalter den Dichter u n d Literaten M a r i n o gilt er ebenso wie für die Kunst-
Minende/ Pelavo o. c. Bd.l. D.541 ff.
traktaüsten zwischen 1550 und 1650, wie schon kurz erwähnt, als
Über Esolerismus in der Renais-
sance: Eugenio Garin, Considera- <Geheimkämmerer Gottes>; es sei i h m gelungen, <die schöne Weis-
zioni sull.i Magia del runascimento. heit nackt zu sehen>.
\iti del ll.Congr. Int. Stud. Umani-
stici. Koma, Milano 1955, p.^i^f. Für die Wiederbelebung der alten orientalischen Kultur, insbe-
Über die Geschichte der jüdischen
Mvslik Scholem o.e.
sondere der hebräischen, wurde Giovanni Pico della Mirandola
(1463-1494) z u einem der sinnmächtigsten europäischen Vorläu-
fer. Auch er wirkte in Florenz. Wie Ficino veranlaßte ihn seine
heterodoxe theologische Anthropologie zur höchsten (hermeti-
schen) Vorsicht. Von der Kirche w u r d e er angefeindet. Kurz vor
seinem Tode wurde er von Savonarola z u m rechtgläubigen Chri-
stentum bekehrt. Auch Pico ist - wie Ficino - als E r n e u e r e r <ma-
nieristischer> Denkformen in der R e n a i s s a n c e . . . Alexandriner. Er
greift in erster Linie die Alchimie auf, die im antiken Alexandrien,
diesem vorchristlichen Schmelztiegel von Ägyptern, Griechen und
Juden, ihre erste moderne Systematisierung erfahren hatte.
Wir erfahren, daß Pico della M i r a n d o l a über eine sprachliche
Methode verfügte, u m das <Arcanum>, das G e h e i m n i s , zu erfassen.
So leitet er aus dem ersten Wort der Genesü <Im Anfang> (hebräisch
^82
<Beresith>) eine ganze Kosmologie ab, i n d e m er die Buchstaben
dieses Wortes kombinatorisch zur H e r s t e l l u n g logisch-phantasti-
scher Bezüge b e n ü t z t . ' M a g i e ! F ü r Pico della Mirandola heißt die
Wunder der N a t u r begreifen d u r c h a u s n o c h christliche meraviglia
erzeugen. Die Welt wird <hieroglyphisch>. Hieroglyphen sind aber
<Bilder> der <Ideen>, u n d er schöpft hier aus d e m ersten Buch der
Kabbala, aus dem Sepher Jetzira, in d e m die Symbolik der Zahlen
und Buchstaben eine zentrale Rolle spielt. E r schreibt selbst: <Der
uralten Theologie des Hermes Trisrnegistos, der chaldäischen und
der pythagoreischen L e h r e r u n d d e n d u n k l e n Mysterien der H e -
bräer habe ich m a n c h e s bis d a h i n U n b e k a n n t e e n t n o m m e n und
durch eigenes Forschen N e u e s erdacht.) 4 F ü r uns ist das Analogie-
Verfahren Picos e n t s c h e i d e n d , weil es, wie W . E . P e u c k e r t richtig
hervorhebt, noch ingeniös war, scharfsinnig, geistig, im Gegensatz
zu den <magischen> Vulgarismen des späten 17. J a h r h u n d e r t s .
Givanni Pico della Mirandola
Dieses <esoterische> Analogie-Verfahren führt zu Geheimspra- (1465-1494)
chen in der Philosophie, in der Wissenschaft, in der Dichtung, dies
um so mehr, als m a n sich vor Verfolgungen seitens der Kirche in
acht n e h m e n m u ß t e . W i e d e r w e r d e n wir — soziologisch — auf das
Entstehen von formalen M a n i e r i s m e n u n t e r d e n Druck von abso- 3
cf. <Etaplo>. ital. Übers. Florenz
lutistischen Staatsformen gelenkt. D e r esoterische <Manierismus> 1942. Ferner Drummond. PJudae-
wird in den <Untergrund> g e d r ä n g t , der Klassizismus wird zur äs- us. London 188K: Serge Hutin o.e.
p. 32IT.: Chochod o.e.; Eranos-Jahr-
thetischen Ideologie erfolgreicher M a c h t s y s t e m e . Gegen öffentli- buch 1955. 1956: N.Ferger. Magie
che <exoterische> A k a d e m i e n entstehen g e h e i m e <esoterische> und Mystik. Zürich 1935. Pico wie-
derholt die Bemühungen des neu-
Akademien. 3 I m d a m a l i g e n E u r o p a e n t s t e h e n <Geheimsprachen> platonischen (jüdischen) Philo-
durch <heterodoxes> D e n k e n . N e t z e von d e n k e r i s c h e n u n d forma- sophen Philo, geh. etwa 25 V.Chr.,
der damals schon eine Synthese von
len <Manierismen> breiten sich ü b e r E u r o p a aus. Sie beeinflussen griechischen, ägyptischen und he-
Kunst und Literatur. bräischen Mysterien erstrebte.
Welches waren die Mittel eines derartigen Verbergens, Verstek- 4
Zitiert nach Will Erich Peuckert,
kens? Es sind die gleichen, die (speziell) in der orientalisch-afri- Pansophie. Stuttgart 1936. Ein ver-
kanischen Antike, im u r a l t e n Streit zwischen Orthodoxie u n d dienstvolles Werk für die Erfor-
schung des <Esoterismus> im 16. und
Heterodoxie, a n g e w e n d e t w u r d e n : B u c h s t a b e n - u n d Wortvertau- 1/.Jahrhundert. Doch fehlen darin
schung, Symbole, Allegorien, n u r für K e n n e r verständliche Con- philologische Untersuchungen der
alten semitischen Quellen, die wir
cetti und E m b l e m e . Sie b r a c h t e n nicht etwa n u r <politische>, son- bei Dornseiff finden. Hingegen hat
dern in erster Linie theologische, philosophische u n d ästhetische Peuckert o.e. die esoterische Spra-
che wenigstens der deutschen Lite-
Antagonismen z u m A u s d r u c k . In spannungsvollen Krisenzeiten je- ratur des 1 7.Jahrhunderts geprüft.
der Art wird also die (reversible) S p r a c h e aus d e m Zielfeld unmit- Eine vorzügliche Ergänzung dazu:
telbarer Mitteilung in ein i m a g i n ä r e s Feld mittelbarer Zeichenge- Wolfgang Kayser. Böhmes Natur-
sprachenlehre und ihre Grundlagen.
bung gerückt. Es entstehen i m m e r w i e d e r schärfste Konflikte.'' Der Euphorion. Bd. 5. Stuttgart 1930, so-
Hermetismus hat d a h e r schon früh die N e i g u n g gehabt, sich aus wie - ideengeschichtlich - : Alex-
andre Koyre. Mysliques. Spirituels el
satanischer Verdammnis abzuleiten, bei allem Streben nach meta- Alchimistes du XVI. Siede Alle-
physisch-magischer W e l t o r d n u n g sui generis. D i e Vorfahren aller mand. Paris 1955.
Esoteriker sind, d e m ältesten griechischen Alchimisten Zosimos
'Alchimistische Geheimbünde wur-
zufolge, Engel, die sich in irdische F r a u e n verliebten u n d ihnen den unter Papst Paul III. verboten,
Naturgeheimnisse verrieten {Genesis V). Sie w u r d e n aus d e m H i m - cf. G.F. Hartlaub. Giorgiones Ge-
heimnis. München 1925.
mel verjagt. Aus ihren ü b e r i r d i s c h - i r d i s c h e n B e z i e h u n g e n entstan-
den die Giganten. Hier h a b e n wir d e n S t a m m b a u m der peintres ' Dieser Vorgang läßt sich schon in
der vorchristlichen jüdischen Kultur
und poetes maudits von P o n t o r m o bis R i m b a u d . All dies klingt vor verfolgen. Das Alte Testament galt
allem nach alexandrinischer Mythologie, die in ihrer Bilderspra- den vorchristlichen Juden, in ihrer
che <pansexuell> ist. A l e x a n d r i e n ist also in e i n e m doppelten Sinne Mehrheit, allerdings als alleinige
Offenbarung des monotheistischen
Ursprungsort späterer e u r o p ä i s c h e r M a n i e r i s m e n , nämlich hin- Gottes. Magische helerodoxe Prak-
sichtlich des manieristischen <asianischen> Stils u n d manieristi- tiken waren ihnen daher verhaut. In
den prophetischen Büchern der Bi-
scher Denkformen. Die A l c h i m i e wird z u m Spiegel des geistigen bel (u.a. Jesaja. 2. 61 wird vor «östli-
Synkretismus Alexandriens u n d seines Kosmopolitismus, seines chem) Aberglauben, vor 'fremder»
Magie gewarnt. Die hebräische Ma-
auch für heutige e u r o p ä i s c h e G r o ß s t ä d t e typischen Völkerge- gie und Alchimie, die zur späteren
mischs. Kabbala führt (neueren Forschun-
gen zufolge jetzt früher datiert), ist
somit ebenfalls heterodox. Sie ver-
bindet sich, vor allem in Alexan-
drien, mit ägyptischen und griechi-
schen Hermetismen.
Sprache als <Mantram>
Vom Florenz Marsilio Ficinos breitet sich die Wiedergeburt des
hermetischen Alexandrinertums über ganz E u r o p a aus. Hier nur
einige wenige Hinweise: Agrippa von Nettesheim (<Occulta philo-
sophia>), der sogenannte Dürer-Kreis, R e u c h l i n (<De verbo miri-
fico>), der 1492 in Florenz Pico k e n n e n g e l e r n t hatte, Paracelsus
von H o h e n h e i m als <neuer Hermes> u n d phantasievoller Deuter
kabbalistischer Esoterismen, Lobpreiser des <intellectus magicus>
und des <secretum magicum>, Beherrscher aller Geheim-Signatu-
ren der Welt. 1520 erschien in Venedig eine erste n e u e Ausgabe
des <Babylonischen Talmuds>, kurz d a n a c h der Palästinensische
Talmud>. Die Restauflagen w u r d e n 1553 u n d 1559 auf Befehl des
Papstes verbrannt und der <Talmud> auf d e n Index gesetzt. G.B.
della Porta galt in Italien mit seiner g e h e i m e n <Zeichen>-Lehre als
<Maestro> der <Signatologie>, ebenso T h o m a s C a m p a n e l l a , der 27
Jahre lang wegen politischer und religiöser Heterodoxie eingeker-
kert blieb. Sein Werk <De sensu r e r u m et magia> erschien erst 1620
in Frankfurt. F ü r England ist vor allem der tiefsinnige John Dee
(1527—1608) zu nennen, mit seinen schon <okkultistischen> Zah-
len- u n d Buchstaben-Kombinationen, Symbolismen, paralogi-
schen Metaphern und magischen D i a g r a m m e n .
/ )
~oO v i r m '<n(,
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crrmrn'
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Art m a g i q u e
Der Surrealismus hat mit vollen H ä n d e n aus Quellen der <Magie>
geschöpft. W i r finden es erneut bestätigt i m letzten Werk von
Andre Breton, <L'Art magique>, u n d in e i n e m Buch des surrealisti-
schen Malers Kurt Seligmann, <Le Miroir de la Magie>, einer lehr-
reichen Kompilation der wichtigsten alten Esoterismen. Breton
geht von dem Wort von Novalis aus, es sei <Magie der Kunst, die
Sinnenwelt willkürlich zu gebrauchem. Breton entwickelt aus den
Paracelsus- u n d Swedenborg-Interpretationen des Novalis seine
Neo-Pansophie einer <magischen Kunst> i m 20. Jahrhundert.
Hugo, Nerval, Baudelaire, Lautremont, R i m b a u d , M a l l a r m e wer-
den als die großen Wahlverwandten des Novalis bezeichnet, des
Vorläufers jenes Neo-Magismus aus der Tiefe der deutschen R0_
mantik und der versunkenen europäischen P a n s o p h i e . Die <m 0 .
derne Sensibilität sei mit solchen <Esoterismen> <durchtränkt>,
Breton unterscheidet anläßlich Novalis' dabei zweckbestirnrnte
und zweckfreie Magie. D e r zweckfreien M a g i e gehöre die geistig e
Zukunft. Die Musterautoren Andre Bretons heißen a u ß e r Novali s .
Plotin, Paracelsus. <Hohe> Magie, Erlösungsmagie, Magie a } s
Form einer uralten heterodoxen Religiosität w e r d e n n e u entdeckt
Der unermüdliche Doktrinär des Surrealismus zitiert e m e Brief_
stelle Mallarmes: <Der Okkultismus ist d e r Anfang d e r reinen 2 e ^
chen, denen jede Literatur gehorcht; Urkraft des Geistes.> M a g i e
in diesem Sprachgebrauch, erhält wieder etwas von der Ti e f e
orientalischer Urkulturen zurück. Sie wird wieder Weltschlu S s e j
zur Vereinigung alles Gegensätzlichen. D i e m a ß g e b e n d e Techr^r
der Magie, so wiederholt für uns Breton, sei <die Theorie der K o r r ^
spondenzem, Ewigkeitswert habe die Rätsel-Liebe des < H o m o ^
dens>. Das Kunstwerk erhalte aus der <Magie reinen H e r z e n
11
seine tiefste Kraft. Als <Quellen> für diese spiritualisierte Magie Als •magische» und damit vorbild-
liche <Maler der Zukunft) nennt
werden ägyptische Texte, alexandrinische Autoren, die Kabbala Breton u.a.: Eliphas Lew und Ho-
und immer wieder Maler der Spätrenaissance und Dichter der Ro- belt Fludd mit ihren Zeichnungen
zum kabbalistischen Sohar. viele
mantik, insbesondere der deutschen Romantik, zitiert.9 Andre Bre- <alchimistische) Kmblematiker. fer-
ton kündet in dieser neuen Phase des Surrealismus von einem be- ner Hans Baidung Grien. H.Bosch,
Rembrandts <Faust>. Außerdem u.a.
merkenswerten Streben nach Spiritualisierung einer nur noch ver- Leonardo. Dürer. Grunewald, Ca-
bilderten Welt.10 Das Umgreifen von Geschichte, der Drang nach ron, Arcimboldi. Desiderio Monsü.
Absolutem, in allerdings mehr archäologisierender Religiosität, ist Gauguin. Rousseau, Kubin. Mumli.
Braque, Picasso. Derain, Chirico,
symptomatisch für die unaufhörliche Spannung in allen manieri- Max Ernst. Picabia. Duchamp. Ma-
stischen Epochen Europas: 1. Beschleunigung des Zerfalls, gritte.
2. Streben nach neuer <Einheit> und <Ordnung>. '"Über den Triumph der (weißem
Immer wieder tritt in manieristischen Denkformen dieses spezi- Magie bei Shakespeare <i. Paul Ar-
nold o.e.
fische Einheitsstreben auf, auch im gelegentlich heillos erschei-
nenden Heterodoxen. Jakob Böhme (1575-1624) findet, auch auf
kabbalistischen Pfaden wandelnd, vor Pascal die erste Stufe der
Überwindung. Er versucht, der damaligen europäischen <Alchi-
mie>, die seit Pico della Mirandola immer mehr <vulgarisierte> (for-
mal und gedanklich), neue Tiefe, neue Einheit zu geben. Seine
«Aurora > beginnt 1612, m e i n e m Jahr, in dem das damalige manie-
ristische Europa die großen antik-orientalischen Überlieferungen
ebenso zu bloß artistischen Zwecken zu benützen beginnt wie die
späteren Klassizisten die griechische und römische Antike. Buch-
stabe) wird wieder <Geist>, wie in den ältesten orientalischen Kultu-
ren, wie bei Piaton. Auch Böhme gefällt sich noch in Silben- und
Buchstabentausch u. ä., aber er wagt sich wieder an eine Rheolo-
gie der Sprachen Adams Sprache vor dem Sündenfall soll wieder-
gefunden werden. Alles hat eine <Gestaltnis>, eine Signatur, d.h.
einen <Behälter des Geistes>.
Deformierte Regeln
Wenn aus solchen Überlieferungen derartige Ansprüche an die
Sprache gestellt werden, so kann sie sich einem anderen traditio-
nellen Regelzwang nicht mehr beugen. Die reißenden Gedanken-
strome, die sich, vom damaligen Florenz aus, gleichzeitig mit den
völlig anderen Harmonie-Bildern der <Klassik>, über ganz Europa
ausbreiteten, mußten also zu einer Umgestaltung der sprachlichen
Mittel und der dichterischen Formen führen. Die <klassische> Bhe-
tonk, wir wiederholen es und kommen damit zum Kernstück die- ^r
ses Kapitels, gerät ins Wanken. Sie wird zum ersten Mal, sie, die im
Mittelalter noch unangetastet blieb, deformiert. Damit erwachsen,
sprach- und formgeschichtlich, die Voraussetzungen, um Einwän-
en klassizistischer Literaturkritik zu begegnen, es lasse sich die
zeitgenössische Literatur bzw. der zeitgenössische Manierismus
nur bedingt mit demjenigen des 16. und ^ . J a h r h u n d e r t s ver-
dienen, man müsse sich also mit unüberbrückbaren epochalen
erschiedenheiten begnügen. Wir werden immer wieder auf die
er
echtigte Sorge um <Unterscheidungen> zurückkommen. Wir
<?n hier nur um Geduld, nach diesem Hinweis auf so starke hi-
nsehe Impulse, deren soziologische Voraussetzungen wir ange-
mutet haben.
^ach Michelangelos Tod entstand in Italien eine höchst aggres-
Vjenie-Lehre. Ihr Verfasser ist der heterodoxe Philosoph, der
aem Lampo de' Fiori zu Rom verbrannt wurde: Giordano
DHU
,1548-1600). Er hielt Vorlesungen in Wittenberg. Hamlet
on
nte ihn gehört haben. Er ist eine der modernsten, hamletisch- 387
sten Figuren im damaligen Europa. G e r a d e in E n g l a n d wurde er
früh bekannt. Seine Ästhetik, der b e r ü h m t e Dialog: <Degli Eroici
furorh wurde in London geschrieben u n d 1585 in Paris veröffent-
licht. Mit dieser Schrift hat er die esoterische Lyrik Englands
ebenso angeregt wie mit seinem s o g e n a n n t e n P a n t h e i s m u s die Li-
bertins Frankreichs. Das beseelte Abgründige, das was m a n heute
<onta> — Wesen — n e n n e n würde, soll in geheimnisvoll gespannten
Sinnfiguren (concetti) sichtbar werden. Bemerkenswert ist für uns,
daß auch Bruno der merkwürdigen Welt des B a y m u n d u s Lullus
manches zu verdanken hat u n d d a ß er vor allem äußerst wirksame
Elemente einer antiklassischen Polemik schuf, die bis in die euro-
päische Bomantik hinein wirkten. Bruno beruft sich nicht nur auf
Piaton. Er findet in seinem Kampf u m Befreiung der Dichtung von
klassizistischen Begeln Vorbilder in der M a g i e der Chaldäer. En-
thusiasmus, Tod und Liebe sind ewige Q u e l l e n der Poesie, sofern
diese nicht durch <Begeln> gefesselt wird. Die <Mania> Piatons wird
zum Urfeuer dichterischer Inspiration. W e n n die manieristische
Poesie zwischen 1600 u n d 1650 eine n e u e Tiefe erhält, und zwar
damals fast ausschließlich in E n g l a n d , so ist dies u. a. auch dem
raschen damaligen englischen Verständnis für die mystische Uner-
gründlichkeit dieses einzigartigen Dialogs zu v e r d a n k e n . Wir hal-
ten hier zum formengeschichtlichen P r o b l e m n u r fest: <Begeln in
der Dichtkunst gelten n u r für diejenigen, die m e h r n a c h a h m e n als
erfinden können.> Wer n u r im Sinne der Begeln großer klassischer
Kunst dichtet, ist ein n a c h a h m e n d e r <Affe der M u s e von anderem.
Klassizisten sind Konformisten, tatsächlich <nur W u r m e n . Der
wahre Dichter singt <frei> von <Tod, Zypressen u n d Höllen>.
Der Aufstand gegen den <Klassizismus> der Spätrenaissance
nimmt bald noch heftigere Formen an. D e r Zeitgenosse u n d Kol-
lege Galileis in Padua, Paolo Beni (1552 — 1625), schreibt 1612 eine
<Anticrusca> (gegen die klassizistische A k a d e m i e gleichen Na-
mens). These: <Die Sprache der Alten ist ungebildet u n d rauh.> In
einer anderen, damals b e r ü h m t e n Schrift l e u g n e t Beni die Größe
Dantes und preist den <modernen> Tasso gegen die Konservativen
der <Crusca>, gegen die <Attizisten>. Der alte Gegensatz von <lako-
nischen> Attizisten, solchen also, die klar, kurz, präzis schreiben,
und den <Asianern>, welche die N u a n c e n , die Hyperbel, die sprach-
liche Ornamentik, die W e n d u n g e n und W i n d u n g e n lieben, wird -
in einer neuen Situation - i m m e r deutlicher. D a m a l s , im 17. Jahr-
hundert, wird es Brauch, daß die konservativen H u m a n i s t e n die
Marinisten als <Asianer> bezeichnen. Auch Gracian unterscheidet,
wie wir wissen, zwei Stilformen: d e n <estilo a s i a t i c o u n d den <estilo
conciso, laconico>. In beiden G r u n d a r t e n gibt es g r o ß e Dichter,
doch empfindet Gracian die stärkere Sympathie für <Asianer> in
seinem Sinne, für Asianer, die Wortreichtum mit Scharfsinn ver-
binden. Der lakonische (attizistische) Stil ist natürlich, Graciäns
<asianischer> Stil wird kultistisch.
388
13. D l E BEWUSSTEN
TÄUSCHUNGEN
<Unterhalten>. . . mit <Seltsamkeiten>
Eines der ersten E r g e b n i s s e dieses Anti-Attizismus stellt sich buch-
stäblich als eine Revolution d e r attizistischen Rhetorik dar. Wir
sagten es schon: in der S h a k e s p e a r e - Z e i t wird die Rhetorik als
bloße Technik des Ü b e r z e u g e n s u n d Relehrens von einer spezifi-
schen Technik des U n t e r h a l t e n s u n t e r s c h i e d e n , die sich rhetori-
scher Figuren zwar b e d i e n e n k a n n , aber in e i n e m ganz anderen,
viel weniger zweckhaften S i n n . <Unterhalten>... allgemein wird
n o c h - traditioneller Diktion folgend - <delectare> gesagt. Aber die-
ses Streben nach <delectare>, u n d zwar mit d e n Mitteln n u r ganz
bestimmter rhetorischer F i g u r e n , ist ebenso n e u a r t i g wie die Tat-
sache, daß Dichter u n d Traktatisten des M a n i e r i s m u s - wie vor
allem Tesauro — die Delectare-Techxuk der Rhetorik als Vorbild
nehmen, nicht m e h r also n u r die attizistischen Poetiken der Antike.
<Unterhalten> will m a n n u n nicht m e h r mit a n m u t i g e r Schönheit
und mit Idyllik, s o n d e r n vor a l l e m m i t Seltsamkeiten, Effekten,
überraschenden, s t a u n e n e r r e g e n d e n W e n d u n g e n , mit dem W u n -
derbaren, Seltenen, G e h e i m n i s v o l l e n , H i n t e r g r ü n d i g e n usw. Die-
jenigen rhetorischen F i g u r e n , welche insbesondere die antiken
Sophisten schätzten, w e r d e n vorgezogen. Sie w e r d e n mit der eben-
falls sophistischen Technik d e r Fehlschlüsse, der Paralogien, ver-
bunden. Spezifisch sophistische rhetorische F i g u r e n , sophistische
Paralogismen b e g e g n e n sich (erst z ö g e r n d noch) in der manieristi-
schen Programmatik von Tassos Zeit bis h i n zu Tesauros u n d Gra-
ciäns damaliger, in jeder H i n s i c h t hyperbolischer Endzeit. Einer
der ersten <Surrealisten> i m E u r o p a des 19. J a h r h u n d e r t s , Isidore
Ducasse (Lautreamont) schrieb: <Die poetischen Seufzer dieses
Jahrhunderts sind nichts a n d e r e s als Sophismen.> D a m i t meinte er
die Romantiker.
Topoi fallaci
ks muß uns d a r ü b e r h i n a u s diese a u f s e h e n e r r e g e n d e , positive
Neueinschätzung der seit P i a t o n vielfach zu U n r e c h t getadelten
Sophisten der Antike a u c h a u s a n d e r e n G r ü n d e n nachdenklich
summen. Die Sophisten sind — wie die m e i s t e n Manieristen aller
iten ~ Vertreter eines e n t s c h i e d e n e n Subjektivismus u n d einer
relativistischen M o r a l . Sie sind A n r e g e r , Zerstörer des Morschen,
jegner falscher K o n s t r u k t i o n e n , geistige Unruhestifter, Söhne des
errnes, geistige Erzväter aller <Zornigen>, <Zersetzer> innerhalb
europäischen A v a n t g a r d e n von h e u t e . I h r oft intelligenter und
scharfsinnigen Skeptizismus ist zu e i n e m u n e n t b e h r l i c h e n geisti-
gen Salz geworden. Nietzsche ( u n d vor i h m Hegel) h a t bekanntlich
™e Sophisten u n d Skeptik er w i e d e r v e r s t a n d e n . D a ß Nietzsches
Pigramme (concetti) von G r a c i ä n beeinflußt worden sind, ist
nachgewiesen.
vir erinnern uns d a r a n , d a ß Tesauro P a r a l o g i s m e n lobte. Es
letzt für uns interessant festzusTeltenTwie er von der attizisti-
c
hen Rhetorik a b r ü c k t e . E r , d e r Pico della M i r a n d o l a als Stilmu-
r
obt, macht einen d e u t l i c h e n U n t e r s c h i e d zwischen evidenten
Cesare Ripa: Poesia (aus der
<Iconologia>, 1593)
<Phantasiai> u n d Rhetorik
Para-Rhetorik in der Shakespeare-Zeit! H i e r wieder ein schon zi-
tierter Kronzeuge, auch von U. Leo hervorgehoben: Camillo Pelle-
grini. Sein Dialog <Del Concetto Poetico> ist für die Geschichte der
Para-Rhetorik im Concettismus ebenso wichtig wie Comaninis
Traktat für die manieristische Kunstgeschichte, w ä h r e n d Tesauro
sich eher mit seinem Vorläufer Zuccari vergleichen läßt. Nach Pel-
legrini gibt es zwei ästhetische <Concetti>. D e r eine, der <concetto
universalem dient der rhetorischen, rationalen Überredungskunst;
der andere, der <concetto poetico formato nella fantasia>, der Poe-
sie. Der <concetto poetico> heißt auch <idolo>, d. h. das in der P h a n -
" Henri Bergson hat eine Schulaus- tasie des Dichters vorgeformte Bild (einer Dichtung). W i r erinnern
gäbe des Lukrez gemacht. Gerade u n s a n Quintilians <Phantasiai>. <Phantasiai> sind bestimmte <Ei-
« » M ; A>Q«a av^yi
£r$7<5y*"TOirvJ)»*J
SÄ***'*'*»«
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•M|3W
Rhetorik
nur noch Mittel
Die Figuren der Rhetorik sind n u r noch Mittel für die <Sehönheit
des Concetto>, so sagtB.Graciän. Was für die Rhetorik einen abso-
luten Wert hat, wird für den Concettismus, für die Kunst der Sinn-
figuren, die keine bloßen Sentenzen sein dürfen, n u r <Materie>.
Die Dialektik hat es mit logischer, die Rhetorik mit rednerischer
Wirkung, der Concettismus mit ästhetischer Suggestion zu tun.
Concettistische Kunst ist der rhetorischen überlegen. Der Dichter
m u ß sich nicht u m Klarheit, sondern u m Subtilität b e m ü h e n . Ma-
rino, <der Göngora Italiens>, wird wegen dieser M i s c h u n g von Au-
genscheinlichem und Disparatem gelobt. Concettistische Kunst
besteht darin, die rhetorischen Grundformen d u r c h <Künstlichkeit
umzukehren^
Künstlichkeit der Rhetorik u n d Künstlichkeit des Concettismus
müssen unterschieden werden. Das ist eines der Geheimnisse der
<grande manera>, der <modernen Bildung>. Die <Moderne> hat
mehr Neuheiten, m e h r <Seltsamkeit>. Die heutige <grande manera>
ist reizvoller als die antike. Graciän findet a u c h in der Antike Lehr-
meister, aber nur solche, welche die <Fußschellen> einer angeket-
teten Rhetorik nicht geduldet h a b e n . Das sagt Graciän von dem in
Spanien gebürtigen Martial, d e m <Erstgeborenen der agudeza>.
Andere Vorbilder in der manieristischen Latinität sind u.a.: die
Poesie der L u k a n u n d Statius, die <asianische> Prosa der Petronius,
Seneca, Tacitus und Plinius.
Menendez Pelayo hat die W a n d l u n g , welche die Rhetorik in
Graciäns <Kodex der intellektuellen Poesie> erfährt, als das Entste-
hen einer <ideologischen> Rhetorik bezeichnet. A n e r k a n n t wird
also der - damalige - Versuch, die formale Rhetorik zugunsten ei-
nes tieferen Mitteilungsdränges, einer verwickeiteren Ausdrucks-
gebärde zu überwinden. Auch Benedetto Croce h a t die Tatsache,
daß Graciän der Antike vorwirft, die Kunst der agudeza verkannt
zu haben, nicht übersehen, aber er hat die B e d e u t u n g einer solchen
Kritik unterschätzt. Die Z u s a m m e n h ä n g e h i n g e g e n hat Ernst Ro-
bert Curtius bemerkt. Sein diesbezüglicher Beitrag ist für das Be-
greifen einer Grundstruktur der manieristischen M o d e r n e von
Göngora über Flopkins bis zu Mal]arme u n d Benn von entschei-
dender Bedeutung. Graciän hat, nach Curtius, das System der anti-
ken Rhetorik für u n g e n ü g e n d erklärt. F ü r Quintilian, den Lehr-
meister der attizistischen Rhetorik, artet die G a b e geistreicher
Erfindung aus, wenn sie nicht mit Urteilskraft (iudicium) gepaart
ist. Bei Graciän ist es genau umgekehrt: die Erfindungskraft (inge-
nio) darf nicht durch Urteilskraft g e h e m m t werden. I m Gegenteil-
Zuviel <normal>-logische Urteilskraft h e m m t die
Erfindungskraft-
Wir können einen Schritt weitergehen u n d sagen: anormale, para-
logische Syllogismen ermöglichen ü b e r h a u p t erst Schönheit im
manieristischen Sinne. Anstatt durch <normale> Syllogismen zu
überzeugen, k a n n m a n n u n m e h r durch paralogische Rhetorik ver-
blüffen. Wir wissen aus der Kunstgeschichte, wie das <Irreguläre>
394 die Manieristen von Rosso Fiorentino bis Greco faszinierte. Docn
galt es, dieses <Irreguläre>, d.h. total Widersprüchliche aller den-
kerischen und emotionellen Situationen zu bannen in eine neue
paralogische Form, die in der heutigen Moderne zu einer alogi-
schen Form wird.
14. M E C H A N I K DES
EFFEKTS
397
Manierismus und Barock
Wir sind ebenso historischen wie kontinuierlichen Elementen in
einer Geistesgeschichte des europäischen M a n i e r i s m u s begegnet
Sie geben uns an dieser Stelle - bevor wir u n s d e m Concettismus
zuwenden und schließlich untersuchen, wie der Mensch als Thema
des Manierismus erscheint - Möglichkeiten an die H a n d , den Ma-
nierismus vom Barock schärfer abzugrenzen. Die Abgrenzung des
Manierismus zur Klassik h a b e n wir im L a u f e dieser u n d in unserer
Darstellung über manieristische Kunst häufig versucht. Sie ist rela-
tiv leicht. Es ist viel schwieriger, M a n i e r i s m u s u n d Barock vonein-
ander zu trennen, u n d zwar so, daß ebensowohl die Eigenart der
beiden <Stile> wie ihre A n n ä h e r u n g zur G e l t u n g k o m m e n . Diese
Auseinander-Setzung ist unentbehrlich, will m a n Konfusionen
vermeiden, die heute noch die eindeutige E r k e n n t n i s höchst
schwieriger Übergangsphänomene der europäischen Geistesge-
schichte belasten. Wir bieten mit diesem notwendigen Exkurs
keine apodiktischen Sätze, sondern n u r Hinweise, die zur weiteren
Diskussion beitragen mögen. W i r m e i n e n jedenfalls, daß die Ab-
grenzung des Manierismus vom Barock die simultane Prüfung
künstlerischer, dichterischer u n d musikalischer D o k u m e n t e erfor-
dert. In einem späteren Abschnitt über manieristische Musik kom-
m e n wir auf diese Aufgabe weiterer konkreter Differenzierungen
noch einmal zurück. G e h e n wir zunächst von pararhetorischen Be-
zügen aus.
Die Trugschluß-Figur <baroco> diente schon im 16. Jahrhundert,
bevor es <barocke> Kunst im spezifischen Sinne gab, der kritischen
Charakterisierung für spezielle formale Manierismen- Am Anfang
des 17. Jahrhunderts wurde der Ausdruck <argomentare in baroco>,
bzw. <barocco>, zur Kennzeichnung nicht n u r von Trugschlüssen,
sondern auch zur polemischen D e u t u n g von <seltsamen> Bildern,
für Verstiegenheit, Gesuchtes, ja, für schlechten Geschmack, hi-
storisch gesehen also: für formale M a n i e r i s m e n des antiken Asia-
nismus verwandt. Erst im 18. J a h r h u n d e r t b e g i n n t <Barock> als ein
Kunststil angesehen zu werden, u n d zwar bezeichnenderweise m
der Enzyklopädie Diderots, ebenfalls mit negativen Vorzeichen:
<Baroque, adjectif en architecture, est u n e n u a n c e de bizarre. II en
est, si l'on veut, le raffinement, ou s'il etait possible de le dire,
Tabus, il en est le superlatif.> Auch hier w e r d e n also spezifische
<Manierismen> (negativ) gewertet, auf Architektur begrenzt. Die
ablehnende Beurteilung dessen, was m a n — höchst verworren - als
<barock> bezeichnete, blieb bis etwa 1900 b e s t e h e n . Mit dem Ent-
stehen der <modernen Kunst> tritt d a n n eine Barock-Schwärmerei
ein, aber sie beruht vielfach auf Mißverständnissen. D i e <moderne>
Avantgarde sieht und anerkennt im <Barock> eigentlich die manie
ristische Ausdruckswelt, das damalige G r o ß b ü r g e r t u m , die
schwungvolle, repräsentative <Kraft> des Barock (Wilhelmmrs
raus!). Erst seit 20 Jahren wird m a n d e m spezifischen Barock
seiner Sonderart gerecht.
<Barocke> Kunst, Literatur u n d Musik b e n u t z e n zwar forma ß
Manierismen und auch manieristische Ausdruckszwänge, ö
steht das G e s a m t p h ä n o m e n <Barock> schon in e i n e m n e u e n geis
gen und politischen <Ordnungs>-Streben, bedingt d u r c h die
gen der Gegenreformation u n d durch die Konventionen der si
neu festigenden absolutistischen Hofkultur u n d ständischen
Seilschaft. Barocke Kunst, Literatur u n d M u s i k h a b e n noch manie-
ristische Elemente, ja, noch starke subjektive Ausdruckswe
aber sie werden durch n e u e klassizistische Vorstellungen wi
gebändigt. Im <Barock> berühren sieh Manierismus und Klassizis-
mus. Man kann den Barock füglich geistesgeschichtlich als eine
Art von <Manierismus> ansehen; man kann aber nicht darauf ver-
zichten, die sehr spezifische Eigenart der barocken Gegenwirkun-
gen anzuerkennen. <Barock> ist eine Mischform von <Manieris-
inus> und <Klassik>, wobei der Grad der Vermengung in europäi-
schen Landschaften und Zeiten sehr verschieden ist. Der reine
Manierismus, der neben, in und unter dem <Barock> weiterwu-
chert, bleibt immer subjektiv, heterodox, antikonformistisch, auch
dann, wenn er, auf seine Weise, mystische oder magische Weltsyn-
thesen sucht. Barocker Geist strebt, oft mit manieristischen Aus-
drucksmitteln (Jesuiten), zu objektiven Ordnungen (Kirche, Philo-
sophie, Staat, Gesellschaft), d.h. zu ihrer Darstellung. Die vielge-
riihmte <Dynamik> des <Barock>! Wer empfindet andererseits nicht
seine eigenartige, durchaus stellvertretende Starre bei der äußeren
Bewegtheit gegenüber besten Werken Tintorettos und Grecos!
Wer hat nicht schon die eigentümliche Würde-Gebärde der gro-
ßen barocken Bewegung empfunden, ihre brillante Äußerlichkeit,
ihren Willen zu überzeugender Beredsamkeit und zur Repräsen-
tanz? Im Barock wird die manieristische Urgebärde zu einer volun-
taristischen Uberzeugungsgebärde. Berninis Grabmal für Papst
Urban in der Peterskirche bringt diese Gebärde, eine restaurative
Gebärde, großartig zum Ausdruck. Wer manieristische Dichtung
mit spezifischer Barock-Poesie vergleicht, wird eine weitere Erklä-
rung finden. Die manieristische Para-Rhetorik wird gegenrefor-
matorisch restauriert zu einer neoklassischen, caesarischen Rheto-
rik des <persuadere>, des Überzeugens, und des <docere>, des Be-
lehrens zugunsten der neuen <Roma triumphans>. Mit beiden will
man keineswegs nur <delectare>, erfreuen, sondern vor allem be-
kehren. Das paralogische Concetto verwandelt sich in die morali-
stische Sentenz, in religiöse oder politische Spruchweisheit zurück.
Aus der ästhetisch autonomen Sinnfigur wird der erbauliche Sinn-
spruch. Für den concettistischen Ingenieur aber bleiben Para-Rhe-
torik und Para-Logismus immer die wichtigsten Instrumente.
Es erweist sich somit als berechtigt, will man die historische
Funktion einer doppelten konstanten Stilgebärde zur methodi-
schen Grundlage für eine Phänomenologie der europäischen Gei-
stesgeschichte nehmen, das Begriffspaar Manierismus und Klassik
als <Generalnenner> (E. R. Curtius) zu wählen und es mit den histo-
risch ebenso legitimen Begriffen Asianismus und Attizismus zu
kombinieren. Das Wort <Barock> ist ein künstliches Wort und es
taucht, wie wir jetzt wissen, erst spät auf. Die Begriffe Asianismus
und Attizismus haben schon die antiken Literaturtheorien be-
herrscht, das Wort <classicus> ist zwar auch alt, aber die übertra-
gene Bedeutung <klassisch> ist viel jünger. Auch der Begriff <Ma-
nierismus> ist (in der Kunsttheorie) älter (ab etwa 1520), er hat aber
noch den Vorteil, als konkretes lateinisches Wort mit einer seiner
Bedeutungen, nianns — <Kunstarbeit>; manu = <von Menschen-
hand, durch Kunst>, viel sachgerechter zu werden. Der Begriff Ma-
nierismus, sofern er nicht a priori polemisch genommen wird, was
ja nicht immer geschah, löst in bezug auf Kunst, Literatur, Musik
viel näherliegende Assoziationen aus als das Wort Barock. Wir
können somit weder den 22 Barock-Arten von Eugenio d'Ors zu-
stimmen noch der angeblich periodischen und oft sehr breiten
Wiederkehr barocken Formgepräges im Laufe der Geschichte> im
Sinne von Fritz Alexander Kauffmann. Es sei denn, man identifi-
ziere Barock und Manierismus ganz, und das ist unmöglich.
Neuere Literatur hilft da weiter. So etwa Victor L. Tapie: Klassik- 399
Elemente im Barock als Ausdruck einer n e u e n religiösen, sozialen
und politischen Ordnung, sowie Erich Trunz: barocker Ordo-Ge-
danke, Autoritätsdenken des Barocks, sein Repräsentationsstil, Ty-
pik der barocken Rhetorik usw. D e r M a n i e r i s m u s n ä h r t sich geistig
aus anderen Strömen als das, was m a n Barock n e n n t . In einem
Falle knüpft m a n immer wieder an die esoterischen Traditionen
an, im anderen erneut an die Überlieferungen der mittelalterlichen
Theologie und Kirche.
Die weniger <ingeniösen> Manieristen lieben die Hyperbel, die
' ' E n t h v m e n (griech.) = G e d a n k e . bloß scharfsinnigen die Ellipse bzw. das E n t h y m e m . l D D e n schöp-
E i n e verkürzte Art der logischen
S c h l u u b i l d u n g . Berühmt <Ciceros> ferischen Manieristen kann m a n — kritisch — d a r a n erkennen, daß
E.: <Wenn ich ZU H a u s e so gefürch- er Ellipse und E n t h y m e n in einer einzigartigen Weise vereint.
tet wäre wie Du in der Stadt, würde
ich mein H a u s verlassene Kernaus- Bloße Hyperbel und <wuchernde> syllogistische Formeln weisen
sage: 'Verlasse die Stadt!> (Cicero in auf <Barock>. Peregrini zitiert das von u n s schon angeführte Bei-
i (".atilinarische Rede, i 7.)
spiel (Corydons Ausruf, als m a n i h m zu schwarzes Brot brachte):
<Bring mir keins mehr, sonst wird es Nacht. > G e r a d e das lobt unser
Zeuge: Vermittlung des <Seltenen> in der ä u ß e r s t e n intellektuellen
Zusammenziehung. Insofern sind abstruse Allegorie u n d alogi-
sches E m b l e m auch elliptisch; sie h a b e n d e n C h a r a k t e r eines Bild-
Epigramms und eines <ingeniösen> Concetto.
Alles das ist für den geistig-elementaren M a n i e r i s m u s , wenn
dieses Paradoxon erlaubt ist, typisch. H i e r h a b e n wir wieder eine
Unterscheidung zum <Barock>. Barocke S p r a c h k u n s t will nicht das
Seltene, sondern das Universal-Gültige n e u auf-zwingen, u n d das
nicht mit den Mitteln der E m p h a s e , der Amplifikation, des Über-
betonens, Überwältigens, des kunstvoll Propagandistischen. Ba-
rock ist propagandistisch-rhetorisch. M a n i e r i s m u s ist antipropa-
gandistisch, antirhetorisch, d.h. gegen die klassische, attizistische
Rhetorik, aber für Para-Rhetorik. Der M a n i e r i s m u s k e n n t das Un-
m a ß der elliptisch-hyperbolischen Vereinigungskunst, der Barock
das Ü b e r m a ß der hyperbolischen Forcierung. D e r Manierismus
verachtet also die Kunst der Hyperbel keineswegs, aber er geome-
trisiert sie immer wieder durch das Contra der Ellipse, w ä h r e n d der
Barock der elliptischen Konzentrierung eindeutig abhold ist. Das
Gebäude des größten Zentralinstituts der gegenreformatorischen
«Propaganda Fide> in Born ist vom <barocken> Bernini entworfen
worden. Gregor XV. hat es im J a h r e 1622 eröffnet. K ö n n e n wir ei-
nen so vitalen wie antirationalen Künstler wie Bernini jetzt nicht
besser begreifen? Tasso bildet den Ü b e r g a n g von der Hochrenais-
sance zum Manierismus, Bernini den Ü b e r g a n g vom Manierismus
zum Barock.
Para-Rhetorik,
Gefühl und Romantik
Die Berührungsflächen von M a n i e r i s m u s , Barock, Romantik und
heutiger <Moderne> sind, wie wir schon berichtet h a b e n , nicht
übersehen worden. Im Z u s a m m e n h a n g m i t der Para-Rhetorik
wird es uns ebenfalls leichter, den W ä r m e - oder Kältegrad solcher
Berührungen näher zu bestimmen. D e m M a n i e r i s m u s der Shake-
speare-Zeit ist die Kombination von Reflexionen u n d Gefühl ei-
gen, ähnlich der europäischen Romantik. D i e <moderne> Art wird
von Graciän auch als <escribir con alma> bezeichnet. <Alma> heißt
<Geist>, aber auch <Seele>. Graciän weiß, d a ß <agudeza> ohne
<alma>, Scharfsinn ohne Seele, o h n e <Geheimnis>, o h n e <Tiefe>, zu
einer bloßen Wortakrobatik wird. W e n n sich Graciän gegen die
40O bloß äußerliche Anwendung der Rhetorik wendet, so auch gegen
einen nur künstlichen und kultistischen Stil. Concettismus ohne
<alma> wird <ärgerlich>, leer, von nutzloser Affektiertheit. Die <mo-
derne Art> heißt also <escribir con alma> und <con agudeza>, mit
Seele und Geist, mit Gefühl und Intellekt schreiben. Gefühl? Ge-
wiß! Wie hätte man den dolce stil nuovo Dantes vergessen können,
die Revolution der Lyrik schon im 13. Jahrhundert, das Dichten <da
dentro>? Wer will leugnen, daß man bei Göngora und bei John
Donne <Gefühl> findet? Es handelt sich allerdings um sehr bewuß-
tes, um sehr vergeistigtes Gefühl, um eine Art vorläuferischer intel-
lektueller Romantik jener Art, die uns wieder in knappster und be-
ster Art Novalis definiert:
<Ein Kunstwerk ist ein Geisteselement.> <Der Verstand ist der
Inbegriff der Talenten <Denken und Dichten also einerlei). <Af-
fekte sind schlechterdings etwas Fatales.) <Alles Unwillkürliche
soll in ein Willkürliches verwandelt werden.) Allerdings: <Nur im
Gefühle gleichsam kann die Reflexion ihre reine Form aufstellen:
4OI
neues D a t u m des überall herrschenden Wechselverhältnisses zwi-
schen dem Entgegengesetzten^
Der Unterschied zwischen manieristischer Para-Rhetorik und
manieristischer (intellektueller) R o m a n t i k liegt also, bei der glei-
chen Auffassung, es sei <Erdenken D i c h t e m (Novalis), in der fort-
schreitenden Eroberung tieferer u n d weiterer Gefühlssphären bis
zur Romantik und bis zum Symbolismus. Ü b e r s e h e n wir aber
nicht, daß auch für Novalis <die Seele aus reinen Vokabeln be-
stehe, <daß die Sprache ein musikalisches I n s t r u m e n t ist und daß
die <Musik es mit kombinatorischer Analysis zu tun hat>, und daß
es deswegen einer allgemeinen <Dechiffrierungskunst> bedarf.
Doch bleibt die merkwürdige S p a n n u n g zwischen Geist und Seele,
zwischen Scharfsinn und Gefühl bestehen, die wir schon aus der
bildenden Kunst kennen. Novalis: <Form ist A n t i t h e s o Sie kann
zu einer Art von Wahnsinn, von schöpferischem W a h n s i n n führen.
Nicht nur Tesauro, auch Graciän lobt d e n <Wahnsinn>. Sind es
nicht die <Phantasiai insanes> des Quintilian? Schon in der intel-
lektuellen Romantik spitzt es sich zu. D i e Seele des Kunstwerks
m u ß für Novalis in <überspannten, u n n a t ü r l i c h e n Bewegungen
und Modifikationen des Stoffs, in Karikatur, sich zudringlich zu
erkennen geben. Aus dieser <Synthese> entstehen <wunderbare
Worte u n d Formeln>, <partielle H a r m o n i e n der Wahnsinnigem,
gemeinschaftlicher W a h n s i n n n a c h R e g e l n u n d mit vollem Be-
wußtseim. Das Lob der <Paranoia> ist uns b e k a n n t . Die Extreme
berühren sich. Stark u n d fruchtbar jedoch n u r in den zu ihnen pas-
senden Epochen.
15. F O R M E L N D E R
SCHÖNHEIT
Lyrik der Peripetie
Die dichteste, vollkommenste, begehrteste Form manieristischer
Dichtung ist das <Concetto>. Im Concettismus findet der literari-
sche Manierismus seine höchste Erfüllung. In i h m fügt sich das
z u s a m m e n , was wir bisher erläutert h a b e n : M e t a p h o r i s m u s , Para-
Rhetorik und Para-Logismus. Wieder stoßen wir auf ein histori-
sches Phänomen, das sich als erneuerungsfähig erweist, in der so
differenzierten und so schwer deutbaren Umwelt des Manieris-
mus. Da wir jedoch historisch konkretem Stoff begegnen, können
wir auch und gerade jetzt — immer wieder im Hinblick auf heutige
Problematik - spezifische lyrisch-architektonische Strukturen er-
kennen und in und an ihnen wieder den Duktus der manieristi-
schen Urgebärde ablesen.
Was sind <Concetti>? Was ist Concettismus? Für die Shake-
speare-Zeit: eine neue <Art des Sagens>. Die Quintessenz der
neuen Poesie! Man glaubt, ein neues Universum der Schönheit
entdeckt zu haben. In ihm strahlen diese magischen lyrischen For-
meln. Denn um solche handelt es sich zunächst im allgemeinsten
Sinne. Die Spanier nennen sie conceptos, die Engländer conceits,
die Deutschen Sinnfiguren oder auch Schimmerwitz, die Franzo-
sen (des i 7. Jahrhunderts) wie die Italiener concetti. (Die Pointe ist
die <Spitze> des Concetto.) Concetti sind oder sollen sein magische
Formeln der Schönheit, die durch irrationale Trugschlüsse und
durch die Verwendung irregulärer rhetorischer Figuren <gemacht>
werden. In der attizistischen Ästhetik waren sie verpönt. Doch setzt
das <Machen> Geist (Ingenium: Ingenieur) und Talent voraus,
Scharfsinn, Wissen, Beobachtungsgabe, zugreifende Erlebnisfä-
higkeit. Gesucht wird das <concetto poetico>, die lyrische Sinnligur,
die knappste Verschmelzung von Begriff und Bild, so wie in winzi-
gen großgriechischen Münzen Gold und Zeichnung eine Einheit
von zwei verschiedenen <Werten> darzustellen scheinen, in weltge-
schichtlich wohl einmaliger Weise. <Das Concetto, so urteilt Bau-
delaire, <ist ein Meisterwerk.>
Im besten Concetto handelt es sich um eine glückliche Hochzeit
von Inspiration und Intelligenz, von Intuition und Scharfsinn, von
Einfall und Konstruktion, von Idee und Architektur, um drama-
tisch-lyrische Antithetik. (Beispiele für europäische Concetti findet
man im <Anhang> dieses Buches. Sie sind als Muster und Belege
für die Interpretationsversuche in diesem Abschnitt gedacht.)
Kein Wunder, daß die manieristischen Traktatisten die Überra-
schungs-Eleganz von Trugschlüssen preisen, die Schockwirkung
unerwarteter Wendungen. Vor allem aber loben sie, und gerade
das gehört zu den alchimistischen Geheimnissen dieser höchst
konzentrierten Literatur, die Peripetie, das <plötzliche Umschla-
gen), das also, was man in der Tragödie als unerwartete, überra-
schende, atemraubende Reversion im Schicksal des Helden be-
zeichnet. Jäher Umschwung heißt auch Krise. Graciän gebraucht
tur Peripetie (und nicht er allein) das Wort <crisis>. Concettismus ist
Uichtung, die - formal - den Zenitpunkt der Peripetie {crisis) spie-
gelt und die zugleich Ausdruck höchst krisenhafter Zeitläufte ist.
Diese Vereinigungskunst führt auch zu einem besessenen philo-
sophischen Synkretismus. Marino will Piatonismus und Aristote-
hsmus vereinen, Pythagoreismus und Epikureismus, christliche
Lrlösungslehre und Magie, Sinnlichkeit und Erbauung, Verzweif-
!ung und Trost, Hell und Dunkel, Wahr und Falsch, Gewißheit
und Ungewißheit. Alles das soll nicht nur in Spannung zueinander
bleiben. Es wird alles miteinander vertauscht. Es ergibt sich ein
e
gnjfsjJ}azar, der einer ebenso entfesselten wie kunstreichen
»ort-Idolatrie dient. Man wäre versucht zu sagen, daß über allen
istorischen Epochen, aus denen plötzlich solche <Sophismes ma-
Pques) sprühen, schon die Gewitterwolken der Untergänge la-
gern. In concettistischen Zeiten wollen die Dichter, welche Baude-
aire Leuchttürme der Menschheit nannte, in finsterer Umwelt 403
lebend, nur noch einen erlösenden <Stein der Weisem anstrahlen.
Extreme, konzentrierte Schönheit s u c h e n sie, oft u m g e b e n vom
Brüllen der Affekte und des physischen Schmerzes, vom sinnlosen
Tod von Millionen Schuldiger u n d Unschuldiger. Sinn und Schön-
heit wollen sie d a n n vereinen in einer labyrinthisch irr-sinnigen
Weise.
Sinn- oder Irr-Sinns-Figuren dieser Art sind n u n , w e n n wir sie in
ihrer literarischen Struktur begreifen wollen (und bevor wir Bei-
spiele geben), nicht so leicht zu definieren, wie m a n es versucht
Ih
<Concetto>, vom lateinischen con- hat. 10 Concettismus ist auch eine <Vereinigungskunst> im Sinne
cipere, umfaßt sowohl die Sphäre des von Novalis. Denken u n d Dichten, Schönheit u n d Logik sollen
Intellekts (<befreil'en>) als auch die
der Phantasie (einen Zusammen- miteinander verbunden werden. Sinnfiguren sind, elementar gese-
hang «schauet» oder <planen>). Es hen, Metaphern von Begriffen bzw. Ideen. Was heißt das? Die Me-
hat aktiv ausgreifenden und passiv
empfangenden Sinn, auch im mate- tapher wird als eine überraschende concordia discors von Bildern
riellen und physiologischen Bereich: empfunden. Das Concetto bietet eine ü b e r r a s c h e n d e concordia dis-
als Fassungskraft eines Gefäßes, als
Empfängnis im Geschlechtsakt.
cors von Ideen. In beiden Fällen wird also E x t r e m e s vereint. Aber,
und das ist das Irritierende, ein gutes Concetto stellt sich nicht nur
als Konkordanz antithetischer Begriffe dar; es vermengt gleichzei-
t i g . . . Bilder. Es werden also ebenso h e t e r o g e n e Begriffe wie hete-
rogene Bilder vereint. Der alchimistische <Stein der Weisem ergibt
sich aus Doppeltem: aus P a r a - L o g i s m u s u n d Oppositions-Meta-
pher, aus paralogischem Sophismus u n d metaphorischer Evoka-
tion. Abstruse Dialektik wird mit den u n s n u n b e k a n n t e n paralo-
gisch-rhetorischen Mitteln <ausgeschmückt>. In vielen, allzu vielen
Fällen wird dabei die Erfindungskraft d u r c h ein bloß irrationales
Disponieren in dieser höchst künstlichen Weise ersetzt.
Abstruse Allegorik
Bevor wir unsere Definition zu E n d e führen u n d im Anschluß
daran eine Miniatur-Anthologie europäischer Beispiele von ge-
stern und heute bieten, wollen wir uns k u r z mit e i n e m Beispiel
aus der berühmten A l l e g o r i e n - S a m m l u n g von Cesare Ripa
(1560-1625) beschäftigen. Sie erschien u n t e r d e m Titel dconolo-
gia> im Jahre 1593 zu R o m und erlebte d a n n viele Ausgaben, bis
zur fünfbändigen M o n u m e n t a l - A u s g a b e von P e r u g i a 1764 bis
1767. Das Werk hat einen e n o r m e n Einfluß auf die manieristische
Kunst und Literatur ausgeübt. Seine erste W i r k u n g hatte es in der
Blütezeit Shakespeares, Göngoras u n d M a r i n o s .
Die Allegorik Ripas ist besonders sinnreich, weil sie noch der
tieferen Emblematik und Hieroglyphik v e r b u n d e n ist, die für das
Cesare Ripa: Melancholie auf
Zeitalter ebenfalls charakteristisch sind. (Einzelheiten darüber im
Erden (aus der.Iconologia». 1593)
nächsten Abschnitt.) Ein Beispiel heißt <Melancholie auf Erden>.
In dieser Allegorie (zu gr. allegorein = anders reden, bildlich reden)
wird das Disparate rebusartig kombiniert. D a s offene Buch in der
linken H a n d der Figur, die, nach Ripa, eine <düstere> Farbe haben
soll, bedeutet: der Melancholiker liebt G r ü b e l n , Wissen, For-
schung. Der Knebel versinnbildlicht Schweigsamkeit, denn der
Melancholiker hat, nach Ripa, ein kaltes, trockenes Temperament.
Der Vogel (Sperling) auf dem Kopf soll E i n s a m k e i t darstellen,
denn der Sperling lebt laut Ripa an e i n s a m e n Orten <und meidet
" Es handelt sich nicht um den den geselligen Verkehr>. 17 Die g e b u n d e n e Börse weist auf Ver-
durchaus geselligen Sperling, son- schlossenheit hin, auf seelischen Geiz. Also: Buch, Knebel, Sper-
dern umdetKpassersolitarius'. Leo-
pardi widmete ihm ein Gedicht ling, verschlossene Börse b e d e u t e n Melancholie. In der Dichtung
können diese Attribute einer Allegorie zu M e t a p h e r n werden, die
404 nun paralogisch kombiniert werden. Obwohl die Bedeutungsbe-
zü^e, zumindest für den Kenner, meist noch rational erklärbar
bleiben, werden die einzelnen Attribute bereits im 17. Jahrhundert
vielfach derart alogisch und sinnsprengend kombiniert, daß sich
damals schon Vieldeutigkeit und Sinn-Losigkeit ergaben. Der
Concettismus wird <heteroklitisch>, d.h. unregelmäßig, von der
Re^el abweichend, seltsam, wunderlich. Es entsteht also die P o e -
sie heteroelite>.
Anti-Natur
Tesauro erinnert daran, daß schon Aristoteles die <Schemata) (lat.
figurae) empfahl, jene geistvollen Abbreviaturen, welche auch
<Sentenzen> heißen. Doch sind die <Concetti> keine <Sentenzen> im
attizistischen Sinne. Das echte Concetto muß hieroglyphischen
Charakter haben, es darf keine allgemeinverständliche Morallehre
formulieren, es muß — wie Tesauro wiederholt sagt — im Halbdun-
kel des Orakelspruchs verharren. Um sie zu machen (fabbricare),
geht man von einem <Kategorien-Index> aus. Man sammelt Ideen
und Bildergruppen, <Ähnlichkeiten> und <Verschiedenheiten>,
Grundelemente also für die uns bekannte Große Kombinations-
kunst. Aus diesem Material baut man mit den Instrumenten der
<Topici fallacb, der täuschenden rhetorischen Figuren, die uns be-
kannten Stupore-Metaphem. Diese aber dienen dann der sprachli-
chen Fassung von paralogischen <argutezze>, von einfallsreichen,
scharfsinnigen Trugschlüssen, durch die Begriffe (Ideen), die ein-
ander auszuschließen scheinen, vereint werden. Aus diesen Korre-
spondenzen von Ideen und Bildern erhält man <göttliche Concettb,
denn, wie schon zitiert, Gott hat sich in geheimnisvollen Concettb
geoffenbart. Schön sind Dichtung, Kunst, Musik nur dann, wenn
sie derart arkane Sinnfiguren vermitteln, das concettistische Genie
wird gottähnlich.
Man kann sich den Ruhm damaliger Concettisten von Rang
heute kaum noch vorstellen. Sie wurden gefeiert wie Helden. Man
verglich sie mit Adlern und Engeln. Sie schrieben Inschriften für
Triumphbogen und Embleme für Könige, Epitaphe für die Gräber
der Fürsten, Devisen für die Wappen aller Vornehmen Europas.
Sie erhielten ehrenvolle Aufträge, sie waren unermüdliche Arbei-
ter. So manches man gegen die Manieristen der Nachrenaissance
einwenden kann, Dilettantismus kann man ihnen nicht vorwerfen,
ks hat kaum eine Zeit nach dem Mittelalter gegeben, wo Schrei-
bende sich so um eine Verfeinerung ihres Handwerks bemüht
haben. Zwischen Renaissance und Aufklärung gibt es einen Ma-
nierismus der handwerklichen Form, nicht also nur der Weltan-
schauungen, Empfindungen und Ideen. Man kann den Manieris-
mus zwischen 1530 und 1660, ohne diese Voraussetzungen zu he-
chten, ebensowenig verstehen wie die moderne Musik, wenn man
ie Harmonie- oder <Disharmonie>-Lehre nicht kennt. Die Litera-
ur im Manierismus dieser Epoche verlangt auch (und fast in erster
Linie) handwerkliches Können. Valery: <Perfection, c'est travail.>
an muß die <Künste> kennen, Regeln darf man verachten. Man
tollte antiklassisch, aber nicht barbarisch sein. Der <schöpferi-
C e>
^ i s t wurde nur mit den Attributen der artistischen Ge-
Clultnei
t , der <virtuositä>, verherrlicht. Wenn man Welt, Mensch
Ul
n g stilisierte, so konnte dies nur wissend, bewußt gesche-
n Das <Naturgenie> ohne <virtuositä> hätte als eine der vielen
tsamkeitem der <natura naturans> gegolten. Seiner plebeji-
Cn o d e r
Weinbürgerlichen Erscheinung nach hätte es schon al-
lein dem aristokratischen Geschmack d e r Zeit nicht entsprochen.
M a n fürchtete sich weniger vor dem E p i g o n a l e n als vor dem Dilet-
tantischen.
Die <Mysteres> (Mallarme) dieses H a n d w e r k s erscheinen aller-
dings von höchst verwickelter Natur, w e n n m a n sich nicht immer
wieder über seine ebenso <ingeniösen> wie einfachen Mechanis-
m e n klar wird. Die dialektische Poesie des Concettismus, die das
Paradoxale in einer extremen Situation der Peripetie zur Einheit
bindet, verzichtet nicht n u r auf B e l e h r u n g (docere) u n d Überzeu-
gung (persiiadere), sondern auch auf das Wahrscheinlichkeitsprin-
zip. Nicht die <inventio> (Erfindung) ergibt die Einheit, sondern die
manieristische <dispositio> (Gliederung). E s wird demzufolge auf
das Wahrscheinliche zugunsten der <wunderbaren> Gedanken-
gliederung verzichtet. Dabei erreicht dieses <Wunderbare> ver-
schiedene Grade, von dem einfachen ü b e r r a s c h e n d e n Kontrast bis
zur schockauslösenden Konstruktion des Monströsen: wie in der
bildenden Kunst.
Nach 1850 wird die klassische N a t u r n a c h a h m u n g vollends auf-
gegeben, ebenso aber die Konventionen des sogenannten gesun-
den Menschenverstandes, die in politischen u n d religiösen Ord-
n u n g e n geltenden <Gemein>-Plätze, die Sammelbegriffe und Ge-
brauchs-<Büder> der öffentlichen M e i n u n g . Die Ver-stellung wird
Gesetz, das Gesetz verstellt. Es wird Ereignis die reine Form des
gegenstandlos Alogischen, die n u r n o c h ästhetische Beschwörung
des Nichts, die Autonomie der abstrusen Form. Der extreme Extre-
mismus ist erreicht: der A u f n e h m e n d e wird allmählich n u n nicht
n u r nicht belehrt, nicht n u r nicht überzeugt, er wird n u n auch nicht
m e h r ergriffen, im Gefühl bewegt (movere). Die Gefahr des nur
Befremdenden liegt darin, daß die Mittel, es zu erzeugen, sich end-
los wiederholen (wie eine stereotype Schreckgebärde) u n d daß sie
deswegen, wie die ebenso endlosen Knorpelbildungen des späten
Ornament-Stils, n u r noch unfruchtbare Langeweile erzeugen,
besser: völlige Entfremdung. Kein W u n d e r , daß in concettistischen
Zeiten Schauerdramen u n d S c h a u e r r o m a n e so h o c h in Blüte ste-
hen. Shakespeare bewegt sich auf der ganzen Skala, von seinen
subtilen Sonetten bis z u m perversen Sensarionssrück: <Titus An-
dronicus>.
Concettistische Zeitenwende
Die litararischen Nachwirkungen der hellenistischen Kulturen im
frühmittelalterlichen (Kirchenväter) und im spätmittelalterlichen
Europa (Spanien) sind — in ästhetisch-formalgeschichtlicher Hin-
sicht—noch zu untersuchen. Zweifellos hat das spätmittelalterliche
Spanien als Drehscheibe zwischen Asianismus und Attizismus hin-
sichtlich formaler Manierismen große Bedeutung gehabt. Die
Wurzeln des <modernen> Concettismus liegen jedoch unserer Mei-
nung nach in Italien, im Italien Ficinos und Picos della Mirandola,
als in Florenz der Mensch als <Deus in terris> entdeckt, als auch
danach der Heliozentrismus naturwissenschaftliche Tatsache
wurde, als die Entdeckung der Unendlichkeit der Welt den Men-
schen von damals ähnliche Probleme aufbürdete wie uns heute die
Quantentheorie. Italien hat einen geistig-zeitlichen Vorsprung.
Nicht nur das. Wir finden eine <existentielle> Theorie des Concet-
tismus, längst vor Graciän und Tesauro, im Werke eines der faszi-
nierendsten prämodernen Dichter Europas, im Werke Torquato
Tassos.
Außerdem sollte man nicht übersehen, daß in Italien die großen
Dunkelheiten Dantes unvergessen blieben. Haben einzelne Terzi-
nen-Gruppen nicht schon concettistische Form? Petrarca steht -
wie auch Dante - noch dem rätselverliebten trobar clus der Minne-
sanger nahe. Der <Petrarkismus> hat sich schon früh in Spanien wie
in Frankreich ausgebreitet, zumindest als preziöse Diktion. Ma-
nno bezeichnete Petrarca als Vorbild für concettistische Kunst.
lasso (1544-1595) steht als Persönlichkeit und mit seinem Werk
in der ersten neuen Wende der Zeit.
Übergang
zur poetischen Immanenz
lese besondere italienische Situation hat übersehbare geistesge-
schichtliche Ursachen. Als der toskanische Frühmanierismus in
orenz entstand, jene Einheit von <Armut und Geheimnis>, etwa
530, war Tasso noch nicht geboren. 1520 starb Baffael, in dessen
patwerk bereits manieristische Züge entdeckt wurden. Die Dich-
*g lassos bildet den Übergang von der literarischen Spätrenais-
nce zum er
sten literarischen Manierismus in dieser Zeit. Tassos in-
nere Zerrissenheit, sein <Wahn-Sinn>, ist wie ein Symbol für diese
ischenstellung. Seine Dichtung ist reich an Bezügen, die auf
Übergänge weisen.
ir begreifen damit nicht nur die frühe Vorzugsstellung, die der
oncettismus gerade in Italien erhielt, denn das bleibt für unsere 407
Fragestellung eine untergeordnete Frage. W i r k ö n n e n vor allem
dem Begriff Concetto hinsichtlich Tassos eine n e u e Tiefendimen-
sion verleihen. Wir begegnen auch erneut e i n e m für jeden Manie-
rismus typischen Vorgang: die noch mythisch g e b u n d e n e Urge-
bärde oder ihre, in mythischen Vorstellungen von Spätzeiten,
erneuerte mythische Sinngebung wird wieder säkularisiert. Das
Spiel mit den formalen Hülsen beginnt.
Tassos Concettismus steht noch in unmittelbarer Beziehung zur
<Idea>-Lehre Marsilio Ficinos. W i r erinnern u n s , d a ß das Wort
<Concetto> in seiner Bedeutung <Begriff> schon mit d e m Wort
<Idea> in Verbindung gebracht w u r d e . <Concetto> = <Idea> hat al-
lerdings für Tasso, sehr im Gegensatz zu Zuccari etwa, der seinen
Traktat <L'Idea de'Pittori, Scultori ed Architetti> im J a h r e 1607
veröffentlicht, also zwölf Jahre n a c h Tassos Tod, noch absoluten
Charakter. F ü r Tasso hat die Concetto-Idea — im platonischen
Sinne — noch ihren Ort im absolut Jenseitigen. Bei Zuccari wird sie
auch zu einem psychologischen Begriff, zu einer subjektiven Vor-
stellung, zum <Disegno Interno>. Tasso faßt noch die Idea (Con-
cetto) als ein transzendent Absolutes auf, das sich in der Dichtung
Torquato Tasso ( 1 5 4 4 - 1595)
spiegeln k a n n u n d m u ß . Das Concetto bleibt somit <Idea> im objek-
tiven, nicht im subjektiven Sinne. Tasso ist also noch nicht <Concet-
tist> im Sinne des subjektiven <Concettismus>, aber das <Concetto
steht schon in der Mitte seines Dichtertums u n d seiner Dichtungs-
lehre>. Tasso hat <dem Concettismus die W e g e geebnet>. Tatsache
ist, daß in späteren Schriften Tassos, so z.B. in den <Discorsi del
P o e m a eroico>, das Concetto bereits als ein <inneres Sprechen) be-
zeichnet wird. (<I1 Concetto, il quäle e quasi u n parlare interno.>)
Dadurch ist <das Concetto n u n fast zu d e m geworden, was wir in-
nere Sprachform nennen>. Der <Wortstoff wird in den Concetti ge-
formt).
Bei den n e u e n geistigen Spannungskräften der Zeit hält es Tasso
jedoch in diesen topoi uranioi nicht aus. Motive seiner Dichtung
und Manifestationen seines Lebens beweisen, d a ß sich schon in
ihm und in seinem Werke die W a n d l u n g vollzieht, der Ansatz der
Säkularisierung des Concetto, einst reine metaphysische Idee, bald
n u r noch immanentes Sprachbild der <poesie pure>. Tasso ist Melan-
choliker wie Pontormo, er zerdehnt schon die attizistischen For-
men der Rhetorik, er wählt schon asianische Kunstgriffe, so u. a.
etwa Anapher (Wiederkehr derselben Folge der Satzteile in meh-
reren Sätzen) u n d Paronomasie ( Z u s a m m e n s t e l l u n g gleichlauten-
der oder ähnlicher Wörter von verschiedener oder entgegengesetz-
ter Bedeutung). Als formale M a n i e r i s m e n m a g er solche Figuren
der lateinischen Literatur des Mittelalters e n t n o m m e n haben.
Aber das Erschütternde im Werk u n d im persönlichen Schicksal
Tassos besteht darin, daß manieristische Formalismen u n d manie-
ristische Denkweise sich zum ersten Male in einer dichterisch und
geistig legimiten Weise <modern> begegnen. Ulrich L e o spricht in
seinen Untersuchungen über Tasso als Vorläufer des manieristi-
schen <Secentismo> schon in bezug auf Tasso von einer <modernen>
<Überrhetorik>. Auch Tasso verzichtet also schon auf das L e h r - und
Nutz-Element der Rhetorik; auch er zieht das bloße <delectare>
oder <piacere> d e m Belehren u n d Überzeugen vor. Aber das <delec-
tare> mit rhetorischen Künsten erhält bei Tasso den tieferen Sinn,
den dann Shakespeare d e m pararhetorischen Concettismus gab.
Pararhetorische Künste bringen <einen irrationalen Erregungszu-
stand des Dichters oder seiner Personen z u m Ausdruck). Erinnert
Tirsis' nur unvollkommen übersetzbares W ö r t e r g e s c h m e i d e (we-
«J8 gen der Wortspiele mit sapere, cercare, piacere) nicht schon an die
A L L E G O R I A -
LAprigioniad'Adonecon tutti gli ftratij che fopportada FaHirena,cififcorgcre gli
effetri dclla Supetbia, quando per effer difprezzata entra in furorc;& la vita tribulata
del peccacore, quando addormenrato nel vitio, & impigrko nellaconfuctudine.fi
lalcia legire dallc catenc dclle pericolofetentationi. 11 cangiarfiin recetto e miftcro
dclla leggerezza giouanile,che vaneggiando, non lu ne'fuoi aroorofi pcnficri giamai
feimczza La Fontana, in virtü dclla cui acqua cgli ritorna al fuo primo efTcre, allude
alla diuina gracia , laqual col mezo dclla penitenza rdtituifce all' huomo la fua Vera
iniaginc,giä cor rrafatra per lo peccato. Vulcano e {Imbolo di Satana,zeppo per lapri-
uatione d'ogni bcne.brutto per la perdita de" doni della gratia,habitatorc di cauerne
per laftanzadelle tenebre infernah, deltinato all'cfjfcrcitio del fuoco per lo miniftc-
rio dclleflammeeternc. L' vno dopo l'haucrt incatenato Adone, cerca d'vccidcrlo.
Et htlrro dopo l'hauer fottopofto l'huomo alla lua tirannidc, procura inrutro di
darmortc all'anima. Senonche Mercurio.figura dclla eclefte cV: vera Sapicnza,
lo configlia, l'aiuta,& rende vanc tuttequantc le diabolichc iniidtc. La noce '
d"oro,eh'aperta fomminiftra akrai lautillimemcnfe,oltre 1'efler fimbo-
lo della perfettione , & della bonta, vuol fignificare , che l'oro fi fi
abondanza in qualfi voglia luogo.ancorchc fterile, & che al rieco
non manca da viuere rnörbidamentc ncllc penurie mawgiöri.
V lntercffc con l'orecchieafiniIi,che non gode dclla dol-
cezza dell'armonia ,anzi l'abhorre.ci rapprefenra 1"A-
uaritia,& Ilgnotanza, chenon fi cutanodlPocfie,
ne 11 compiacciono di Mufichc. La trasforma-
tione dclla Fata & fue donzclle in bifee
adombra 1" abomincuole conditionc
delle bellezzc terrcne,& delle dc-
liric tcmporali, Icquali paiono
altrui in vifta belle , ma
fon piene di dirfornü-
ta, Sc, dl vcleno.
köstlichen c o n c e t t i s t i s c h e n P r e z i o s i t ä t e n n i c h t n u r i n Marinos
<Adone>, s o n d e r n a u c h i n < R o m e o u n d J u l i a > ?
E poco p a r ti q u e s t o ?
Credi t u d u n q u e ?
...Eforse ch'ella
II sa, n e p e r ö v u o l c h ' a l t r i r i s a p p i a
C h ' e l l a ciö s a p p i a ; or, s e ' l c o n s e n s o e s p r e s s o
C e r c h i di lei, n o n v e d i c h e t u c e r c h i
Ciö c h e p i u le d i s p i a c e ? O r , d o v e e d u n q u e
Questo tuo d e s i d e r i o di p i a c e r l e ? . . . '
'9 cf. <Aminla> II. 5. <Poesie> o.e.
Doch steht T a s s o a n e i n e m K r e u z w e g e c h t e r S p a n n u n g e n — i n s i c h p.601. Übersetzung: <Und wenig
scheint Dir das? / Glaubst Du also? /
selbst. K e i n m a n i e r i s t i s c h e r D i c h t e r I t a l i e n s i m 1 7 . J a h r h u n d e r t , ... Und vielleicht weiß sie es / Aber
erst r e c h t n i c h t M a r i n o , e r l e b t e i n e n ä h n l i c h e n , w a h r h a f t d ä m o n i - sie will nicht, daß andere es zu wis-
sen wissen / Daß sie es weiß; / Nun,
schen Konflikt. S o p a r a d o x es k l i n g e n m a g : n u r T a s s o u n d M i c h e l - wenn Du enthülltes Einverständnis/
angelo s i n d sich i n d i e s e r H i n s i c h t ä h n l i c h ; sie g e h ö r e n in I t a l i e n z u Von ihr suchst, erkennst Du. daß Du
das suchst, / Was am meisten ihr
Jen wenigen <Manieristen> v o n ü b e r z e i t l i c h e m W e r t e . D a n e b e n mißfallt? / Wo also / Ist dein Wunsch
m u ß m a n für I t a l i e n n o c h T i n t o r e t t o u n d M o n t e v e r d i n e n n e n .
zu gefallen?)
409
<Das G r a u e n wird schön>
<Das Suchen nach n e u e n Wegen>, so schreibt Tasso einmal, <bringt
m e h r Tadel ein als Lob.> In jäher Ver- und Besessenheit schreibt er:
<Dichtung ist Verblüffung; die freie P h a n t a s i e b e r a u s c h t sich im
Niegeschehenen; Unwahrheit ist dichterischer als Wahrheit, Ge-
schichte, Intellekt und Vernunft h i n d e r n n u r den Furor poeticus.)
<Das Grauen wird schön.>
Also: das <Widervemünftige> verschmilzt m i t d e m Idea-Begriff.
Damit neigt sich tatsächlich der platonische Idea-Goncetto schon
hinüber, hinüber in das n e u e J a h r h u n d e r t M a r i n o s . D a s steigert
sich bei Tasso. Bald liest man: <Der G e g e n s t a n d des Dichters muß
das Wunderbare sein, u n d zwar n u r das W u n d e r b a r e . ) Wir erin-
nern uns wieder an die fast wörtliche Formel von A n d r e Breton und
vielen anderen. Doch bleibt das W u n d e r b a r e bei Tasso noch Stoff,
bei allen formalen Manierismen, die er verwendet. Bei Marino, im
<säkularisiertem Concetto, soll in erster Linie die b l o ß e Form das
<Wunderbare> erzielen, wie auch i m m e r M a r i n o in <staunenerre-
genden> Mythen herumgesucht hat, u m a u c h stofflichen <Meravi-
gRoso> darzubieten. Diese Bruchstelle bei Tasso g e h ö r t zu den in-
teressantesten Ereignissen der europäischen Literaturgeschichte.
Tasso ist auch und vor allem ex profundis <modern>, mit seiner
Neigung zu <vorgängiger Angst>, zu erschütterter Preisgabe an das
Subjektive, zur Selbstaufgabe im H a l b d u n k e l eines schon dämoni-
schen Bildes der Schönheit. Dazu findet m a n in der Studie Ulrich
Leos viele Beispiele. Zwei davon wollen wir wenigstens zitieren, m
der Hoffnung, daß gerade durch eine n e u e Tasso-Lektüre die
<Moderne>, sofern sie noch Erschütterungen aus seelischen liefen
kennt und anerkennt, einer ihrer großartigsten historischen Legiti-
• A u s <Incertezza nel timore>.
U. L e o o.e. p. 14. Erinnert a n B a u d e - mationen zu begegnen vermöchte. Z u m Angsterlebnis:
laires <Sur le Tasse en prison d" E u -
gene l)elarroix>. Übersetzung: <Ich Io so che, n o n temendo
weiß, daß ich keine Angst h a b e n d /
Non avrei che temere,
Nur G r u n d zur \ n g s t hätte / Soviel
Wert iti e d l e m H e r z e n ich wohl Tanto valor in regio cor comprendo!
berge! / Aber d u r c h m e i n e n Willen
M a per lo mio volere
getrieben / H a b e ich m a n c h m a l
Angst / l ' n d d a n n b e r e u e ich, Angst Mosso, temo talvolta, e poi mi pento
g e h a b t zu h a b e n , und ich fühle / In D ' a v e r t e m u t o ; e sento
der Mitte m e i n e r Angst Trost entste-
h e n . / So stehe ich i m m e r in d e r In mezzo al mio timor nascer conforto;
Mitte zwischen Tod und Leben.» Cosi mezzo mi sto tra vivo e morto. 2 0
Der Mensch, das Symbol geradezu des Problematischen, D e n n ^ e
sich, wie Ebbe und Flut, in ewiger U n r u h e , in einem unbegrei 1
chen Wandlungsprozeß zwischen Geist u n d Natur. E r ist wie
Wasser. Nicht sein N a m e , sein Wesen ist < auf Wasser geschrieben)
(Keats). Und wer treibt dieses ewig bewegte Wasser.
"' Aus M o n d o creato>. U . L e o o.e.
p. .2^8. Übersetzung: «Und wer treibt E chi la spinge avanti,
es (das Wasser) voran. / W a r u m hört
es nie auf u n d hält nie ein? / W e l c h e s Perch'ella m a i cessi e n o n s'arresti?
sind seine G e f ä ß e u n d inneren H ö h - Quai sono i vasi e le spelonche interne,
len / Aus welchen es s t a m m t ? Und
wohin / Treibt es auf ewig so eilig Da cui deriva? E d a quäl loco affretta
seinen Lauf.'- Mai sempre il corso? 21
41O
16. M A N I E R I S T I S C H E
P R O GRAMMATIKER
Lyrik und Essayistik
Wir können allerdings die Kontinuität von <Manierismus> nicht
überzeugend belegen, wenn wir die damaligen Traktatisten nicht
kennenlernen, zumal damals — wie heute — Lyrik und Essayistik
verschwistert waren. Ein Bewunderer Tassos, Camillo Pellegrini,
uns schon bekannt, hatte, in einer älteren Schrift von 1584 (<I1 Ca-
raffa owero del epica Poesia>), zwar Tasso gegen die Attizisten der
<Crusca> verteidigt, aber ebenso die noch platonisierende Auffas-
sung des Concetto. Vierzehn Jahre später veröffentlicht Pellegrini
eine zweite Schrift, die wir schon genannt haben: <Del Concetto
Poetico> (1598), in welcher, wie wir uns erinnern, Marino als Ge-
sprächsleiter auftritt. Drei Jahre nach Tassos Tod ist die Wendung
vollzogen. Die Säkularisierung des Concetto zur sprachlichen Im-
manenz, zum dnneren Sprechen), ist nahezu vollendet. Wir stehen
auf einer Brücke zwischen Tasso und Marino, zwischen einem
noch transzendenten und einem immanenten Manierismus. Ver-
gessen wir nicht, daß diese Schrift um eine Generation älter ist als
die Traktate Graciäns und Tesauros. Sie steht zu beiden im glei-
chen zeitlichen Verhältnis wie etwa Rimbaud zu Apollinaire oder
Eluard. Fassen wir Forschungsergebnisse von Ulrich Leo zusam-
men: <Hier ist ausgerufen die endgültige Befreiung der Dichtung
aus der antik überlieferten Gemeinschaft mit der (attizistischen)
Redekunst, ihr uneingeschränkter Irrationalismus, ihre imma-
nente Autonomie auf dem Gebiete der Form.> Aus dem metaphysi-
schen Idea-Concetto ist ein <innersprachliches> Concetto gewor-
den, genau wie bei Zuccari aus der <Idea> ein <Disegno Interno.
Empfohlen wird jetzt, man solle (beim Lesen oder Betrachten)
bloße Gefühlsein drücke vermeiden, denn, so sagt es schon Camillo
1 ellegrini, <die Ergriffenheit verhindert das Bewundern>. Nur noch
die in artifizieller Weise gegensätzlich gespannte Sentenz (manie-
nstisches Concetto) wird zum Bindemittel des Wunderbaren, nicht
also die logisch <vernünftige> <Disposition> einer inhaltlich kohä-
renten Aussage und erst recht nicht die <Erschütterung> Tassos.222 22
Die Schrift <Concetti Divinissimi>
von Girolamo Gerimberto (Venedig
1562) wird man vergebens nach
«Manierismen» durchsuchen. Con-
cetti bleiben bei ihm kurze Formeln
einer rein rhetorischen Uberzeu-
Das <Seltene verhindern gungstechnik. AJle Versuche, den li-
terarischen Manierismus der Shake-
speare-Zeit gegenüber dem Manie-
e
s das findet sich - allerdings noch mit kritischen Vorbehalten - rismus in der bildenden Kunst, was
die Zeit von 1520 bis 1650 angeht.
Jeder vor Graciän und Tesauro. Der concettistische Manierismus <vor-zu-datieren>. schlagen fehl. Das
r
m Europa durch die bildende Kunst schon verbreitet worden, ist der Grund, warum wir in 'Die
wir erinnern uns an Parmigianinos Selbstbildnis und an die Welt als Labvrinth> zunächst den
Manierismus in der Kunst dargestellt
unsttheorie Zuccaris. Unser Hinweis auf diese Traktatisten-Lite- haben.
r
hat einen anderen historiographischen Sinn: immer wieder
e
n. zu belegen, daß unsere <Moderne> ihre <mittlere> Wurzel im
" anierismus zwischen Renaissance und Barock hat, ihre tiefste vi
aber in den graeco-orientalischen Kulturen der Antike.
ie Schrift, die wir noch erwähnen wollen, ist von Matteo Pere-
Me heißt <Delle Acutezze, che altrimenti Spiriti, Vivezze e
Coneetti si appellano>. Sie erschien zu Bologna und Genua im
wäre 1639, a\so m n d z e h n J a h r e
vor den berühmteren Traktaten
cians und Tesauros. Dieser Text löst für uns, ähnlich wie für 41 1
Archäologen, w e n n sie auf <archaische> u n d nicht auf <klassische>
Tempelreste stoßen, Entdecker-Freude aus. Wir wollen daraus,
da der Leser sich in dieser Begriffswelt n u n leichter zurechtfindet,
nur literarhistorische Concetti-<Fragmente> zitieren: L o b der <de-
formitä> (p.go), <gusto per la novitä>, A b n e i g u n g gegen das Mas-
senurteil (<guidicio populare>) (p. 12). Es gibt, wie schon zitiert,
sieben Quellen der acutezze: <Das Unglaubliche, das Zweideu-
tige, das Gegensätzliche, die dunkle M e t a p h e r , die Anspielung,
das Scharfsinnige, den Sophismus.> M a n m u ß das <Seltene> su-
chen, das Unerwartete. M a n m u ß : ein Konzert von Dissonanzen
schaffen. Die anormalen F i g u r e n der Rhetorik verhelfen uns zu
einem solchen <raro entimematico legamento>, zu einer solchen
antinaturalistischen Vereinigung des sich W i d e r s p r e c h e n d e n . Ge-
lobt wird das <nicht-wahre Wahrscheinliche^ das <künstliche Bild
des W a h r e m (p.113). Künstliche Vereinheitlichungen ergeben
wirkungsvolle <Deformationen> (p. 115). <Dinge soll m a n sagen,
die nicht n u r in den Worten liegem (p. 1 ig). E s gibt <maniere> des
Findens, durch welche <die Redekunst künstlich verändert wird>
(p. 120). Zu beachten ist <virtü entimematica>, die Kunst des En-
thymem.
:79 /*>¥*
c^u^ $Q <V/,/ ^ s ^ , , ^
Im Gegensatz zu seinen a n d e r e n
Schriften, so z.B. in Deutschland <E1
Politico> von Lohenstein 1672.
• H a n d o r a k e h von Sauter 1687. d a n n
1711, 1715, 1723 usw. bis 1838.
S c h o p e n h a u e r s Übersetzung 1862.
/.ahlreiche neue Auflagen bis h e u t e .
«Griticon 1708, 1710, 1721. von
Casp. Gottschling aus d e m französi-
schen Text. 1957 die hervorragende
Übersetzung von H.Studniczka. die
erste deutsche Übersetzung aus der
spanischen Originalausgabe (Ro-
wohlts Klassiker Bd. 2, H a m b u r g
1957). Zur Literatur: Fritz Schalk,
B.Graciän u n d das E n d e des Siglo
d e oro. Zeitschrift f. Rom. Forsch.
1940/41. B.Croce, I Trattatisti Ita-
liani del Coticettismo. In: Problem) Nachdenken angeregt hat u n d d a ß er zu e i n e m Katechismus des
di Estetica. o.e. p.309ff.: M e n e n d e z Manierismus geworden ist, w e n n er auch seltsamerweise, soweit
Pelavo, o.e. II. 555ff. Karl Borinski.
B.Graciän u n d die Hofliteratur in
wir sehen, in extenso noch nie übersetzt w o r d e n ist. 25 Graciän hat
D e u t s c h l a n d . Halle 1894. A n d r e vor allem durch seine anderen Bücher E u r o p a erobert. Er gilt
Rouveyre, Pages caracteristiques de
B. G r a c i ä n . Paris 1925. Z u Nietzsche
heute als der Vorläufer der e p i g r a m m a t i s c h e n u n d psychologi-
u. G r a c i ä n a u c h E. Eckertz. Nietz- schen Moralistik der La Rochefoucauld, L a Bruyere, Galiani, Jou-
sche als Künstler. M ü n c h e n 1910.
bert, Rivarol, aber auch Schopenhauers u n d Nietzsches. F ü r den
A E G . Bell. B. Graciän. Oxford
1921. Karl Vossler, Einleitung zum französischen Literaturhistoriker A n d r e Rouveyre ist Nietzsche zu
<Handorakel>. Stuttgart 1951. Paul seinem aphoristischen Stil von Graciän angeregt worden. Dieser
H a z a r d . Die Krise des europäischen
Geistes (1 ti8o— 1715). Hamburg <Homo Europeus> (Baldensperger) sei deswegen der <Vater der
1939. F ü r die U m w a n d l u n g , welche Moralisten). Borinski n e n n t ihn d e n <Vater der m o d e r n e n Bil-
die attizistische Rhetorik durch Gra-
ciän erfährt, vor allem E . R . Curtius dung).
o.e. p. 2 9 5 f r Geistesgeschichtlich Mit den kirchlichen Behörden hatte dieser v o r n e h m e , manch-
wichtige E r g ä n z u n g e n dazu in ei-
n e m n e u e n , a n r e g e n d e n Werk von mal blasierte Jesuit immer wieder Schwierigkeiten, ähnlich wie
Miguel Batllori. Graciän y el Ba- Göngora. Beide verhielten sich heterodox, schon deswegen wäre es
roeco. R o m 1958, p. 101 ff. Nach
Batllori hat G r a c i ä n die schon <ma-
falsch, Graciän oder Göngora als <barock> zu bezeichnen. Graciän
nieristische- Rhetorik der <Ratio hat ein modernes L e h r b u c h des M a n i e r i s m u s geschrieben. Darin
Studiorum» der Jesuiten von 1599
noch stärker <barorkisiert>. Die <Ra-
bietet er uns, außer einer Fülle von n e u e n konzisen Formeln - <p a "
tio S t u d i o r u m ) bleibt noch der radojas monstruos, agudisimos sofismas, crisis irrisorias, equivo-
N a c h a h m u n g s t h e o r i e treu. Graciän
cos, agudeza enigmatica, misteriosas alusiones, correspondencia
ersetzt sie d u r c h <agudo>. <ingenioso>
u n d «concepU». Ein Vorläufer Gra- nascosta> und <artificiosa discordancia> - a u c h ein P a n t h e o n ma-
ciäns ist der S p a n i e r Ximenes Patön. nieristischer Autoren. Als Vorbilder hat er a m häufigsten zitiert.
Sein Werk (1621) heißt bezeichnen-
derweise: <Mercurius Trismegistus>. Martial, Seneca, Göngora, M a r i n o , Guarini, Quevedo, J u a n Ma-
Auch G r a c i ä n erfuhr d e n Einfluß nuel, Mateo Alemän, Lope de Vega, Garcilaso, Luis d e Leon. Au-
des N e u p l a t o n i s m u s .
ß e r d e m hat er uns in seinen Z u s a m m e n h ä n g e n wieder auf den
Stildualismus hingewiesen, auf d e n attizistischen u n d den a s i a t i -
schen Stil, und sie zur G r u n d l a g e einer <modernen> Bildung ge-
macht. Graciän weiß a u c h d e n Wert des <lakonischen>, matürli-
chen> Stils zu schätzen. Seine Vorliebe gilt jedoch eindeutig dem
<asiato>, dem <künstlichen> Stil, d e m <Extrem> der <künstlichen
Schönheit> des <conceptuar>. D i e <Novitä> des M o d e r n e n wird also
mit ganz bestimmten Traditionen, die in der europäischen Kultur
nachwirken, in V e r b i n d u n g g e b r a c h t . <Der Asianismus ist die erste
Form des europäischen M a n i e r i s i n u s , der Attizismus die des euro-
päischen Klassizismus.> W i r berücksichtigen aber, d a ß der M a n i e -
rismus des 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t s im literarischen Asianismus
der Antike bestimmte Vorbilder fand, d a ß er in entscheidender
Weise von b e s t i m m t e n <Asianismen> angeregt w u r d e , insbeson-
dere von semitischen u n d a u c h arabischen Esoterismen, u n d d a ß
er unter dem m ä c h t i g e n D r u c k solcher I d e e n s t r ö m e das F o r m e n -
erbe der Antike in e n t s c h e i d e n d e r Weise veränderte. D a m i t w u r d e
der literarische M a n i e r i s m u s zwischen Renaissance u n d H o c h -
barock zum Vorläufer der zeitgenössischen <modernen> D i c h t u n g .
<Nichts ist poetischen, schreibt Novalis, <als die Ü b e r g ä n g e u n d
heterogenen M i s c h u n g e n . ) <Es k o m m t alles auf die Weise an, auf
die künstlerische W ä h l u n g s - u n d Verbindungskunst.>
Magazin
von <Denk-Manierismen>
Ober französische Traktatisten der Preziosität wird m a n bei R e n e
Brav Material finden, d o c h stellt die <Preciosite> n u r ein E l e m e n t
des literarischen M a n i e r i s m u s dar, n ä m l i c h das E l e m e n t der S u b - Athanasius Kircher
tilität, der gesuchten preziösen W e n d u n g . Concettismus gibt d e m (1601-1680)
französischen Esprit eine n e u e literarisch galante M e t h o d e , dieje-
nige der eleganten P o i n t e . F r ü h schon w e r d e n , wie Bray überzeu-
gend nachweist, in F r a n k r e i c h spanischer u n d italienischer Extre-
mismus durch klassizistische Vorstellungen gebändigt. D e r con-
cettistische Furore dämpft sich zur verspielten P o i n t e n k u n s t der
Salons, der H i r t e n g e d i c h t e u n d H i r t e n r o m a n e , bis er in der klassi-
schen Epoche des <Grand Siecle> w i e d e r S e n t e n z e n k u n s t i m attizi-
stischen Sinne wird. E i n e n T h e o r e t i k e r des d a m a l i g e n M a n i e r i s -
mus vom R a n g e Tesauros o d e r G r a c i ä n s h a t Frankreich im
26
1". Jahrhundert nicht gehabt. 2 6 G r ö ß e r e Tiefe wird m a n in der my- Nur einige Hinweise: P. Bou-
hours, La Maniere de bien I'enser.
stischen religiösen L i t e r a t u r des vorklassischen Frankreich finden. 1668. und Pensees ingenieuses.
Für England sind in erster L i n i e Joseph B e a u m o n t zu n e n n e n 1688. R. Francois. Essay des Mer-
veilles. 16^0,. Jean de Bussieres. Ca-
(1616-1699), vor allem seine <Psychodia Platonica> (1642), Bacons binetdes Muses. 1619. und Les Des-
<Essays> (1597 u n d 1625) u n d <De Sapientia Veterum> (1609); fer- criptions poetiques. 1649. Le
\lovne. Devises heroiques et mora-
ner William Cornwallis, <Essaies of C e r t a i n Paradoxes> (1616), les. 164g. und Entretiens poetiques.
und Robert J o h n s o n , <Essaies> (1601). 1665. Desmarets, Les Visionnaires.
Desaccords o.e. Vgl. auch Jean
Für die E r n e u e r u n g kabbalistischer Traditionen in diesen Zu- Rousset o.e.
sammenhängen w a r weit ü b e r D e u t s c h l a n d h i n a u s das seltsame
Werk P. Athanasius Kirchers zu e i n e m Ereignis geworden. Sein
Hauptwerk: <Oedipus Aegyptiacus>, erschien zwar erst 1652 bis
1655 i n Rom. g r o ß e Teile w a r e n a b e r vorher b e k a n n t . Im zweiten
Band: <Hieroglyphisches Gymnasium>, erfährt m a n alles Wissens-
werte über orientalische <Mysterien>, ü b e r eine spezifische m a n i e -
ristische Symbolik, ü b e r kabbalistische Schrift- u n d G e d a n k e n -
künste. <Die mystagogische Sphinx> (Band III) hingegen enthält
alle <dunklen> A u s s p r ü c h e d e r <Weisen>, des Zoroaster, Orpheus,
Tnsmegistos, P y t h a g o r a s u s w . D i e Kabbala, die Religionsge- 4*5
schichte der Hebräer und Araber werden erläutert, die <Weltsy-
steme> der Chaldäer, Syrer, Ägypter ausgebreitet. Im vierten Band
entfaltet sich das <hieroglyphische Theater>, alle Formelnkünste
der Geheimwissenschaften, der Inschriften, Amulette, Sphingen,
der magischen Beherrschungs- und Heilkünste, der Wundergär-
ten, <asianischer> Kulturgeschichte. Was Graciän uns für die
schwierige Literaturtheorie des Manierismus in formaler Hinsicht
gibt, bietet uns sein jesuitischer Ordensbruder Kircher in bezug auf
manieristische Denkformen. Eine alte und immer neue Aus-
gleichssituation von <Romania> und <Germania> in Europa ergibt
sich: die <Romania> entwickelt stärker die formalen Künste des
Manierismus, die <Germania> mehr die inhaltlichen Bezüge. Ro-
manischer Manierismus bildet vor allem die Künstlichkeit der
Form aus, germanischer Manierismus die Künstlichkeit der In-
halte. Romanischer Manierismus mündet in Sprachgeometrie, ger-
manischer in ekstatischen Expressionismus, in Traum- und Phan-
tasielandschaften. Kein Wunder, daß Kircher, wie schon erwähnt,
einen <Iter extaticum> schrieb, eine ebenso <kombinatorische> wie
<expressionistische> Weltraumfahrt. In Amsterdam erschien 1665
Kirchers <Mundus subterraneus>. Gesammelt werden darin Phä-
nomene eines mythologischen Untergrunds. Berggeister, Unge-
heuer, Riesen, apokalyptische Tiere, Sternbilder-Symbole, alles
Schattenhafte, Nächtliche. Seltsame Mythen! Der abenteuerliche
Geist Kirchers dringt bis China vor. Dieser unermüdliche manieri-
stische Enzyklopädist des 17. Jahrhunderts schrieb eine <Chinae
monumenta> (1667), und es ist sicher kein Zufall, daß er eine M a -
thematische Orgel> entwirft (1668), die in der Lage ist, alle Gegen-
sätze zu binden, so wie Arcimboldi mit einem ersten Farbenklavier
Farben mit Musik in <Korrespondenz> bringen wollte. Kirchers
Werk hatte damals Weltruf. Er hat für uns <Archontologien> (Ne-
bentitel seines <Turris Babeb von 1679), manieristische <Denkfor-
men> gesammelt, ähnlich wie Graciän, in unübertrefflich scharf-
sinniger Weise, die damaligen formalen Manierismen gesammelt
hat. Wie Graciän wurde Kircher verdächtigt. Er bewegte sich in
heterodoxen Grenzsituationen, doch auch er war ein Meister der
<ehrlichen Verstellung>. Seine Werke wurden von Päpsten und
Kaisern finanziert. Noch ließ man in exklusiven Gesellschaftskrei-
Der Deutschen
<Poetischer Trichtern
Aber auch die deutsche <Essayistik> des 17. J a h r h u n d e r t s bietet
manche Beispiele für formale M a n i e r i s m e n . Sie sind allerdings aus
der Romaniguübernommen w o r d e n . J o h a n n Christoph M ä n n l i n g
haben wir bereits gewürdigt. Z u n e n n e n sind n o c h Schotteis «deut-
sche Sprachkunst> (1641) und P h i l i p p von Zesens <Norddeutscher
Helikom (1651). Dort erfahren wir z.B., d a ß das <Buchstabenspiel>
<ein Spiel mit den D i n g e n selbst> sei, da <Wort u n d D i n g in magi-
schem Bezug stehen>. Z e s e n b e z e u g t ausdrücklich (in <Rosamund>
von 1651), die <Kabbala> sei die Quelle für manieristische Sprach-
künste. Das H e b r ä i s c h e ist — wie für Kircher u. a. - die elementare
<Natursprache>. Dichter sind —für Zesen— alchimistische Scheide-
Künstler. Die deutsche S p r a c h e gilt als m i t der hebräischen zutiefst
verwandt. - In f o r m e n k u n d l i c h e r H i n s i c h t ist Schotteis «Ausführ-
liche Arbeit von der d e u t s c h e n Hauptsprache> für die Literatur
Deutschlands in dieser Zeit als eine <Sumrna philologica> zu be-
trachten. Auch M ä n n l i n g s <Expediter Redner> (1718) ist eine
Fundgrube. Die G r a m m a t i k wird zu einer m a g i s c h e n Logos-
Lehre. — Kronzeugen im d e u t s c h e n Sprachbereich sind für uns je-
doch die literarischen B e z i e h u n g e n von C a s p e r von Lohenstein
und diejenigen des P r ä s i d e n t e n des Breslauer Ratskollegiums,
Hofmann von Llofmannswaldau, sowie, vor allem, die ästhetischen
Traktate von Harsdörffer. L o h e n s t e i n hat, wie schon berichtet, ,
Graciäns <Politicon> (167g) übersetzt, H o f m a n n s w a l d a u M a n i e r i -
sten der Romania. I n e i n e m Vorwort dazu erklärt er: <Kein Volk in
Europa (hat) so zeitlich die P o e s i e zur A n n e h m l i c h k e i t u n d in An-
sehen gebracht wie die Welschen.> Sein Idol ist M a r i n o . D o c h ist
für das Deutschland dieser Z e i t der unerschöpfliche Traktatist des
Manierismus: G e o r g Philipp Harsdörffer (1607—1658) mit seinem
berüchtigten, aber leider viel z u w e n i g g e l e s e n e n u n d in extenso
noch immer nicht r i e u g e d r u c k t e n : <Poetischen Trichter, die Teut-
sche Dicht- u n d R e i m k u n s t o h n e Behuf d e r lateinischen Sprache
in sechs Stunden einzugießen> (drei Teile: 1647, 4 8 , 55). Graciäns
Traktat erschien (I.Teil) 1642; Tesauros <Aristotelisches Fernrohr>
im Jahre 1654. Harsdörffers W e r k steht zeitlich also g e n a u zwi-
schen den Werken seiner s p a n i s c h e n u n d italienischen Kollegen,
und das ist— a u c h w e n n wir s c h o n i n der tiefsten D ä m m e r u n g des
damaligen europäischen M a n i e r i s m u s stehen — für Deutschland,
für Nürnberg, kein schlechter T e r m i n .
<Deutscher Gegend
lieblicher Saft>
TDer Grund> der S i n n b i l d e r ist für Harsdörffer ein <Gemähl oder
eine verblümte B e s c h r e i b u n g ) . <Die E r f i n d u n g m u ß aus e i n e m
reinen Hirne fließen>. W i r wollen hier n u r einige bezeichnende
Formeln von Harsdörffer s a m m e l n , sozusagen P r o g r a m m p u n k t e
seiner Ästhetik. Diese müssen d a n n im Z u s a m m e n h a n g mit der
bisher dargestellten Traktatenliteratur beurteilt w e r d e n . Harsdörf-
fers <Poetischer Trichter> steht in einer geistesgeschichtlichen Be-
ziehung zu den Traktaten Graciäns und Tesauros. Seinem Werk
fehlt jedoch die geistige S p a n n u n g Graciäns u n d die universelle
Bildung Tesauros. Es hat weltmännische Z ü g e , aber einen provin-
ziellen Grundton. M a n könnte hier von e i n e m deutschbürger-
lichen, häuslichen, geradezu <innigen> M a n i e r i s m u s sprechen für
<teutsch-gierige> Leser.
Dichtung entsteht zunächst aus <poetischen Erfindungen), <von
den Worten her>. So könne m a n aus <Reymund> <reines Munds>
oder <Reyens Mund> machen. Die meisten u n s n u n bekannten
formalen M a n i e r i s m e n w e r d e n empfohlen, so Paronomasie,
Buchstabentausch (<Letterwechsel>), u n d es lasse sich dies <auf
mancherley Weise machem, so z.B. k ö n n e m a n , u m Namens-
A n a g r a m m e zu finden, <die Buchstaben des N a m e n s auf kleine
Hölzlein schreiben u n d so lange verrücken, bis eine halbe oder
ganze M e i n u n g herauskommt). So wird d u r c h Letterwechsel aus
<Die Fruchtbringende Gesellschaft) zu N ü r n b e r g , der unser hoch-
achtbarer Harsdörffer angehörte, <Deutscher G e g e n d lieblicher
Saft>. Solche <Wortgrifflein> oder <Worträthsel> in <Lustgedichten>
aus Buchstaben- und Z a h l e n - K o m b i n a t i o n e n h a b e n es mit (geo-
metrischen Meß-Künsten> zu t u n . Sie sind eindeutig kabbali-
stischer Herkunft.
In der <zehnten Stunde) der Trichter-Ästhetik Harsdörffers wird
für die poetische <Drexelbank> die M e t a p h e r verherrlicht, <aus wel-
cher viel hellschemende G e d a n k e n herfließen> (zu <hellschemen>:
helles, schemenhelles Schattenbild). <Das R a t s e h ist eben <dunkles
Gleichnis). Es führt z u m <Sinnspiel>. Dazu g e h ö r e n auch <Gesichte
und Traumgediehte>, also P h a n t a s i a i , M e r k m a l e der <Vernunft-
Kunst>, die <büffelhirniger P ö b e h , weil es sich u m <tiefsinnige P o e -
terey> handelt, nicht versteht. <Poeterey> u n d <Redkunst> sind <mit-
einander verbrüdert). <Seltene W o r t e n w e r d e n gelobt. P o e t e n sind
<Aenigmatores>. Das <Gleichnis> ist die <Königin> aller <Tropi>, be-
sonders wenn es sich u m eine <Gegenhaltung gleichständiger Sa-
chen) handelt (concordia discors). Seneca wird als <Meister in den
Gleichnissen) gelobt.
Harsdörffer bietet ein g a n z e s System von m e t a p h o r i s c h e r Künst-
lichkeit in alphabetischer Liste. N u r ein Beispiel: Metaphernfolge
zum «Dichten, Gottfried Benn v o r w e g n e h m e n d : <Mit seltner Re-
densart auch seltne S a c h e n schreiben. Es findet, bildet, weitet,
mahlet, stellet, setzet der P o e t , was nie gewesen ist, zu fassen seine
Lehre, dahin er abzielt. In H y p o c r e n e - F l u ß h a t er sich voll gezecht,
er ist der M u s e n Freund, die i h n a u c h wider R e c h t gefragt, o h n '
Morgengab.> Hier hört der b ü r g e r l i c h - h ä u s l i c h e M a n i e r i s m u s der
beiden ersten Teile des <Trichters> auf. Harsdörffer n ä h e r t sich n u n
seinen besten e u r o p ä i s c h e n Z e i t g e n o s s e n . U n d schließlich folgt,
am Ende des <Trichters>, eine k l e i n e A u s w a h l von <Emblemen>, die Totenmaske von Gottfried Beim
Harsdörffer, die der d e u t s c h e M a n i e r i s m u s besonders liebte. (Foto: Horst Binder)
425
VIERTER TEIL
Der Mensch
als künstlerische
Mktion
18. M U S I Z I S M U S
Musik:
<Aus sich selbst Erfinderin)
"T IT 7" er vor allem Freiheit sucht, wird bald extreme Freiheit
1 / 1 / wünschen, aber er wird sich allmählich, je mehr seine
V V Freiheitsphantasie sich entfesselt, nach dem Zauber stren-
ger, ja geradezu übermenschlicher, unmenschlicher Ordnungen
sehnen. Diese Mischung von hitzigem Übertreiben und eiskalter
Reduzierung ist ein Grundgesetz manieristischer Musik. Aber es
führt uns die Begegnung mit manieristischer Musik, zu der wir uns
jetzt anschicken, um eine weitere Stufe hinaus aus den Zusam-
menhängen der expressiven Wortgeometrie, die wir als ein Kenn-
zeichen manieristischer Lyrik definiert haben. In der poetischen
Vernunft-Kunst aller Zeiten tritt uns ein artifizielles Zwischenreich
entgegen. Zwischen Natur und Geist bewegt sich, in dieser Wortal-
chimie, der Mensch oft nur noch wie ein Schatten. Gelegentlich
verschwindet er vollends in diesen dann nicht selten mystischen,
einzigartigen Wort-Figurationen. Diese Wortreigen glitzern dann
wie Sternbilder in einem Kosmos ohne Mensch. In der Musik mag
die Freiheit der Phantasie größer erscheinen, sie hat es aber mit der
Sinnlichkeit des Gehörs zu tun, sie muß sich zwingen, der Gefahr
bloß tönender Abstrakta auszuweichen, wenigstens in gesellschaft-
lich noch homogenen Situationen. Solange Menschen Tonkompo-
sitionen ihrer selbst noch so problematischen Subjektivität sinnvoll
anpassen müssen, solange Kombinationen von Tönen das
Menschliche zu spiegeln haben, und zwar so, daß es überhaupt 427
noch erkennbar werde, behält die Musik also einen elementaren
anthropogenen Sinn.
Mit einer Darstellung über <manieristische> Musik nähern wir
uns dem Kernraum des Labyrinths, s e i n e m Schöpfer, d e m Ur-Er-
finder, dem dngenieur damne> Daidalos, also e i n e m Menschen
wenn auch einem mythischen. Dieser gleichfalls ebenso histori-
sche wie phänomenologische Exkurs über d e n <Musizismus> der
manieristisehen Welt leitet über, wie bereits angedeutet, zum
Menschen ah fiktive Figur auf der manieristischen B ü h n e und im
manieristischen R o m a n . Im Schlußteil w e r d e n wir d a n n nur <äs-
thetische> Bezüge verlassen: der l e b e n d e , a t m e n d e Mensch, wir
wiederholen es, soll d a n n als <Thema> des M a n i e r i s m u s in einer
bestimmten <Spiegelkammer> sichtbar w e r d e n , die wir hier noch
nicht näher kennzeichnen wollen. Auch die Labyrinthik hat, wir
sagten es, Methode. H ö h l e n k u n d e o h n e Systematik w ü r d e den im-
m e r strapazierten Besucher solcher <magischen> Unterwelten un-
nötig überfordern. Jetzt stehen wir auf e i n e m n e u e n breiten Pfad.
Die unterirdischen Landschaften, die sich u n s jetzt erschließen,
werden uns i m m e r vertrauter werden, w e n n wir a u c h auf manche
Überraschung gefaßt sein müssen.
Die Musik lehrt den Dichter zaubern u n d verzaubern. Das ge-
hört schon z u m ästhetischen Credo M a r i n o s . Von der Musik, so
legt er im <Adone> dar, dernt m a n Akzent u n d Wort u n d Auflocke-
r u n g der Fabeb. <Ohne sie bleibt das Concetto inhaltsleer, bar der
Anmut und arm an Gefühl.> Musik ist die höchste der Künste, sie
ist <aus sich selbst Erfinderin>. Sie ist die Zwillingsschwester der
Poesie. Die Dichtung erhält d u r c h sie <Fug u n d Maß>. Gute Ge-
dichte sind Verse von musikalischer M a g i e . M u s i k h a t einen v e r -
zaubernden und magischen Sinn>, u n d sicher sind die besten Verse
Marinos diejenigen, die, u n a b h ä n g i g von i h r e m Inhalt, durch ih-
ren Klang m e h r <Musik> sein wollen als <Poesie>. F ü r Richard Cra-
shaw, den marinistischen <Metaphysical> E n g l a n d s , ist das ganze
Universum Musik (<AU things that a r e . . . are m u s i c a b ) . Es ist dies
so gemeint: alles Klingende, M u s i k u n d Sprache, ist expressiv, es
gibt Affekte wieder, es spiegelt, nicht etwa n u r in Melodie und Har-
monie, sondern schon als reines T o n - P h ä n o m e n , akustisch Stim-
mungen, Träume, Leidenschaften, Schmerz u n d Freude der Men-
schen, und gerade dies wird damals <entdeckt>: die Expressivität
des Klanges. <A11 things are m u s i c a b weist hier also nicht im pytha-
goreischen Sinne aufklingende S p h ä r e n h a r m o n i e .
Die Idee der Klang-Poesie aus d e m Geiste der M u s i k hängt mit
der Umwälzung zusammen, die sich —wie diejenige im Rereich der
Kunst —in der Musik des 16. J a h r h u n d e r t s vollzog, a u c h w i e d e r v o n
Florenz aus. Diese Verschwisterung von Wort u n d Klang im Sinne
Marinos hat den lyrischen <Musicisme> angeregt, der von Baude-
laire über Rimbaud u n d M a l l a r m e bis Joyce die <abstrakte>, <evo-
kative> Dichtung entstehen ließ, diejenige Poesie also, die ohne
Rücksicht auf Mitteilung und Inhalt d u r c h d e n bloßen Sprach-
klang im Leser besondere Bewußtseinszustände erzeugen will.
<La Musique souvent m e prend c o m m e u n e mer!> So lesen wir in
Baudelaires Gedicht <La Musique>, aber sie, die Musik, ist dann
auch wie eine <ruhige Fläche>, wie <ein großer Spiegel der Ver-
zweiflung^ W i e Crashaw hört R i m b a u d überall Musik. Verlaine
verlangt: <Musique avant toute chose>, u n d M a l l a r m e bekennt mit
einem lakonischen Satz: <Ich m a c h e Musik.> E b e n s o kategorisch
stellt einer der scharfsinnigsten D e u t e r der n e u e s t e n deutschen Ly-
rik, Hans E g o n Holthusen, fest: J e d e s Gedicht (zielt) auf ein freies,
zweckloses, motivisch nicht m e h r g e b u n d e n e s Figurenspiel der
Sprache, ist d e r lyrische A u s d r u c k von allen poetischen Kunstfor-
raen, am engsten b e n a c h b a r t d e m reinen Form-Sein der Musik.>
James Joyce h a t m i t allen e r d e n k l i c h e n musikalischen Mitteln
sprachlich <komponiert>. I m Kapitel XI des <Ulysses> wird, in d e r
Höhle der Sirenen, eine F u g e per canonem mit sprachlichen L a u -
ten reproduziert. Sie e n t h ä l t <Triller, Staccati, Glissandi, Martel-
lati, Portamenti, Pizzicato.
Halten wir H o l t h u s e n s A u s d r u c k fest: D i c h t u n g als motivisch
«nicht mehr g e b u n d e n e s F i g u r e n s p i e l d e r r e i n e n Musik>. Analog
hierzu könnte m a n a u c h die Revolution des musikalischen M a n i e -
rismus als ein motivisch nicht m e h r g e b u n d e n e s Figurenspiel d e r
reinen Poesie b e z e i c h n e n . Sie wird a m stärksten sichtbar in d e r
Madrigal-Kunst, d e r d a m a l i g e n manieristischen musikalischen
Kunstform, die echtem <irregulärem> A u s d r u c k s z w a n g gehorchte.
Madrigalistik
Das poetische u n d d a s m u s i k a l i s c h e M a d r i g a l sind concettisüsch.
Bleiben wir zunächst bei d e r poetischen Form. U m 1500 findet
man in Italien erste M a d r i g a l - G e d i c h t e . 1 Sie w e r d e n aus zwei bis 1
Der Ursprung des Namens ist
unklar. <Mandriale> zu onandriai
drei Terzetten von elfsilbigen Versen gebildet. D i e R e i m o r d n u n g (Herde) stellt Vossler in Frage. Viel-
ist variabel. D i e d e h n b a r e F o r m wird i m m e r freier. I m 16. u n d leicht aus verballhornt •materiale>.
17. Jahrhundert gehört M a d r i g a l - D i c h t u n g zur M o d e des m a n i e r i - d.h. als Materie zu musikalischen
Figuratioiien! cf. Karl Vossler. Die
stischen Zeitalters — wie das lyrische Concetto, wie die damalige Dichtungsformen der Romanen.
manieristische M a d r i g a l - M u s i k , die n u n alle E l e m e n t e d e r Stuttgart 1951, p. 207 ff.
menschlichen P h a n t a s i e zu v e r e i n e n sucht: v o m E r h a b e n e n bis
zum Grotesken, von der p h a n t a s t i s c h e n A r a b e s k e bis z u m surrea-
len Traumbild, v o n d e r g a u k l e r i s c h e n Tier- u n d M e n s c h e n s t i m -
men-Imitation bis zur m y s t i s c h e n <Incantatio>, u n d all dies findet
man u. a. in W e r k e n Ravels u n d Strawinskys wieder." Lyrische und 2
cf. Maurice Ravel. Histoires Natu-
musikalische M a d r i g a l - K u n s t sind concertistisch, also in erster Li- relles (1906). und Igor Strawinsky,
LeChant du Rossignol (1914).
nie virtuose Kombinatorik, artistische Vernunft-Kunst. Musikali-
sches und lyrisches M a d r i g a l g e h ö r e n z u r manieristischen Kunst
des gewollt Irregulären, d . h . d e s Labyrinthischen. Das h a t m a n
schon im 16. J a h r h u n d e r t e r k a n n t . D a z u sagt Vossler das b e m e r -
kenswerte Wort: <Man darf d a s M a d r i g a l geradezu als den leibhaf-
tigen Übergang von d e r s t r o p h i s c h e n zur völlig freien Dichtungs-
form bezeichnen.) Leibhaftig! M a n verzeihe das Wortspiel. Musi-
kalische M a d r i g a l - K u n s t ist, w a s o r n a m e n t a l e Verspieltheit u n d
dämonische P h a n t a s t i k a n g e h t , f ü r w a h r Kunst des Leibhaftigen.
Diese Kunst des lyrisch-musikalischen <Figurenspiels> fällt zeit-
lich zusammen m i t d e m florentinischen F r ü h m a n i e r i s m u s in der
Malerei, mit d e m Ü b e r g a n g v o n d e r klassischen Rhetorik zur m a -
nieristischen P a r a - R h e t o r i k in der D i c h t u n g Tassos. E i n e r der ver-
wegensten M a d r i g a l - K o m p o n i s t e n , D o n Carlo Gesualdo, Fürst
von Venosa (1560—1614), ist ein F r e u n d Tassos. Robert H a a s
rühmt seinen «unerhört h i n r e i ß e n d e n Klangzauber, die Affektge-
walt und Bildhaftigkeit in s e i n e n genial-bizarren Werken>. Im
Werke des drei J a h r e n a c h P o n t o r m o s Tod g e b o r e n e n L u c a M a -
renzio ( 1 5 6 0 - 1 5 9 9 ) findet m a n e i n e n weiteren H ö h e p u n k t des
madrigalistischen M a n i e r i s m u s . W i e G ö n g o r a für die Dichtung, so
wird er <der süße Schwan> d e r M u s i k g e n a n n t . D i e Struktur des
Madrigals wird in F r a g m e n t e aufgesplittert u n d durch n e u e
Tonfigurationen w i e d e r z u s a m m e n g e s e t z t , o h n e erkennbaren
Mittelpunkt, in s c h w e b e n d e r , v e r s c h w e b e n d e r Affekt-Spiegelung.
Kühne Akkorde u n d v e r w e g e n e M o d u l a t i o n e n klingen erstaunlich
429
<modern>. Die neue Farbchromatik Pontormos ähnelt der Ton-
chromatik Marenzios. Beide gleichen sich auch als <saturnische>
Typen. War Pontormo einer der ersten <peintres maudits>, so Ma-
renzio einer der ersten <musiciens maudits>.
Der esoterische Madrigal-Kult entstand in Italien also zur Zeit
der Pontormo, Rosso Fiorentino, Parmigianino und Beccafumi,
und er entwickelt sich bald zu einer hochartifiziellen <musica reser-
vata>. Wenn Marino sagt, es seien Musik und Poesie Zwillings-
\ schwestern, so meint er madrigalistische Musik und concettistische
Poesie, manieristische Kompositionen und manieristische Dich-
tungen, und diese Beziehung wiederholt sich im 20. Jahrhundert
von Strawinsky bis zu seinen Epigonen. Auch damals standen sich
<stylus antiquus> und <stylus modernus) gegenüber. <Musica an-
tica> und <musica moderna> bekämpfen sich. 3 Der <stile concitato>
5
Vincenzo Galilei schrieb 1581 ei-
nen Traktat (Dialogo della musica
Urtica e tnoderna>. cf. auch: A.Ein- (aufreizender Stil) eroberte sich mit <Capricci stravaganti> und
stein, Augenmusik im Madrigal. mit <Consonanze stravaganti> die Herzen der jungen Generation.
Zeitschrift für Int. Musikgesch. XIV',
191 i-191 ^, und Th. Kroyer, Die An- Dissonante Melodiensprünge, verwegene Chromatik, kühne
fange der Chromatik im italieni- Dissonanzen, willkürliche Instrumentierungseffekte, Synkopen-
schen Madrigal d. 16. Jahrhunderts.
1902.
Rhythmik, verminderte Tonschritte und gesuchte querständige
Wendungen erregen an allen Fürstenhöfen Europas Aufsehen.
Musica Poetica>
Einer der Komponisten, die zur sogenannten <Accademia Came-
rata>, dem Kreis um Giovanni de'Bardi in Florenz, gehörten, Giu-
lio Caccini, schreibt <Nuove musiche> (1601). Der Erzmarinist
Chiabrera liefert ihm dazu lyrische Texte. Caccini erklärt im Vor-
wort zu diesen Kompositionen, er habe dediglich die Concetti der
| Sprache nachahmen wollen>. Diese <buona maniera> <diene vor al-
lem dem Geist des Concetto>. Musik ahmt die Sprache nach und
umgekehrt. Wieder das typische Prinzip der Reversibilität! Zeitge-
nossen berichten, daß all dies natürlich mit großem <stupore> erlebt
wurde, und aus der Schule Bardis kommen etwas später dann
schon die ersten höchst sur-realen Theatermaschinen, auch sie
Meraviglia-Instrumente. Marinos <Adone> machte Furore. Teile
daraus gaben zahlreichen Melodramen Nahrung.
Auch eine bestimmte Art des Generalbasses, der <Basso segu-
ente>, von Lodovico Grossi da Viadana um 1596 in Rom zum ersten
Mal experimentiert, gehört zum <novo modo> des revolutionären
Stils. Darin bilden die Gesangstimme und der Instrumentalbaß be-
ständige Konsonanzen und <motettisch-reguläre Dissonanzen>.
Auch dadurch wird eine Psychologisierung der Musik und eine
Steigerung dichterischer Affektgehalte erzielt. Es ergibt sich rever-
So hie« ein Kompositionsbuch des
Rostocker Kantors Joachim Burmei- sible <Musica Poetica>4 - wir können auch sagen, reversible <Poesia
»«« (1602). cf. Eggebrecht o c musicale>. Wie die Katachrese für den <Musicisme> die rhetorische
p. 18t.
Hilfsformel bildet, so die Hypotyposis-Figur (bildhafte Darstellung
von Wortinhalten) die Hilfsformel der <Musica Poetica>. Es wird
also mit Tönen gedichtet (oder gemalt) wie mit Worten musiziert.
Auch hier handelt es sich um raumzeitliche Verschiebungen, um
illusionistischen Perspektivismus. Doch i s t - w i r betonen es erneut
- das Effetti-Figurenwesen jeder Art im Manierismus pararheto-
risch im Sinne des bloßen <delectare>, auch mit grotesken, phanta-
stischen Mitteln. Das barocke Figurenwesen wird, auch in der Mu-
sik-wie wir noch sehen werden-, rhetorisch im augusteisch-klas-
sizistischen Sinne, d.h. im Sinne einer machtbewußten Rhetorik
430 des <persuadere>. Manieristische Musik <übersteigt alles Erkhn-
gende und stellt d a h e r etwas akustisch nicht W a h r n e h m b a r e s dar>.
Man singt, e n t s p r e c h e n d d e r subjektivistischen Idea-Ästhetik Fici-
nos und der G e n i e - L e h r e B r u n o s , <senza misura>, <ä discretion>, <ä
libre volonte>! Aus d e m S o l o g e s a n g entwickelt sich die Arie in ihrer
frühen Form. Sie wird <zum Spiegel des Spielwerks der Affektes>.
Monteverdi unterschied zwei A r t e n n e u e r M u s i k , eine <prima> u n d
eine <seconda prattica>. W i r k ö n n e n die erste <prattica> als manieri-
stisch, die zweite als <barock> b e z e i c h n e n . <Spiegel der Affekte> -
wieder steht vor u n s e r e n A u g e n d a s Selbstbildnis des P a r m i g i a -
nino im Konvexspiegel, u n d wir begreifen i m m e r besser, w a r u m es
damals ein derartiges A u f s e h e n erregte. D e r M e n s c h hatte ein
neues Universum entdeckt: sich selbst, als <Deus in terris>, sich
selbst, aber in G r e n z s i t u a t i o n e n des E r l e b e n s , sich selbst a l s o . . . im
magischen Weltspiegel Saturns, des Ur-Individualisten.
Stilus phantasticus>
Wie Zuccari für die m a n i e r i s t i s c h e b i l d e n d e Kunst seiner Zeit vom
<Disegno fantastico> spricht, so b e z e i c h n e t A t h a n a s i u s Kircher in
der Musik dieser G e n e r a t i o n e i n e n <Stilus phantasticus> als eigene
Gattung unter d e n <neun Stilformem m u s i k a l i s c h e r Kompositio-
nen, die es seiner Ansicht n a c h gibt, d e m N e u n e r - S c h e m a t i s m u s
von Raymundus L u l l u s folgend: <Stilus phantasticus> ist die vierte
maniera. Die fünfte h e i ß t : <Stilus madrigalescus>. D e r uns aus der
Welt anamorphotischer K u n s t s t ü c k e b e k a n n t e P. M a r i n M e r s e n n e
hat in seiner <Harmonie Universelle) (1636/37) bezeichnender-
weise die Kunst d e r m u s i k a l i s c h e n D i s s o n a n z e n gelobt; seine Uni-
versal-Harmonie w a r eine H a r m o n i e des Irregulären.
Wenn Marino e i n m a l sagt, die P o e s i e u n d die Musik k ä m e n
<sich entgegen), so h a t er für diese manieristische wie für unsere
jetzige Zeit recht. E s gibt in d e r S h a k e s p e a r e - Z e i t emblematische
Verdunkelung der M u s i k , concettistische K l a n g - S o p h i s m e n u n d
metaphorische <Ton-Symbole>. R h e t o r i s c h e F i g u r e n werden auf
die Musik ü b e r t r a g e n . W i r k ö n n e n wiederholen: im pararhetori-
schen und paralogischen S i n n e . U m g e k e h r t wird die grenzenlose
Phantasie-Kunst der alogischen <Koloraturen> i n der Dichtkunst
angewendet. D a s m a n i e r i s t i s c h e S t r e b e n n a c h d e m Absurden (ab-
surdum = ungereimt, sinnlos; i m G e g e n s a t z zu surdus = lautlos,
still, verschwiegen) findet E r f ü l l u n g in der intellektuellen E h e von
<Stilus madrigalescus> u n d <Concettismus>. Das P r o d u k t ist ein
<Stupore>-Kind, ein <verblüffendes> W e s e n .
In der manieristischen M u s i k fehlt es a u c h nicht an Kryptogram-
men und Buchstabenspielen m i t u n d d u r c h Musik. Z u eins: Jos-
quin des Prez ( 1 4 5 0 - 1 5 2 1 ) z . B . h a t für H e r z o g Ercole I. von
Ferrara eine M e s s e g e s c h r i e b e n , m i t d e m Tenor <Hercules dux
Ferrariae> gleich: re u t re u t re fa m i re (d c d c d f e d). Hier wird also
ein Devisenspruch d u r c h seine Vokale m i t Hilfe der Solmisations-
silben ut mi ut re r e sol m i - krypto-akustisch dargestellt. 0 W i r fin-
1
tf. Heinrich Besseler. Die Musik
des Mittelalters und der Renais-
den Buchstabenspiele in K l ä n g e n , so etwa in e i n e m Werk Giacomo sance. In: «Handbuch der Musikwis-
Carissimis (1604—1674), w e n n er darin m i t Folgen von Ton-Meta- senschaft). Potsdam 1951. p.ai^ff.
Die Messe wurde im Rahmen der
phem die Wörter <Venerabilis b a r b a Capucinorum> buchstabiert. internationalen Festspiele für mo-
Formale M a n i e r i s m e n d e r L i t e r a t u r verbinden sich mit solchen derne Musik 1958 in Venedig wie-
der Musik! A u c h b l a s p h e m i s c h e Spiele sind beliebt, damals wie deraufgeführt.
Das <dunkle F i n d e r n
Wenn m a n die historischen Z u s a m m e n h ä n g e der manieristischen
Musik von Pontormos erstem Auftreten (um 1520) bis z u Berninis
Tod (1680) abgrenzen will, also den M a n i e r i s m u s von der Benais-
sance und vom <Barock>, so m u ß m a n weiter zurückgreifen in die
Geschichte der europäischen Musikkultur. D e n M a n i e r i s m u s von
der attizistischen Benaissance abzugrenzen ist, wie wir sahen,
leicht. Ihn vom Barock zu unterscheiden, ist schwieriger, allein
schon deswegen, weil <Barock> in E u r o p a zeitlich differenziert und
national verschieden auftritt (z.B. Berninis, 1 5 9 8 - 1 6 8 0 , <Frühba-
rock> und Andreas Schlüters, 1 6 6 0 - 1 7 1 4 , <Hochbarock>). Manie-
rismus in der Literatur und in der Musik erleichtert diese Unter-
scheidung. Die Geschichte der manieristischen M u s i k m a c h t die
Eigenart der so faszinierend eigenartigen E p o c h e zwischen Be-
naissance und Barock besonders deutlich. Dazu, an H a n d der
Fachliteratur, n u r kurze Hinweise auf b e z e i c h n e n d e historische
Filiationen.
Die zeitgenössische Musikwissenschaft h a t d e n orientalischen
Ursprung der komplizierten Melismatik in der europäischen Mu-
sik, insbesondere der Kirchenmusik, nachgewiesen. Geistesge-
schichtlich k a n n n u r i m m e r wieder auf die e l e m e n t a r e Tatsache
hingewiesen werden, daß das C h r i s t e n t u m sich von Vorderasien
432 her über Kreta und über das einstige großgriechische Süditalien
Kalligraphischer Text von Johann
Neudörffer. aus: <Eine gut Ordnung
und kurzer Unterricht». Nürnberg
1538. — Der Beginn des Textes
dieses Labyrinths liegt in der Mitte
nach Europa ausbreitete. D e r <Asianismus> im C h r i s t e n t u m hat und lautet: «Nachdem vor zeitten
schon im gregorianischen, liturgischen G e s a n g zu einer kompli- Gott manchmal und mancherlev
zierten, expressiven, a n t i n a t u r a l i s t i s c h c n Spielgebärde in der Ton- weiz.. .>
phrase veranlaßt. E i n Vokal g a b G r u n d zu evokativen Klangbe-
schwörungen, die wir — optisch — in ü b e r z e u g e n d e r Weise in der
manieristischen I n i t i a l e n - M a l e r e i von Neudörffer u n d seiner
Schule wiederfinden. W i e in d e r M u s i k j e d e r Vokal unendlich ara-
beskenhaft charakterisiert w e r d e n k a n n , so dort jeder Buchstabe.
<Musik> und <Schrift> e n t w i c k e l t e n sich aber d a n n , aus diesen
<asianischen> Ü b e r l i e f e r u n g e n h e r a u s , sozusagen u m ihrer selbst
willen. Der mythische H i n t e r g r u n d der <evokativen>, v e r s c h n ö r -
keltem Gebärde w u r d e b a l d n u r n o c h g e a h n t u n d sank d a n n
schließlich in nicht m e h r e r k e n n b a r e historische A b g r ü n d e zurück.
Es ergab sich eine erste <Katastrophe>, w e n n m a n von einer durch-
aus rationalen m y t h o s o p h i s c h e n Weltinterpretation ausgeht: reli-
giöse und profane M u s i k w u r d e n v e r m e n g t , die B ü h n e w u r d e m e -
chanisiert, die M a s k e individualisiert.
Es geschah dies in e i n e m m a n i e r i s t i s c h e n Sinne zuerst in der
Provence in der spätmittelalterlichen G e h e i m k u n s t der <Trouve-
res> (Finder, Erfinder), des <trobar clus>, des d u n k l e n Findens, des
geschlossenen Singens> j e n e r exklusiven, aristokratischen Dich-
ter- und Musikerzunft, die, w a s e r f i n d e r i s c h e n Musizismus>, was
die Vernunftehe zwischen P o e s i e u n d M u s i k angeht, die europäi-
sche Priorität b e a n s p r u c h e n darf.
In diesem Zipfel E u r o p a s f a n d — ä h n l i c h wie in Spanien zur Zeit
der arabischen E x p a n s i o n e n — e i n e der großartigsten Kontamina-
tionen des A b e n d l a n d e s statt: e i n e n e u e — musikalisch-lyrische —
Einschmelzung des A s i a n i s m u s . Alte musikalische Schranken
wurden niedergerissen, alle A n r e g u n g e n a u f g e n o m m e n , m a n n i g -
fache Formen vermischt u n d vertauscht, u n b e k ü m m e r t u m die
(liturgischen) Regeln. A s i a n i s m u s i n d e r Provence! Geographisch
allerdings kein Kunststück. D i e ersten a n t i k e n <Asianer> u n d So-
phisten waren Sizilianer, u n d v o m M o n t e Erice in Sizilien, dessen 433
Befestigungswerk einst Daidolos baute, sieht m a n an klaren Tagen
iYfrika. Südfrankreich hatte schon im Frühmittelalter rege Han-
delsbeziehungen zur asiatischen u n d afrikanischen Welt. Ver-
gessen wir nicht, daß Quintilian den asianischen Stil auch afrika-
nischen Stil> nennt, was nicht weiter verwunderlich ist: der
hellenistische Kreuzungspunkt Asiens, Afrikas u n d Europas war
Alexandrien. Es hat also auch die <dunkle>, <gesuchte> Poesie und
Musik der provenzalischenTroubadours alexandrinischen Charak-
ter: Exklusivität und Preziosität, Phantastik u n d logische Kälte
Dunkelheit u n d extreme geistige Wachheit, Vermischung nicht nur
der Gattungen, sondern auch u n d vor allem der Poesie und der
Musik! Der <dunkle> musikalisch-lyrische Stil der Troubadours hat
viele Namen: <trobarclus, serrat, cobert, escur, sotil>. Also: verheim-
lichtes Suchen, verkürztes, verdunkelndes, s u b t i l e s . . . Finden.
Krypto -Akustik
«Trobar clus> m u ß heißen: D u n k l e s finden d u r c h . . . Suchen. Im
<Musizismus> der Troubadours w e r d e n Musik u n d Dichtung
<Ideenkunst>. Wer umständlich suchte u n d Verwickeltes fand,
wurde <Don Doctor de trobar>, er erhielt also einen akademischen
Ehrentitel für krypto-akustische Labyrinthik! E i n e öffentliche Eh-
rung für das Irreguläre! Der dunkelste der Troubadours, Marca-
bru, sagt, Gesang (bzw. Dichtung) müsse enträtselt werden. Er lobt
denjenigen, der <mon chant devina>. Der H ö r e r oder Leser hat eine
Aufgabe. <Das Erleben> ist eine Sache für sich. Was zählt ist: <Es-
larzir paraul oscura>, ein dunkles Wort erhellen.
Ist das ein oder gar der Sinn manieristischer D i c h t u n g in ihrem
Z u s a m m e n h a n g mit <evokativer> Musik? M a n m a g d e n Klang der
Verse (evokativ) erleben, m a n steht im <trobar clus> von Kallima-
chos bis James Joyce immer wieder vor der a u c h für Hoch-Einge-
weihte nicht i m m e r leichten Aufgabe, sofern m a n kein Snob oder
pseudoexistentialistischer Kunst-Interpret ist: <Eslarzir paraul os-
cura>, Dunkles erhellen. G e r a d e das erstrebt jede <Vernunft-
Kunst>: Erschüttern durch Schock (stupore) u n d Anreiz zur Ent-
rätselung. Zwei Urtriebe der M e n s c h e n w e r d e n , manieristisch, auf
diese Weise gleichzeitig angesprochen: E r l e b n i s - S e h n s u c h t i m ex-
trem sensationalistischen Sinne, da Welt i m m e r n u r im Scheitel-
punkt der Krise erfahren, W u n s c h nach Rätselauflösung, da das
gesamte Mensch-Sein in der Welt d u r c h a u s e l e m e n t a r als Rätsel
schlechthin empfunden wird. Insofern b e k u n d e t es Beschränkt-
heit, wenn m a n den krypto-graphischen, krypto-optischen oder
krypto-akustischen Manieristen von R a n g vorwirft, sie hätten kei-
nen <Approach>, keine <Elocutio> im attizistischen Sinne. Ihre An-
rede ist ganz anderer Art: Sie w e n d e n sich auf ihre Weise auch an
<Ur-Instinkte>; sie wollen U r - E r s t a u n e n erregen, u n d sie wollen zur
Aufschlüsselung der Ur-Rätsel des m e n s c h l i c h e n L e b e n s anregen.
Dabei kann es geschehen, daß sie zu Verstaunen verführen und zu
heilloser Verrätselung. Insofern k a n n m a n verstehen, daß ein Da-
daist, der zum orthodoxen G l a u b e n zurückfand, nämlich Hugo
Ball, von <Teufelswerk> sprach. Kunst des <Leibhaftigen>? Ist Dan-
tes Hölle, wenigstens in bezug auf die völlig gnadenlose Verwir-
rung und Verirrung in der S ü n d e , nicht a u c h ein Labyrinth? Ent-
stehen aus den Tränen des <Alten von Kreta>, der Labyrinth-Insel,
nicht die vier Flüsse der Hölle? Ist Dantes Hölle nicht auch ein
Symbol für jede Art von moralischer Irregularität? U n d ist das Pa-
radies nicht das <attizistische> G e g e n b i l d , die Vision harmonischer
konzentrischer Kreise u n d ontologischer O r d n u n g im Spiegelbild
erlöster Seelen?
Folgen wir Vossler, u m d e n M u s i z i s m u s in e i n e m konkreten
Sinne zu definieren: <Der m u s i k a l i s c h e S c h e m a t i s m u s (der Trou-
badours^, so lesen wir, <erzeugt d e n begrifflichen G e d a n k e n . ) D a -
mit ist der lyrisch-musizistische C o n c e t t i s m u s ebenso gültig b e -
zeichnet wie der <Witz> von Schlegel, u n d wir w u n d e r n uns nicht,
wenn Vossler, wie Croce zu nationalistisch), verärgert, seiner G e -
neration entsprechend, ausruft: <Frostige Witz- u n d G e d a n k e n -
spiele!) Gewiß, es h a n d e l t sich w i e d e r u m W a h n - S i n n , besonders
in der spätprovenzalischen <Vernunft-Kunst>. Leporismus (auch
im Sinne von Brisset u n d Joyce) wird v o r w e g g e n o m m e n , w e n n
Marcabru derartig <groteske> Verse bietet, die, m a n vergesse es
nicht, auch mit musikalischer B e g l e i t u n g g e s u n g e n w u r d e n : <Las
baraitriz baratan / Frienz del b a r a t c o r b a r a n / Q u e fan Pretz e Joven
delir, / Baratan ab los baratiers / F u n d e n s ; qu'estiers lor deziriers /
Nom podon cesar de frezir.> (<Mit T r ü g e r i n n e n t r ü g e n sie / U m a r -
mend geile Trügende, / D i e Khr u n d Freud vernichtigen / I m Trü-
gen mit den T r ü g e n d e n / Sich gattend; a n d e r s k ö n n e n sie / D a s
Beben ihrer Brunst n i c h t still'n.>)
<Ein Hexensabbat von Begriffen u n d Bildern>, urteilt Vossler.
Aber er stellt — zu solcher Klanglyrik — a u c h fest, d a ß die Trouba-
dours doch <Erfinder von dichterischen u n d wohl a u c h von m u s i -
kalischen Gedanken> waren. E i n e L i e d f o r m h e i ß t sogar <Descort>.
In ihr will m a n : <desacordar los m o t z c; 1 sos e; 1 lenguatges> (<die
Wörter, Töne u n d S p r a c h e n v e r s t i m m e n >). A u c h Musik u n d Dich-
tungbilden eine discordia Concors. Folgerichtig charakterisiert sich
der Troubadour A r n a u t selbst m i t d e n Worten: <Ich b i n Arnaut, der
die Luft einhascht, d e n H a s e n m i t d e m Ochsen jagt u n d gegen den
Strom schwimmt.) Wie definiert Royere den <Musicisme>? Als
Klangspiel von Alliteration u n d K o n s o n a n z e n , von R e i m e n u n d
Assonanzen, vor allem als Technik d e r W i e d e r h o l u n g und der Ka-
tachrese, d.h. des G e b r a u c h s eines Wortes in uneigentlicher Be-
deutung, der O p p o s i t i o n s - M e t a p h e r , der Bildervermengung, der
Vermischung des D i s p a r a t e n — a u c h in b e z u g auf dementspre-
chend mögliche effektvolle K l a n g w i r k u n g e n . Kein W u n d e r also,
daß einer der verwegensten alogischen T r o u b a d o u r s wie Arnaut
sich selbst durch K a t a c h r e s e n definiert: <als einen, der den H a s e n
mit dem Ochsen jagt>.
19. V O N G E S U A L D O DA
VENOSA ZU STRAWINSKY
D a s <Ricercare>
Einen weiteren Ü b e r g a n g z u m M a n i e r i s m u s in der Musik von
1520 bis 1650 bildet die m u s i k a l i s c h e Hofkultur Burgunds, trotz
ihres starken Konservativismus, w e n i g s t e n s was die Verwendung
dissonanter Intervalle a n g e h t . So w u r d e - im Gegensatz zur Antike
- in Burgund die Terz n i c h t m e h r als dissonant empfunden. Die
Musik wurde preziös u n d gleichzeitig algebraisiert. D e n preziösen
Stil auch in der Kunst u n d in den höfischen <Manieren> Burgunds
darf m a n für die Entwicklung des europäischen Manierismus si-
cher nicht unterschätzen, aber die b u r g u n d i s c h e Phantasiekunst
des Motetts blieb letzthin in alten F o r m a l i s m e n stecken, sie ver-
kümmerte, ähnlich wie der M a n i e r i s m u s der mittellateinischen
Poesie im barocken J e s u i t e n - D r a m a , in e i n e m wehmütigen
<Herbst des Mittelalters). M a c h a u t s <seconde rhetorique> war asia-
nisch, aber n u r in einem ä u ß e r e n Sinne. D e n n o c h wurde dies
schon damals als ein Ergebnis v e r s e t z e n d e r K r ä f t o empfunden.
(Freies Linienspiel der Melismatik, Affekt-Symbolismus, Auflok-
kerung des rhythmischen Gefüges durch häufigen Taktwechsel,
D e h n u n g u n d Verkürzung des G r u n d z e i t m a ß e s u n d Übereinan-
derlegen verschiedener R h y t h m e n in d e n einzelnen Stimmen,
Synkopenketten, Triolierungen, ausgeschriebene Rubati und
Ritardandi, frei eingeschobene Koloraturen.) Was d e n burgun-
dischen Manierismen fehlte, war die E r n e u e r u n g durch die sub-
jektive <Idea>-Ästhetik, die erst i m Florenz der Platonischen Aka-
demie auch die Musik zu weiteren <modernen> Entwicklungen an-
regte.
Die junge Generation, unmittelbar n a c h der Renaissance-Zeit,
strebt in Florenz, im Kreise Bardis, wie wir es schon angedeutet
haben, nach verwickeiteren formalen G l i e d e r u n g e n . A u ß e r <Rät-
selformem, <Phantasie-Spielen> u n d <Groteske> (Madrigalistik)
verstärkt sich in bezug auf musikalische Kompositionen die ebenso
subjektivistische wie intellektuell-methodische Kombinatorik. Die
Virtuosität des musikalischen Kornbinierens w u r d e i m sog. <Ricer-
care> (Inversion von <trobar>) b e w u n d e r t wie die concettistischen
Künste der Dichter, wie die <Bizzarrie> der Maler, die Perspektiv-
Spiele der Architekten u n d die Illusions-Kunststücke der Anamor-
photiker, die Maschinerien der B ü h n e n b i l d n e r u n d die verwickelte
Prosa der preziösen Romanciers. U n d es m u ß erneut hervorgeho-
ben werden: es geschah dies für exklusive Kreise in politischen und
geistigen Krisenzeiten nicht wie im späteren Barock im Hinblick
auf weite propagandistische W i r k u n g e n z u g u n s t e n der Gegenre-
formation oder des n e u e n fürstlichen Absolutismus. D a s <Subjek-
tive> dieser manieristischen Künste richtete sich an Individuen oder
an kleine Clans, nicht an größere G r u p p e n . I m Gegenteil. Hiero-
glyphische Formen m a n c h e r manieristischer Kunstwerke bekun-
den nicht nur einen oft verzweifelten Spieltrieb, sie zeugen nicht
selten auch für eine ebenso verzweifelte M e n s c h e n v e r a c h t u n g .
Wir wiederholen: ab etwa 1530 verdrängt die Madrigal-Kunst
Italiens die im wesentlichen n o c h symmetrischen Traditionen Bur-
gunds u n d der Niederlande. Die <irregulären> Erstlingswerke von
Philipp de M o n t e (1554) u n d Jacobus de Kerle begeistern diese
verwöhnte, nach starken geistigen Reizen s u c h e n d e Elite Europas.
Wie die Malerei und Dichtung, so wird auch die M u s i k internatio-
nal, d.h. sie verliert nationale Eigentümlichkeiten. Die stärkere
Akzentuierung des Musikalischen im Wort m a g auch in der Kom-
positionskunst zu einer schärferen H e r v o r h e b u n g des Sprachlauts
geführt haben, zur antipolyphonen Solo-Methodik u n d z u m melo-
dramatischen Rezitativ, manieristischer Vorstufe der barocken
Oper. Auch das ist ein E l e m e n t für U n t e r s c h e i d u n g e n : kleine,
hochgekünstelte M e l o d r a m e u n d gewisse P a r t i e n des frühen Ora-
torienstils sind manieristisch. Die Oper ist, m i t ihrer prunkvollen
rhetorisch-festlichen Gebärde, barock, w e n n sie a u c h , besonders
in ihrer Frühzeit, noch viele Meraviglia-Elemente enthält wie jede
barocke Kunst. Sie unterscheidet sich jedoch, wie wir wiederholt
unterstrichen h a b e n u n d - in b e z u g auf die damalige Musikkultur
-noch näher ausführen werden, durch ihre Intentionen, durch ih-
ren sozialen Hintergrund vom Manierismus ebenso wesentlich wie
der Manierismus von der Renaissance. Manieristische Musik
bleibt <Musica reservata> der <Moderni>. Musik für viele und Musik
für wenige wird bezeichnenderweise in der reichen essayistischen
Literatur unterschieden.
Kennzeichnend für die manieristische Musik ist auch ihre Vor-
liebe für sozusagen heterodoxe Kleinkunst, für folkloristische Mo-
tive, die dann, oft mit viel Intelligenz und Charme intellektuali-
siert, in höhere Bereiche der Tonkunst hineingezwängt werden,
nicht selten allerdings auch aus Mangel an eigenen Einfällen. So
benutzt man im Aufstand gegen die angeblich steife, plumpe, nie-
derländische Polyphonie Passamezzi, Saltarelli, Pavanen, Galliar-
Claudio Monteverdi
den, Allemanden, Branles, Couranten und Moresken. Mit einem (1567-1645)
Wort, man verschwätzt, man <ver-jazzt> die Musik auch damals
schon. (<Jazz> vermutlich von franz. <jaser>, womit französischspre-
chende Siedler in den amerikanischen Südstaaten die typische
Freude der Neger an endlosem Plaudern bezeichneten.)
Italiens größtes manieristisches Genie neben Tintoretto, Clau-
dio Monteverdi (1567—1643), faßt alle diese Ansätze dann in sei-
nen ersten Werken zusammen. Mit Recht weisen Musikhistoriker
daraufhin, daß die Geschichte der Oper 1607 beginnt, mit dem
Orpheus-Spiel von Monteverdi, verfaßt für ein Festspiel in Mantua.
Auffallend darin vor allem: Wechsel zwischen Dur und Moll, terz-
verwandte Rückungen, chromatische Führungen, dazu vermin-
derte Gesangsspannungen.
Das <Ricercare> im Frühwerk Monteverdis ist manieristisch. Für
das Barock ist die Fuge kennzeichnend - wie die aus der Antike
Festspiele von Florenz beim Einzug
des Fürsten von Urbino. Stich von
Jaques Callot (1592-1655)
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stammende Orgel. Das frühe, nichtbarocke <Ricercare>, als inge-
niöse Kombinationskunst, ist gegenüber der Fuge viel alogischer.
Es beruht auf einer lockeren Aneinanderfügung mehrerer melo-
disch-musikalischer Gedanken, deren jeder von mehreren Stim-
men im imitatorischen Stil entwickelt, aber vor seiner Vollendung,
vor Erreichung eines <Mittelpunkts> also, von dem nächsten ab-
gelöst wird. Im Gegensatz dazu wird im Barock <Ricercare> zum
Ausdruck für ein einheitliches, nach strengsten imitatorischen Ge-
setzen durchgeführtes Prinzip. Es gleicht jetzt schon der Fuge, ver-
zichtet jedoch bewußt auf die arabesk verspielten Elemente durch
ein viel strafferes Ordnungsgefüge.
Im England Shakespeares haben die <Moderni> zu einer Musik-
freude und vor allem zu eigenen Musikschöpfungen angeregt, wie
sie später dort kaum noch zu beobachten sind. Musikalische Ma-
drigal-Kunst wurde ebenso berühmt wie concettistische Dichtung
438
von Shakespeare bis C r a s h a w . W i l l i a m Byrd ( 1 5 4 5 - 1 6 4 3 ) u n d vor
allem John Wilbye (1574—1638), u m n u r diese zu n e n n e n , h a b e n in
exklusiven Kreisen v i e l b e w u n d e r t e madrigalische <Fancies> ge-
schaffen, die h e u t e noch <modern> klingen. Arabeskenreiche Kla-
viermusik (Virginials) u n d k ü h n artifizielle Kompositionen für
kleine I n s t r u m e n t e n g r u p p e n (Consorts) weisen geradezu chemisch
absolute manieristische E l e m e n t e auf. Was S p a n i e n angeht, so hat
Menendez Pelayo auf einen <Graciän der Tonkunst> hingewiesen,
auf Pedro Cerones W e r k <E1 M e l o p e o (Neapel 1613). Darin wer-
den musikalische <Änigmen> e m p f o h l e n u n d <mysteriöse Kanons>.
Bezeichnend für d e n e p o c h a l e n G l e i c h k l a n g ist a u c h das Werk von
Don Juan IV., gleichzeitig in s p a n i s c h e r u n d in italienischer Spra-
che veröffentlicht. E s heißt: <Defensa de la M u s i c a Moderna> u n d
erschien im J a h r e 1649, also u n g e f ä h r gleichzeitig mit d e n be-
rühmten manieristischen L i t e r a t u r t r a k t a t e n von Graciän, Tesauro
und Harsdörffer. A u c h dieses W e r k k ü n d e t e , n a c h der M e i n u n g
von Menendez Pelayo, von e i n e r <modcrnen musikalischen Revo-
lution).
In Deutschland w u r d e vor a l l e m g a n z folgerichtig das N ü r n b e r g
Harsdörffers zu e i n e m M i t t e l p u n k t a u c h manieristischer Musik-
iibung. Gottlieb S t a d e n (1607—1655) schrieb eine modisch-irregu-
läre Musik zu Harsdörffers G e s p r ä c h s s p i e l e n , mit g e b ü h r e n d e n
«Künsteleien u n d K o l o r a t u r e m , also im Stile der, wie m a n damals
sagte, <welschen Manieren>. D a b e i finden wir in Harsdörffers G e -
sprächsspielen (Band II) i m b e z e i c h n e n d e n J a h r e 1647 eine adap-
tierte Reproduktion von A r c i m b o l d i s <Bibliothekar>, von jenem Ar-
cimboldi, Hofmaler Rudolfs IL in P r a g , der h e u t e als Vorfahr des
Surrealismus gilt. Adaptiert insofern, als im Buch-Kopfschmuck
des Bibliothekar-Porträts u n s e r e s n a c h N ü r n b e r g importierten ita-
lienischen Prager R e i c h s g r a f e n n u n d e u t s c h e W ö r t e r eingefügt
sind: <Das Schauspiel t e u t s c h e r Sprichwörter>, sowie an den Buch-
rücken, die das G e w a n d dieses M o n s t r u m s bilden, Verfasserna-
men solcher S a m m l u n g e n . A r c i m b o l d i w u r d e nicht im Rom des
20.Jahrhunderts, s o n d e r n s c h o n i m N ü r n b e r g des 17. J a h r h u n -
derts neu entdeckt!
20. M U S I K - K A B B A L I S T I K
L e t t r i e u n d <Tapl-Music>
Musikalischer L e t t r i s m u s , das ist in u n s e r e r Gegenwart extremer
Ausdruck des lyrisch-musikalischen <Musicisme>. D e r <Lettrisme>
oder die <Lettrie> der Isidore Isoü (geb. 1925) u n d Sarane Alexan-
drian (geb. 1927) ist g l e i c h s a m atomisierter manieristischer M a -
nierismus, w e n n er a u c h in g a r k e i n e r Weise originell ist, denn
Hugo Ball hat b e k a n n t l i c h schon i m ersten Z ü r c h e r D a d a - J a h r
«lettristischo G e d i c h t e g e s c h r i e b e n . Allerdings war all dies bei Ball
und seinen F r e u n d e n n o c h p o l e m i s c h g e m e i n t , vielfach sogar n u r
als Ulk gedacht, u n d H u g o Ball h a t später diese Praktiken verwor-
fen. Bei Isoü u n d seinen F r e u n d e n liegt das P r o b l e m tiefer. Sie
wollen durch lyrisch-musikalische K o m b i n a t i o n e n bloßer Sprach-
laute nicht etwa n u r r e v o l u t i o n i e r e n . Sie wollen auf diese Weise 439
auch nicht n u r akustische, ästhetische Reize auslösen. Sie wollen
Rhythmen und Klänge eines t r a n s z e n d e n t a l e n Seins beschwören
und dieses dem Hörer, sofern er nicht bloß skandalisicrt ist, ma-
gisch annähern. Wir erinnern u n s , anläßlich unserer Bemerkun-
gen über die alte <Poesia Alfabetica>, d a ß i m Orient Gott und die
Götter durch bloße Buchstabenlaute b e s c h w o r e n u n d gerufen wur-
den. Im koptischen, spätgnostischen Buch <Pistis Sophia> (3. Jahr-
hundert) wird Jesus Christus ein magisches Beschwörungsgedicht
in den M u n d gelegt. Es enthält, bis zur U n k e n n t l i c h k e i t verunstal-
tet, ägyptische, hebräische u n d persische S p r a c h e l e m e n t e . Es ban-
delt sich um eine <lettristische> Zauberformel, von der wir hier we-
nigstens zwei Zeilen zitieren wollen: <AEEIOUO JAO AOIOIA psi-
nother therinops nöpsither zagoure>. W e r aus der Ferne die be-
tende Stimme der Moscheen-Priester g e h ö r t hat, wird vielleicht
besser verstehen, welcher Z a u b e r in rhythmisierten, melismati-
schen Sprachlauten liegt, vor allem w e n n m a n die rezitierten Texte
nicht kennt. Isoü stammt aus R u m ä n i e n , Alexandrian aus Bagdad.
Der <Asianismus> der nachsurrealistischen <Lettrie> wird im euro-
päischen Neu-Alexandrien, in Paris, h e u t e nicht n u r wieder modi-
sches Ereignis, sondern auch erregender demier cri, letzte (?) Ma-
nifestation dieses Weiterwirkens graeco-orientalischer Kulturen.
Tatsache ist, daß Isoü u n d seine F r e u n d e bloß rhythmisierte
Sprachlaute als <Lautsymphonie> öffentlich rezitiert h a b e n wollen.
Sie haben, wie Isoü schreibt, <das Alphabet aufgeschlitzt^ das seit
Jahrhunderten in seinen verkalkten vierundzwanzig Buchstaben
hockte, sie haben in seinen Bauch n e u n z e h n n e u e Buchstaben hin-
eingesteckt (Einatmen, Ausatmen, Lispeln, Röcheln, Grunzen,
Seufzen, Schnarchen, Rülpsen, H u s t e n , Niesen, Küssen, Pfeifen
usw.). Also: bloßer Laut wird Musik und M u s i k ist bloßer Laut.
Vianvigian p e d o u p i n n e d e s c h t e
Piangouppgan g o l d o u b i n v e c h t e
Doussee! Souf scouipiienne l o u n a
SOUSSE Kroulciientrouna Vrousse!
Botoschan, yachch, yach, b e l o i g a n n e !
Vraschh!
Barocke Antithese
Die maniera in den <Nuove musiche> (i 602) von Giulio Caccini, die
bis 1585 zurückreichen, ist von der späteren Barock-Musik, von
Händel etwa, so unterschieden wie P o n t o r m o von Rubens, wie
John Donne vom älteren Milton, wie G ö n g o r a von Calderön, wie
Zuccari von Bellori, wie Giambattista della P o r t a von Bernini. Ein
erster musikalischer H ö h e p u n k t des n e u e n machtpolitischen, re-
präsentativen Barock-Stils entsteht nicht zufällig a m Hofe des
mächtigsten europäischen Herrschers dieser Zeit, a m Hofe Lud-
wigs XIV., mit den Kompositionen des Florentiners Jean-Baptiste
Lullv (1632 — 1687). Dafür gibt es ein großartiges Beispiel: das <Bal-
let Royal de l'Impatience> von Lully, das Seine Majestät selbst tanz-
ten. Das Tempo heißt <Grave>, der R h y t h m u s (4/4-Takt) ist feier-
lich, getragen, eine geordnete, solare, astro-akustische Klangfigu-
ration für den Sonnenkönig, ein E m b l e m der W ü r d e , des Strebens
nach neuer rationaler Weltordnung, wobei die n e u e n expressiven
Mittel der heterodoxen Manieristen weiterwirken. Dynamische
Logik! Aber antigroteske Dynamik u n d e r n e u e r t e rationale, anti-
sophistische Logik — also Barock! Die g r o ß e Predigtkunst entwik-
kelt sich. Gern bedient sie sich noch der P a r a d o x i e n , Hyperbeln,
Paralogismen der manieristischen Grands Nerveux, aber werbend.
Werbend für die n e u e absolute E i n h e i t von Weltkirche u n d Abso-
lutismus, von überirdischer und irdischer O r d n u n g . Die Deklama-
tion wird wieder feierlich im stellvertretenden Sinne, die Rhetorik
pathetisch. Logos, Dynamik u n d Pathos verbinden sich in neuklas-
sischen Klammern, die <melodische Wucherung> ist verpönt. Mu-
sik wird zu einem majestätischen P r u n k g e w e b e . Sie löst sich vom
Subjektiven, Individualistischen, objektiviert sich wieder im ganz
neuen Sinn für staatliche und kirchliche M a c h t u n d O r d n u n g , wie
auch immer — und das war häufig so — in der hinter- u n d unter-
gründigen Welt der Libertins <zersphtterte Ton-Motive>, ver-
wegene Pasticcio-Kunst weiterwuchern. W i r e r i n n e r n uns: Manie-
rismus ist für uns eine Ausdrucksgebärde, die n a c h E r n s t Robert
Curtius in allen Zeiten zu finden ist, <die der Klassik entgegenge-
setzt ist, m a g sie vorklassisch oder nachklassisch oder mit irgend-
einer Klassik gleichzeitig sein>.
Das theophanische Opfer
Johann Sebastian Bach aber schließt in sich die Welten des manie-
ristischen Experiments und des barocken Ordnungsstrebens, sou-
verän über beiden stehend. Es geschah dies durch eine Verschmel-
zung seines gefühlsmäßigen, individualistischen Pietismus mit
seinem hochentwickelten Sinn für prästabilierte Harmonie, die
Leibniz - etwa 40 Jahre vor Entstehen von Bachs <Musikalischem
Opfer» - dem Kosmos abgelauscht zu haben glaubte. Vor den Men-
schen werden nach Jahrhunderten wieder <unsichtbare Tempeb in
der Musik <hörbar>.
In der theo-logischen Kombinatorik des <Musikalischen Opfers>
von Johann Sebastian Bach (1 747) erklingt für die Welt neben ei-
nem anderen Höhepunkt des Schaffens von Bach, der <Kunst der
Fuge>, eine nicht mehr relativierbare Urordnung, auch in einem
äußerst verschlüsselten, verwegen komplizierten Tongewebe. Ein
König, Friedrich IL, gab Bach das Motiv. Der Künstler improvi-
sierte in Potsdam, war mit sich jedoch nicht zufrieden und verfaßte
über das <Thema regis> in wenigen Wochen eines seiner kühnsten
wie tiefsten Werke, ließ es auf seine Kosten (er hat zeitlebens nie
einen Verleger gefunden) drucken und schickte es dem König. Die
Widmung des Werkes an Friedrich IL hat bezeichnenderweise
akrostische Form:
fiegis Jus su
Cantio -Et iteliqua
Cononica/trte
.Resoluta
Die ersten Buchstaben dieser Worte bilden den Ausdruck <Bicer-
car>.
Die Komposition ist <von äußerster konstruktiver Künstlichkeit>,
dabei <fließt die Musk jedoch frei und natürlich). Das Kunststück
scheint zunächst raffinierte Technik als Selbstzweck) zu bekun-
den. Es stellt einen <bis dahin ungeahnten Vorstoß in das Gebiet
chromatischer Durchgangsharmonie dar>. <In allen erdenklichen
Metamorphosen ist das königliche Thema das einzig Beharrende
in einem kaleidoskopischen Wechsel von Erscheinungen.) Im
sechsten Kanon findet m a n sogar einen <Krebsgang>, einen Bück-
ling) im Sinne Männlings, im Sinne der hochmanieristischen
Krebswort-Kunststücke zur Zeit Harsdörffers... und der Antike. Y
Uie Trio-Sonate bekundet kühnste Ornament-Stil-Spiele grotesk-
eleganter Art, reine Manierismen also. Aber immer wieder: Bück-
gevvumung des Mittelpunkts auch im kaum noch überbietbaren
Extrem eines <Bätselkanons>, so vor allem im sechsstimmigen Ri-
cercar (jetzt Fuge), <das weihevollste), aber sicherlich auch k o m -
plizierteste) Musikkunstwerk, das vielleicht je geschrieben wurde,
'neo-logische Kombinatorik wird hier und jetzt (Absolutismus
und religiöse Ordnung) wieder theophanisch.
Hier hat das Kunstwerk im Extremismus seine tiefere innere
" Über die <Kunst der Fuge> schreibt
Einheit in sich und mit der Welt gefunden. Musik, Dichtung, Erich Przywara: <ln sirh selbst to-
I U n s t a u f ihren höchsten Gipfeln, Schöpfungen derer, die Baude- nende Analogie.- - In diesem letz-
aire a s ten Schön als Analogie liegt offenbar
' Leuchttürme der Menschheit) bezeichnete, vereinen - in ein immanent Religiöses, sei es im
^vergleichbar rätselhafter Gnade stehend - beide Urgebärden, objektiven Sinn einer Erscheinung
e des Göttlichen im Schön lals religa-
nianieristische und die klassische. Diese völlige Konvergenz, lio Dei). sei es im subjektiven Sinn
e man als vereinigende Gebärde mit dem Bild betender Hände einer Hinwendung ins Göttliche (als
^gleichen kann, macht das Mysterium der unverwechselbaren retigatio in Oeum\.< cf. Aufsat?.:
<Schön. Sakral. Christlich-. In: La
. a u s -'' Solche <Leuchttürme>, solche Konkordanzen von Ma- Filosofia dell' Arte Sacra. Padua
lle 1957. p. 20.
nsmus und Klassik, waren Sophokles, Vergib Dante, Shake-
c***
ML
Calderön-Autogramm auf einer
Seite des Manuskriptes des «Tesoro
Escondido>
Zeitgenössische Vereisung
Strawinsky griff das manieristische <Ricercare> wieder auf, u. a. in
der <Kantate> von 1952. Im <Canticum Sancti Marci Nonunis>
(1956) wird das kombinatorische Reversibilitätsprinzip (Krebs-
gang. Rücklinge) zum Prinzip einer n u n fast n u r n o c h <geometn-
sierenden> Musik-Kabbala im Sinne Schönbergs, d e r - w i e Monte-
verdi - aus Schriften der esoterischen M a g i e u n d Alchimie Anre-
gungen schöpfte. J. S. Bach stand hier mit d e m <Musikalischen Op-
fer> Pate, aber auch ein Erzmanierist wie der von uns hervorgetio
bene Gesualdo da Venosa. Als Strawinsky an d e m <Canticum> ar
beitete, ließ er sich aus der Bibliothek von N e a p e l Photokopien der
<Sacrae Cantiones> von Gesualdo da Venosa schicken (verölten
licht in Neapel 1603). D e n H ö h e p u n k t einer daidalischen Musik-
geometrie findet m a n in d e m Werke Strawinskys, das 1 9 5 " i n
von Tintoretto mit Fresken ausgeschmückten g r o ß e n Saal
Scuola di San Rocco zu Venedig uraufgeführt w u r d e , in <Threni, 1
est Lamentationes Jeremiae Prophetae>.
Den Klang-Kombinationen mit einer Zwölfton-Serie entspre-
444
chen jetzt unmittelbar hebräische Buchstaben-Kombinationen
(Isopsephien). D i e s e kompositorischen Beziehungen der para-
akustischen Ton-Serie werden geradezu von den mythischen
Buchstaben-Werten angeregt, die Jeremias jeweils an den Anfang
der einzelnen Versgruppen seiner Lamentationes stellt, wobei sich
(bei.Jeremias) ebenfalls Kombinationen ergeben, so z. B. in der drit-
ten Lamentatio, wo die Buchstaben des hebräischen Alphabets je
dreimal hintereinander folgen. <Diesen Buchstaben entsprechen in
Stravvinskys Tonarithmetik wiederum Zahlenwerte, nach denen er
jeweils die Töne seiner Notenreihe einsetzt. Die zwölf Versgruppen
des Mittelteils sind so angelegt, daß sie stets mit der nächstfolgen-
den Note der zugrunde liegenden Zwölftonreihe anheben.) Daida-
lische Künstlichkeit und große Kombinationskunst im Herzen des
manieristischen Venedig als musikalischer demier cri des Jahrhun-
derts! Kaum ein Werk der zeitgenössischen Musik hat sich der
<raeco-orientalischen Gemantie (cf. Teil I) so angenähert wie Pablo Picasso:
Strawinskys <Threni>, aber schon Francois Couperin schrieb 1713 Igor Strawinskv. 1920
<Tenebres> nach den Lamentationes des Jeremias, und auch er läßt
seine <vocalises> von den Akrosticha des Urtextes ausgehen. Die
Musik ist zu einem puren Destillat alchimistischer Ton- und Wort-
Laboratorien geworden. Auch hier vereint sich — daidalisch — das
Unvereinbare. Schon 10,52 gab H.H. Stucken-
scbmidt einem Essay über Stra-
Gerade die Kombinatorik der Zwölfton-Musik wird man ohne winskv den für die gesamte abend-
die uns nun aus der Literatur hinlänglich bekannten kabbalisti- ländische Tradition des Manieris-
schen Esoterismen zumindest in formaler Hinsicht kaum richtig mus typischen Titel: <Strawinsk\
oder die Vereinigung des Unverein-
würdigen können. Dazu ist Schönberg, wie bereits angedeutet, ein baren/. In: «Anbruch,. Prag. XIV. j . .
unentbehrlicher Ausgangspunkt. Schönberg ging vielfach von ei- Vgl. auch die hervorragende Mono-
graphie von Roman Vlad. Stra-
ner manieristischen Zahlenmystik aus, und es ist aus der Polemik winsky. Turin 1958.
zwischen ihm und Thomas M a n n (zum <Dr. Faustus>) bekannt,
daß es grundsätzlich u m eine Abgrenzung von <weißer> und
<schwarzer> Magie ging. Schönberg bekannte sich zur <weißen>
Magie, zur Theosophie. Doch verdient es, hervorgehoben zu wer-
den, daß Schönberg anfänglich einem arationalen Expressionis-
mus verbunden blieb oder gar dem bloßen Redigieren von <Traum-
Protokollem (Adorno). Komponieren wird zeitweise zum <automa-
tischen Schreibern. Anfangs lobt Schönberg den expressionisti-
schen <Ur-Schrei>, den <Rausch> usw., d.h. - wie wir im letzten
Abschnitt näher ausführen werden — dionysische Elemente. Später
bekennt er sich zur eingrenzenden und umzirkelnden Kraft des
Verstandes, d.h. zu dem, was wir als daidalisches Element bezeich-
nen und ebenfalls im nächsten Abschnitt näher erklären wollen.
Die Kombinatorik von Zwölfton-Serien wird für Schönberg bald
eine sublime Vernunft-Kunst, <metachronotopische> Musik. Auch
Roman Vlad weist in diesem Zusammenhang auf die magischen
<Vokal>-Melismen der graeco-orientalischen Antike hin, auf ihre
'Spiegelformen) (Adorno) und <Mäandergänge> (Schönberg). Bei
ochönberg werden damit durchaus Tendenzen einer mythischen
Reintegration spürbar. Diese mögen Strawinsky zu seinen letzten
Werken angeregt haben, und auch bei ihm dürfen wir von einem
durchaus echten Wunsch nach mythischer Rekonstruktion spre-
chen, zumal das Tonmaterial selbst bei ihm noch intakt bleibt.
Doch erfolgt diese <Integration> in einer derart paraakustischen Di-
mension, daß wir uns zwar an arachisch-liturgische Gesänge in
<asianischer> Kulturferne erinnern mögen, jedoch in einem allzu
künstlichen, allzu irrealen vorkirchlichen Raum. Viel zu wach
bleibt stets der nachrechnende Intellekt. Er wird durch diese Ton-
Kabbalistik überanstrengt. <Freiheit führt zur Monotonien Das
daidalische Element des Manierismus hat das dionysische Ele- 445
ment des Manierismus vereist. Welcher W e g vom dionysischen
<Sacre du Printemps> (1913) bis zur daidalischen kabbalistischen
Jeremias-Lamentatiol Der Daidalos-Mythos m a g uns in folgendem
zu erkennen geben, mit welchen archaischen Urkräften dieses
D r a m a des zeitgenössischen Geistes z u s a m m e n h ä n g t .
21. D A I D A L O S U N D
DIONYSOS
A n a d n e im dD lonysos
Ariadne ist die Tochter des sagenhaften Kreter-Königs Minos, der
sich von einem Bildhauer, Architekten und Erfinder Daidalos (gr.
daidallein — <kunstreich arbeiten:») ein Labyrinth bauen ließ, und
ihr Gatte ist kein Geringerer als Dionysos, der Sohn des göttlichen
Zeus und der menschlichen Semele. Später wurde Ariadne, welche
Theseus den von Daidalos hergestellten, aus dem Labyrinth er-
lösenden Faden schenkte, von Dionysos in die Welt der Sterne
eingeführt. Auch sie, Ariadne, die <menschliche Aphrodite>, die
Gegensätzliches in sich vereint, ist eine der Lieblingsfiguren der
spezifisch-manieristischen Musik- und Theaterkultur des 17. Jahr-
hunderts.8 Wenn die Tragödie Nietzsche zufolge, den Rausch des
Dionysos mit dem Maß Apolls vereinend, aus dem Geiste der Musik 8
1608 wurde die «Arianna a Nasso»
geboren ist, so beweist dies den mythischen Ursprung der Tragö- von Otlavio Rinuccini (1592—1621)
die. Der dionysische Choreut lebt <in einer religiös zugestandenen aufgeführt. Musik von Monleverdi.
Davon nur erhallen der berühmte
Wirklichkeit unter der Sanktion des Mythos und des Kults>. Im <Lamenlo de Arianna». Ferner: 1606
Mythos des Dionysos können wir geradezu eine transzendentale <Ariane> von Alexandre Hardy: 16^2
«Ariane». Roman von J.Desmarets
Sinnfigur sehen für den graeco-orientalischen Bestandteil der de St. Sorlin: 1672 > Ariane» von Tho-
griechisch-römisch-europäischen Kultur, den <Asianismus>, im mas Corneille: 1670 Oper von Fer-
rari usw. usw., bis 7,11 Händel 1775
Mythos des Apollo das Entsprechende für den <Attizismus>. Diony- und zur Gegenwart (Massenet. Mil-
sos ist der Gott der mania, des Überschwangs, des Sexus, auch der haud. R.Strauss).
Schule des Finguerra:
Theseus und Ariadne
11
Wie beliebt die Üaidalos-Figur
und das Labyrinth-Motiv auch in
der Antike waren, geht u.a. daraus
hervor, dal! Euripides ihn in den
<Kretern> (unvollständig erhalten)
behandelte. Sophokles in <Daidalos>
und in den <Kamikern> (verloren).
Aristophanes in <Daidalos> und in
(Kokalos» (verloren). Andere antike
Autoren, die den geistesgeschiihlli-
chen Topos übernahmen: Diodoros,
Eustathios. Herodot. Hesychios,
Kleitodemos. Livius. Lukian. Pli-
nius. Strabon u.v. a. m. Für Zitate cf.
Eilmann, Labyrinthos. Diss. Athen
1951, p.gof. Zur Darstellung des
Daidalos- bzw. Ariadne-Sto&es in
der bildenden Kunst, außer den ge-
nannten, u.a. noch: (Labyrinthe* in
S. Vitale (Ravenna). in der -Villa Pi-
sani> (Strä). ferner in den Kathedra-
len von Arras. Amiens. Chartres. in
der Villa Altieri zu Rom. Zu Ariadne:
(Dionysos, Ariadne und Satyr>. «Die
schlafende Ariadne> (beides im Vati-
kanischen Museum): (Dionysos,
Ariadne und Satyrn> von Tizian
(Nat. Gallery. London). Zu Daida-
fos-Mythen und zu den <Daidaliden>
auch Bernhard Schweitzer in (Xeno-
krates von Athen>. Halle 1952.
p. 20f. Zum antikisierenden, gera-
dezu (klassischen» Element im Ma-
nierismus einige Hinweise in: .Gu-
sto Neoclassico> von Mario Praz.
2. Auflage Neapel 1959. p. 75ff. Der
üaida/os-Mythos lebt auch auf. in
durchaus (ikarischen Beziehung, in
Ernst Schnabels Roman (Ich und die
Könige». Frankfurt 19^8. Allein eine
Bibliographie daidalisch-manieri-
stischer Epiker im Europa nach Ja-
mes Joyce und Virginia Woolf würde
Seiten beanspruchen. Wir wollen,
Schützer und Mäzen des Daidalos einen entsetzlichen Tod, und von außer den schon im Text angerühr-
dem Tage an schweigt die Mythe über das weitere Schicksal des ten, hier nur einige wenige Namen
nennen: Michel Leiris. Michel Bu-
Daidalos, des unheilschaffenden und unheilbringenden Urtyps der tor. Max Frisch. Edoardo Caccia-
Schöpfer sinnreicher Artifizialitäten, welcher seine Kunst selbst tore. Fritz von Herzmanovskv -Or-
lando. Ingeborg Bachmann (in bis-
verflucht hatte. Er soll durch den Biß einer Schlange ums Leben herigen Prosa-Versuchen). Herbert
11 Heckmann. Herbert Eisenreich. Ilse
ommen sein Aichinger. Heinrich Böll, Günter
Grass u.a. Entsprechende Maler bil-
den Legion. Erwähnt seien Ernst
Fuchs und L.Fini. Zur einzigartigen
geistesgeschichtlichen Situation
Der Labyrinth-Tanz Wiens —nachdem Prag Rudolfs II —
muß man lesen: F.Heer. Europäi-
sche Geistesgeschichte. Stuttgart
Wir erinnern uns: Daidalos hatte für Ariadne einen Tanz geschaf- 19^5. Dazu auch W.Benjamin,
fen, womit er sich also auch als Choreograph erwies. Dieser Tanz Schriften. Frankfurt 195^. p. 141 ff.
(Speziell (Groteske» im Wiener
wurde in der Abenddämmerung von Jünglingen und Mädchen ge- Theater des 1 7. Jahrhunderts.)
tanzt. Er ahmte in Form verwickelter Reigen die Irrgänge des La-
Seite der französischen Ovid-
Ausgabe von 1557 mit den
Holzschnitten von Bernard
Salomon
Erifi&on fe mange.
VJ
s
Er'tßclonßimcl'tque cnrage*,
Et qui ne peut trouiur afufißwcs
Tour ft remjilir (encor <JHII eut mange
Entierement Jon grand bim O" chettance)
Tlus ha mange, plus <t manger sauance,
Et yendfafitle enfin a bei argent:
Mais eile prend d'ttn pefcheur la fembhtnce^
Et Im enfiit foymeßne va mangeant.
xm
**££
22. D A S M A N I E R I S T I S C H E
THEATER
<Verspielte Paradoxien>
Die attizistische Tragödie entsteht, wir wissen es, aus der Begeg-
nung mit dem Apollinischen. In ihr lösen sich die Widersprüche
auf höherer Ebene auf. Sie verlieren sich in einer <Region, in deren
Lustakkorden die Dissonanz ebenso wie das schreckliche Weltbild
reizvoll verklingt). Das manieristisch Tragikomische entsteht
durch die Begegnung von Dionysos und Daidalos. Es kann dies also
uur bedeuten, daß der Manierismus für seine Theaterkunst ein-
zelne dionysische Elemente auswählt und seiner Welt anpaßt. Dio-
nysische Einzelzüge werden zur Herstellung <kalter und verspielter
"aradoxien> benützt. Es sagt dies Nietzsche in bezug auf Euripides.
und in der Tat, man kann Euripides (484-406 v. Chr.) als den euro-
paischen Urahnen wenn auch nicht der Tragikomödie, so doch des
nianieristischen Theaters ansehen. Nietzsche nennt Euripides. im
Gegensatz zu Aischylos, einen <sokratischen Denker>. Wir sagen:
er
ist ein Daidalos-Jünger. Daher wird das Euripideische Drama
nach Nietzsche <ein zugleich kühles und feuriges Ding>. Und es
'ockert sich schon bei Euripides, der den Sophisten nahestand, die
Einheit der Handlung auf. Typisch für ihn ist auch, daß die Lösung 45c
des Knotens oft schockartig, überraschend geschieht, durch den
<deus ex machina>. Oft sucht er nach <Neuem>, <Verblüffendem>.
Er ging zum ersten Mal <moderne> Wege, indem er auch die neue
Musik übernahm, die sich damals zu bilden begann und die Wort
und Handlung durch artistische Beweglichkeit, nach Auflösung
der alten Rhythmen, <musizistisch> untermalte. Rhetorische Wort-
duelle und pointierte Sentenzen gehören zum neuen Raffinement
seiner Technik. Senecas Tragödien sind stark von Euripides ab-
hängig. Seneca, der <Spanier>, ist der Lieblingsautor manieristi-
scher Theaterdichter des 17. Jahrhunderts gewesen. Auf der Bühne
des Lucius Annaeus Seneca (gest. 65 n.Chr.) herrschen Grauen,
entfesselter Liebeswahn, Tortur, Mord, Verbrechen, Wahnsinn,
Groteske, Magie. Für seine Sprache sind charakteristisch ver-
wegene Metaphern, Hyperbeln, Antithesen, Paradoxien, Oxymora
und phantastische Wortspiele. Seinem extremen Psychologismus
entsprechen eine antiklassische Episodik und kontrastreiche Cha-
rakterisierung. Im <asianischen> Manierismus des spanischen
17. Jahrhunderts erlebt Seneca seine volle Auferstehung.
Maschinen-Künste
Manieristisches Theater und manieristisches Musikdrama der
Neuzeit in bezug auf eine <neue> Gattung, auf die Tragikomödie,
entwickeln sich um 1550, von Florenz ausgehend, aus der Drama-
tisierung des Madrigals mit Dialog-, Lamento- und Echoszenen.
Guarini schreibt 159g seinen berühmten <Compendio dellapoesia
tragicomica>, zehn Jahre später Lope de Vega sein Werk, das die
spätere europäische Theater-Kultur vielleicht mehr beeinflußte als
Agostino Carracci: Die Ewigkeit
vmi Nymphen dargestellt (dem
Pantheismus Giordano Brunos
verwandt)
Periaktenbühne von
Josef Furttenbach
<Erfindimg,
verkehrt in sich selbst>
Doch was geht auf diesen manieristischen B ü h n e n vor sich, außer
Maschinen-Effekten? Wir k ö n n e n die Özorejsos-Eigenschaften an
den Figuren u n d Geschehnissen ablesen, allerdings unterliegen
sie immer d e m Ariadne-Daidalos-Stil. W i e die B ü h n e selbst, so
verwandeln sich d a u e r n d die M e n s c h e n , ihre Charaktere, ihre
M e i n u n g e n , ihre Überzeugungen, ihr Schicksal — in antilogischer
Weise. Von Shakespeares <King Lear> sagt W. Sypher: <Seine Welt
ist ein Tumult mächtiger Disharmonien.> F o r m der Bühne, des
Theaterstils u n d der dramatischen Abläufe bilden ein Ganzes von
Dissonanzen. Daher auch die Vorliebe für die Tragikomödie. Der
französische Romancier und T h e a t e r a u t o r Georges de Scudery
(1601-1667) erklärt ausdrücklich, die Tragikomödie sei <die ange-
nehmste Gattung>. D a sie weder Tragödie n o c h Komödie sei
könne m a n sagen, daß sie <beides gleichzeitig sei, ja, sogar noch
etwas mehr>. E r vergleicht sie mit gewissen Architekturen, die —
wie auf Bildern Desiderio M o n s ü s - alle Stile vereinen. Als Muster
für eine solche discordia Concors des Theaters galt G. B. Andreirü s
<Centaura> (auch discordia Concors). Sie w u r d e 1622 in Paris g e _
druckt, mit Vorworten solcher Erzmanieristen wie Theöphile d e
Viau und Saint-Amant. Diese Tnvention extravagante> wurde
Mode. Andreini selbst hatte sein Werk m i t d e n Worten charakteri-
siert: <eine Erfindung, verkehrt in sich selbst>. Zwischen 1650 u n ^
1640 schwärmt die Pariser Avantgarde für das phantastisch Irregy.
läre dieser Art, so wie sie sich h e u t e an S a m u e l Beckett begeistert.
Blaise Pascal
(Zeichnung von Domat)
ÜÄ &<>-. 459
lets schießen aus dem Boden wie Pilze, zweifelnde, sarkastische
Miniatur-Melancholiker, Marionetten des Zweifels. Wer kein fe-
stes Ich-Zentrum hat, unterliegt der Halluzination von Doppelgän-
gern. Auf der manieristischen Bühne dieser Zeit wimmelt es von
<doubles> und <dedoubles> - wie in der <Komödie der Irrungem
Shakespeares, deren Concetto: <Bin ich ich selbst? - Ich bin mir
selbst verkleidet) das Zeitalter genauso faszinierte wie Hamlet,
Wenn alles doppeldeutig ist (Graciäns <Equivoco>), so müssen
auch die Titel der Theaterstücke, im Sinne des <roten Schnees> von
Göngora, im Sinne der Doppeldeutigkeiten Marinos - zu Oxymora
werden. So heißen denn auch Werke dieser Zeit in Frankreich:
<Die falschen Wahrheiten>, die <Feindliche Geliebte>, die u n -
schuldige Untreue>, die <Lebenden Totem, die <Schuldigen Un-
schuldigem. Wenn es wahr ist, daß Shakespeare das Theaterstück
als eine verlängerte Metapher ansah), so hat diese Metapher den
bezeichnenden Charakter des Oxymorons. All dies ist typisch für
ein Wirklichkeits-Erlebnis, in dem die Grenzen zwischen Wachen
und Träumen nicht mehr existieren. Zahllose Bühnenhelden fra-
gen sich daher: <Welcher Dämon verzaubert uns? Schlafen wir?
Träumen wir?> Dazu gehört die <Bühne auf der Bühne>, als <Traum
im Wachen>. Im daidalischen Zerrspiegel erscheint die Welt als
Absurdum.
Sudden choice
Das elisabethanische Theater bekundet schon eine Preisgabe des
Kausalitätsprinzips in der Schilderung psychologischer Entwick-
lungen. Es kommt zu <Mutationen>, zu nicht determinierten
Sprüngen, zu schockartigen Entscheidungen (<Sudden choice>).
Mit anderen Worten: in den Seelen wirkt der <Deus ex machina>.
Man liebt oder haßt <plötzlich>, m a n mordet oder entscheidet sich
zu Gutem, jähen, unmotivierten Impulsen folgend. Es gibt also
eine typisch manieristische <Krisis>. Ihre Impulse sind irrational,
ihre Voraussetzungen alogisch. Doch sind sie in einem tieferen
Sinne nicht willkürlich. Undeterminierte seelische <Mutationen>
dieser Art sollen die neue Unergründlichkeit der Welt selbst bezeu-
gen, den Zusammenbruch des Geozentrismus. Demzufolge die
Abneigung des Manierismus nicht nur gegen Mittelpunkte jeder
Art, sondern auch gegen kausale Eindeutigkeiten. Die totale Am-
bivalenz der Menschen auf der manieristischen Bühne bekundet
wieder eine Epoche in Krise. Doch artet diese für das gesamte ma-
nieristische Theater des 17. Jahrhunderts typische Verliebtheit in
A-Kausalität, in <überraschende> Sprünge, in Schock-Erlebnisse
nie zu einer sentimentalen Irrationalität aus. Man versucht das
A-Kausale mit intellektuellen Mitteln zu umzirkeln, man bemüht
sieh, dem vermeintlich Abgründigen einen neuen, angemessenen
- unter Umständen doch noch immer erkennbaren - Umriß zu
geben.
Versagte Tragik
Den <Manierismus> bei Shakespeare beginnt die neuere For-
schung genauer zu definieren. Max Lüthi stellt in seinen Analysen
der Dramen Shakespeares folgende Grundelemente zusammen:
'Mittelpunkt-Verschiebungen, extreme Kontraste, scharfe Sensa-
tionen, rasche Wendungen und Verkehrungen, Schwellungen, SHAKE-SPEARES
Helldunkel der gemischten Charaktere, dissonierende Szenen,
Vielschichtigkeit des Geschehens, der Bildwelt, der Sprache, das SONNETS.
Miteinander von scharfer Realistik und krasser Stilisierung, von
Natürlichkeit, Nüchternheit und Exzentrik, Ekstase, von vieldi- Neuer beforelmprintcd.
23. I R R G A N G R O M A N
Das U m - d i e - E c k e - S c h r e i b e n
Der manieristische Roman, letzte Stufe des Manierismus in der
<Fiktion>, hat schon im 1 7. Jahrhundert den Charakter einer laby-
rinthischen Irre-Führung durch abenteuerliche Realitäts-Brüche,
im 20. Jahrhundert den ähnlichen Charakter durch Realitäts- und
Ideen-Brüche. In beiden Fällen handelt es sich um gelegentlich
hochgespannte und um vielfach auffallend schlaffe Versuche, die
urgesetzlich einfache, unkomplizierte, rechte und rechtschaffene
Art des epischen Erzählens - eines Überschusses geistiger und lite-
raischer Problematik wegen - aufzugeben, um von schlimmeren
Gründen zu schweigen. Der lockere Kontakt mit unmittelbarem
Welt-Stoff verführt zum <Labor> - nicht der <Träume>, sondern der
Experimente mit Schilderung, Beschreibung, Darstellung, wobei
nicht nur dem Gemeinplatz, sondern auch jeder Unmittelbarkeit
ausgewichen wird. Die sinnliche, einfache, ganz anders reduzierte
Realität (Homers oder auch Balzacs) h a t - für den manieristischen
Romancier- offenbar die Wirkung, die ein Leprakranker in Afrika
auslöst. Alles flüchtet! Wer die brutale Wirklichkeit nicht bewälti-
gen kann, rettet sich in skurrile Para-Epik, in virtuose epische
Wbrtmaschüien, in phantastisch geometrisierende Erzähl-Gauke-
leien. Dafür ist der Roman als Gattung besonders geeignet, denn er
zwingt- seiner Breite wegen — nicht zu noch edler concettistischer
Knappheit. Dennoch ist gerade der manieristische Romancier be-
sonders typisch für den Manierismus als existentielles Phänomen.
Einmal steht er vor den immensen Katarakten des Lebens, dann
aber- in seinem Lebensrhythmus — vor dem Zwang, diesen brül-
lenden <Naturalismus>... in preziöse, ingeniöse Formeln zu fassen.
Für dieses <Experimentieren> bietet der Roman ein geeignetes
Feld, eine Ursteppe für gefährliches, kühnes Experimentieren, für
gleichsam literarisch-kernphysikalische Experimente — weitab von
banaler Öffentlichkeit. <Am Ufer saß ich / Fischte, die öde Ebene
im Rücken.> - <Ich weiß nicht, ob Mann oder Weib.> - <Twit, twit,
twit/Dschag, dschag, dschag, dschag, dschag/ So roh genötigte Es
sind dies Verse aus dem <Waste Land> von T. S. Eliot. <So roh genö-
tigt ... zum Experiment... So entsteht Dichtung für Dichter, Lite-
ratur für Literaten. So ergibt sich verabsolutierte Pbr-Arbeit zur
\ollendung. Insofern verhält der manieristische Romancier sich
zum Absoluten wie der Erkenntnistheoretiker zur Metaphysik. Die
Erkenntnistheorie wird verabsolutiert, die Metaphysik ist oft nicht
einmal mehr Anlaß. Die Relation zur Spätkabbalistik ist klar. La-
boratorien des literarisch-erkenntnistheoretischen Sprach-Maxi-
malismus! Welt ohne H u m o r {Daidalos), Welt ohne Kinder
{Ariadne)! Welt mit Inzest und Perversion gegen Welt mit uner-
gründlichen Kinderaugen am winzigen Urfeuer im Kamin, Welt
der immer im Ich einsamen Ver-tracktheit gegen Welt der kreatür-
lichen Eintracht.
Wenige nur hindert das Publikum, die Armen im Geiste, und
aas sind wir alle, angesichts solcher bald nur noch ingeniöser La-
byrinthe des Nichts, daran, den Traumfabriken der Technik zu ver-
fallen. <Roh genötigb auch sie. Hoffnungslos... Während die
Staatsmänner der Großmächte uns gelassen versichern, sie könn-
ten durch einen Druck auf den Knopf ganze Kontinente in die Luft
sprengen! Auch die neue Krisen-Landschaft ist vor-bildlich. Kin-
derlose Welt ohne Lachen und doch auch nur relativ heitere Welt
mit. in bezug auf den Irrsinn-Atomknopf, doch nicht allzu hoff-
nungsvollen Kindern... Beide haben also heute mehr denn je nicht
nur <öde Ebene im Rücken>... Schlimmer — für beide — die öde
Zukunft vor den Augen. Beide <Urgebärden> nähern sich also in
der heute totalen Ungewißheit. Läßt sich Integration dieser beiden
Lrgebärden denken, auch wenn wir kaum hoffen können, daß s i e -
diese Vereinigung - als das Rettende gelten mag? Wenn wir unse-
ren Höhlenbesuch beendet haben u n d wieder Licht sehen... Wer-
den wir dann das Licht wenigstens als erlösende Wärme empfin-
den? Gehen wir erst weiter, durch die letzten Gänge unseres <mun-
dussubterraneus>.
Den Roman, eine Schöpfung der Romanen, nennt Vossler eine
Gattung der Niedertracht und Starrheit). Gesunde und starke
Geister hätten ihn jederzeit verworfen, so etwa der Jansenist Pierre
Nic
oie (1625-1695), als er die <faiseurs de romans> <empoison- 465
Illustration zu Cervantes' <Don
Quijote» von Gustave Dore, Paris
1863
24. E P I S C H E MONSTREN
Roman Fleuve
Der preziöse, galante Roman des französischen 17. Jahrhunderts
wirkt blaß gegenüber Aretino, farblos sogar gegenüber Brantöme,
glanzlos gegenüber Marino und sicherlich substanzlos gegenüber
Cervantes. Doch sind die <Romans Fleuves> der Honore d'Urfe
(Schlüsselroman <Astree> mit 20 Madrigalen, 1610), der Scudery
1
Artaniene ou le Grand Cyrus, 1649—1653) nicht weniger manieri-
stisch als Gombervilles <Polexandre> (1632) und La Calprenedes
'Cassandre> (1644-1650). Alles, Mensch wie Landschaft, bewegt
sich darin in charakteristischen Verschlüsselungen, intellektuellen
Aventüren, verzwickten Seltsamkeiten, ausweglosen Verirrungen,
•n einer schon fast gegenstandslosen labyrinthischen Umwelt.
Doch liegt das Labyrinthische dieser Romane eher in der E n d l o -
sigkeit als in der berechneten Ablenkung vom Ziel. Die Ereignisse
bewegen sich in einer Landschaft ohne Widerstand. Begegnet man
einem Berg, so wird er Ebene, einem Fluß, so wird er Brücke, ei-
nem Toten, so wird er lebendig. Der <Magier> gehört zu den Haupt-
figuren dieser Roman-Monstren, ferner das versüßte Bizarre, das
Seltsame, die verzuckerte meraviglia, die preziöse Groteske, die
^•rsnobte Alchimie. Nur Graciän hat mit diesen manieristischen
Requisiten ein Meisterwerk geschaffen, den <Criticön>. Die Um-
risse solcher mondänen Monstren passen eher zu Arcimboldi als zu
Desiderio Monsü. Mit Greco haben sie gar nichts zu tun. Letzten
tndes sind die Autoren dieser Massen bedruckten Papiers nur de-
kadente Erben des zwar preziösen, aber viel konziseren Boccaccio
u n d des scharfsinnigen J o h n Lyly (<Euphues>, 157g). I n der preziö-
sen Vorform des manieristischen R o m a n s wird die discordia Con-
cors zum n u n schon fast schülerhaft verflachten Stilmittel, aber
auch alle uns jetzt bekannten Alexandrinismen treten hinzu.
Wasserenten = Galeeren
Manieristisch sind, wenn auch in z e i t g e b u n d e n e r Form, die sym-
bolischen (Romans d'Idees> von Rabelais, Fischart u n d Cervantes.
Rabelais weist auf Bruegel hin, Cervantes auf Callot u n d Goya.
Doch ist Cervantes, nach Friedrich Schlegel, <der w a h r e Meister
der manierierten Prosa>, zumindest was die Artifizialität der Ro-
manfiguren u n d was den irregulären D u k t u s der E r z ä h l u n g an-
geht. Auch für Don Quijote verwandelt sich alles in alles — in alles,
was er sich denkt, wünscht u n d erträumt. Aus einem Spelunken-
wirt wird ein Graf, aus Wasserenten w e r d e n G a l e e r e n , aus Verbre-
Feh
Erste Seite des <Don Quijote> von
Cervantes in der Erstausgabe.
Madrid 1605
PRIMER A P A R T E
D'E JL I N G E N I O S O
hidalgo don Quixoce de
Ja Mancha«
Crfpitulo Vrimero. Que trata de la conti*
cion, y exercicio de6 famofo hidalgo don
Qujxote de U Mancha.
N Vnlugar de la Mancha,de
cuyo nombre no quiero acor-
darme,no ba mucho ticmpo
que viuia vn hidalgo de los de
tanken ajlillcro.adarga anu«
gua,rozin flaco,y gaJgocorre-
rt£
«PC
25. D I E N A C H T S E I T E DER
GOTTHEIT
Phantastische Mystik
G
espanntheit! Über-Gespaiintheit: sie bestimmt den extre-
men Duktus der manieristischen Ausdrucksgebärde. Ein
leidenschaftlicher, irrationaler Ausdruckszwang wird - ' Auch Wvlie Sypher. Four Mag«-s "f
durch diese Gespanntheit — gleichsam in seiner zweiten Aus- Renaissance Style (o.e.) weit) aul
<t\vo modes> des Manierismus hin.
drucksphase künstlich, konstruiert, unschuldlos, Ausdruck eines auf eine «technische, und eine |js\-
Kalküls , eines exzentrischen Planes. Daher der doppelte Charakter chologische>. Er sieht auf der einen
Seite «terhnical ingenuitie*». auf der
dieser Urgebärde der Menschheit, ihre Zwiespältigkeit, ihre Mi- anderen •personal unre$t> (p. 116)
schung aus Vitalität und Intellektualität, aus besessenem Willen Und er heht ebenfalls das Element
nach Grenzüberschreitung und Bewußtseins-Spiegelung. Ele- der < Spannung> hervor sowie die (in-
dividuelle) Elastizität der Formen
mentares liegt in der ersten Phase dieser Geste. Die zweite Phase (Streckung). Die Wurzeln der \nii-
ist eine Gebärde vor dem Spiegel. Daher der irritierende Doppel- nomie in einer Gebärde sind uns |et7t
bekannt. Doch hat schon Cii ero aul
sinn jeder manieristischen Hochform. Das Bild einer in diesem zwei Arten (gern«) des asianischen
Sinne <über>-spannten Gestik löst auch dieses Rätsel. Die Zurück- Stils hingewiesen: «Genera Asiati< ae
dictionis duo sunt: uniini seilten-
führung des Manierismus auf eine solche spannungsreiche Urge- tiosuin et argutum. sententiis non
bärde löst seine Eigenart keineswegs auf. Im Gegenteil. In der tarn crebris et severis quam concni-
Spannungsstrecke zwischen elementarerem Ansatz ((Dionysos) nis (künstlich) et venustis (pnziäs)...
Aliud autem genus est non tarn sen-
und gespiegeltem Endschwung (Daidalos) liegen tausendfältige tentiis frequentatum quam verins,
Nuancen, liegen die vielen einzelnen Gradpunkte höchst individu- volucre {beflügelt) atque incitatum
(aufreizend)'. Brutus 525. cf. Norden
eller Eigenart.1 o.e. p. 154,
Demiurgen und Paranoiker
Die Welt m a g ein unentwirrbares Labyrinth sein. Könnte es aber
einem Hyper-Genie, einem U l t r a - P h a n t a s t e n nicht einmal gelin-
gen, nicht n u r dem Heros Theseus, sondern der g e s a m t e n Mensch-
heit den erlösenden Ariadne-Faden dazu zu schenken? Dieser
wahnsinnige Griff nach visionären, erlösenden Weltformeln, die-
ser derniurgische Wahn, das ist für den <Problematiker>, als psychi-
schen Archetypus der Manieristen, eine der Gebärde-Arten, die
seinen tiefsten Ausdrucks/.wängen entsprechen. Die Zerreißprobe
zwischen dionysischer Umrißlosigkeit u n d daidalischer Umzirke-
-' iVrdrix. der Neffe des Daidalos, lungssucht 2 bestehen n u r wenige. Es gibt ein Schattenreich des
von ihm aus Neid ermordet, hatte Manierismus, darin unendlich viel Gescheiterte: Erfinder, Kunst-
den Zirkel erfunden.
Ier, Dichter, Philosophen, Politiker, meist P a r a n o i k e r , hypoma-
nisch verrannte Entdecker der Q u a d r a t u r des Kreises. D e m gieri-
gen Streben nach der letzten Weltformel entspricht die erbar-
mungslose Folge des stetigen Scheiterns, u n d aus i h m entwickeln
sich Melancholie und Zweifel, der saturnische Defekt par excel-
lence. Der Zweifel! Er verhindert das E n t s t e h e n lebendiger Sym-
bole kurz vor ihrer Geburt. M a n will das W e r d e n im Brennglas des
Intellekts auffangen u n d damit eine m a g i s c h e Wahrheit aufflam-
m e n lassen. D o c h das W e r d e n entzieht sich d e n Ingenieur-Kün-
sten des Daidalos. Es entflieht seinem Zirkelgriff i m m e r wieder
Dionysos, so daß ihm, Daidalos, der süchtig ist n a c h erlösender
Welt-Form u n d befreienden Welt-Formeln, die Welt i m m e r wie-
der labyrinthisch erscheint.
Was also die Gespanntheit der manieristischen Urgebärde an-
regt, ist immer wieder diese fatale Zwiespältigkeit in einer aller-
dings großartigen G i e r n a c h Welt-Einheit. Aus dieser Zwiespältig-
keit ergibt sich nicht nur die Gespanntheit, s o n d e r n auch das Dop-
pelleben in manieristischer Kunst, Musik u n d Literatur, in jedem
sich auszeichnenden manieristischen D e m i u r g e n , d . h . <Werkmei-
ster> und (irdischem) <Weltschöpfer>. Sie bleiben d e m Dionysi-
schen verfallen: dem Traum, der von vitalem T a u m e l unterbro-
chen wird u n d wieder in träumerischer L a n g e w e i l e verendet; der
Vision, die zu melancholischem G r ü b e l n entartet; der surrealen
Phantastik, die sich im subrealen P a n s e x u a l i s m u s erholt; vor allem
dein Rausch. Die E r i n n e r u n g e n d a r a n r e g e n i m taedium vitae, im
Lebensekel, d a n n zu artifiziellen Konstruktionen an. Auf die alogi-
sche Rationalität des Dionysischen wird d u r c h eine abstruse Intel-
lektualität des Daidalischen reagiert.
Künstliche Paradiese
F ü r den nicht-<erlösten> Manieristen, d.h. für den, der nicht zum
<mvthischen> Kernraum vorzudringen v e r m a g , gibt es d a n n viel-
leicht hin u n d wieder, a u ß e r der Hölle, ein <Paradies>, aber dann
n u r ein künstliches Paradies. Charles Baudelaire hat in seinen <Pa-
radis Artificiels> die <künstliche> Erlösungsmöglichkeit des nur
Verfallenen im intellektuell gelenkten R a u s c h beschrieben, im
Wein-, Haschisch- und O p i u m r a u s c h . Dieses Werk ist b e m e r k e n s -
wert. Wie k a u m einer vor ihm h a t Raudelaire die Rauschgiftwir-
kung <umzirkelt>. Was erfährt der in künstlichen P a r a d i e s e n Be-
glückte? <Unverständliche Grenzenlosigkeit, unauflösbare Wort-
spiele, barocke Gebärden.> E r sieht d a u e r n d <bizarre Köpfe>. Er
4.74 erfährt <die eigenartigsten Doppeldeutigkeiten (equivoques), die
unverständlichsten G e d a n k e n ü b e r t r a g u n g e n ) . <Die Töne werden
Farben, die Farben Klänge.> <Die P r o p o r t i o n e n von Sein und Zeit
werden verschoben.) M a n w i r d e i n e r w u n d e r b a r e n (merveilleux)
und phantastischen W e l t teilhaftig. M a n genießt ein i n t e l l e k t u e l -
les Paradies> mit <barocken K o m b i n a t i o n e n ) . E s sind dies die
Güter, die e i n e m ein <ideal artificieh schenkt. Haschisch ist ein
<Konvexspiegel>. In i h m fügt sich alles zu <Analogien> und <Korre-
spondenzen> ä la Swedenborg. <Die S o p h i s m e n des Haschisch sind
zahlreich und w u n d e r b a r . ) D e r H a s c h i s c h r a u s c h gleicht dem dich-
terischen Rausch. In diesen V e r w i r r u n g e n {aberrations) wird der
Mensch gottähnlich. D i e W e l t w i r d d u r c h evokative Verzauberung
zu einer magischen Allegorie.
Wie man erkennt, w i r d der R a u s c h systematisiert. Baudelaire
sagt es ausdrücklich: n u r d e r <Höherstehende>, der (Geistige),
kann durch Rauschgift e c h t e k ü n s t l i c h e P a r a d i e s e entstehen las- Charles Baudelaire,
sen; der nur a n i m a l i s c h e M e n s c h w i r d d u r c h D r o g e n seine tieri- nach einer Zeichnung ron
sche Natur lediglich verstärkt s e h e n . Edouard Manel
Jesus-Minne
Einige wenige Beispiele wollen wir zu diesem T h e m a n o c h geben,
speziell deutsche. Quirinus K u h h n a n n in der <Seele-Jesu-Gespie-
lin>: <So spielen die lieblichen Buhlen z u s a m m e n / u n d m e h r e n im
Spielen die himmlischen F l a m m e n , / D a s eine v e r m e h r e t des an-
deren Lust / Und beiden ist nichts als die L i e b e bewußt. / E r singet,
er spielet: er küsset, sie herzet...> Schon <surreal> abstruse mysti-
sche Phantastik finden wir aber v 0 r allem in e i n e m Werk von An-
gelus Silesius mit dem bezeichnenden Titel: <Sinnliche Beschrei-
CT
die Seligkeit: <Da werden sie in'n dunklen Grund / Der Reichtümer
verzucket / Und von dem allersüßesten Mund / Der ew'gen Lieb
verschlucket; / Da fället hin die Anderheit / Da ist nur eins zu spü-
ren / Da muß man sich in Ewigkeit / Für Wollust selbst verlieren. >
In der europäischen Jesus-Minne übersteigert sich die phanta-
stisch-ver-spiegelte Mystik des Manierismus. Auch dazu einige
Beispiele aus des Angelus Silesius <Heilige Seelen-Lust oder geist-
'lcne Hirten-Lieder der in ihren Jesum verliebten Psyche> (1675).
1 fyche jagt Cupido fort, den <dummen>, sie hungert gierig nur noch
nach Christus: <Ach, wie süß ist Dein Geschmack / Wohl dem, der
'»n kosten mag! / Ach, wie lauter, rein und helle / Ist Dein Ausfluß.
Deine Quelle / Ach, wie voller Trost und Lust / spritzet Deine milde
Brust> - <Ei, so fleuß' doch schleuniglich / In mein Herz und traute
mich! / Fleuß' herein, auf daß ich trinke / Und mit Dir in Gott
y
ersinke / Da ich bis in Ewigkeit / Schmecke Deine Süßigkeit.> -
ftyche, der Christenmaid, Sehnsucht wird unbändig, phantastisch
-<clionysisch>: <Zeuch mich nach Dir / So laufen wir / Dein liebstes
He
R zu küssen / Und seinen Saft / Mit aller Kraft / Aufs beste zu
477
'Joanne? 5<i*£(cnuf
479
tene> Tier verehrt, nach Plinius, S o n n e u n d Sterne. Bei Neumond
badet es sich im nächsten F l u ß . W e n n es k r a n k ist, schleudert es
Wiesenkräuter gegen den H i m m e l , u m H e i l u n g bittend. Cesare
Ripas <Iconologia> bietet uns jetzt weniger <Allegorik> als emble-
matische <Ikono-Mystik>. Wieder ein geistesgeschichtlicher Chias-
musä l
Hätte m a n Angelus Silesius, der alles <Heidnische> ablehnte,
diese Allegorie zur D e u t u n g vorgesetzt, so h ä t t e er wahrscheinlich
versagt, ebenso wie Plinius ratlos gewesen w ä r e , w e n n m a n ihm die
Hieroglyphe der Jesus-Minne von Angelus Silesius zur Enträtse-
lung vorgelegt hätte. U n d doch e n t s p r e c h e n sich alle p h a n t a s t i -
schem Mystiker in einem: im Begriff der Gottheit als: <speculumin
a e n i g m a t o . M a n m u ß n u r die Symbole — zu jeweiligen Epochen -
als Ausdruck einer entsprechend verschlüsselnden Urgebärde zu
deuten lernen. E i n beseligend-versöhnlicher A r i a d n e - F a d e n er-
löst uns dann aus den n u r a n s c h e i n e n d verworrenen Bezügen der
Geschichte. Die <phantastischc>, <paralogischc> M e t a p h e r wird in
der manieristischen Mystik zu e i n e m faszinierenden Kode Gottes.
Aus dem n u r literarischen M e t a m o r p h i s m u s wird ein Metamor-
phismus des U n n e n n b a r e n .
Doch, wir wiederholen es: die spannungsvolle G e b ä r d e des Ma-
nierismus bewegt sich auf einem b r e i t e n u n d differenzierten Grad-
messer. D e r M a n i e r i s m u s hatte sich als Aufstand gegen Regel-
zwang zugunsten individueller Schöpferkraft entfaltet, schon in
der Antike. Wo diese <Naivität> fehlt, k o m m t es zu oft unerträgli-
chen, oft r ü h r e n d e n Geschmacklosigkeiten, a u c h in der phantasti-
schen Spiegelmystik. Bezeichnend sind die abenteuerlichen Titel
m a n c h e r mystisch-phantastischen Bücher, die an zeitgenössische
Sekten im heutigen Amerika u n d E u r o p a d e n k e n lassen: <Die gei-
stige Tabakdose, dazu dienend, die f r o m m e Seele z u m H e r r n nie-
sen zu lassem. <Das süße M a r k , die zarte T u n k e der Heiligen und
'FürembtematischeBeispieled«u d e r saft. K n o c h e n d e s Advents>. <Mystischer Einlauf, u m die
D J
vgl. Mario Praz, Studi sul Loacet-
lismoo.c. p. i;,ii. Seelen zu retten, die an religiöser Verstopfung leidem.
26. W E I S S E U N D
SCHWARZE M Y S T I K
Satanismus
<Wenn es>, n a c h J e a n P a u l , <eine M a g i e der Einbildungskraft) gibt,
so bezieht sie sich i m m e r auf <weiße> oder auf <schwarze> Magie,
aber auch, so k ö n n t e m a n sagen, auf weiße u n d schwarze Mystik.
Des Angelus Silesius panerotische J e s u s - M i n n e gehört der weißen
Mystik an; sie ist eine christliche Sublimation der w e i ß e n Magie.
G e n a u s o gibt es eine mystische Adaption der schwarzen Magie,
n ä m l i c h die schwarze Mystik des M a r q u i s de Sade, den die Surrea-
listen bekanntlich zu ihren A h n e n zählen. H i e r wird die Säkulari-
sierung (der phantastischen Mystik) zur schwarzen Mystik in para-
noisch-verblüffender Weise z u m geistesgeschichtlichen Ereignis.
In d e n B ü c h e r n des Donatien Alphonse Frangois de Sade
( 1 7 4 0 - 1 8 1 4 ) erfolgt eine totale Reversion der christlichen Glau-
benswelt ins Satanische. Der weiße mystische E r o t i s m u s der
480 Teresa von Avila, des Angelus Silesius usw. wird zu einer schwär-
zen mvstischen Obszönität. Sades Bücher sind keineswegs nur por-
nographisch. Die Welt wird erklärt als Entsprechung der satani-
schen Finsternis. In dem Roman: <Juliette ou les prosperites du
vice> (1798) hat ein satanisches Monstrum die <bizarre> Welt ge-
schaffen. Gott-Satan ist das Ur-Böse. Das Böse ist gut. Das Verbre-
chen hat einen kosmischen Ursinn. Das Verbrechen ist <sublim>,
denn es offenbart die tiefste Wirklichkeit der Welt. Zu Motiven der
Kunst werden Schlachthäuser, Bordelle, Psychopathen-Galerien.
Die Monstrositäten Senecas und Shakespeares treten nicht nur in
<heteroklitischer> Übertreibung auf; sie werden mit liturgischen
Symbolen schwarzer mystischer Messen kommentiert. Die Hete-
rodoxie wird Blasphemie. Zerstörung führt zur <Ekstase>. Sie ist
eine <göttliche Infamie). Das Genie lebt nicht im <Reiche der Müt-
ter, sondern im Reiche der Hexen).
Der «göttliche Marquis> hat im Untergrund der europäischen Li-
teratur, insbesondere in der Literatur, die von der französischen
und englischen Romantik zur ersten Phase des französischen Sur-
realismus führt, einen größeren Einfluß gehabt als Voltaire. Er lö-
ste ein ganzes Pandämonium von schwarzer Mystik aus. Baude-
laireverlangte: <Man m u ß immer auf de Sade zurückgreifen.) Lite-
rarische Herolde der schwarzen Mystik findet man in den Studien
von Mario Praz. Nennen wollen wir Schillers <Räuber>, Byrons
<Childe Harold>, Flauberts <Versuchung des hl. Antonius>, die
<Chants de Maldoror> von Lautreamont, Gautiers <Une Nuit de
Cleopatro, Swinburnes <Cleopatra>, O.Wildes <Sphinx>, Josephin
Peladans <Ethopee>.
C O M E D I A FAMOSA.
LA V 1 D A ES S V E N O ,
"De D.Tedro Ca/deron Jela ^arc*.
Perfonasquc hablan cn ella.
jfrs Dam*. Eßrdla Infant*.
Stgifmanio Principe. Soldadoi, ^4fiolfo Principe.
Glet*läovitjo, Glarin Gratriafo. Guardjt. MvfitOl.
für John Donne wie für viele andere — nur eine <Täuschung> (falla-
cies). Hamlet stellt fest: <There ist nothing good or bad, but thinking
makes it so.> Der Manierist Meninni (j 7. Jahrhundert) schreibt ein
Sonett: <Die Lüge beherrscht alles>, und er stellt fest: <die Welt
spiegelt nur tausend Falschheiten). <Was ist Leben? Raserei! / Was
ist Leben? Schein und Schaum! / Ein Als-ob, ein Wenn und Kaum,
/ Klein dem Haben, Groß dem Sterben, / Traum ist dieses ganze
Leben, / Und Träume sind ein Traum.> Das ist Calderöns be-
rühmte Quintessenz. Vision des Lebens? In dem bekannten Kir-
chenlied von Johann Rist (1607—1667) findet man die Verse: <Mein
ganz erschrockenes Herz erbebt, / Daß mir die Zunge am Gaumen
klebt.> Ein bemerkenswertes Bild! Angespanntheit in der Angst!
<Seit Kopernikus rollt der Mensch aus dem Zentrum ins X>,
schreibt Nietzsche im <Willen zur Macht>. Und er fügt hinzu: <der
Mensch hat sich seit Kopernikus verkleinert).
485
27. K A S U I S T I K
UND L A X I S M U S
Der Mensch als
manieristisches Thema
Der Mensch sei in der Problematik des Zeitalters zu einem nur
noch um die eigene Achse rotierenden X geworden, schrieb Ernst
Robert Curtius in einer Streitschrift. Sicher erschien in neuer
Weise, seit Beginn der Neuzeit, n e b e n d e m <deus absconditus> der
<homo absconditus>, n e b e n d e m u n b e k a n n t e n Gott der unbe-
kannte Mensch. Der M e n s c h als u n b e k a n n t e G r ö ß e ! Der Mensch
als das rätselhafte X! G a b es n o c h Vergleichspunkte? Es bedurfte
neuer <Erfindungen>, u m diese u n b e k a n n t e G r ö ß e zu einer zu-
nächst noch hypothetischen, christlichen G l e i c h u n g zu erschlie-
ßen. Am E n d e der manieristischen E p o c h e , in der Zeit nach Sha-
kespeare, setzt folgerichtig die Ingeniosität des Zeitalters ihre
kunstvollen Hebel und H e b e l c h e n , ihre Zirkel u n d Zirkelchen am
Menschen an. Es führt dies vor allem z u m einzigartigen und fol-
genschweren Wirken der Kasuistik. Sie ist zu begreifen als eine der
fragwürdigsten, ja, verruchtesten u n d doch wieder— i m A b s u r d e n -
schöpferisch-anregenden T e n d e n z e n des M a n i e r i s m u s zur Desin-
tegration, zur W e r t - Z e r t r ü m m e r u n g . D a s h a t mit Kunst und Lite-
ratur n u n nichts m e h r zu tun. D e r l e b e n d e , a t m e n d e Mensch mit
seinen schwersten Existenzproblemen wird n u n Gegenstand der
skurrilen Ingeniosität u n d der b e r e c h n e n d e n Zirkel-Phantastik.
Kasuistik! Wir wollen zunächst das manieristisch Problemati-
sche, die alchimistische Ätzungs arbeit u n d die Homunkulus-Ten-
denz in ihr Sichtbarwerden lassen u n d d a n n erst das weltgeschicht-
lich Fruchtbare dieses kaustischen Zersetzungsprozesses erörtern.
Versuchen wir also, uns die Kasuistik zur Zeit Pascals kurz zu
vergegenwärtigen. Auch damit w e r d e n wir in einen Kernraum
gelangen, in einen K e r n r a u m a u c h u n s e r e r <existentialistischen>
Gegenwart.
Moralische
Wahrscheinlichkeits- Rechnung
Im historischen Sinne stellt sich die Kasuistik zunächst dar als eine
moraltheologische S o n d e r b e s t r e b u n g (einzelner katholischer
Priester) in der Zeit zwischen P o n t o n n o s u n d Kirchers Tod. Sie
wird als eine <Beschwichtigungsmoral> bezeichnet. E i n e r ihrer Ur-
sprünge ist Skeptizismus in b e z u g auf Absolutheit des moralischen
" i'f. Josef Mausbach, Die katholi- Erkennens und Handelns. 9 Gewissensfälle w e r d e n n a c h den Me-
sche Moral und ihre Gegner. Köln
11) i 5. (Mausbach wehrt Mißdeutun- thoden eines n e u e n Probabilismus u n t e r s u c h t , u m begriffliche
gen des kasuistischen Laxismus ab.) Wege zu finden, die es erlauben, d e m absoluten, d e m rigorosen
Gesetz auszuweichen. Dieses ingeniöse System einer Reduzierung
von absoluten Moralwerten auf jeweils spezifische, d. h. individu-
elle Sonderfälle sollte dazu dienen, das S ü n d e n b e w u ß t s e i n zu er-
leichtern u n d das Bußproblem zu vereinfachen. U n t e r Umständen,
so erklärten im 16. u n d 17. J a h r h u n d e r t einige extremistische
Moraltheologen innerhalb der Gesellschaft J e s u - ihre Lehren sind
von der Kirche längst verurteilt w o r d e n - , g e n ü g t schon die Furcht
486 vor der Hölle oder eine noch geringwertigere Disposition, u m die
Sündenvergebung zu erhalten. Sehr <extrem> wurde nun betont:
eine echte <contritio> (Reue im Sinne der Zerknirschung) sei also
nicht immer nötig. Es genüge auch <attritio> (Reue im Sinne eines
leichten Unbehagens). Es komme vor allem immer auf den Fall
und auf die Umstände an. Durch Mißdeutungen und Mißbrauch
kam es zu einer opportunistischem Moral, zum <Laxismus>.
Auch katholische Theologen geben zu, daß in der Kasuistik A n -
sichten hervortraten, die in der Milde gegen den Sünder zu weit
(ringen oder durch Spitzfindigkeit die schlichte Wahrheit erschüt-
tertem. Es kam zu heftigen Streitigkeiten, weil einige <Laxisten>,
nicht nur in bezug auf das sexuelle Leben, ein derartiges Labyrinth
von Kasuistik entwickelten, daß letzte Intimitäten für den Beicht-
stuhl katalogisiert und systematisiert wurden, in einer Weise, die
heute kaum vorstellbar ist und die nur noch in manchen Sitzungen
(extremistischen Psychoanalytiker zu finden ist. Es sei hier ver-
merkt, daß die Surrealisten in ihrer ersten Phase viel von Sigmund
Freud gelernt haben wollen. Nahe stehen sie aber auch der Kasui-
stik, denn sie haben im Freundeskreis die Technik der erotischen
Enthüllung mit systematischer Detail-Analyse als Gesellschafts-
spiel betrieben. Die Ergebnisse solcher mechanischer Zergliede-
rungssucht wurden z.T. gedruckt. In vielen Romanen ab 1850 ist
die Kasuistik zum sechsten Gebot zu einem natürlich säkularisier-
ten Hilfsmittel geworden. Höhepunkte: Proust und Musil, von
D.H. Lawrence und Henry Miller ganz zu schweigen. Die Kasui-
stik des 17. Jahrhunderts bietet, wenigstens in den Schriften ihrer
schon von Alexander VII. und Innozenz XL (1655-1689) verurteil-
ten Vertreter, zahllose klassifizierte moralische <Absurditäten>.
Ihre wichtigsten und umstrittensten Vertreter sind Bartholomäus
de Medina (gest. 1580, der übrigens nicht Jesuit, sondern Domini -
kaner war), Luis de Molina (gest. 1600), Joh. Azor (gest. 1605),
Thomas Sanchez (gest. 1610), Paul Leymann (gest. 1635), Dome-
nico Gravina (gest. 1643) und Antonio de Escobar (gest. 1669).
Schwarze Moral
Diese schwarze M o r a l ist d a s Äquivalent zur schwarzen Magie und
zur schwarzen Mystik. E r l a u b t ist, was gefällt, bei leichtem Reue-
Unbehagen vielleicht n o c h : e h e r a n g e n e h m gehemmte Wi//-Kür
also! Insofern ist der moralisch-juristische Probabilismus mit allen
ausdrücklich e m p f o h l e n e n Künsten der Verstellung, des Maskie-
rens, der D o p p e l b ö d i g k e i t von Wort, Sprache und Schwur wie der
ornamentale Knorpelstil in d e r Kunst der weltgeschichtlich ex-
tremste Ausdruck des M a n i e r i s m u s , gleichzeitig aber, in jeweiligen
Phasen, auch seiner A g o n i e . <Die Verstellung ist Heilmittel für je-
des Leid>, schreibt T o r q u a t o Accetto im Jahre 1641.'' Die verslel -
lende Geste sei so alt wie die M e n s c h h e i t (Adam und Eva). Um gut
verstellen zu k ö n n e n , b r a u c h e m a n Härte. (Accetto hat das
<Schöne> als liebenswürdige Verstellung) bezeichnet.) Man hüte
sich vor vitalen Erlebnissen, empfiehlt u n s Accetto. Sie erschweren
das Verstellen, und das zeigt wohl a u c h den z u m Dionysischen
konträren Duktus, den daidalischen D u k t u s in der manieristischen
Gebärde. Ver-stellung ist ein <Urgesetz des irdischen, im Gegen-
satz zum himmlischen Lebern.
Was ist für Graciän ein <überlegener Geist>? Derjenige, welcher
keinen <allzu deutlichen Vortrag hat>, <der der N e u h e i t schmei-
chelt>, <der die Gabe der E r f i n d u n g e n besitzt>, mit <einem Gran von
Wahnsinn>; <derjenige, welcher sein D e n k e n u n d H a n d e l n nach
den Umständen richten kann>, wer G e h e i m n i s v o l l e s durchblicken
läßt>, wer <sich vor Überlegenheit hütet>, w e r aber <Verstand> hat
<die königliche Eigenschaft); w e r weiß, <daß die D i n g e nicht gelten
für das, was sie sind, sondern für das, w a s sie scheinen>, wer weiß
daß <dumm nicht ist, wer eine D u m m h e i t begeht, sondern wer sie
nachher nicht zu verdecken versteht), w e r <nicht leicht glaubt und
nicht leicht liebt>, <wer ohne zu lügen nicht alle Wahrheiten sagt>
<wer sich fremde M ä n g e l zunutze m a c h e n kann>, wer <zuzeiten
dunkel sein kann, u m nicht g e m e i n zu werden>, wer, sofern er
<nicht Löwe sein kann>, sich m i t d e m <Fuchspelz begnügt>. <Gegen
die Dietriche der Seelen ist die beste Gegenlist, den Schlüssel der
Vorsicht steckenzulassen.) M i t e i n e m Wort: <ein Heiliger sein>.(!)
U m sich <zu verstellen, darf m a n sich sogar der W a h r h e i t bedienen
u m zu betrügen). <Die Arglist des Python kämpft auf solche Weise
gegen den Glanz der d u r c h d r i n g e n d e n A u g e n Apolls. >
Dennoch Rechtfertigung
Die katholische Kirche hat dem extremen Subjektivismus der Re-
naissance, und damit der <Problematik> des <modernen> Men-
sehen, in ihrer Geschichte nie so nahegestanden wie in ihrer ma-
nieristisch-kasuistischen Epoche, die zeitlich mit dem damaligen
Höhepunkt des europäischen Manierismus zusammenfällt. Wir
sagten es wiederholt: der Manierismus jeder Art bewegt sich immer
auf des Messers Schneide. E r steht, zumindest in seinen wichtig-
sten Manifestationen, stets zwischen Möglichkeiten der labyrinthi-
schen Ausweglosigkeit und der Aussicht, in einen erlösenden
Kernraum vorzudringen. Sind die Laxisten, Kasuisten, Probabili-
sten, die, wie man genau weiß, moralisch einwandfreie und hoch-
gebildete Männer waren, nur negativ zu werten? Hat Pascal, in
der ersten Phase seines Kampfes gegen das, was auch er schon als
Erscheinungsform eines neuen Nihilismus ansah, aus den Kasu-
ismen nicht nur das herausgefischt, was ihm besonders monströs
erschien? Der manieristische Subjektivismus am Ende der Renais-
sance hat die Menschenerkenntnis vertieft, die verwickelten Struk-
turen des Individuums sichtbar gemacht. Für wachsame, intelli-
gente Christen mußte sich dabei eine neue Form der Menschen-
liebe ergeben: das Verständnis für differenzierte Problematik des
Menschen gegenüber einem vielfach als zu rigoros erscheinenden
Glauben an transzendente Moralgesetze. In der Kasuistik, sofern
wir nicht nur ihre <grotesken> Auswüchse als Grundlage unseres
Urteils nehmen, entstand auch eine Wert-Lehre des Individuellen,
die bis heute die besten Spannungskräfte der katholischen Kirche
anregt. In der Mittellage ihrer Bestrebungen haben die Kasuisten
durch ihre moralistischen Differenzierungen (und zwar gerade
maßgebende Jesuiten von Rang) ein weltgeschichtlich legitimes
Streben zum Ausdruck gebracht: das Streben nach einem Aus-
gleich von moralischem Zwang und persönlicher Freiheit, von
^nade und subjektiver Unzulänglichkeit, von prästabilierter ethi-
scher Harmonie und individuell erlittener Ordnungs-Gewinnung.
Damals haben bedeutende Priester den Versuch unternommen,
sich dem <Absurden> des Menschen als <Deus in terris>, der konsti-
tutiven und zeitlich bedingten Unruhe des Melancholikers, des
'Malcontent), des Libertins, des Sich-auf-sich-selbst-Stellenden
anzupassen. Es entstand die <Illusions>-Perspektive, auch im Mo-
dischen. Diese Anpassung hat für die Kirche zu fruchtbaren Er-
gebnissen geführt: sie konnte Einseitigkeiten der mittelalterlichen
. etik überwinden, sie konnte sich vor allem bald mit dem noch
el
starker relativierenden Historismus messen, immer zwischen
> zt metaphysischem Probabilismus und Rigorismus weise aus-
g eichend. Darin liegt die stärkste irdische Kraft der katholischen
Kirche, die Kraft, die sie stets vor S e k t i e r e r t u m b e w a h r t hat. Diese
Kraft ist nicht zuletzt jenen Kasuisten von R a n g zu verdanken, die
Übertreibungen vermeidend, das Recht des M e n s c h e n anerkann-
ten, sich mit dem vielleicht m a n c h m a l allzu rigoros interpretierten
<moralischen> Zwang seines Schöpfers auseinanderzusetzen, wie
die katholische Theologie ihn auslegt. Nicht das göttliche Urgesetz
selbst sollte in Frage gestellt w e r d e n . E s sollte das Recht des Indivi-
duums anerkannt werden, die vielfältigen Reaktionen der Seele
darauf zu spiegeln und es d e m Subjekt zu erlauben, mit diesen
Spiegelungen eines makroskopisch G r a n d i o s e n i m mikroskopisch
Kleinen gleichsam einen welthistorisch n e u e n <moraltheologi-
schen> Dialog zu beginnen. D e r sündhafte M e n s c h vor dem Spie-
gel! Konnten manieristische G e b ä r d e n dabei ausbleiben? Auch
hier verführte der vitale Schock zu daidalischen Korrekturen mit
Artifiziellem. Dabei wurde jedoch die Widersprüchlichkeit der
menschlichen Seele entdeckt. Erst viel später — vor allem durch
Dostojewskij und Freud — w u r d e das Verständnis dafür zum geisti-
gen Allgemeingut der Zivilisationsmetropolen des 20.Jahrhun-
derts.
Hatten die Kasuisten also, abgesehen von ihren Übertreibungen,
in einem welthistorischen Augenblick recht? Diese Frage wird von
zeitgenössischen katholischen Publizisten bejaht, w ä h r e n d die
12
cf. Der Streit der römischen <Ci- Jesuiten heute stärker zu e i n e m n e u e n Rigorismus neigen. 1 2 Her-
vilta Cattolica> gegen Jacques Mari-
Uiin. m a n n Platz meint in seinem Pascal-Buch: <Der Laxismus, in dem
der Geist des H u m a n i s m u s weiterwirkt, betont Freiheit (und damit
die W ü r d e des Menschen). D e r Rigorismus, in d e m der Geist des
Augustinus und des Theozentrismus der Mystik gegenwärtig ist,
betont Gesetz (und damit die Majestät Gottes).> W i r k ö n n e n es
auch anders sagen: die Kasuistik ist moraltheologischer Anthropo-
morphismus gegen moraltheologischen Heliozentrismus. Der <en-
gen Pforte> des Rigorismus steht die <weite Pforte> des Laxismus
gegenüber, dem <rigoros> R e g u l ä r e n das <laxistisch> Irreguläre,
dem Perfektionismus die Verzweiflung der Unzulänglichkeit, die
zu einem aufrichtigen Zweifel führen k a n n . <Jedermann ist proba-
bilistisch, zehnmal am Tage>, schreibt der katholische Herausge-
ber der neuesten Ausgabe der <Provinciales>. <Es gibt keine edlere
Geistesübung als den Probabilismus.> <Unser ganzes heutiges
Recht ist probabilistisch, insofern u n s e r e Taten n a c h ihren Moti-
ven beurteilt werden. >
Mildernde Umstände! Wer dürfte sie h e u t e , in freien Gesell-
schaften, beanspruchen, w e n n es keine moraltheologische Kasui-
stik gegeben hätte? Wer w ü r d e die oft u n e n t w i r r b a r e Mischung
von Gut und Böse im M e n s c h e n begreifen k ö n n e n , w e n n es in je-
nem unerschöpflichen J a h r h u n d e r t nicht ebenso intelligente wie
menschenfreundliche T h e o l o g e n gegeben hätte, die sich über die
<labyrinthische> Natur des Menschen k l a r g e w o r d e n wären? Pascal
schoß — was seine <Provinciales> a n g e h t — übers Ziel hinaus, und
wir werden bald erfahren, w a r u m . Die <Jesuiten> wollten keines-
falls die O r d n u n g auflösen, die gravitätische Mitte des theolo-
gischen Kosmos zersprengen. Die besten von i h n e n trieben Psy-
chologie — auch aus Karitas, w e n n auch m a n c h e d e n Logos, aus
Servilität gegenüber der Obrigkeit, ebenso verrieten wie manche
<existentialistische> Literaten von h e u t e das Absolute geringschät-
zen, aus Liebedienerei g e g e n ü b e r der h e u t i g e n Erfolgspublizistik.
Die Kasuisten wurden <manieristische> Vorläufer der <komplexen>
Psychologie wie der <Existenz>-Phüosophie von h e u t e , aber auch
n
cf. Die Problematik des Falles unserer weltlichen Rechtsprechung, die h e u t e d e n Psychiater zu
Mooabrugger in Robert Musils
• Mann ohne Eigenschaften) o.e. Rate zieht, bevor sie sich zu e i n e m Todesurteil entschließt. 1 3 Und
sind die damaligen Übertreibungen und Irrtümer der Kasuistik
nicht auch aus dem damals noch höchst unzulänglichen Wissen
über die Physiologie des Menschen zu erklären? Was wußten <Ri-
eorc.se> und <Laxisten> zur Zeit des Escobar über <exakte> Ätiolo-
gie, Pathologie und Therapie? Wer eine objektive Geschichte der
Medizin nachliest, wird über die Unwissenheit noch entsetzter sein
als über die Machiavellismen mancher übertreibender Kasuisten.
Somit erfahren wir erneut: die Preisgabe des Mittelpunkts durch
manieristische Denkformen oder durch formale Manierismen
führt keineswegs immer zu einem Selbstverlust der Menschheit.
Sie lehrt uns, die Mitte in den Menschen und die Mitte im Kosmos,
die im Harmonieglauben des Attizismus nicht selten zu unmensch-
lichen Vereinfachungen und auch zu Täuschungen veranlaßte
(Pascal hat, wie gesagt, in seinem leidenschaftlichen Haß gegen
die Kasuisten gelegentlich Zitate aus ihren Schriften gefälscht),
immer neu, in immer neuen Tiefen zu suchen. Weltgeschichtlich
können manieristische <Säkularisierungen> zu einer Vertiefung
493
des Weltgeheimnisses führen, auch w e n n dies vielfach in einer
Umwelt von Problematikern, ja, sogar von G a u k l e r n u n d Gaunern,
von Seiltänzern und Trinkern, von Besessenen u n d Outsidern, von
Erotomanen und Dandies, von Snobs u n d B o h e m i e n s , von Mör-
dern und Selbstmördern geschieht. W a r u m sollte das Wirken Got-
tes nicht auch auf der Nachtseite sichtbar w e r d e n ?
Vor dieser Offenbarung im <Irregulären> hätte die katholische
Kirche zwischen dem Konzil von Trient ( 1 5 4 5 - 1 5 6 3 ) u n d der Ein-
schränkung der Kasuistik (1665 — 1690) fast kapituliert - im An-
sturm dieser aus drregulären Mythen> u n d aus <Heterodoxien>
schöpfenden <Manierismen>, sofern es sich u m moraltheologische,
also um überaus konkrete menschliche P r o b l e m e h a n d e l t e . Wenn
es, im Zwang der damaligen Erkenntnisse, angeblich keinen <Mit-
telpunkt> m e h r gab, wenn die S t a a t s m ä n n e r sich als <machiavelli-
stische> Piraten, die Richter als käuflich, die Schriftsteller als Pro-
stituierte, die Bürger, H a n d w e r k e r u n d B a u e r n als Herdenvieh
{cuius regio, eins religio), die meisten M e n s c h e n (im Beichtstuhl) als
erbärmliche Teufelsbrut erwiesen, sollte sich da nicht eine Situa-
tion ergeben haben, die dazu verführen k o n n t e , der totalen Absur-
dität dieser <allseitig>, dieser <universal> problematischen Mensch-
heit in der Moraltheologie R e c h n u n g zu tragen? W a r der Augen-
blick gekommen, den <Problematiker> als m e n s c h l i c h e n Urtypus
anzuerkennen? W u r d e die Kirche <manieristisch>? Wollte auch
sie, aus der damaligen <Angst>-Situation, dem existentiellen
Schock des allseitigen Zweifels u n d d a n n einer artifiziell ausglei-
chenden Ausdrucksgebärde verfallen?
28. D E R E R F I N D E R
GOTTES
Integration im Menschen
Die christliche Menschheit m u ß an diesem d r a m a t i s c h e n Wende-
punkt, der von damaligen E u r o p ä e r n viel intensiver erlebt wurde
als von heutigen Bewohnern dieses Erdteils die Folgen der Zer-
t r ü m m e r u n g von Atomkernen, wie J o h a n n e s Rist es sagte, derart
<Angst> erlebt haben, daß die <Zunge a m G a u m e n klebte>. Damals
handelte es sich u m das Weiterbestehen geistig-sinnvollen Seins,
heute auch u m das Weiterbestehen biologischen Daseins. Die Auf-
lösung des geistig Absoluten führte d a m a l s zu einer ähnlichen
Konsternation wie heute die anarchische B e d r o h u n g unseres phy-
siologischen Zellen-Agglomerats. Diese (damalige) Gefahr er-
kannte, w e n n auch im Kampfeseifer d ä m o n i s c h übertreibend, im
E u r o p a jener Zeit mit prophetischer Intelligenz der Erfinder Blaise
Pascal.
Hyperbolik des Herzens und Elliptik des Verstandes! In extremen
manieristischen Situationen sind ihre Opfer M o n s t r e n des Herzens
u n d Monstren des Verstandes. E i n e m der größten integrierenden
Geister Europas, Blaise Pascal (1623—1662), zwang sich in der Ge-
fahr der Auflösung eine n e u e M e t h o d e geistiger H a r m o n i k auf:
eine subtile Erkenntnistheorie n e u e n Gleichgewichts, eine meta-
physisch-religiöse Moralistik, angeregt und aufgebaut durch die
<raisons du cceur>, durch die Vernunftgründe des Herzens.14 Diese " D u W o i l 'CU'lil darf k r l n r ^ a l U
in irgendeinen] (enlimental-roman-
neue, aber ganz und gar antimanieristische Paradoxie formulierte
tischen Sinuc uuerpretierl werden
Pascal nach seiner dramatischen Konversion von 1654. Wir möch- iCaeun siclii biet furGeül ab Vi rar
ten die manieristische Epoche von Pontormo bis Graciän und Kir- nifnijiii von Verstand und Seele
<C<Eur> k a n n als • mti•ll.-tln (J u n o n
cher mit diesem Datum in Agonie treten lassen, wobei wir uns be- verstanden werden. <( Uteri 94
wußt sind, daß dieses Verdämmern um 1654 in den verschiedenen gllin. P u c a l par lin-inriiM Pari«
1953, und Romano Guardini n >
Regionen und Provinzen Europas, von unausrottbaren geistigen
Schmollwinkeln ganz zu schweigen, nicht gleichzeitig, gleichsam
kollektiv erfolgte. Mit Pascal tritt in höchster Konzentration, wie
auch immer man ihn werten mag, ein anderer <Geist> auf. Wir fol-
gen damit einer letzten Spur zur Charakterisierung der <manie-
ristischen Urgebärde>, des problematischem, des sogenannten
<modernen> Menschen. Der totalen Reversion tritt in einem
weltgeschichtlich dramatischen Sinne die totale <Kon-version>
gegenüber.
I Die Angriffe Pascals auf die Kasuistik verstärken zunächst die
<Barock>-Tendenzen der Kirche. Pascal trat selbst schon früh für
das massive <persuadere> durch emotionelle Mittel ein, also gegen
den <Perspektivismus> des analysierenden und moralisch verset-
zenden Intellekts. Fast gleichzeitig mit ihm machte die Kirche ihre
große antikasuistische Kehrtwendung. Auch Pascal gab somit der
Kirche Elemente zu ihrer neuen restaurativen Überzeugungsge-
bärde, die dann zum sogenannten Hochbarock führte. Er er-
kannte, wie bald auch die Kirche, daß die völlige <kasuistische>
Adaption an jeweils zeitgenössische <Problematik> des jeweils <mo-
dernen> Menschen die Welt in ein kriminelles (lat. <crimen> heißt
auch Laster) Labyrinth des moralisch Unentwirrbaren hätte ver-
wandeln können.
Doch blieb Pascal nicht in der apologetisch-restaurativen Ge-
bärde des <Barock> stecken. Am Montag, den 23. November 1654,
erlebte er seine <Vision>. Er stand, christlich leibhaftig, plötzlich vor
dem Absoluten. Dieses Erlebnis entzog ihn allen historisch beding- Totenmaikr von Maate Pascal
ten Situationen des Glaubens. Der Mensch, ein Mensch, stand jäh
wieder in einem Raum des Übergeschichtlichen. Damit geschah
eine Herausforderung an die Menschheit, um deren Antwort sich
vielleicht erst heute die besten Geister Europas bemühen. Es han-
delt sich um die Integration der beiden Urgebärden der Mensch-
heit. Zum Problem der zwei <Urgebärden>, die sich, wie wir oft
hervorgehoben haben, in einer reicheren, freieren, größeren, ech-
teren <Dritten> vereinen können, sollte man den selten zitierten
Satz von Pascal in einem seiner Briefe beachten: <Die Wahrheit,
die uns dieses Geheimnis erhellt, ist die, daß Gott den Menschen
mit zwei Arten der Liebe erschaffen hat: mit der Liebe zu Gott und
der Liebe zu sich selbst; aber es ist das Gesetz der Liebe zu Gott,
daß sie kein Ende hat, es sei denn in Gott selber, und es ist das
Gesetz der Liebe des Menschen zu sich selbst, daß sie endlich und
aufGott bezogen ist.>
Jede Art von Perfektionismus (grandeur) und jede Art von sub-
jektiver Ver-tracktheit, also jede Art von Elend {misere) kann und
muß Mittel, nicht zu einer Re-Version oder gar Per-Version. son-
dern einer Kon-Version zum Absoluten hin werden. Person und
Werk Pascals kann man, nicht allein für seine Zeit, als Gleichnisse
betrachten für eine nicht nur vitale mystische, sondern auch gei-
stige, logische Überwindung der Problematik des modernen Men-
schern.
495
<Integration> in e i n e m M e n s c h e n
Vor seiner Vision von 1654 war der junge Mathematiker und Erfin-
der aus bürgerlichem Hause, Blaise Pascal, zeitweise das, was man
im Europa seiner Zeit im vereinfachenden Sinne als <manieri-
stisch> hätte bezeichnen können: Dandy, Freigeist, Concettist, Pre-
ziöser, Salon-Psychologe, Relativist, als Montaigne-Verehrer
'' Nicht nur die Tatsache, daß Pas- Skeptiker, vielleicht sogar Spieler13, Melancholiker, manchmal
cal das <Roulett> erfunden hat, hat zu
dieser Vermutung veranlaßt
auch im Sinne des <mauvais caractere>, sicher auch <Gehemmter>,
doch war seine <Bekehrung>, zumindest seit 1646, durch seine
starke religiöse Dämonie längst vorbereitet. Über sein erotisches
Leben ist nur bekannt, daß er eine adlige Dame verehrte und zeit-
weise an Heirat dachte. Anigmatiker war er auch. Er liebte Wort-
spiele, kryptographische Anagramme aller Art, und eins seiner
Lieblingswörter heißt <Chiffre>. Das Porträt seiner Jugend ist faszi-
nierend: Weltmann, Verschwender und intellektuellen, Opfer des
Jähzorns und Freund der Armen, vor allem <Maschinist>, als Neun-
zehnjähriger Erfinder einer der ersten Rechenmaschinen, also
Daidalos-3ünger, nachdem er schon mit 16 Jahren einen aufsehen-
erregenden Traktat über die Kegelschnitte und mit 23 Jahren eine
nicht minder berühmte Abhandlung über das Vakuum geschrie-
ben hatte. Über Pascals Rechenmaschine schreibt seine Schwester
Gilberte: <Dieses Werk wurde als etwas Neues in der Natur angese-
hen.) Man kann sich Pascal in seiner mondänen Z eit gut vor einem
Konvexspiegel vorstellen, als einen geistigen Bruder Parmigiani-
496
nos. Unter den Preziösen lernt der junge Dandy den <Esprit de
finesse> kennen, als Mathematiker weiß er um den (Esprit de geo-
metrie>. Verworren leichte Lebens- und Denkart und orthodox-ra-
tionale Denkmethodik werden ihm bald unerträglich.
<Konfusion o h n e Absicht)
Der Stil Pascals hat, auch und gerade nach der Konversion, viele
manieristische Elemente: Oxymora, Paradoxien, so etwa: <Erkennt
doch die Wahrheit der Religion in der Dunkelheit der Religion
selbst.> <Größe und Elend des Menschern usw. Wir sind daher
nicht verwundert, auch bei ihm die berühmte Formel zu finden, die
von der graeco-orientalischen Magie über Tesauro und Graciän bis
zu Baudelaire und Breton uns so oft begegnet ist: <Die immer aufs
neue wunderbare Verbindung, welche die Natur, in Einheit ver-
liebt, zwischen den anscheinend voneinander entferntesten Din-
gen herstellte <Sein Stil>, heißt es in neuen französischen Darstel-
lungen, <ist ein Stil der Paradoxien, der Überraschung, der Ver-
blüffung, der bizarren Entsprechungen.) Manierismen dieser Art
finden sich noch unter den letzten der uns überlieferten 924 <Pen-
sees>. So schon in <Pensee> Nr. 373: <Konfusion ohne Absicht: das ist
wirkliche Ordnung, die meinen Gegenstand durch Unordnung im-
mer kennzeichnen wird.) Doch distanziert sich Pascal bald von die-
sen paralogischen Stilmitteln, vor allem nach der (Konversion).
Immer schärfer unterscheidet er, wie es seit der Antike üblich ist,
<zwei Stile>, aber nun sozusagen gegen Graciän, der denverwickel-
ten, <gesuchten> asianischen Stil vorzog. <Zwei ,manieres' gibt es,
durch welche die Bilder sich der Seelen bemächtigen, den Ver-
stand und den Willen. Die beste ist die erste; doch die gewöhn-
lichere, obgleich antinatürliche, ist die gewollte, denn alles, was
Mensch heißt, neigt meistens dazu, mehr dem Gefälligen als dem
Beweisträchtigen zu glauben. Diese Art ist niedrig, unwürdig,
fremdartig.)
Pascal haßt daher auch die Komödie bzw. die Tragikomödie,
eine der manieristischen Gattungen par excellence. Man müsse
sich, empfiehlt er, zum (natürlichen) Stil entschließen, und nicht
das als groß bezeichnen, was klein ist, und nicht das, was klein ist,
groß. Also Ablehnung der Ellipse wie der Hyperbel. Wenn man
dem natürlichen Stil begegnet, ist man verwundert und entzückt,
denn man glaubte einem Autor zu begegnen, und man findet einen
Menschen.) (Universale Menschen heißen weder Dichter noch
Geometer; sie sind beides zugleich.) (Exzessive Eigenschaften leh-
nen wir ab, wie zuviel Geräusch, zuviel Licht, zuviel Ferne, zuviel
Nähe, zuviel Lange, zuviel Kürze.) (Extreme Dinge sind für uns so,
als existieren sie nicht.) Wer nur mit dem Verstand schreibt (wie
üescartes), ist (nutzlos und unsicher). Die bloße Phantasie (imagi-
nation) ist (die Herrin der Irrtümer und Falschheiten). (Diese stolze
Macht) hat (im Menschen eine zweite Natur erzeugt). (Ausdruck
davon ist ein Wort Paul Claudels: (Die Ordnung ist das Vergnügen
der Vernunft, aber die Unordnung das Entzücken der Phantasie.)
Hieder, selbst bei Claudel, die (Phantasiai insanes> des Quinti-
lian!)
Es wird klar, daß Pascal den (style natureb nach seiner Zeit als
Libertin und Preziöser theoretisch vorgezogen hat, daß er die Ka-
suisten vor allem bekämpft hat, weil er sie als Verkörperung des
Manierismus und auch der Skepsis ansah, auch wenn er die Skep-
sis Montaignes als Methode a n e r k a n n t e u n d benutzte, u m die
Selbstherrlichkeit der <raison> zugunsten der christlichen Myste-
rien zu erschüttern. Er haßte die Kasuistik, weil sie die Unsicher-
heit, die Problematik des M e n s c h e n gleichsam verabsolutiert
hatte, er verachtete aber auch die manieristische Mystik der uns
bekannten Binet und Le Moyne wegen ihrer gesuchten, preziösen
cf. L i. Brief der <Provineiales> o.e. Subtilitäten. 16
II, p. i ff. Le Movne hatte eine <De-
vuliou Aisee» geschrieben. Der Titel Doch bleibt das Spannungsverhältnis in Pascal, die Spannung
ist schon typisch. In e i n e m Buch zwischen den <deux manieres>, bis zu seinem Tode stark u n d ent-
• Peintures Morales> hatte er das E r -
röten» gelobt, als Zeichen der
scheidend. Der bloße Dualismus allerdings wird in seinem Werk
Schamhaftigkeit. und dazu empfoh- durch ein neues absolutes Verhältnis zur Aussage u n d Mit-teilung
len, deswegen alle <roten Dirjge> zu
überwunden, durch einen einzigartigen Akt individueller Remy-
lieben.
thisierung, ähnlich wie bei D a n t e u n d S h a k e s p e a r e , bei Bach und
Goethe, bei Calderön u n d R e m b r a n d t . Diese Integration hat eine
einzige Wurzel: Erfahrung einer geistigen Gotteskindschaft im
wachsten Geist und dadurch — gegen alle Krisen — Rückgewinnung
von Sicherheit, Gewißheit, F r e u d e , O r d n u n g , H a r m o n i e , Autori-
tät.
<Freude, F r e u d e , Freude>
Geschenkt w u r d e n sie Pascal d u r c h die Vision v o m November
1654, die er in dramatischer Bewegtheit in seinem berühmten
<Memorial> festgehalten hat, auf e i n e m Blatt Papier, das erst nach
seinem Tode, in seinen Rock eingenäht, g e f u n d e n w u r d e . In einem
Feuerschein wird ihm die einzig mögliche U r o r d n u n g offenbar:
<Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen
u n d Gelehrten.> D a r a u s ergibt sich: <Gewißheit Freude. Gefühl
Freude.> <Gott Jesu C h r i s t b . . . <Größe der m e n s c h l i c h e n Seele>.
Wieder dreimal hintereinander geschrieben: <Freude, Freude,
Freude.> <Gänzliche Unterwerfung) u n t e r J e s u s Christus u n d un-
ter meinen geistlichen Lenker>. <Ewig in der F r e u d e für einen lag
der Mühsal auf Erden.> Im G n a d e n e r l e b n i s des Christus-Gottes
versöhnen sich alle Gegensätze. E s b e g i n n t die Integration der Ge-
gensätze Gott und Mensch, G r ö ß e u n d E l e n d des Menschen,
Freude und Melancholie, O r d n u n g u n d Verzweiflung, Optimis-
mus und Pessimismus, Ursprünglichkeit u n d B e r e c h n u n g .
Es <leuchtet> Pascal durch die <Fülle von Licht> ein, daß der
Mensch (auf sich gestellt) eine <Chimäre> ist, ein <Monstrum>, ein
<Chaos>, ein <Subjekt> von W i d e r s p r ü c h e n , ein <Ruhm u n d Aus-
schuß des Universums>, mit e i n e m Wort eine Disharmonie, ein
Oxymoron, ein Zwitterwesen zwischen Tier u n d E n g e l . Eine dis-
cordia Concors ist n u r in Gott, in Christus, möglich. Alles andere ist
Trug und Wahnsinn. <Erkennt also, H o c h m ü t i g e , welches Paradox
ihr selbst seid! Demütige Dich, o h n m ä c h t i g e Vernunft; schweige,
stumpfsinnige Natur.> Erlebt wird also eine mystisch religiöse con-
cordia mit einem Ausbruch von Seligkeit, weil sie diesem Geist,
einem der scharfsinnigsten, die E u r o p a je besessen hat, diesem be-
gnadeten <Ingenium>, als die einzig mögliche Art der Rückgewin-
n u n g von Ureinheit erscheint. Auf eine sublime Art erfährt auch
Pascal Wahnsinn, u n d er weiß es: <Die M e n s c h e n sind derart not-
wendiger Weise wahnsinnig, d a ß es W a h n s i n n w ä r e , durch einen
anderen Wahnsinnsstreich nicht w a h n s i n n i g zu sein.> Ein in die-
sen Z u s a m m e n h ä n g e n b e m e r k e n s w e r t e r Satz! D e r Wahn-Sinn,
wie ihn der Problematiker erlebt, k a n n n u r in die rechte Bahn
(<Mein höchster L e n k e n ) k o m m e n , w e n n die transzendentale
498 Wahrheit, durch G n a d e , im M e n s c h e n Ereignis wird.
Das C o n c e t t o der <Wette>
Doch ist das Drama Pascals noch verwickelter. Man hat, wie wir
meinen, den ersten <Pensees> (<Concetti> heißen im Französischen
auch <Pensees>) gegenüber den späteren (ab Nr. 547) zuwenig Auf-
merksamkeit geschenkt. Wir bitten den Leser um Geduld, wenn
wir den Stufen dieser im damaligen Europa beispiellosen Peripetie
folgen. Die erste Reaktion Pascals - nach dem <Ausdruckszwang>
von 1654 — ist eine überzeugenwollende <Gebärde>. Nach seiner
<Genesung> spielt er mit der Weltangst der Menschen. Er verfährt
so, als wenn er sie noch hätte. Er verhält sich bewußt <manieri-
stisch>, aber nur, u m damit besser überzeugen, um <heilen> zu kön-
nen. Dabei bedient er sich auch einer <kasuistischen> Methode auf
höherer Ebene. Er spricht das Gefühl an und erweckt gleichzeitig
Skepsis, im Sinne Montaignes, u m Mißtrauen gegen immanente
Vernunft einzuflößen. In dieser kurzen Phase der <Pensees> ist er
typisch <barock>. Seine Abhandlung über die <Kunst des Uberzeu-
gens> hat verschmitzt-pädagogischen, listig-didaktischen Charak-
ter. Er erzeugt künstlich Weltangst.
Um diese auszunutzen, bedient er sich, der Erfinder des Rou-
letts, in der ersten Hälfte der <Pensees> noch eines verspielten, ma-
nieristischen Tricks: des ebenso berühmten wie berüchtigten Con-
cetto der <Wette>, des <Pari>. Vereinfacht erklärt: einem manieristi-
schen Libertin schlägt er eine theologische Wette vor. Ausgangs-
punkt: Endergebnis, nach Vernunftgründen völlig ungewiß. Wett-
Gegenstand: Gott. Frage: Gibt es ihn oder nicht? Beweise für die
Existenz Gottes gibt es — für den Libertin — keine. Hat es nun Sinn,
einzusetzen für die Nichtexistenz des <Unbekannten>, Verborge-
nem, des <Deus Absconditus>, des ewig verhüllten, änigmatischen
Gottes? Pascal machte es seinem fiktiven Dialogpartner, dem
landläufigen Skeptiker, klar, daß es nützlicher sei, für die Existenz
Gottes zu <wetten>, denn m a n könne schließlich die Wette nur ver-
lieren oder gewinnen. Hat m a n gegen Gott eingesetzt, so bleibt -
im irdischen Leben — ohnehin die rationale Gewißheit aus, daß es
Gott tatsächlich gibt. Man verharrt also weiterhin in <Problematik>,
<Verzweiflung>, im abstrusen Dasein des <Malcontent>. Hat man
aber für Gott <gewettet>, so könnte man - nach dem Tode - die
Gewißheit über seine Existenz erhalten, und dann hat man alles
gewonnen. Was aber geschieht, falls manfiir Gott gewettet hat und
sich nicht damit zufriedengeben kann, die Tatsache seiner Exi-
stenz erst nach dem Tode zu erfahren? Pascal sagt: Jeder Spieler
fordert mit sicherem Glauben den Zufall heraus, um mit Ungewiß-
heit zu gewinnend Wenn m a n für Gott wettet, wird der dafür ein-
setzende Mensch werden: <treu, ehrlich, bescheiden, dankbar,
wohltätig, aufrichtiger Freund, echt.> Mit anderen Worten, so sagt
Pascal, schon im <geordneten Lebern wird man an sich selbst er-
kennen, daß man richtig eingesetzt hat. Der also aufgeforderte he-
terodox-manieristische Freigeist antwortet, nach Pascal, darauf:
dJie Rede reißt mich hin, sie entzückt mich.. .>
Das theologische Pari-Concetto Pascals darf man als das be-
rühmteste Concetto der manieristischen Literatur bezeichnen.
Doch bedeutet es viel mehr. Es setzt <abetir> voraus (verdummen),
also Verzicht auf Rechthaberei der ingeniösen <Vernunft>. d.h.
Verzicht auf die pseudorationalistische <Seim>-Korrektur älaDoi-
dalos. <Abetir> ermöglicht aber den Aufschwung anderer innerer
Mächte, derjenigen der dionysisch-irrationalen unkomplizierten
Verbundenheit mit allem Sein. Der <Erfinder> Pascal, das intellek-
tu
elle Genie, verknüpft hier von neuem das Apollinische mit dem
Dionysischen. Es wird also Daidalos, der seine Künste selbst ver-
flucht, in die Schranken verwiesen. Das ist Pascal nicht leicht ge-
worden. An einer Stelle der <Pensees> lobt er d e n Erfinder Archi-
medes fast so wie Christus: <Archimedes, d e m ü t i g , gebühret die
gleiche Verehrung. E r lieferte keine sichtbaren Schlachten, allen
aber schenkte er seine Erfindungen.> An diesem P u n k t (<Pensee>
794) hat allerdings Pascal seine daidalische Vergangenheit ganz
überwunden. Schon vor dieser wehmütig-stolzen Absage an das
Artifiziell-Erfinderische hatte er begriffen, w a r u m Christus sich
nur in <Figuren> offenbaren konnte, daß er d e n universalsten <clef
du chiffro darstellte.
Das setzt eines voraus: die H i n g a b e an die <raison du cceur>, an
die Vernunftgründe des Herzens, jedoch n i c h t im S i n n e der senti-
mentalen Mystik, sondern im S i n n e des <fühlenden Geistes>, des
üntelletto d'amore>, des d i e b e n d e n Geistes>, des <Wert-Gefühls>.
<Das Herz kennt Vernunftgründe, die der Vernunft unbekannt
sind. Ich sage: das Herz liebt das universelle Sein auf natürliche
Weise.> <Das Herz h a t seine O r d n u n g , der Geist die seine, d.h.
nach Grundsatz und Demonstration. Das H e r z hat a n d e r e (Metho-
den). M a n sucht keine Beweise für das Geliebt-Werden, indem
man methodisch die G r ü n d e dafür darlegte: es w ä r e lächerliche
Das ist Prophetie in bezug auf Methodik: die intellektuelle Kombi-
nationskunst k a n n n u r ins Irre führen. W e r d e n K e r n r a u m des
Herzens kennt, braucht nicht auf Irr-Wegen, über den Irr-Wald,
durch das Labyrinth zum fiktiven E r l ö s u n g s r a u m vorzudringen.
Das Labyrinth entschwindet d e m Bewui3tsein, das der G n a d e teil-
haftig geworden ist. <Der M e n s c h ist selbst das w u n d e r b a r s t e Er-
eignis der Natur, denn er begreift nicht, was Körper ist, und noch
weniger, was Geist ist, u n d a m allerwenigsten, d a ß sein Körper mit
Geist verbunden werden kann.> F ü r einen D e n k e r v o m Range Pas-
cals hat also das Mysterium des Leib-Seele-Problems zu labyrinthi-
schen Verwirrungen geführt. Die <Problematik> aller <modernen>
Menschen ergibt sich aus d e m Ur-<Problem> der Zweiheit von
Stoff und Geist. Insofern ist das L a b y r i n t h ein Sinnbild dieser dra-
matischen Erzantinomie des M e n s c h e n g e s c h l e c h t s . Doch wollen
wir unseren letzten Ergebnissen nicht vorgreifen. Pascals Ariadne-
Faden bietet uns noch viel größere Ü b e r r a s c h u n g e n als derjenige
des Novalis.
Der Mensch selbst also enthält in sich <zwei Stile>, er ist zwei
Stile, nämlich Körper u n d Geist. D e s w e g e n k ö n n e n wir die in
diesem oder in dem anderen S i n n e verschleierte U r w a h r h e i t nicht
unmittelbar erkennen. Christus allein, als G o t t m e n s c h , als Inkar-
nation des Dualismus K ö r p e r - G e i s t , ist das metaphysisch gültige
Vereinigungs-Bild. Das Kreuz! Die Vereinigung von Vertikaler und
Horizontaler. Das höchste Oxymoron = l e i d e n d e Freude. Es gibt
somit keine <Geschichte> des M e n s c h e n g e s c h l e c h t s . Z u r Integra-
tion der beiden Urgebärden gibt es n u r eins: <Die gesamte Folge
von Menschen im Verlaufe der J a h r h u n d e r t e m u ß wie ein einziger
Mensch betrachtet werden, der i m m e r b e s t e h t u n d der u n u n t e r b r o -
chen erfährt.. .> Wir fügen hinzu: eines a d a m i s c h e n M e n s c h e n mit
zwei Ausdruckszwängen, die i h n zu einer doppelten Ausdrucksge-
bärde veranlassen, mit einer u n e n d l i c h e n Skala von individuellen
Variationsmöglichkeiten. D o c h aus beiden k a n n sich bisweilen -
seltene H ö h e p u n k t e in der Geschichte des m e n s c h l i c h e n Geistes -
Integration, Kontamination, Interferenz, ein C h i a s m u s dieser
Gebärden ergeben. M a n i e r i s m u s w ä r e somit, n a c h Begriffen
Toynbees, eine weltgeschichtliche H e r a u s f o r d e r u n g , die Klassik
50O eine weltgeschichtliche Antwort, doch h ö c h s t e n R a n g e s nur: in der
Integration. Pascal nennt diese parahumane Gebärde die wahre
<belle maniere>. Sie ist nur möglich, wenn man nicht allein indivi-
duelle Problematik, sondern auch die Problematik des Geschicht-
lichen überwindet, also nur noch aus sich selbst schafft... vor Gott.
Jesus wird bis zum Ende der Welt sterben; während dieser Zeit
sollte man nicht schlafen.) Was ist <belle maniere>? <Leben und
Tod in guter Art empfangen, das Gute und das Schlechte.)17 17
<Pensees> B.c. p.ioo. Zum Pro-
blem zwei oder drei Stile in nVj
Weltliteratur cf. E.R. Curtius. Euro-
päische Literatur und lateiniMbes
Mittelalter, o.e. (Problematik S(-n
Unsere Religion: der Antike). Ferner: J.Miles Li.,-
and Modes in Knglisb Poetiv Lon-
don 1958. kommt-wie scboiiQuin-
<weise und wahnsinnig> tilian - auf 'three nmdev. Nähert
sich aber dem antagoin-lisi bcn um)
dann integrierenden Prm/.ip. das
Damit ist die erste Stufe der Integration erreicht. Sie ermöglicht es von Hegelscher Dialektik unter-
uns jetzt, nach Pascal, Geschichte zu begreifen - jenseits der Ge- schieden werden muH Du uns IB-
mäße Lösung bietet - aulJei Pas< ll -
schichte, jenseits der im Ge-schichteten der Vergangenheit immer
C M . Hopkins, wenn 11 (antagoni-
aggressiven Paradoxien. Wer die antinomischen Urgebärden der stisch) einen tpnnMMM I»'ii Mm ei-
Menschheit zu vereinen vermag, kann das Ur-Rätsel erfassen, das nem <kastalischen> Stil unter«
det. aber ihre höchste -Integration»
Rätsel des verborgenen Gottes>. Christus vereint die Extreme, des- im <delpliiscben> Stil findet IM
wegen ist <unsere Religion weise und wahnsinnig). Und nun P-235-
schließt Pascal, dem m a n Anti-Historismus vorgeworfen hat, ohne
die Gründe für diese Abneigung zu begreifen, auf seine Weise my-
thische Religionsgeschichte auf.
Es gibt <zwei Arten von Menschen in jeder Religion: die Heiden
beten Tiere an, die anderen einen einzigen Gott>. <Die sinnlichen
Juden halten die Mitte zwischen Christen und Heiden. Die Heiden
kannten Gott nicht und liebten nur das Irdische. Die Juden kann-
ten den wahren Gott, aber sie liebten nur das Irdische.) <Abraham
war noch von Götzenwerk umgeben, als Gott ihm das Mysterium
des Messias offenbart.) <Die Ägypter waren von Götzen-Anbetung
und Magie infiziert.) Doch glaubte schon Moses <an das, was er
nicht sah>. Die Griechen und Römer hingegen verfielen den fal-
schen Gottheiten. Der Ursprung eines Glaubens an einen nicht-
sichtbaren Gott liegt, für Pascal, im Herzen des <asianischen Ju-
däa>, das er bewundert und preist, dessen gewollte <Rätsel>-Situa-
tion er jedoch bald gegen die Rätsellosigkeit des Neuen Testaments
nur als Vorstufe des deutlich Geoffenbarten empfindet.
Parahistorische Konkordanz
Dfese letzten Gedankengänge Pascals ermöglichen uns eine auch
metahistorische Erklärung des Dualismus von Asianismus und At-
bzismus, zumal Pascal beide, Altes und Neues Testament, als not-
wendige Bestandteile für eine universale «Integration) betrachtet.
Ule
Zeugnisse des Alten Testaments sind für Pascal <bewunde-
n
»ngswürdig, unvergleichlich, völlig göttlich). <Im jüdischen Volk
0n
enbart sich das erste Weltgesetz.) Der Juden religiöses Selbst-
Jfcttrauen ist einzigartig. Das Alte Testament ist <das authentischste
«uch der Welt). Dagegen hat Homer nur einen <Unterhaltungsro-
man
> geschrieben. Auch der Juden spätere Überlieferungen sind
T ^ u ß r e i c h , so Talmud und Kabbala. Doch hatten die Juden
* e Weise, Gott nur in <Rätseln) zu offenbaren. <Dzs Alte Testament
^ h ä l t die Figuren zukünftiger Freuden, das Neue Testament b.e-
et d
* Mittel, mit denen m a n sie erreichen kann.) Das sind - reti
g e s c h i c h t l i c h ~ verwegene Interpretationen, aber sie zeugen.
501
* l e *ir sehen werden, für einen höheren Integrationswillen, für
ein Streben nach parahistorischer Konkordanz von <Asianismus>
und <Attizismus>.
Gott offenbarte sich den Juden in <Chiffren>, u n d auch deswegen
m u ß t e n sie Christus, nach Gottes Vorsehung, verleugnen. Sie, die
Juden, haben <choses figurantes>, bildliche D i n g e , derart geliebt,
<daß sie die Wirklichkeit zu verkennen begannen>. Insofern sind
die Christen «illegitime Kinder der Juden>. Bei d e n J u d e n ist die
Wahrheit i m m e r n u r <bildlich>. <Im H i m m e l ist sie entschleiert. In
der Kirche ist sie bedeckt, in bezug auf das Bild.> Aber: <Das Bild ist
eine doppeldeutige Chiffre. > <Ein Porträt enthält Anwesenheit und
Abwesenheit, Vergnügen und U n b e h a g e n . Die Wirklichkeit
schließt Abwesenheit und Unbehagen aus.> D a s Alte Testament ist
also, weil <chiffriert>, wie jede Chiffre doppeldeutig. D o c h hat das
Neue Testament den <clef du chiffre>, den Schlüssel zu diesem Ge-
heimnis geliefert. Christus u n d die Apostel h a b e n alle Rätsel des
Alten Testaments gelöst, sie haben die «Siegel aufgebrochen), <den
Schleier niedergerissen), <den Geist enthüllt>. Somit gibt es «zwei
Ereignisse>: «eines des Elends, u m d e n h o c h m ü t i g e n M e n s c h e n zu
erniedrigen, eines, u m den demütigen M e n s c h e n in Glorie zu er-
heben). Christus hat also nicht n u r alle Gegensätze, Paradoxien,
Rätsel, Chiffren, Verbergungen jeder Art offenbar g e m a c h t . E r hat
auch alle Kryptogramme durch seine Inkarnation gelöst. N a c h ihm
sind alle Ver-Rätselungen daher n u r noch: «Buchstaben), «tötende)
Buchstaben. Nach der M e n s c h w e r d u n g Christi gibt es n u r n o c h ein
Urkryptogramm: Gott — M e n s c h = M e n s c h e n - G o t t . In Christus
sind alle Widersprüche <akkordiert>. D o c h bleibt es wahr, daß sich
n u r im «Zufall) des Wechselspiels «das Mysterium erfüllt). Hierin
liegt die notwendige <maniere> der Offenbarung Christi. Gott des-
integriert, i n d e m er sich offenbart, er erwartet von demjenigen,
dem er sich offenbart, Integration. Wie ist sie — als vereinheitli-
chende Gebärde — möglich?
Als <sein E i g e n e r w e i s e m
Der große Kritiker Sainte-Beuve n a n n t e Pascal in seiner Studie
über Port-Royal, das Jansenisten-Kloster, d e m Pascal soviel reli-
giöse Anregung verdankte, d e n «letzten der g r o ß e n Heiligen).
(«Heilig) im Sinne des etymologischen Ursprungs des deutschen
Wortes; «als sein Eigen erweisen), d.h. Gott sein E i g e n erweisen,
aber auch für Gott als Mensch sein tiefstes Eigenes erweisen.) Vor
uns steht sicherlich die faszinierendste Verkörperung des geistigen
Adels E u r o p a s . Hier ist m e h r als Remythisierung erreicht. Die In-
karnation wird wieder als einzig mögliche Wirklichkeit erfahren,
als einzig mögliche Einheit von Welt u n d Überwelt, von M e n s c h
und Logos.
Pascal ist das europäische Genie der Reintegration des Mythi-
schen in Verfallszeiten - auf geistige Weise. J a k o b B ö h m e gleicht
ihm, trotz seiner spekulativen Naivität, in ü b e r r a s c h e n d e r Ähnlich-
keit. In Pascal u n d Böhme b e r ü h r e n sich höchst theosophische
Leistungen Frankreichs und Deutschlands, in dieser «Konkor-
danz) erfüllt sich die so fruchtbare französisch-deutsche Dialektik
auf ebenso geheimnisvolle wie harmonische Art. Pascal versuchte,
verworrene «Haltungen) n e u zu verknüpfen, B ö h m e wollte die sä-
kularisierte Sprache regenerieren, w e n n er z.B. jeden Vokal als
eine «Stufe u n d H a l t u n g in der ewigen Selbstgeburt Gottes> erneu-
ert haben wollte. U n d Leibniz? Er steht mit a n d e r e m , nicht mit
religiösem, sondern mit philosophischem Wahn-Sinn auf der glei-
chen Stufe, wenn er schreibt, es drücke jede Monade oder Einzel-
seele das ganze Universum nach ihrer Art aus... <Tout l'univers ä
samaniere>. Die Seele ist also —wieder-ein individueller Spiegel,
in dem sich die Totalität des Universums widerspiegelt. Leibniz
will <universale Ordnung und Einheib. Er will (epidemischen Gei-
steskrankheiten> begegnen. Er sucht die <ultima realitas entis>, er
will die Verwirklichung der <prästabilierten Harmonie>. <Die me-
chanistische Idee versagt, wenn sie angewendet wird auf das Reich
des Seelischen und Geistigen.) <Beide Reiche gehen aus einer ein-
zigen Quelle hervor.> <Der Schöpfer aller Dinge verhält sich wie der
Erzeuger zweier Uhren, die genau gleich konstruiert sind und die
daher fortgesetzt die gleiche Zeit angeben.> Und Angelus Silesius?
Hören wir sein jetzt ganz und gar unmanieristisches Gebet-Ge-
dicht:
Soll ich mein letztes End' und ersten Anfang finden,
So muß ich mich in Gott und Gott in mir ergründen.
Und werden, das was er: ich muß im Schein ein Schein,
Ich muß ein Wort im Wort, ein Gott im Gotte sein.
29. S I G N U M C R U C I S
Sträflinge Gottes
Möglich sind jedoch <Integrationen> dieser Art nur durch das tief-
ste innere Drama aller Manieristen, durch ihre verborgenste Span-
nung, durch ihr faszinierendes Kranken am Widerspruch vor allem
von Geist und Materie... im Menschen. Einmal suchen sie Wahr-
heit im extrem Geistigen, in Phantasiai, dann im extrem Körperli-
chen, in hemmungslosem Sensualismus. In dieser Spannung leben
sie. Für sie sind ja die meisten Menschen nicht einmal gefallene
Engel, sondern nur Nachfolger Adams, des gefallenen Menschen.
Tragikomik im Spiegel: seitdem müssen diese Wesen, die einst
<reine> geistige Natur waren, täglich Materie und geschlachtete
Lebewesen verschlingen und verdauen, um leben zu können. Doch
blieb ihnen, in dieser entsetzlichsten aller Demütigungen, der
Funken göttlichen Geistes: die Erkenntnis- und Kombinations-
kraft. Dieser Widerspruch zwischen materieverschlingender Ma-
schine und ekelempfindendem Bewußtsein im Menschen, angeb-
lich der Kreuz-Weg aller Geschöpfe, ist er nicht gerade den <Pro-
blematikerm - als tragi-grotesker Welt-Widerspruch - unerträg-
lich? Ihre Melancholie, Manier, Manie scheint einer Allergie vor
diesem biopsychischen Chemismus zu entspringen. Viele von ih-
nen enden, in einem fanatischen Streben, archaische Dualismen
dieser Art zu überwinden, im Wahnsinn, im Gefängnis, im Laster,
mi Elend, im Selbstmord, schlimmer noch (für sie): in vorausge-
ahnter rascher Vergessenheit. Sie leiden also viel stärker als die mit
robustem Appetit Begabten, als die Selbstgerechten, Pharisäer und
Prall-Gesunden, unter dem Fluch, der Adam traf. Viele von ihnen
empfinden sich daher als ausgesuchte Sträflinge Gottes. Sie erfah-
ren es täglich, daß sie dieses Fluches wegen, dieser unzählbaren
Hektoliter Tierbluts wegen, die für die Erhaltung auch ihres kör- 503
perlichen L e b e n s vergossen werden, auf G r u n d eines mnerforsch-
ten Ratschlusses) nicht n u r ver-tiert w u r d e n , sondern auch noch
dazu gezwungen wurden, sich Stücke von Tierleichen einzuverlei-
ben. Für geistigen H o c h m u t m u ß m a n also endlos Fetzen ermor-
Über <Manierismus> im Sekten- deter Tiere verspeisen!? 1 8 Doch ist für die w a c h s a m e Klugheit
vvesen Europas und Asiens, von den
Vegetariern bis zu den Nudisten, ingeniöser Manieristen von R a n g eines als metaphysisches (Wider-
wäre, auch hinsichtlich sprachlicher stand serlebnis> viel aufregender geworden: die Tatsache, daß die
Phänomene, eine Untersuchung
Strafe, derlei zu verschlingen, n u r im Nachdenken als Strafe emp-
aufschlußreich. Vgl. u.a. das Tage-
buch Pontormos. cf. WL. funden werden m a g , nicht aber i m Trieb; d e n n diese Strafe wird
durch angeborene G e n u ß - S u c h t erleichtert, b e q u e m gemacht, also
entsetzlich ver-rätselt. Im M e n s c h e n wird der H u n g e r auf Getöte-
tes mittels der G e n u ß - E m p f i n d u n g w a c h g e h a l t e n . An der Einver-
leibung des vielfach köstlich Z u - G e r i c h t e t e n empfindet m a n
Freude, und die Manieristen sind oft talentvolle G a s t r o n o m e n oder
zumindest wissende G o u r m a n d s , wie auch i m m e r sie sonst alles
<Gegenständliche> verachten. Zwischen dieser Art von saturni-
scher Verzweiflung und epikureischem G e n u ß sind bei ihnen die
Grenzen ungefähr so undeutlich wie in d e n Polar-Gebieten, si-
cherlich aber (dramatischen als in den viel fauleren <Types dige-
stifs> unserer heutigen <christlichen) P h a r i s ä e r . D o c h begnügen
sich epigonale Manieristen meist früh damit, das Sein als Parado-
xie zu empfinden, u n d es dabei zu belassen. D i e letzte Harmonisie-
rung des Komplizierten ist zumeist den zahllosen <Minores> nicht
gegeben.
Geheime Krankheit
<Ganz oben birst die Säule>, schreibt einer der größten Dichter am
Anfang des Neomanierismus unserer Zeit, <und ihre beiden Enden
verschieben sich. Noch ist nichts eingestürzt. Ich kann den Aus-
gang nicht wiederfinden. Ich steige hinab und ich gehe wieder hin-
auf. Ein Turm. Labyrinth. Niemals habe ich da herausgekonnt. Für
immer bewohne ich ein Gebäude, das einstürzen muß, ein Ge-
bäude, das von einer geheimen Krankheit bearbeitet wird.> So
Charles Baudelaire. Für Kafka sind wir <mit dem irdisch befleckten
Auge gesehen, in der Situation von Eisenbahnreisenden, die in ei-
nem langen Tunnel verunglückt sind, und zwar an einer Stelle, wo
man das Licht des Anfangs nicht mehr sieht, das Licht des Endes
aber nur so winzig, daß der Blick es immerfort verliert, wobei An-
fang und Ende nicht einmal sichtbar sind. Rings um uns aber ha-
ben wir die Verwirrung der Sinne oder in der Höchstempfindlich-
keit der Sinne lauter Ungeheuer und ein je nach der Laune und
Verwundung des einzelnen entzückendes oder ermüdendes kalei-
doskopartiges Spiel>. Geheime Krankheit! So die geheime Krank-
heit der Manieristen. Sie glauben, im <tierischen Labyrinth>21 stek- 2I
Titel eines Bildes von .Andre
Mass
kenzubleiben, während sie ihm oft längst entronnen sind, im Ge- °n 1956-
gensatz zu denen, die glauben, längst schon auf der Sonnenseite
seiner Außenfläche zu liegen. Die Furcht vor Todgeburt, vor Le-
ben, das schon vor der Erfüllung sinnloser Tod sein könnte, liegt
nicht darin die stärkste, die erschütternde Wirkung schöpferischer
Manieristen? Durch sie blicken wir ins entsetzlich Leere, aber in
diesem Leeren sieht uns vielleicht eines an, fahl, saturnisch, von
zuckendem Schwefellicht immer wieder erhellt: die Nachtseite der
Gottheit. Und nicht nur sie: die so vermeintlich helle Seite unserer
Erde erfahren wir durch sie in nicht selten berechtigtem Dunkel.
Ihr Zerrspiegel stellt auch, aus alltäglicher Erfahrung, den <Sinn>
der Tagseite unseres Planeten in Frage. Sie, die Manieristen, ah-
nen die mögliche sinn-lose Selbstvernichtung der Menschheit auf
der Erde, weil sie der Nachtseite der Gottheit so verbunden sind. 505
Die Widersprüchlichkeit der sie u m g e b e n d e n p o l i t i s c h e m Welt -
gerade von heute — beginnt jede Ver-tracktheit der Phantasie zu
übertreffen. Das Kollektiv-Absurde in E u r o p a , das Absurde als
Oberbegriff für das Phantastische jeder Art, b e g i n n t das individu-
elle manieristische Ausschweifen u n d manieristische Verkünsteln
jeder Weise innerhalb n u r ästhetischer Bezirke zu übersteigern.
Das Abstruse der Welt-Gesellschaft des 20. J a h r h u n d e r t s , hat es
nicht das Absurde des <Manierismus>, sofern es sich u m eine Aus-
drucksgebärde nur in der Kunst, Musik, L i t e r a t u r usw. handelt,
bereits übertroffen? Die <Phantastik> der manieristischen <Träu-
mer> scheint zu einer Harmlosigkeit zu w e r d e n g e g e n ü b e r den gro-
tesken Verrichtungen der heute angeblich — politisch — verantwor-
tungsvoll handelnden M e n s c h e n .
Der Zustand der heutigen Welt veranlaßt d e n <Problematiker>,
sieht er nur diese Welt, sicherlich nicht zu d e m Ruf Pascals:
<Freude, Freude, Freude!> Die Uberwelt m a g er — der Problemati-
ker— ahnen, sogar anerkennen, aber welcher Religiöser — kirchlich
oder nicht - bringt heute das D r a m a u n s e r e r Zeit, so wie Pascal,
derart zum Ausdruck, daß ein Libertin sagen k ö n n t e : <Ich bin hin-
gerissem? Die b e d e u t e n d e n Manieristen, die a m teleologischen
Sinn Darbenden überhaupt, h a b e n sie eine n e u e F u n k t i o n in ihrer
Geschichte: eine antikompromißlerische Funktion, die Aufgabe,
durch <Negation> Gewissen zu wecken, u m die größte menschliche
Katastrophe aller Zeiten zu vermeiden: d e n Einheits-Tod von
Geist und Natur?
Kreuzung
von Licht und Finsternis
Im Kreuzzeichen werden H i m m e l u n d E r d e , R a u m u n d Zeit auf-
gespalten. Wird die daidalische S p a l t u n g der M a t e r i e stärker sein?
<Der letzte Adam, da er hilflos a m Kreuze h ä n g t , schreit in äußer-
ster Todespein — umsonst! — h i n a u f z u m H i m m e l : ,Mein Gott,
warum hast D u mich verlassen?') W a r u m h e u t e u n d hier? Das
Achsenkreuz der Zweck-Geometrie h a t das erlösende Kreuzzei-
chen verdrängt. <Der am christlichen Kreuze e n t s t e h e n d e Raum
ruft Allgegenwart hervor, das Achsenkreuz der Geometrie zieht
All-Vernichtung an. Et Trinitatis speculum / Illustravit saeculum.>
Das Kreuz ist auch eine Kreuzung von Licht u n d Finsternis, wie
Grünewalds H ä n d e der b e t e n d e n Magdalena. U n s e r e Epoche hat,
wie selten zuvor, für eine von b e i d e n mit gleichen Einsätzen zu
wetten. Könnte die glückliche Aufforderung d a z u n u r wieder ei-
nem Heiligen gelingen? Wird er u n s e r w a c h s e n in der heutigen
Dürre? Die Signatura Crucis ist u n s h e u t e z u m Symbol schlichter
Bitte geworden.
Literaturhinweise
Nachfolgend wird, wie im ersten Buch, nur benutzte Literatur in Manierismus als periodisch auftretende historische Erschei-
der Reihenfolge der Darstellung, also weder in alphabetischer nung, über seine soziologischen und psychologischen Voraus-
noch in chronologischer Reihenfolge, zitiert. Diese Literatur bil- setzungen sowie über seine philosophischen und theologischen
det einen Beitrag zu einer allgemeinen Bibliographie über den Aspekte.
Z u m vierten Teil
Rovere, Jean. Le Musicisme. Paris 1929 Badermacher. Ludwig, Mythos und Sage bei den Griechen. Ba-
I loltbuseu. 11. K., Ja und Nein. München 1955 den b. Wien — Leipzig 1958
Paris. Jean, James Joyce par lui-meme. Paris 1957 Wolff, Erich. Die Heldensagen der Griechen. Berlin 1936
Vossler, Karl, Die Dichtungsformell der Romanen. Stuttgart Baudelaire. Charles, ffiuvres completes. Paris 1954
Schweitzer, Bernhard, Xenokrates von Athen. Halle 1932
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EUROPÄISCHE CONCETTI
Eine Miniatur-Anthologie
I. Spanien
1
Übersetzungen von H. Brunn
Luis de Göngora (1561-1627) o.c.p. 1 15. 139, 107, 161.
Das Meer
Nichts hilft dem Meer, sich Heere anzuwerben
Von Robben, Seelöwen und Riesenwalen,
Nichts hilft ihm, seinen Ufersand zu bleichen
Mit so viel erste Tollheit Unglückszeichen,
Das Geier selbst den Zoll des Mitleids zahlen,
Nichts, daß es Berge häuft des Schaumes an
- Weil selbst das Schreckbild von so bösem Sterben
Erneuten Wahnsinn nicht verhindern kann.
Der Fluß
Und Gutsgebäude in sein Silber schlingend,
Von Farmen überhöht dann fließt er breit,
In majestätischer Geschlossenheit,
Bis wiederum in Glieder
Der Inseln Schar mit grünen Parenthesen
Des Stroms Periode teilt, die allzu große.
So wechselt er sein Wesen
Von hoher Grotte an, die ihn gebiert,
Bis hin zum Jaspisschwall, in dessen Schöße
Sein Feu'r verraucht, sein Name sich verliert.
Das Schloß
Aus Schlössern aber triebst Du unsern Gast,
Wo in den hohen Räumen
Der Blick, schwindelerfaßt,
Nur an der Schönheit noch sich halten kann,
Und die sich gegen Maß und Regel wild
In Porphyrkleid und Jaspissockel bäumen!
Das Meer
Das Meer ist
Der Luzifer des Azurs.
Gefallener Himmel,
Im Willen Licht zu sein.
Mein Traum
Konfuses Labyrinth
Schwarzer Sterne
Meine Illusion bricht entzwei
Fast wie Verfaultes.
5H
IL Italien
Giambattista Marino (1569-1625)
Narziß
Er sieht es, das Bild (in der Quelle), grüßt, der Tor, und schöpft
Aus verlogener Ähnlichkeit wahres Empfinden.
Er, der Liebende, er, der Geliebte, frierend und glühend
vereint
Pfeil und Ziel, Bogen und Schütze;
Neidet der fließenden, vergehenden Feuchte
Die weichen Umrisse und das stolze Trugbild;
Eifert dem Werte nach, von dem er entblößt;
Seinen Nebenbuhler ans Ufer ruft der Fluß.
Tanzfigur
Wenn jäh erstarrt der Schwung, der Lauf ermattet,
In einem Augenblick nur dann die Art sich rasch verwandelt:
Mit bewunderungswürdiger Erd-Meßkunst
Offnen die Tänzer sanft den Zirkel ihrer bisher nur unbestimmt
schweifenden Füße.
Mein Porträt
(Das B. Schidoni malen sollte)
Nimm' die Strenge des Frosts und der Flamme,
Das Seh auern der braunschattigen Nacht,
Die Blässe des Todes und vereine dies alles;
Mach' daraus, wenn Du kannst, ein seltsam Gemisch;
Nimm' alles Dunkle des Trübsinns,
Pein und ewige Finsternis,
Was bitter in Liebe, was Versagen im Glück,
Was Scheitern und Elend in der Natur;
Wähl' dazu das Gift der Hydra, die Stürme
Des libyschen Golfes, und vermenge dann
Mit Seufzer und Tränen Deine Farben.
So, Schidoni, wirst Du wahr und getreu
Mein Bild machen. Doch willst Du es
Lebend haben, so gib ihm kein Leben.
Das Wunderbare
Des Dichters Ziel ist das Wunderbare.
(Ich meine das der Meister, nicht der Krüppel);
Wer nicht verblüffen kann, soll sich striegeln lassen.
Der Zitterroche
In schlüpfriger Lethargie schuppiges Opium,
Mit lebenden Synkopen zuckende Laune,
Mißgeburt des Meeres, die gierig eisige
Epilepsie aushaucht von zitterndem Winter.
Phantastische Zedern
Ländliche Frenesien, blühende Träume
Duftende Pflanzen-Delirien
Gartenlaunen, belaubte Proteen,
In lieblichem Wahn verwirrte Zedern.
Pflanzen des Kadmos gleich,
Dem Herbst schenken sie kriegerische Turmwälder,
Oder ehebrecherische Spiele Pomonas
Erzeugen im Boden täuschende Monstren.
516
Gewissen
Ich werde
Heute nacht
Den Biß des Gewissens spüren
Gleich einem Gebell
Das sich in der Wüste verloren.
Heute abend
Brüstung kühlenden Windes
Um heut abend
Meine Schwermut daran zu kühlen.
Täuschung
Jede Wand ist Täuschung
Der Horizont wird zum Narren gehalten
Der Körper fühlt sich dabei nicht übel
Spiel' ihm jeden Streich
Auf allen vieren werden die Treppen
Ins offene Meer hinausgehen.
III. Frankreich
Amadis Jamyn (1538-1592)
Fische in der Luft
Sommer wird Winter sein und Frühling Herbst
Luft schwer und Blei leicht.
Fische werden in der Luft reisen,
Stumme gute Stimme haben.
Wasser wird Feuer und Feuer Wasser werden,
Ehe ich mich erneut verlieben soll.
5*7
Theophile de Viau (1590-1626)
Ausgleich
Der Zephir schenkt sich den Fluten,
Die Fluten gaben sich dem Monde hin,
Die Schiffe den Matrosen,
Die Matrosen ihrem Glück.
Alles, was das All empfängt,
Alle Geschenke es zurück uns schenkt.
Saint-Amant (1594—1661)
Erwachen neben Flora
Das Gras lächelt wollüstig der Luft entgegen.
Von diesem üppigen windungsreichen Deck aus
Sehe ich zartes Sonnenfeuer der Brust der Welle schmeicheln.
Geschichte
Schicksale undurchdringliche Schicksale
Könige geschüttelt von Wahnsinn
Und diese zitternden Sterne
Falscher Frauen in Euren Betten,
Wüsten, von Geschichte bedrückt.
Paul Eluard (1895-1952)
Torheit und Liebe
Die Erde ist blau wie eine Orange
Niemals ein Irrtum die Worte lügen nicht
Zu singen geben sie Euch nichts mehr
Die Küsse sind an der Reihe zum Verstehen
Die Toren die Liebe
Sie und ihr Mund der Eintracht
Alle Geheimnisse jedes Lächeln
Und welch' nachlässige Kleidung
Sie ganz nackt zu wähnen.
Pierre Reverdy ( i 8 8 g - i g 6 o )
Vor dem Spiegel
Vor dem Spiegel ist man nicht allein
Doch hört man nur eine Stimme
Und zwei Münder, die lachen
Die Gefangene im Nebenzimmer
Sie kann nicht trauriger sein.
IV. England
6
William Shakespeare (1564-1616) Übersetzt von W v . Schlegel.
Discordia Concors
Kurz und langweilig? Spaßhaft und doch tragisch!
Das ist ja glühend Eis und kochender Schnee.
Wer findet mir die Eintracht dieser Zwietracht?
Liebe
Nun dann: liebreicher Haß! Streitsucht'ge Liebe!
Du alles, aus dem Nichts zuerst erschaffen!
Schwermüt'ger Leichtsinn! Ernste Tändelei,
Entstelltes Chaos glänzender Gestalten!
Bleischwinge! Lichter Rauch und kalte Glut!
Stets wacher Schlaf! Dein eignes Widerspiel!
So fühl ich Lieb', und hasse, was ich fühl!
Empfehlung
Was sagst du? Wie gefällt dir dieser Mann?
Heut abend siehst du ihn bei unserm Fest.
Dann lies im Buche seines Angesichts,
In das der Schönheit Griffel Wonne schrieb:
Betrachte seiner Züge Lieblichkeit,
Wie jeglicher dem andern Zierde leiht.
Was dunkel in dem holden Buch geblieben,
Das lies in seinem Aug' am Rand geschrieben.
Und dieses Freiers ungebundner Stand,
Dies Buch der Liebe, braucht nur einen Band.
Der Fisch lebt in der See, und doppelt teuer
Wird äußres Schön', als innrer Schönheit Schleier.
Das Buch glänzt allermeist im Aug' der Welt,
Das goldne Lehr' in goldnen Spangen hält.
So wirst du alles, was er hat, genießen,
Wenn du ihn hast, ohn' etwas einzubüßen.
Du bist der Mars der Malkontenten...
Die Welt
Dann ist die Welt mein' Auster
Die ich mit Schwert will öffnen.
Artge Labyrinthe
Leer steht die Hürd' auf der ersäuften Flur,
Und Krähen prassen in der siechen Herde.
Verschlämmt vom Leime liegt die Kegelbahn;
Unkennbar sind die art'gen Labyrinthe
Im muntern Grün, weil niemand sie betritt.
Lippen
Die Lippen dir, zwei küssende Morellen!
Und jenes dichte Weiß, des Taurus Schnee,
Vom Ostwind rein gefächelt, wird zur Kräh',
Wenn du die Hand erhebst. Laß mich dies Siegel
Der Wonne küssen, aller Reinheit Spiegel.
Todesbucht
Den wilden Gram macht die Gewohnheit zahm,
Sonst nennte meine Zunge deine Ohren
Nicht meine Knaben, eh als meine Nägel
In deinen Augen schon geankert hätten,
Und ich, in so heilloser Todesbucht,
Gleichwie ein Boot, beraubt der Tau' und Segel,
Zerscheitert war' an deiner Felsenbrust.
Liebes-Alchimie
Kein Alchimist je das Elixier des Lebens fand,
Aber pries doch hoch seine Retorte,
Wenn zufällig ihm im Mischen beschert wurde
Ein neuer Duft, ein neuer Heilstoff.
Genau so träumen Liebende von langem Entzücken,
Aber sie ernten nur winterähnliche Sommernächte.
V. USA
Edgar Allan Poe (1809-1849)
Ulalume
Hier einst, durch eine titanische Allee
Von Zypressen, irrte ich umher und meiner Seele -
Von Zypressen, mit Psyche, meiner Seele.
Tage waren es, da war mein Herz vulkanisch
Wie die fließenden Schlackenströme
Wie die Lava; die unermüdlich trübt
Ihre schwefligen Ströme nach Yaanek
In die letzten Gründe des Pols,
Und sie stöhnen, die Ströme, wenn sie vom Yaanek-Berg
anlangen
In den Gefilden des nördlichen Pols.
Gesangfür Simeon
Herr, die Bömischen Hyazinthen knospen in Schalen und
Die Winter-Sonne kriecht am Schnee-Hügel,
Die eigensinnige Jahreszeit ist stehengeblieben
Mein Leben ist leicht, auf den Toten-Wind wartend,
Wie eine Feder in meinem Handteller.
Staub im Sonnenlicht und Erinnerungen in Ecken,
Sie warten auf den Wind, der uns erkaltet ins Toten-Land.
5H