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Entstehung einer Manga-Story

Ein Versuch

Bruno Cotting

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Jedes Mal hoffte ich, etwas über den kreativen Prozess zu erfahren, der zu ihren
grossartigen Werken geführt hat. Nach einem Bach-Werk hast du das Gefühl, das
Universum begriffen zu haben. Mozart montiert dir ein paar Flügel an die Seele
und schickt dich als Sommervogel durch die Luft. Beethoven fesselt dich mit
seiner Ehrlichkeit an ein Brett und verfrachtet dich auf den Rücken einer
Tsunami. Sokrates ist ein Fitnessprogramm für geistige Beweglichkeit, weil er
jede fixe Idee solange zerfrägt, bis sie nur noch Staub ist. Kafka packt deine
Albträume im Genick und spiesst sie übersichtlich auf eine Tafel wie Insekten.
Samuel Beckett führt dich dort hin, wo die Welt der Sprache unter deinen Füssen

zerbrö ckelt, bis du gelernt hast, im Nichts zu stehen.

Und jedes Mal war ich enttäuscht, denn die Bücher und Filme gaben keine
Antwort auf meine Frage, wie denn solches zustande kommt. Also liess ich
meinem Gehirn ein paar Füsse wachsen, zog ihnen Socken an und machte mich

auf dieselben, um es sel ber rausz


ufinden.

Von Bach habe ich wohl am meisten gelernt. Er half mir, die festgefügten
Sprachgewohnheiten, Floskeln, Klischees aufzubrechen. Eine Form des von ihm
angewandten Kontrapunktes ist das nebeneinander Führen verschiedener
gleichwertiger Stimmen. Obwohl jede Stimme eigenständig vor sich hin dudelt,
verzwirbeln sie sich wie ein Seil und enden im Ohr als Klangstrang. Bach
versuchte sich mal mit einem Stück, welches 16 solcher Stimmen enthielt. Das
habe ich leider noch nie gehört, aber ich denke, irgend wann fängt das Chaos an.

Jedenfalls leuchtet es ein, dass das Kombiniere n von


Melodien eine gewaltige Vielfalt eröffnet. Verglichen mit bloss einer Stimme.
Nehmen wir also an, die übliche Sprache sei diese eine Stimme und versuchen
wir nun, sie mit drastischen Mitteln aufzubrechen, um an die Rohdiamanten
neuer 'Klangstränge' zu gelangen.

Dazu 'komponieren' wir einen einfachen Kontrapunkt aus drei Stimmen.


Nehmen wir dazu ein herziges Klischeebild als Ausgangsmaterial:

Klischee: Der junge Mann hilft der alten Frau über die Strasse.

Was für ein netter Kerl, Dummerweise hat er eben einen

kleinen Laden über fallen und dem


Ladenbesitzer den Schädel eingeschlagen. Die Polizei rennt schon rum und der
Mann benutzt die alte Frau zur Tarnung. Was für ein fieser Hund.

Versuchen wir jetzt, in den Klischeesatz mehr 'Wahrheit' reinzubringen. Dabei


schreiben wir auf, was in diesem Moment alles 'wahr' und wichtig ist.

1. Stimme: Der junge Mann hilft der alten Frau über die Strasse.

2. Stimme: Das Blut des aufgeplatzten Schädels bedeckt den Boden.


3. Stimme: In der Kasse war kaum Geld, verdammt!

Nun versuchen wir, daraus wieder einen 'Klangstrang' zusammen zu dröseln:

Neusatz: Der blutige Mann hilft der verdammten Frau über die
aufgeplatzten Schädel der Strasse.

Keine Angst, wir machen keine esoterische Gespensterdichtung. Dies ist nur eine
Übung zum Aufbrechen von Sprachzwängen. Also weiter:

Neusatz: Die alte Frau geht mit dem aufgeplatzten Schädel des
Verdammten über die Strasse.

Oder:

Neusatz: Ohne Geld gleitet das ungleiche Pärchen über das Blut der
Strasse.

Ändern wir die Spielregeln und machen wir einen Kontrapunkt aus zwei
Stimmen. Die erste Stimme beschreibt jeweils, was geschieht. Die zweite Stimme
erzählt, was die Person denkt oder fühlt.

1. Stimme: Der Mann sieht den Polizeiwagen vorfahren.

2. Stimme: Wenn ich losrenne, bin ich geliefert.

Neusatz: Der Mann will nicht in den Lieferwagen der Polizei.

1. Stimme: Der Mann sieht, wie die alte Frau sich nicht über die
verkehrsreiche Strasse traut.

2. Stimme: Sie wird mich beschützen... Mutter.

Neusatz: Der warme Arm der alten Frau wird ihn über die Strasse
tragen.

1. Stimme: Der junge, gut aussehende Mann ergreift den Arm der alten
Frau mit den Worten 'Kann ich helfen?'.

2. Stimme: Oh... Das Herz der alten Frau schlägt höher.

Neusatz: Das 'Kann ich helfen?' des jungen Mannes ergreift das Herz
der alten Frau.

1. Stimme: Lächelnd drückt sie seinen Arm und wagt den ersten Schritt.

2. Stimme: Jetzt kann mir nichts passieren... Ihr wird so warm.


Neusatz: Still wagt sie den ersten Schritt ins Lächeln.

1. Stimme: Behutsam geleitet er die lächelnde alte Frau auf die Strasse.

2. Stimme: Das Bild des aufgeplatzten Schädels, dessen Blut sich auf den
Boden ergiesst, lässt ihn nicht los.

Neusatz: Unter ihren Schritten fliesst behutsam das Blut des


lächelnden aufgeplatzten Schädels.

Wenn ihr nur die Neusätze lest, hört ihr die Musik der neuen Sprache. Das Ziel
der Übung ist aber nicht diese gestelzte und schwer verständliche Poesie. Obwohl
ich das einmal geglaubt und Dutzende von Seiten mit derart konstruierten
Neusätzen gefüllt habe. Die Belohnung für solche Mühsal ist geistige Lockerheit.
Es ist ein kreatives Prinzip, sich intensiv auf ein auszudrückendes Gefühl zu
konzentrieren, um dann nach den Wörtern zu grapschen, die seiner
Beschreibung dienen. Ohne dabei den alten Klischeeformulierungen auf den
Leim zu gehen. Geistige Lockerheit meint, diese Wörter zuzulassen, gerade wenn
sie sich zu Neuem und Befremdlichem formieren wollen.

Das Büffeln von Theorien macht euch bestimmt genau so viel Spass wie mir. Also
schlage ich vor, darauf zu verzichten und eine Geschichte zu schreiben. Den
theoretischen Klimbim können wir in schmerzfreien Dosen zwischen durch
verabreichen.

Stürzen wir uns Kopf über ins Abenteuer einer neuen Geschichte. Wie finden wir
ein Thema, einen Inhalt? Natürlich können wir uns ein Thema von 'aussen' heran
tragen lassen, so wie die Lehrkraft den Titel des Aufsatzes vorgibt. Ich mach's
umgekehrt und schöpfe mein Thema von 'innen'. Welche Idee und Gefühle
erscheinen bedeutsam genug, um eine Geschichte zu rechtfertigen und auch zu
tragen? Es sind Ideen, die du über Jahre entwickelt hast, Gefühle, die immer
wieder kommen.

Eines nachts, die Strassen waren leer, spazierte ich im Regen. Die Tropfen
schlugen auf meine Kapuze und, wie so oft, stieg ein seltsames, unpassendes
Gefühl der Wärme und Geborgenheit empor. Alle Leute jammern bei Regen und
fühlen sich depressiv und ich Perversling geniesse ihn.

Kunst ohne Nutzen ist Kacke im Quadrat. Deshalb bemühe ich mich, in meine
Geschichte einen gewissen Nutzen für die Lesenden reizupacken. Ich will den
Leuten ja nicht die Zeit stehlen. Wäre es da nicht ein grosser Nutzen für all die
Regengeplagten, wenn ich ihnen mein obszönes Gefühl vermittelte? So dass sie
beim nächsten Regen, an meine Geschichte denkend, ein seltsames, unpassendes
Gefühl der Wärme verspüren könnten?

Eine kleine Geschichte voll bitterer Süsse und schmerzhafter Romantik, ein
Geschichtlein bloss.
Da suchte ich schon nach einem Titel, der natürlich mit Regen zu tun haben
musste: 'Regen'... langweilig... Rain... genau so langweilig... französisch 'Il pleut',
'la pluie' ... schon besser...

Ich wollte den Gedanken festhalten und überlegte, wovon denn die Geschichte
handeln könnte, denn mit Regnen war's ja nicht getan. Ich prüfte also wieder
meine Gefühle und fand, der Regen wirke reinigend auf meine Seele. Als würde
er das Dunkle abwaschen und ein Flämmlein entzünden. Ja, ich weiss, Regen
kann kein Flämmlein entzünden, aber denken wir an die geistige Lockerheit und
lassen den Gedanken zu. Denn da sind wir ja auch schon beim Geheimnisvollen
und Mystischen: Regen, der die Seele reinigt und wärmt. Ein poetischer Regen
fürwahr.

Und da in eine kleine Geschichte nicht zu viele Elemente reinpassen, sollte es ein
Dauerregen sein. Eine Geschichte, in der es nur regnet, wie furchtbar! Und was
für eine Herausforderung.

Ich hielt also fest: Ein Dauerregen, der die Menschen auf mystische Weise von
ihren Widerwärtigkeiten befreit, wenn sie sich ihm lange genug aussetzen... Das
zärtliche Prasseln des Regens wärmt das Herz und schafft Augenblicke der
Geborgenheit, die hell leuchten im melancholischen Grau.

Aber der Titel gefiel mir nicht und der ist doch recht wichtig für die Geschichte
und inspirierend. Also dachte ich über Tage immer wieder an diese Geschichte,
den Regen und das eine Wort, welches die Atmosphäre der Geschichte
ausstrahlen sollte.

Bis ich dieses Bild im Kopf hatte von einer Pfütze, in die ein Tropfen fällt und
gleichzeitig und zufällig an Manga dachte, da machte es 'Plitsch'. Denn so würde
ja wohl ein Regentropfen im Manga klingen. Und welches Wort würde wohl
besser das Plitschnasse eines Dauerregens mit dem fröhlichen Plitsch eines
eintauchenden Tropfens verbinden, also einen Bogen spannen vom Schmerz bis
zur Freude?

Auf, auf, mit frischem Mut! Handlung, wo bist du? Bevor wir uns leichtfertig in
eine Handlung stürzen, müssen wir uns überlegen, womit wir Spannung
erzeugen. Ein Dauerregen ist doch wohl das Langweiligste der Welt.

Ebenso langweilig wie ein Orgelpunkt. Bei manchen Orgelstücken von Bach gibt
es diesen Brummton, der so tief ist, dass dir die Bauchdecke flattert. Das ist eine
andere Form des Kontrapunkts: ein lang gezogener, nur ab und zu wechselnder
tiefer Ton als Fundament für die über ihm tanzenden, sich im Kampf um
Aufmerksamkeit umschlingenden helleren Stimmen. Wir spüren gleichzeitig die
Spannung zwischen dem ruhenden Pol und den lebhaften Stimmen sowie die
Spannung unter den gleichwertigen helleren Stimmen, von denen es zwei, drei,
vier geben kann. So viel Dramatik in einen einzelnen Orgelstück! Was für ein
Vorbild für eine Manga-Story!
Betrachten wir also den Dauerregen als Orgelpunkt, als Fundament. Da wir nur
eine kleine, vielleicht einbändige, Geschichte schreiben wollen, sollten wir bei der
Anzahl der lebhaften Stimmen, sprich Figuren, zurückhaltend sein. Je mehr
Figuren wir einführen, desto weniger Zeit bleibt der einzelnen Figur für ihre
Charakterisierung und Entwicklung. Mangelhaft charakterisierte, schlecht
ausgearbeitete Figuren gehen auf Kosen des Tiefgangs der Geschichte. Tiefgang?
Ja, je mehr Tiefgang eine Geschichte hat, desto tiefer geht sie in dein Herz.

Aber welche Figuren nun sollen auf unserem Orgelpunkt tanzen? Wie sieht die
Welt aus, die hier im Regen steht? Wovon werden die Figuren reingewaschen?
Zwischen welchen Figuren besteht eine Spannung und welche stehen in
Spannung zu dem Regen?

Ehrlich gesagt, ich habe keine Ahnung. Aber das ist ganz normal. Deshalb lese ich
jetzt immer wieder den 'Inhalt' durch und schaue, was mir dabei in den Sinn
kommt:

Plitsch

Ein Dauerregen, der die Menschen auf mystische Weise von ihren
Widerwärtigkeiten befreit, wenn sie sich ihm lange genug aussetzen. Das
zärtliche Prasseln des Regens wärmt das Herz und schafft Augenblicke der
Geborgenheit, die hell leuchten im melancholischen Grau.

Als Zeichen ihrer Widerwärtigkeit könnten die Leute ja schwarz sein, um dann
allmählich weiss zu werden. Aber stellen wir uns vor, unsere Geschichte wird in
Afrika gelesen... Die Schwarzen dort werden sich wohl ziemlich doof vorkommen.
Ausserdem wollen wir ja keinen Werbespot für Waschmittel schreiben.

Trotzdem ist es das Wesen der Poesie, Bilder zu gebrauchen. Wenn ihr also eine
gute Idee habt, Widerwärtigkeit 'abwaschbar' darzustellen... Her damit!

Keine Idee, wie diese Welt aussehen könnte und was die Leute darin tun? Ich
denke, eine poetische Welt sollte in diesem Fall keine genaue Kopie dessen sein,
was wir täglich erleben. Gestatten wir uns doch eine kleine Verfremdung,
Entrückung vom Alltag. Schliesslich wollen wir ein starkes poetisches Bild
schaffen, das genug Kraft hat, uns an einem Regentag zu wärmen. Der Nutzen
heiligt die poetischen Mittel.

Die Welt darf aber auch nicht zu weit entrückt sein, sonst verlieren wir den Bezug
und die Betroffenheit.

Plitsch

Ein Dauerregen, der die Menschen auf mystische Weise von ihren
Widerwärtigkeiten befreit, wenn sie sich ihm lange genug aussetzen. Das
zärtliche Prasseln des Regens wärmt das Herz und schafft Augenblicke der
Geborgenheit, die hell leuchten im melancholischen Grau.

Ein guter Trick, wenn wir nicht weiter kommen, ist es, den Inhalt im Hinerkopf
zu behalten und zu leben. Leben wir jetzt ein bisschen und schauen, ob etwas
hängen bleibt, was wir brauchen können. Bis in einundzwanzig Stunden...

Hallo, da bin ich wieder und eingefallen ist mir gar nichts. Ist auch besser so, weil
wir dadurch zu schnell voran geschritten wären und ihr 'es' gar nicht
mitbekommen hättet. 'Es' ist nämlich eine kreative Methode, die nicht nur aus
Warten besteht.

Ich versuche den Inhalt von 'Plitsch' in der Teigschüssel meines Bewusstseins zu
halten. Klingt monströs, meint aber bloss: daran denken. Dann suche ich in
meiner Umgebung einen Gegenstand: eine Faser meines Rattan-Tischchens; die
rot-weiss gestreifte Krawatte des kleinen, herzigen Frosches, der auf einem
Herzchen sitzt und mit gefalteten Händen seine Geliebte anzuhimmeln scheint;
der Kirchturm; der Dunst, der sich zwischen den Hügeln verkriecht; das
abgerundete Ende einer Fahnenstange, das aussieht, als habe jemand eine
Semmel aufgepiekt.

Versuchen wir es mal mit dieser Semmelspitze. Das Verfahren geht so: Wir
'ziehen' diese Semmelform in unser Bewusstsein, wo wir sie angemessen
vergrössern, und denken gleichzeitig an den Inhalt von 'Plitsch'. In der
Teigschüssel des Bewusstseins mischen wir also den Teig 'Plitsch' mit der
Semmelform und schauen, ob der Teig sich dieser Form anpassen lässt bzw. die
Form sich dem Teig anpasst. versucht es mal und schaut, was dabei heraus
kommt. Wir treffen uns in fünf Minuten...

Bei mir ergibt sich ein schwarzer Hintergrund, vor dem ein grosses,
mittelalterlich anmutendes Haus steht, dessen Wände aus Holzbrettern gefügt
sind und dessen Dach eine grosse semmelförmige Pergamenthülle zu sein
scheint, welche in warmem Gelb von innen heraus leuchtet wie ein ausgehöhlter
Kürbis mit Kerzenlicht. Schalten wir nun noch den Dauerregen ein, haben wir
schon eine erste Szenerie, die wir auf ihre Tauglichkeit hin überprüfen können.

Was soll diese Semmlerei? Das ist ja unerträglich! Will der uns verarschen? Wo
bleibt da das Genie?

Warum wohl gibt es so viele Leute mit überragender Intelligenz und so wenige
'Genies'? Erstens weil viele geniale Leistungen von der Öffentlichkeit gar nicht
bemerkt und anerkannt werden. Und zweitens weil geniale Gedanken eher
zufällig sich in einem Hirn bilden und kein zwangsläufiges Ergebnis
überragender Intelligenz sind.

Intelligenz ist nämlich nicht so 'intelligent', wie sie klingt. Intelligenz ist nichts
weiter als Verwechslung. Durch unser 'unscharfes' Denken sind wir in der Lage
ein ungelöstes Problem mit einem gelösten zu verwechseln. Wenn du dich in der
Quantenphysik fragst, wie wohl die Fäden der Strings angeordnet sein müssen,
um dies oder das zu erklären. Dann könnte es sein, dass dein forschendes Auge
am Sonntagmorgen auf den duftenden Butterzopf fällt. Bei dem hat jemand die
Teig-Strings (Verwechslung!) auf besondere Weise miteinander verflochten. Und
plötzlich ist dir sonnenklar, wie du deine Strings verwursteln musst, damit sie
dies und das ergeben. Du hast die Zopflösung per Verwechslung auf die
Quantenphysik angewandt und bist jetzt ein Zopf... äh... ein Zufallsgenie.

Obwohl ich für Mathematik definitiv zu blöd bin, möchte ich behaupten, dass es
in der Quantenphysik nicht anders zu geht, als beim Zopfbacken. Die heilige
Ehrfurcht vor dem Genie leidet zwar ziemlich unter dieser Sicht der Dinge.
Anderseits brauchen wir uns auch nicht mehr so doof zu fühlen, bloss weil uns
der Zufall keine geniale Verwechslung ins Osterkörbchen gelegt hat.

Nachdem wir gesehen haben, dass Genies hinter jedem Butterzopf wachsen,
wollen wir uns frohgemut dem Handwerk des Verwechselns widmen.

Der schwarze Hintergrund, vor dem ein grosses, mittelalterlich anmutendes


Haus im Dauerregen steht, dessen Wände aus Holzbrettern gefügt sind und
dessen Dach eine grosse semmelförmige Pergamenthülle zu sein scheint, welche
in einem warmen Geld von innen heraus leuchtet wie ein ausgehöhlter Kürbis mit
Kerzenlicht.

Die Tauglichkeitsprüfung für die Elemente unserer Geschichte erfolgt sehr


subjektiv aufgrund unserer persönlichen Erfahrung.

Mittelalterlich-mystisch ist ja ganz schön und mächtig in Mode, aber ich verstehe
nichts vom Mittelalter und von Mystik, also lasse ich es lieber. Ich möchte mich
nicht dabei ertappen, ein 'Herrchen der Ringlein' geschrieben zu haben.

Ist das Haus damit gestorben? Nicht so hastig, denn immerhin hat es eine
faszinierende Architektur. Wir könnten ihm doch etwas Zeitgemässes oder
Zukünftiges hinzu fügen, um es aus dem Mittelalter zu holen. Eine
Telefonleitung... oder verwechseln wir es doch mit einem Zeppelin. Ein fliegender
Semmel. Das Leuchten hinter der Pergamenthülle wäre eine neuartige
Kraftquelle, welche das Gas aufheizt und unser Luftschiff zum Fliegen bringt.

Komm wieder auf den Boden! Du fliegst ja sonst aus der Geschichte hinaus. Ein
Luftschiff bedeutet Aufbruch und die Suche nach irgendwas in irgendwo. Also
das Gegenteil von dem, was wir wollen. Denn die Leute sollen nicht vor dem
Dauerregen fliehen, sondern sich mit ihm auseinander setzen.

Die letzte Chance für das Luftschiff besteht also darin, dass es nicht mehr fliegen
kann, dass es gestrandet ist. Und zwar an diesem befremdlichen Ort mit diesem
düsteren Dauerregen, der einen in den Wahnsinn treibt...
Huch, was schreibe ich da von Wahnsinn? Unser todlangweiliger
Orgelpunktregen ein Wahnsinnigmacher? Der Gedanke ist übrigens nicht sehr
originell, denn viele Leute würden sagen 'Dieser Regen macht mich noch
wahnsinnig', ohne es zu meinen. Aber wenn wir die banale Alltagsdramatik
übertreffen wollen, sind wir gezwungen, etwas zu übertreiben. Wir nehmen also
diesen Spruch für bare Münze und schauen, was geschieht.

Wenn der Regen einerseits wahnsinnig macht, anderseits reinigt, dann ist er
trennscharf wie ein Rasiermesser. Die einen treibt er in den Wahnsinn, die
anderen werden erlöst.

Wenn dir unser Vorgehen etwas chaotisch erscheint, so hat das durchaus
Methode. Unsere geistige Lockerungsübung zu Beginn ermöglicht uns jetzt, jeden
Gedanken mit Freundlichkeit zu empfangen, ihn an unser Lagerfeuer zu bitten
und ihn mit grosser Aufmerksamkeit zu betrachten. Es braucht nur etwas Mut,
sich in dei Gedankenfluten zu stürzen und eine Portion Selbstvertrauen, dass wir
immer wieder zurück finden zu unserer Geschichte.

Lassen wir uns also einfach mal treiben vom Gedanken, dass unser
Oberlangweiler Dauerregen plötzlich ein rasiermesserscharfer Grat ist, der die
Leute nach links in den Wahnsinn wirft oder nach rechts ins Paradies, je nach
dem wie sie mit ihm umgehen. Kein langweiliges Monster, das mit seinem üblen
Atem die Atmosphäre verpestet, sondern das Monster in dir selbst, das dir zu
schaffen macht.

Hu, jetzt müssen wir aber schauen, wo wir geblieben sind. Schnell noch mal
lesen:

Plitsch

Ein Dauerregen, der die Menschen auf mystische Weise von ihren
Widerwärtigkeiten befreit, wenn sie sich ihm lange genug aussetzen. Das
zärtliche Prasseln des Regens wärmt das Herz und schafft Augenblicke der
Geborgenheit, die hell leuchten im melancholischen Grau.

Eine an diesem merkwürdigen Ort gestrandete Luftschiffbesatzung. Draussen der


Regen, der dich in den Wahnsinn treibt oder dir stilles Glück beschert. Eine hoch
dramatische Ausgangssituation. Wenn es uns jetzt noch gelingt, Figuren zu
erschaffen, die darin glaubwürdig agieren, sollte es möglich sein, den Inhalt von
'Plitsch' damit umzusetzen. Es ist ja kein allzu hohes Ziel, das wir anstreben, nur
den Leuten ein bisschen die Regendepressionen lindern.

Betreten wir also tapfer die Szenerie und schauen, wen wir darin zum Leben
erwecken. Da ist der pechschwarze Himmel, der die unwirtliche Landschaft in
Schwarz taucht, so dass nur zu sehen ist, was von dem gelben Leuchten unseres
Luftschiffes erhellt wird. Die riesige Pergamenthülle mit der rätselhaften
Energiequelle. Die grosse, hölzerne Kabine mit den Türen und Fenstern, als wäre
sie ein gewöhnliches Haus. Wir betreten die Kabine und gelangen in einen
grossen von hellem gelbem Licht erfüllten Gemeinschaftsraum, von dem
verschiedene Türen weiterführen in Kajüten und andere nützliche Räume.

Bin ich zu schnell? Nun ja, wie soll denn ein Haus sonst aufgebaut sein? Über den
Grundriss und die Ausstattung der Luftschiffkabine brauchen wir uns nicht viele
Gedanken zu machen. Aus 'strategischen' Gründen sollten wir den
Gemeinschaftsraum erfinden als Bühne, wo sich unsere Figuren begegnen
können. Und da wir nicht wissen, was wir noch für Räumlichkeiten brauchen, hat
es ein paar 'strategische' Türen, aus denen die Figuren auftreten und in die sie
verschwinden können. Und wenn wir für eine Szene eine Küche brauchen... voilà
hinter dieser Tür. Oder eine Kajüte für eine persönliche Szene... jene Tür. Und
wenn wir einen magischen Augenblick brauchen in Gegenwart der rätselhaften
Lichtquelle in der Pergamenthülle... dort ist der Aufgang. Nur eine Kellertür gibt
es nicht. Aber dann verzichten wir halt aufs Wein holen und Leichen verbuddeln.

Die Figuren ergeben sich ganz von selbst. Wir brauchen einen Captain, einen
Bordingenieur, einen Wissenschaftsoffizier, einen Arzt... Halt, Notbremse!
Wollen wir wirklich 'Raumschiffchen Enterprise', die Achthunderttausendste,
schreiben?

Eine Geschichte gewinnt an Kraft, je mehr Originalität sie besitzt, ohne sich all zu
weit vom Erfahrungshorizont des Publikums zu entfernen. Verlässt sie diesen
Erfahrungshorizont, wird sie unverständlich und lässt das Publikum kalt. Ist die
Geschichte zu wenig original, wirkt sie als schwache Kopie und lässt das
Publikum ebenfalls kalt.

Der letzte Satz ist völlig richtig, aber auch grundfalsch. Denn offensichtlich
werden heute schwache Kopien hergestellt wie Toilettenpapier und bringen wohl
auch den Hauptanteil am Umsatz. Richtig ist der Satz, wenn wir etwas Gutes und
Eigenständiges schaffen wollen, einen Beitrag zur Kultur, zur Erweiterung des
geistigen Horizontes also. Manga ist eine faszinierende Mischung aus Bild und
Sprache, die sich vorzüglich dazu eignet, literarisch-ästhetische Werke hoher
Güte zu erschaffen. Ob uns das gelingt? Lass es uns wenigstens versuchen!

Geschichten von gestrandeten Fahrzeugen sind schon oft erzählt worden. Also
sind wir damit noch voll im Erfahrungshorizont. Mit der speziellen Form und der
geheimnisvollen Energiequelle bewegen wir uns etwas zum Rand hin. Obwohl es
solche Dinge in der Science Fiction häufig gibt, ist SF nicht gerade das täglich
Brot der meisten Leute. Ein düsterer, unwirtlicher Ort ist nicht Besonderes,
hingegen der merkwürdige Dauerregen schon.

Wenn wir unsere Geschichte mit Meter grossen Ameisen bevölkern, die sich in
einer zirpenden Sprache unterhalten, die wir mit Hilfe von Fussnoten an jedem
Panelrand übersetzen müssen... Damit würden wir uns weit aus dem
Erfahrungshorizont hinaus katapultieren. Bei allem Interesse für fremdartige
Kulturen, wer kann sich schon mit einer Ameise identifizieren? Dieses
Ameisenprojekt müsste vielleicht mal gemacht werden als Experiment im
Niemandsland des menschlichen Geistes. Aber um im Brustraum beim Anblick
von Regen ein warmes Gefühl zu erzeugen, sind Insekten wohl nicht geeignet.

Die Enterprise-Besatzung ist zu banal, die Ameisen sind zu original. Was wäre
denn gerade richtig? Ist es nicht so, dass jede Besatzung irgendwie banal ist, egal
wie 'original' wir sie zusammen setzen? Lassen wir sie versuchsweise einfach weg.
Das Schiff ist gestrandet, die Besatzung ist weg, das Schiff leer... schon ganz
schön befremdlich.

Welche Figur aber tritt nun in die befremdliche Leere? Eine Alte, eine schöne
Junge, ein Kind? Der alte, zerknitterte Mann, der aus einer Türe in den
Hauptraum tritt, lässt mich kalt. Kommt eine junge Schönheit raus, bringt das
eine erotische Komponente ins Spiel die nichts mit unserem Thema zu tun hat.
Du kannst sie dir vorstellen die Klischeeszene, wo das herzige Kind im
gemütlichen, keimfreien Familienfilm Augen reibend und gähnend im
Schlafanzug aus seinem Zimmer tapst. Dann gibt's von Glü(klichem)paa und
Glümama ein Küsschen und ein Frühstückchen und da Sonntag ist, macht die
Glüfa(milie) ein spannendes Standardausflügchen, bei dem so schreckliche Dinge
passieren, wie ein Softice-Klecks aufs neue Kleid von Glümama, das ihr Glüpapa
eben erst zum Geburtstag geschenkt hat.

Junge oder Mädchen? Von Jungen erwarten wir, dass sie Scheiben
einschmeissen, nicht aber, dass sie mit einer Situation, in der sich unser
Luftschiff befindet, fertig werden. Lassen wir also ein aufgewecktes, kleines
Mädchen, verschlafen und Augen reibend, aus einer Tür in die gespenstische
Leere und vom Dauerregen untermalte Stille des mit hellem, gelbem Licht
erfüllten Hauptraumes treten.

Wir haben nun genug Material zusammen getragen, um mit der Geschichte zu
beginnen:

Plitsch

1. Panel: In der Schwärze steht ein gestrandetes Luftschiff, das aussieht wie
ein grosses, eingeschossiges, mittelalterlich anmutendes Haus,
dessen Wände und Türen und Fenster aus Holzbrettern gefügt sind
und dessen Dach eine grosse, semmelförmige Pergamenthülle zu sein
scheint, welche in einem warmen Gelb von innen heraus leuchtet wie
ein ausgehöhlter Kürbis mit Kerzenlicht. Das 'Dach' ist die Gashülle
des Luftschiffes und das Leuchten eine geheimnisvolle Energiequelle,
welche das Gas erwärmen und so das Schiff aufsteigen lassen kann.
Das milde Licht entreisst der Schwärze ein kleines Stück der
unwirtlichen Landschaft. Es herrscht, bei milder Temperatur, ein
Dauerregen, der während der ganze Geschichte niemals aufhört.
Diese Erläuterungen sind nicht fürs Publikum bestimmt. Sie helfen den
Zeichnenden, keine Fehler zu machen. Wenn sie nicht vorab wissen, dass es kein
mittelalterliches Haus ist, zeichnen sie womöglich Holzbeigen an die Mauern und
einen Kuhstall. Natürlich könnten wir jedes Detail beschreiben, das ins Bild
gehört. Aber ich empfinde das als Respektlosigkeit vor der kreativen Fantasie der
Zeichnenden. Wir Schreibenden liefern nur die Noten, welche die Zeichnenden
mit ihrer Kunst interpretieren und erst dadurch die Musik der Geschichte
erklingen lassen. Achten wir darauf, dass wir nicht mehr als die Hälfte zum
Endprodukt Manga beitragen.

Das Publikum sieht also nur das altertümliche Haus im Regen und denkt 'Ah, da
kommt jetzt gleich ein alter Mann im schweren Mantel mit Stock, der sich später
als Zauberer entpuppt.'. Gut so, denn ein wichtiger Bestandteil der dramatischen
Spannung ist die Ungewissheit. Wir legen dem Publikum Klischees als Köder hin,
die es leichtfertig aufnimmt und weiter spinnt, nur um dann festzustellen, dass es
nicht so gewesen ist. Wieder und wieder wird das Publikum versuchen, die
Kontrolle über die Geschichte an sich zu reissen. Und wieder und wieder werden
wir sie uns zurückholen. Allein dieser Zweikampf wird das Publikum so in Atem
halten, dass es gar nicht auf die Idee kommt, mit dem Lesen aufzuhören.

Um diesen Kampf zu gewinnen, habe ich mir eine einfache Regel geschnitzt: Kein
Routenplan, schwimm los! Jeder noch so raffiniert ausgearbeitete Storyverlauf
kann durchschaut werden. Aber wenn ich selber nicht weiss, was geschehen wird,
wie soll mich da jemand durchschauen? Natürlich kann die Trägerrakete einer
Geschichte, die ins Ungewisse startet, dir irgend wann ins Gesicht explodieren,
weil du merkst, die Geschichte ist definitiv Mist. Aber was soll's? Lieber Wunden
lecken und noch Mal anfangen, als eine langweilige Geschichte in die Welt setzen.

Die Ungewissheit ist kein Selbstzweck. Sie darf nicht im Chaos enden, sonst ist
das Publikum nach fünf bis zehn Seiten weg. Als Gegengewicht zur Ungewissheit
nehmen wir einen kompakten Handlungsstrang. Wir setzen das Publikum in ein
Achterbahnwägelchen und ziehen es auf dem Handlungsschienenstrang
vorwärts. Das Bild von der Schiene will uns sagen, die Handlung muss nahtlos,
das heisst ohne Spannungseinbrüche voran schreiten. Das Bild von der
Achterbahn meint, wir müssen auch genug Dramatik hinein bringen, so viel, dass
das Publikum gelegentlich blau anläuft, weil es vergisst zu atmen.

Versuchen wir, den Anfang unseres Handlungsstranges aufzunehmen, und sehen


wir, wie er uns durch Ungewisse ans Ziel oder ins Verderben führt.

Um klar zu machen, dass der folgende Raum im 'Haus' ist, zoomen wir mit der
Kamera auf die Eingangstür der Luftschiffkabine:

2: Die Eingangstüre zum Hauptraum der Luftschiffkabine steht eine Hand


breit offen. Ein gelber Lichtstreifen fällt nach draussen. Der Regen prasselt bis
etwa einen Meter vor der Tür auf den Boden.
3: Nun sind wir in dem grossen, von hellem gelbem Licht erfüllten
Gemeinschaftsraum, von dem verschiedene Türen weiterführen in Kajüten und
andere mögliche Räume. Die Ausstattung dieses Hauptraumes lässt ahnen, dass
es sich hier nicht um ein Haus handelt. Mehr als eine Ahnung soll es jedoch nicht
sein.

Wir wollen ja dem Publikum seine Vorurteile nicht gleich wegnehmen. Etwas
Grundsätzliches: Die 'Panels', die ich hier durchnummeriere, sind keinesfalls
verbindlich. Sie haben bloss hinweisenden Charakter, wie der Film etwa abläuft.
Der 'wirkliche' Film aber findet im Kopf der Zeichnenden statt. Trotzdem ist
diese Nummerierung wichtig für uns. Wenn wir nämlich eine Geschichte über
tausend Bilder schreiben wollen, zeigt sie uns, wie weit wir schon gekommen
sind, was noch drin liegt und wann wir abbremsen müssen.

Jetzt kommt der Auftritt unserer ersten Figur. Den dürfen wir nicht verpatzen.
Zeit für ein paar Gedanken zu dem Charakter des Mädchens. 'Gedanken' ist
vielleicht etwas viel gesagt, es ist mehr ein Gefühl. Rufen wir also dieses Gefühl in
uns wach und schauen wir, welche Sätze sich um das Gefühl scharen, damit wir
zu einer Beschreibung kommen.

Ich sehe ein Mädchen, vielleicht acht oder neun Jahre, mit einem staunenden,
forschenden, neugierigen Gesichtchen. Ich spüre, dass es völlig keine Angst hat.
Niemand hat die Saat des Misstrauens in sein Herz gesät und es damit vergiftet.
In diesem Körperchen wohnt eine enorm starke Persönlichkeit. Nicht weil sie
einen starken Willen besässe oder Zauberkräfte. Diese Persönlichkeit erobert sich
die Welt, indem sie sie begreift und nicht, indem sie sie beherrscht.

Woher ich das weiss? Wie gesagt, es ist alles nur ein Gefühl. Ich habe mir
allenfalls überlegt, dass die Szenerie, in die das Mädchen tritt, ziemlich
befremdlich, unheimlich, ja beängstigend ist. Lassen wir also eine Figur
auftreten, von der das Publikum glaubt, sie könne nur quengeln, zittern vor Angst
und schreiend davon laufen vor Panik. Auch hier führen wir das Publikum aufs
Glatteis, um ihm dann ein Mädchen vorzuführen, dessen Flügel der Fantasie
noch nicht von der Biederkeit der Erwachsenen abgeschnitten worden sind. Ein
Mädchen, dessen Entzücken an der Welt noch nicht ertränkt wurde im grauen
Erklärungssee der erwachsenen Vernunft.

Beim Aussehen des Mädchens verlasse ich mich auf die Fantasie der
Zeichnenden. Ausgenommen sind Details, die für die Geschichte wichtig sind.

4: Eine der Türen öffnet sich zögerlich.

5: Ein acht-, neun-jähriges Mädchen erscheint in der Türöffnung. Es trägt


einen Schlafanzug, hat nackte Füsse und reibt sich, verschlafen gähnend, die
Augen.

6: Vom hellen Licht geblendet, schaut es sich im Hauptraum suchend um.


7: Niemand da.

Was würde ein kleines Mädchen nach der Erwartung des Publikums wohl tun?
Richtig, es ruft nach jemandem. Wen haben wir denn da: Mama, Papa, Onkel,
Bruder? Wollen wir unsere Figur wirklich in einer seichten Familienchronik
versinken lassen? Viel spannender ist doch das Ungewisse. Wen ruft das
Mädchen?

8: Mädchen, ohne laut zu werden: "Hallo?"

Mag sein, dass es jetzt Zeit ist, einen Namen zu suchen, auch wenn dieser in der
Geschichte noch nicht vorkommt. Es ist für uns einfacher, wenn wir nicht immer
von 'dem Mädchen' sprechen müssen. Aus irgend einem, für mich völlig
rätselhaften Grund kommt mir Angkor Watt in den Sinn, diese im Dschungel
Asiens versunkene Stadt. Angkor ist aber wohl nicht ein guter Mädchenname.
Das Wort 'Anchor', englisch Anker, taucht auf. Unser Mädchen ist ja
gewissermassen ein Ankerpunkt der Geschichte. Ein weiblicher Anker: Anchora.

Zugegeben, der Name ist weder besonders hübsch noch niedlich. Aber eine
gewisse Kraft scheint er doch auszustrahlen. Und da unser Mädchen ein
heimliches Kraftpaket ist... Verplempern wir nicht zu viel Zeit mit Namen
(Manchmal suche ich Tage land danach). Wir können ihn später immer noch
ändern.

Wir halten den Anfang des Handlungsstranges in Händen, der nun nicht mehr
abreissen darf. Aber wie das vollbringen? Die wichtigste Methode ist das sich
Versenken in die handelnde Person. Wir schliessen die Augen und versuchen in
völliger Konzentration zu verschmelzen mit Anchora. Das kann Minuten dauern,
eine Stunde, manchmal gelingt es gar nicht und das Blatt bleibt leer.

Wenn wir endlich Anchora geworden sind, halten wir unsere Augen weiterhin
geschlossen, um die seinen zu öffnen und zu sehen, was es sieht, zu fühlen, was es
fühlt, zu denken, was es denkt.

Was erlebst du jetzt Anchora? Lass uns teilhaben. Aha, du hörst ein Geräusch,
welches normalerweise nicht da ist, wenn das Luftschiff fliegt: ein Rauschen und
es kommt durch die leicht geöffnete Eingangstür.

9: Nur das Rauschen des Regens, welches durch die leicht geöffnete
Eingangstür dringt und die Aufmerksamkeit des Mädchens Anchora erregt.

10: Anchora tapst mit ihren nackten Füssen quer durch den Raum...

11: ... und späht durch den Schlitz der Eingangstür.

12: Mit grossen Augen sieht Anchora im Licht der Luftschiffhülle den Regen
vom Himmel herab fallen.
Hier flechten wir einen kleinen Hinweis auf den Titel ein.

13: Einzelne Tropfen treffen in kleine Pfützen und machen 'Plitsch'.

Was empfindest du, Anchora? Bist du ein verwöhntes Gör, das sich schaudernd
in Trockene zurück zieht? Oder bist du ein kleiner Rabauke, der Pfützen spritzen
lässt und dem nassen Himmel ins Gesicht lacht? Nach langer Fahrt im Luftschiff
wirst du wohl froh sein, festen Boden unter den Füssen zu haben. Und auch der
Regen ist eher eine willkommene Abwechslung als eine Bedrohung deines
Wohlbefindens. Also verblüffen wir auch hier das Publikum, welches wohl am
ehesten auf ein verwöhntes, regenscheues Gör tippt.

14: Anchora huscht aus dem Türspalt und streckt seine Hand, noch im
Schutze der vorstehenden Luftschiffhülle stehend, in den Regen, um die Tropfen
zu spüren.

15: Mit zwei Schritten ist Anchora im Regen, ...

16: ... wo es die Arme ausbreitet, das Gesicht mit geschlossenen Augen zum
Himmel reckt und mit weit geöffnetem Mund den Regen trinkt.

Wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir uns nicht länger nur von Anchoras
Eigendynamik treiben lassen können. Zu Beginn haben wir Anchora als
dramatische Partnerin die seltsame, etwas unheimliche Szenerie zur Verfügung
gestellt. Treiben wir dieses Spielchen zu weit, wird der Spannungsfaden reissen.
Wir engagieren jetzt aber keine billigen Werwölfe, die mit glühenden Augen aus
dem Dunkeln auf unser Mädchen schauen... Warum eigentlich nicht?

Wenn wir nicht wollen, dass unsere Geschichte aus dem Erfahrungshorizont des
Publikums driftet, müssen wir auf Klischees zurück greifen, die wir dann gezielt
abändern. Erinnern wir uns des Inhalts:

Plitsch

Ein Dauerregen, der die Menschen auf mystische Weise von ihren
Widerwärtigkeiten befreit, wenn sie sich ihm lange genug aussetzen. Das
zärtliche Prasseln des Regens wärmt das Herz und schafft Augenblicke der
Geborgenheit, die hell leuchten im melancholischen Grau.

Warum nur Menschen? Warum sollten nicht auch Wölfe von ihrer blutrünstigen
Widerwärtigkeit befreit werden? Eine gute Gelegenheit, in einer unheimlichen
Szene die merkwürdige Wirkung des Regens anzudeuten. Und schliesslich: Das
Mädchen und der Wolf... Was für ein herrliches Rotkäppchen-Klischee!

17: Während Rotkäppchen... äh Anchora noch den Regen trinkt, wird es von
zwei glühenden Augen aus dem Dunkeln beobachtet.
Wir haben uns bereits intensiv in Anchora versetzt, um seine Impulse zu spüren.
Dabei habe ich ganz vergessen zu erwähnen, dass die 'Hauptperson', in die wir
uns immer und immer wieder, ja bei jedem Bild versetzen müssen, das Publikum
ist. Wir setzen uns in die Ränge des Publikums und sehen, wie unser 'Film' wirkt,
... nein wir sehen es nicht, wir erleben es mit. Unser Publikumssessel darf nie kalt
werden, weil wir uns selbstverliebt in unserer Geschichte verloren haben. Es ist
nicht unsere Welt, die wir gestalten. Es ist die Welt des Publikums. Wir schreiben
zwar die Geschichte. Wir bestimmen Figuren, Dialoge, Handlungen. Mit den
Zeichnenden zusammen führen wir zwar Regie, bestimmen Kulissen, Requisiten,
Licht und Schatten, das Tempo. Dies aber für das gnadenlose Auge des
Publikums und nicht, um unsere Sehnsüchte nach was auch immer in
Tagträumen zu befriedigen.

Wenn wir unseren Sessel im Publikum nicht kalt werden lassen, werden wir den
Unmut über unsere Arbeit rechtzeitig spüren, aber auch das Mitfiebern erleben,
das Lachen, die Tränen. Und es sollte uns nicht passieren, dass wir nach einem
üppigen Ausflug ins Reich unserer Fantasie zurückkehren und feststellen, dass
das Publikum schon längst nach Hause gegangen ist.

Wenn ich also von 'Handlungssträngen' und 'Spannungsfäden' schwadroniere,


meine ich damit die spannungsgeladene Aufmerksamkeit des Publikums. Stellen
wir uns eine Hand vor, die aus unserem Film, unserem Theaterstück hinaus das
Herz des Publikums ergreift und so lange nicht los lässt, wie die Muskelspannung
der Hand sich aus der Spannung der Geschichte speist.

Das Publikum sieht diese beiden glühenden Augen. Die noch nicht so Geübten
werden denken 'Mädchen, pass auf!'. Die Erfahrenen 'Ach, so ein doofes Monster,
ein Vampir, ein Drache, fehlgeschlagenes gentechnisches Experiment, eine
Raubkatze, ein Kampfroboter und sobald das Mädchen angegriffen wird, wird es
seinen Zauberstab-Ring-Amulett-Maskottchen aus dem Schlafanzug ziehen
und... Wie langweilig!'. Die Nüchternen 'Hm, da kommt ein Auto.'.

Puh, so ein Aufenthalt im Publikum kann ganz schön an die Nieren gehen. Ein
reissender Fluss aus Vorurteilen und Klischees will uns die Beine weg hauen.
Bleiben wir tapfer und präsentieren wir das banalste aller Klischees, das so banal
ist, dass niemand es überhaupt in Erwägung gezogen hat... unser Rotkäppchen.

Das Regen trinkende Mädchen Anchora bemerkt den Wolf nicht, der es anstarrt.
Bevor wir jetzt die Begegnung der beiden Inszenieren, müssen wir uns in ein Tier
verwandeln. Der Wolf ist eine handelnde Figur, die wir nicht leichtfertig als
winselndes Hundi abtun dürfen, sonst verscherzen wir uns die Glaubwürdigkeit
und damit die Dramatik.

Tauschen wir ein in die Persönlichkeit des Wolfes. Wie beim Hund wird er wohl
die Welt vorwiegend mit Nase und Ohren erkunden. Die Augen registrieren
Bewegungen und Hindernisse, schätzen Entfernungen ein, aber sie liefern nicht
das 'Weltbild', wie es bei uns der Fall ist, die wir uns so sehr an Sichtbarem
orientieren. Der Wolf hat ein 'Geruchs-' und ein 'Hörbild' von der Welt. Das
Hörbild sagt ihm, was um ihn herum geschieht. Das Geruchsbild, wer da gewesen
ist und wer neu dazu kommt. Er hat somit gleichzeitig ein Bild von der
Vergangenheit und der Gegenwart. Und mit Hilfe seiner Erfahrung kann er aus
Vergangenheit und Gegenwart schliessen, was in Zukunft geschehen wird.

Die Gefühls- und Wahrnehmungswelt eines Wolfes ist eben so reichhaltig wie
unsere. Bestimmt hat er auch eine Sprache aus Lauten und Gesten, damit er sich
seinen Leuten mitteilen kann. Es fehlt ihm nur die Schrift, mit deren Hilfe er
Protokolle seines Bewusstseinsstromes anfertigen könnte. So verweht sein
Wissen in der Zeit und seine begabten Mitwölfe haben nach seinem Tod keine
Gelegenheit, auf seinen Erfahrungen aufzubauen.

Natürlich sind wir wissenschaftlich noch nicht so weit zu wissen, wie es in einem
Wolf aussieht. Aber ein 'hohler' Wolf ist kein dramatischer Partner für Anchora.
Also ist es unsere verdammte poetische Pflicht, ihn mit unserer Fantasie zu
füllen.

Bei vielen Geschichten werden die Tiere mit Menschen aufgefüllt. Sie sprechen,
zeigen menschliche Charaktereigenschaften und tragen vielleicht sogar einen
Schlips. Versuchen wir nun, den Wolf so wolfsnah wie möglich auftreten zu
lassen mit der kleinen Korrektur, dass der Regen seine blutrünstige Aggressivität,
die ihn manchmal im Blutrausch ein Dutzend Schafe reissen lässt, wenigstens
zum Teil 'abgewaschen' hat.

Unser durch die Nacht trabender Wolf ist gestoppt worden durch das Licht und
das Mädchen, das aus der Türe gekommen ist. Vorsichtig erschnuppert er
Anchoras Duft. Im Moment übertönt kein verdächtiges Geräusch das Prasseln
des Regens.

Nun haben wir zwei Perspektiven. Erstens Anchora könnte die Augen sehen und
darauf zu laufen. Zweitens der Wolf könnte Anchora beobachten beim
Näherkommen. Indem wir dem Publikum das 'Monster' verraten, nehmen wir
der Geschichte einen Teil der Spannung. Anderseits kann die Wolfsperspektive
auch eine Bereicherung sein, ein faszinierendes Element, welches dem billigen
Unbekanntes-Monster-Effekt vorzuziehen ist.

18: Die Augen gehören einem kräftigen Wolf, der in etwa 100 Metern
Entfernung, die Nase schnuppernd im Wind, unverwandt Anchora anstarrt.

19: Wachsam wie Radarantennen suchen die Wolfsohren die Umgebung ab.
Da ist nur das harmlose Prasseln des Regens.

20: Ständig schnuppernd sieht der Wolf, wie Anchora ihr Regentrinken
abbricht und sich suchend umschaut.
21: Das Mädchen scheint die Augen des Wolfes entdeckt zu haben. Jedenfalls
schaut es neugierig in seine Richtung.

Wie soll Anchora dem Wolf begegnen, wenn es stockfinster ist? Zum Glück haben
wir unsere rätselhafte, gelb leuchtende Energiequelle. Damit lässt sich doch auch
ein hübsches Laternchen bestücken. Es gibt da diese kugelförmigen
Papierlampions, die an einem Stock getragen werden. Für ein kleines Mädchen
wäre dies doch eine poetische 'Taschenlampe'. Um wieder einen Tupfer
Originalität reinzubringen, sollte das Lampion nicht aus Papier sein, sondern aus
einer Art Kunststoff, dessen Form der rätselhaften Energiequelle angemessen ist.
Eine kleine Designherausforderung für unsere Zeichnenden.

Gleichzeitig gibt uns das Lichtproblem eine weitere Gelegenheit, das Publikum
auf eine falsche Fährt zu locken. Da Anchora ihr Lampion nicht dabei hat, muss
es zurück ins Luftschiff. Und das wird unser Publikum als angstvolle Flucht vor
dem Wolf 'verstehen'.

22: Abrupt dreht sich Anchora um und rennt zurück zur Eingangstür der
Flugschiffkabine.

23: Anchora hat die Tür weit offen stehen lassen und ist in der Kabine
verschwunden. Wachsam beobachtet der Wolf.

Benutzen wir die Gelegenheit, um Anchora anzuziehen. Wenn wir uns nämlich
kurz ins Publikum setzen und uns weitere Szenen mit einem Mädchen im
plitschnassen Pyjama ansehen, dann hören wir dauernd Rufe wie 'Zieh dir was
Warmes an, Kind, du erkältest dich!'. Das stört. Also verpassen wir Anchora
etwas Regentaugliches.

Wie so oft habe ich keine Ahnung, was da wohl geeignet wäre... ein Hut, eine
Kapuze, ein Schirm? Solange wir später keinen Schirm brauchen, um ihn
jemandem über die Rübe zu hauen, können wir das ruhig den Zeichnenden
überlassen.

24: Nach einer Zeit erscheint Anchora in der Tür. Es trägt nun Schuhe und
regentaugliche Kleidung. In der Hand hält es einen Stab, von dessen Spitze, wie
bei einem Lampion, eine gelb leuchtende Kugel herab hängt, deren Energie von
der selben Art zu sein scheint wie die der Luftschiffhülle. Wieder schnuppert der
Wolf, um dieses neue Bild zu begreifen.

Natürlich ist es unnatürlich, wenn ein kleines Mädchen in dunkler Nacht auf zwei
glühende Augen zu geht. Aber nicht unlogisch. Anchora hat den reinigenden
Regen nicht nötig. Es ist ein Kind des Regens sozusagen. Nicht Angst und Hass,
Gier und Rache erfüllen sein Herz, sondern eine grosse Freundschaft zu allem,
was lebt. Für Anchora ist es das Natürlichste, mit einem Licht zu diesen Augen zu
gehen, um ihnen guten Tag zu sagen.
25: Ohne Furcht, mit festem Schritt stakst Anchora im Schein des Lampions
auf den Wolf zu. Dieser schnuppert, macht einen Schritt zurück, ist unschlüssig.
Was da auf ihn zukommt, ist mindestens doppelt so gross wie er. Was ein Kind
ist, weiss er nicht.

Das Publikum möchte rufen 'Geh zurück! Der Wolf wird dich sonst fressen!'. Es
kann ja nicht wissen, ob wir Schreibenden nicht gleich zu Beginn der Geschichte
unsere blutrünstige Fantasie ausleben und ein Kind zerfetzen. Beklommen muss
das Publikum ansehen, wie das Mädchen unaufhaltsam in sein Verderben läuft.

26: Anchora ist bis auf wenige Meter an den Wolf heran gekommen. Diesem
sträuben sich die Haare und unwillkürlich fletscht er die Zähne. Er hat Hunger
und ist zum Kampf bereit.

Wechseln wir jetzt die Perspektive zurück auf Anchora, um zu sehen, wie es
reagiert.

27: Der einige Meter weit reichende Schein des Lampions entreisst der
Dunkelheit den leise knurrenden Wolf.

28: Anchora lächelt und sagt: "Hallo Hund, du hast schöne Leuchtaugen...
Weisst du, wo sie hingegangen sind?

Das mit den Leuchtaugen ist kein Kompliment, sondern eine ehrliche
Feststellung. Und Anchora sagt auch nicht 'die Besatzung' oder sonst was
Altkluges. Einfach 'sie', schliesslich weiss es ja, wer gemeint ist. Wie fühlt sich ein
wilder Wolf, dem solche Rede zu Teil wird?

29: Die seltsamen Laute dieses Leuchtwesens irritieren den Wolf uns seine
Ohren spitzen sich vor Aufmerksamkeit.

Nun haben wir uns selber in eine Situation hinein manövriert, wo entweder
Anchora eine Waffe, einen Zauber oder eine Fertigkeit benötigt, um sich zu
wehren oder aber ein unverrichteter Dinge abziehender Wolf seine
Glaubwürdigkeit verliert. Dank unserer poetischen Weltgestaltungsvollmacht
und weil wir Anchora nicht verlieren wollen, führen wir ein Opferlamm ein.
Praktischerweise hat unser Wolf ja schön die Öhrchen gespitzt. Weshalb sollte er
also nicht den Nager bemerken, der da durchs Gelände raschelt?

30: Ein Rascheln, welches er deutlich durch das Prasseln des Regens
vernimmt, lässt den Kopf des Wolfes herum schnellen.

31: Kaum sieht er das Nagetier am Rande des Lichtscheins entlang huschen, ...

32: ... überwältigt ihn sein Jagdfieber und sein Kiefer schnellt vor.

33: Ein Kracksen, ...


34: ... dann hängt der tote Nager beidseits aus dem Blut triefenden Maul des
Wolfes.

35: Will Anchora ihm die Beute streitig machen? Mit einem misstrauischen
Seitenblick auf das Leuchtwesen trottet der Wolf ins Dunkle davon.

Puh, geschafft. Dafür haben wir Anchora einem schockierenden Anblick


ausgesetzt. Wie verkraftet es das? Bestimmt ist es betroffen und findet den
'Hund' doof, der ein so niedliches Nagetier verbeisst. Der hat's mit Anchora
vergeigt.

36: Anchora ist betroffen über diesen Ausbruch von Gewalt und sagt, dem
Wolf nach schauend: "Blöder Hund. Du kannst doch einen Keks essen."

37: Anchora hat Hunger und zieht einen Keks aus der Tasche.

38: Am Keks knabbernd, geht das Mädchen weiter.

Auch das Publikum dürfte von unserer kurzen, brutalen Einlage verunsichert
sein. Es weiss jetzt, dass in unserer Geschichte alles möglich ist - auch das
Sterben. Damit haben wir dem Publikum den Boden der Gemütlichkeit entzogen.
Mit zitterndem Herzen hängt es an dem kleinen Leben, das da durch die Nacht
wandert, umgeben von Tod.

Wir sind wieder an einem Punkt des Nichtwissens angelangt. Keine Ahnung,
wie's weiter gehen soll. Das darf auf keinen Fall auf die Geschichte durch
schlagen. Wenn wir Anchora jetzt Seiten lang ohne dramatisches Gegenüber
durch die Nacht streifen lassen, zerkrümelt der Handlungsstrang und der
Spannungsfaden reisst.

Stellen wir uns mutig dem Nichts. Es ist uns gelungen, eine Atmosphäre zu
schaffen, und es wäre schade, jetzt eine neue Szene mit anderen Figuren zu
beginnen. Kramen wir also die Teigschüssel unseres Bewusstseins hervor, werfen
Anchora hinein, wie es durch die Nacht streift, und den Inhalt

Plitsch

Ein Dauerregen, der die Menschen auf mystische Weise von ihren
Widerwärtigkeiten befreit, wenn sie sich ihm lange genug aussetzen. Das
zärtliche Prasseln des Regens wärmt das Herz und schafft Augenblicke der
Geborgenheit, die hell leuchten im melancholischen Grau.

... und... ja was? Schliessen wir die Augen und schauen wir, ob sich zu diesen
beiden Zutaten noch eine dritte gesellen will...

Warum geht Anchora weiter? Warum bleibt es nicht brav im Luftschiff und
wartet, bis die Besatzung oder wer immer das Schiff zum Fliegen bringt, zurück
kommt? Weil es nicht Anchoras Art ist. Das Mädchen lässt sich nicht zum Opfer
des Geschehens machen. Es geht auf die Dinge zu und untersucht sie. So kommt
mir immer wieder in den Sinn, dass Anchora eigentlich auf der Suche nach der
Besatzung ist. Aber diese Suche ist so logisch uns üblich, dass ich gähnen muss.
Wollen wir unserer Geschichte nicht wenigstens die Chance auf einen ihr eigenen
Zauber lassen, indem wir auf das zwingend Übliche einfach verzichten?

Versuchen wir uns doch einfach mal vorzustellen, wer denn in dieser schwarzen
Regennachtsuppe von seinen und welchen Widerwärtigkeiten befreit werden
könnte. Vielleicht finden wir auf diesem Weg eine stimmungsvollere Bühne als
dieser langweilige Hauptraum im Luftschiff. Schliessen wir die Augen...

Ziemlich schwierig, in der Schwärze etwas auszumachen. Wir brauchen wohl


wieder einen kreativen Kunstgriff. Wir können uns mal verklaren, was wir unter
Widerwärtigkeiten verstehen. Anstelle abstrakter und schwer verständlicher
Definitionen machen wir eine kleine Liste der Widerwärtigkeiten. Der
Hintergedanke: Einzelne Wörter können, wie die Sprossen einer Leiter, als
Steighilfe zu neuen Bildern und Szenen dienen.

- Geiz (Reichtum, der zusieht, wie andere in Armut verrecken)

- Sadismus (die Lust am Zufügen von Schmerz, Erniedrigung und Leid)

- Egozentrik (nur meine Bedürfnisse zählen, alle anderen sind


unwichtig)

- Machtstreben (das Verlangen, die anderen vor sich kuschen zu sehen)

- Ignoranz (das Leugnen wichtiger Tatsachen, um ja keine


Zugeständnisse machen zu müssen)

- Serienmord-Defekt (völliges Fehlen des Einfühlungsvermögens, so


dass jede, auch seelische, Grausamkeit vom Lustgewinn und nicht vom
angerichteten Schmerz her beurteilt wird)

Viele dieser menschlichen Eigenschaften könnten wir auf dem Gutshof einer
reichen Person oder in einem Gefangenenlager inszenieren. Aber ein Sozialdrama
mit vielen Figuren würde den Rahmen unserer Geschichte mehrfach sprengen.

Wie wär's mit einem kleinen Gehöft, einem Tyrannen und seinem Opfer. Warum
sollte er ein Tyrann sein, wenn der Regen ihn doch heilt? Ist doch logisch: weil es
ihm irgendwie gelungen ist, sich dem Einfluss des Regens zu entziehen. Mir
kommt dabei ein kreisrundes Tälchen in den Sinn, in dem es nicht regnet, weil
der Tyrann durch irgend einen Trick das zu verhindern weiss. Anchora kämpft
gegen diesen Tyrannen, indem sie versucht, es irgendwie im Tal regnen zu lassen.
Vielleicht ist das Tälchen sogar sonnendurchflutet, weil eben dort ein Loch in den
Wolken ist.
Das warme, helle Licht der Sonne beleuchtet die Grausamkeit des Tyrannen und
das Leid seines Opfers. Der Tyrann ist ein mächtiger Zauberer, in unserer
'modernen' Geschichte also ein begabter Ingenieur, der mit einem Kraftfeld das
Loch in den Wolken offen hält.

Ja, ich weiss, viele von euch haben nicht gern Science Fiction und würden den
Magier dem Ingenieur vorziehen. Gebt unserer Geschichte trotzdem eine Chance,
indem ihr Folgendes bedenkt: Science Fiction ist meistens sehr kühl, weil sie sich
in effekthascherischem Technik-Schnickschnack verliert und dabei die seelische
Tiefe völlig vernachlässigt. Dasselbe würde auch mit der Fantasy geschehen,
wenn dort urplötzlich nur noch von den ZEs (Zaubereinheiten) der Magiestäbe,
RKs (Rüstungsklassen) der Mäntel und Beschleunigungswerten der Flugbesen
(von 0 auf 100 in 2 Sekunden) die Rede wäre. Atmosphäre in Science Fiction zu
bringen ist bloss eine Frage der Schreibkunst.

Warum aber aus einem kühlen Vorurteil heraus starten, wo wir es doch mit
Fantasy gratis so schön warm haben könnten? Dafür gibt es einen mächtigen
Grund. Ich ertrage das Elend der Lebewesen nur schwer. Wenn ich einen
Gleichaltrigen sehe, der mit grotesk verbogenen Händen und Füssen sich
gefährlich wackelnd, aber noch ohne Hilfe fortbewegt. Später sehe ich ihn mit
einem Stützwägelchen. Schliesslich hockt er verkrümmt in einem elektrischen
Rollstuhl, den er noch knapp mit der einen Hand durch ein Hebelchen zu steuern
vermag. Während ich frisch und munter auf meinen zwei Beinen durch die
Strassen gehe. Dann ist die Ohnmacht tief und düster, will meinen Atem stocken
lassen, und ein stummer Schrei ruft nach dem Zauber der Heilung.

Bestimmt geht es dir auch so. Und deshalb flüchtest du dich gern in die
Geborgenheit einer warmen Fantasy-Welt. Doch alle Zauberkräfte der Fantasy
können nicht ein einziges Leid der Wirklichkeit bannen. Was falsch ist, denn
immerhin erlöst uns eine solche Geschichte vom Leiden und der Langeweile der
Welt, indem sie uns Augenblicke der Spannung und Geborgenheit schenkt.
Darüber hinaus lernen wir von den heldischen Figuren Mut und Tapferkeit im
Angesicht des Bösen. Wertvolle Eigenschaften, die uns auch im wirklichen Leben
weiter helfen.

Mir ist das zu wenig. Ich brauche eine stärkere Droge, um das Elend der Welt
aushalten zu können. Ich brauche eine Welt, in der Blinde sehend und Lahme
gehend gemacht werden. Und zwar auf eine Weise, die mich überzeugt.

Die einfache Frage lautet, wie könnte eine gute Welt aussehen? Und die Antwort
darauf dürfen wir nicht den Politikleuten überlassen, die nur bis zur nächsten
Wiederwahl denken. Oder den Forschenden, die sch in den Labyrinthen ihres
Fachwissens verlaufen haben. Wir müssen diese Antworten schon selber suchen.
Wenn wir eine Lösung gefunden haben, dann lasst sie uns beschreiben in einer
Science Fiction Story. Und natürlich wird die Geschichte scheitern an allen
Widersprüchen zur Wirklichkeit. Wer kann schon die Zukunft voraussagen? Aber
wenn wir gemeinsam viele Geschichten in die Zukunft feuern, dann werden die
Leuchtspurgeschosse unserer Salven die Finsternis der Ungewissheit und der
Angst erhellen und uns den Weg weisen. Und ihr werdet sehen, die Politikleute
werden befehlen, was wir verlangen, und die Forschenden werden erfinden, was
wir fordern.

Dann haben wir die Zukunft herbei gezaubert, statt uns vor ihr zu fürchten und
zu flüchten. Diese reale Magie ist ein gewaltiges Plus der Science Fiction. Kommt
hinzu, dass eine fortgeschrittene Wissenschaft die Grenzen zur Fantasy-Magie
verschwimmen lässt. Und die Kobolde und Trolle, Elfen und Feen? Die gibt es
doch längst - auf anderen Planeten.

Unsere Geschichte kann solchen Ansprüchen nicht genügen. Sie ist ja nur ein
kleiner Werbespot für den Regen. Belassen wir als um der Atmosphäre willen das
Geheimnisvolle des heilenden Regens und zerklären ihn nicht mit in den Wolken
siedelnden Pilzen, die Psychodrogen absondern. Auch dürfen die Maschinen
unseres Ingenieurs ruhig ein Fantasy-volles aussehen haben. Und der
Mechanismus ihrer Wirkung darf sein Geheimnis bleiben.

Ein Ingenieur ist auch ganz praktisch, wenn wir am Schluss jemanden brauchen,
der Anchoras Luftschiff repariert. Die drei könnten dann gemeinsam in eine neue
Zukunft aufbrechen. Hm, und die Besatzung? Die dürfen wir doch nicht einfach
zurücklassen. Das würde Anchora nie tun. Und warum hat die Besatzung
Anchora einfach zurückgelassen? Das hätte sie auch nie getan. Also hat die
Besatzung gedacht, wir gehen mal schnell schauen und kommen gleich zurück.
Und aus dem 'gleich' ist nichts geworden, weil etwas sie daran gehindert hat.
Warum nicht unser Ingenieur? Dem kommen bestimmt Arbeitskräfte gelegen,
die er ausbeuten kann. Ausbeutung ist ja ein wesentlicher Teil von Tyrannei.

Wie war das jetzt mit 'selber nicht wissen, wie's weiter geht, damit uns niemand
durchschaut'? Zugegeben, das ist schon viel Geschichte. Anderseits was haben
wir schon verraten? Viel mehr als die dramatischen Pole haben wir damit nicht
bestimmt. Und die brauchen wir ja wohl, um weiterzufahren. Und die Geschichte
ist merkwürdig genug, um nicht gleich durchschaut zu werden, wenn wir
diszipliniert nur kleine Portiönchen unseres Wissens hinein fliessen lassen.

Unklar ist noch das Opfer des Ingenieurs, zu dem er eine spezielle Beziehung hat.
Wie wäre es mit einem etwa 14-jährigen zierlichen Jungen? Zwischen ihm und
dem Tyrannen liegt ein Hauch sadistischer Knabenliebe in der Luft. Und zu
Anchora ergeben sich zarte Möglichkeiten. Lasst es uns einfach versuchen.

Erinnern wir uns, dass Anchora am Keks knabbernd, weiter geht. Um zu zeigen,
dass es ein erhebliches Stück zurück legt, verwenden wir noch ein Bild.

39: Unverdrossen stapft Anchora gerade aus. Das Lampion enthüllt immer
dasselbe unwirtlich steinige und manchmal schlammige Gelände.
Bevor das Publikum auf die Idee kommt, weiter zu zappen, leiten wir vom ersten
auf den zweiten Schauplatz über.

40: Auf einem Hügelchen stehend, schaut Anchora zurück zu ihrem Luftschiff,
welches nur noch als kleines gelbes Leuchten auszumachen ist.

41: Wie Anchora sich wieder nach vorne wendet, das Lampion im Rücken,
bemerkt es eine hinter Regen, Nebelfetzen und Gewölk wabernde Lichtsäule, die
mit schwachem Schimmer vom Himmel zur Erde reicht.

Wir wechseln jetzt wohl besser von 'es' zu 'sie'. Wenn da noch ein Junge ins Spiel
kommt und wir fangen den Satz mit 'Sein Gesicht...' an, ist nicht mehr klar, wer
gemeint ist.

42: Ein Lächeln huscht über Anchoras Gesicht, denn das ist jene Art von
Wunder, die ihr Herz höher schlagen lässt.

43: Das Lampion im Rücken, damit das schwache, sternenkühle Weiss der
Säule nicht überstrahlt wird, wieselt Anchora darauf zu.

44: Nach einer Zeit bleibt sie, heftig atmend und schwitzend stehen. Sie hat
die Entfernung unterschätzt.

45: Mit entschlossenem Blick greift sie sich einen Keks, ...

46: ... um dann gemächlicher weiter zu zockeln.

Solche Abläufe brauche ich nicht Bild für Bild zu erläutern, sonst kommen wir ja
nirgends hin. Allgemein ergeben sich solche Sequenzen ja aus der Logik des
Charakters und der Situation. Unsere Forschende Anchora ist neugierig. Sie will
das Wunder der Lichtsäule, ungeduldig wie Kinder nun mal sind, sofort von
nahem sehen. Aber eine solche Lichtsäule, auch wenn sie angesichts der Nacht
vermutlich vom schwachen Mondlicht stammt, kann gut und gern zehn bis
zwanzig Kilometer weit weg sein. Natürlich könnten wir die Distanz 'poetisch'
verkürzen, aber das scheint nicht angezeigt. Der neue Schauplatz soll nicht gleich
neben Anchoras 'Zuhause', dem Luftschiff, liegen. Sonst haben wir eine
unterschwellige, störende Stimme in unserer Komposition, die dauernd sagt 'Sie
braucht ja nur rüber ins Haus zu gehen'.

Also machen wir noch ein bisschen Theater, um diese Stimme zum Schweigen zu
bringen. Unser alter Freund, der Wolf, könnte doch seinem Rotkäppchen zu Hilfe
eilen. Wir wollen ja nicht zu viele Figuren einführen. Das brächte bloss Unruhe in
unsere besinnliche Geschichte. Um die Distanz zwischen zwei Punkten spürbar
zu machen, eignet sich eine Übernachtung vorzüglich. Lassen wir also den
regenzahmen Wolf und das Rotkäppchen eine gemeinsame Nacht verbringen.
Wobei wir hinterlistig davon ausgehen, dass das Publikum nichts davon weiss,
dass der Wolf nicht mehr ganz so wild ist.
Zuerst malen wir Anchora eine gewisse Erschöpfung ins Gesicht, die ahnen lässt,
dass schon gut zwei, drei Stunden vergangen sind.

47: Nach zwei, drei Stunden, die ziemlich an Anchoras Geduld genagt haben,
macht sie einen erschöpften Eindruck.

48: Sie bleibt stehen und mustert die Lichtsäule, die kaum näher gekommen
zu sein scheint.

49: Enttäuscht atmet sie aus...

50: ... und schaut sich um nach einem Rastplatz.

51: Ihr Blick kann die Schwärze nicht durchdringen und bleibt an den zwei
glühenden Augen hängen.

52: Wie Anchora auf die Augen zu stapft, bekommt ihr Gesichtchen einen
grimmigen Ausdruck. Der 'blöde Hund' kann sich auf was gefasst machen.

53: Im sich verlierenden Schein des Lampions zeichnen sich die Konturen
eines mächtigen Felsens ab. Am Fuss des Felsens fehlt ein tüchtiges Stück, so
dass sich dort zwar keine Höhle, aber ein natürlicher Unterstand mit trockenem
Boden gebildet hat. Der Wolf von vorhin steht unter diesem Felsendach und
beobachtet aufmerksam das näher kommende Mädchen.

54: Wie Anchora den Unterstand betritt, belehrt sie den Wolf grimmig: "Du
musst nicht Tiere essen, du blöder Hund. Dafür gibt es Kekse."
Knurrend weicht der Beschimpfte etwas zurück. Sein Hunger ist nicht mehr so
gross und er hat keine Lust, sich mit diesem bedrohlichen Leuchttier anzulegen.

Es ist nicht so einfach, sich vorzustellen, wie ein Kind spricht. Für eine
erwachsene Person ist die Szene, wo der Wolf das pelzige Nagetier verbeisst, auch
brutal. Aber sie wird sich sagen 'Wölfe sind halt Raubtiere.'. Und mit dem Herzen
in der Hose wäre sie wohl erleichtert darüber, dass der Wolf den Nager gefressen
hat und nicht sie.

Für Anchora ist der Wolf aber ein Hund. Und der Hund macht einen Denkfehler,
wenn er meint, einen Nager essen zu müssen, wo's doch Kekse gibt. Unser
unverdorbenes Mädchen sagt also nicht mit moralisierendem Zeigefinger 'Du
sollst nicht töten!'. Es weist viel mehr den Hund auf seinen Denkfehler hin 'Du
musst nicht...' im Sinne von 'Es ist nicht notwendig, dass...'. Deshalb auch 'Tiere
essen' und nicht das moralische 'Tiere töten'.

Warum aber macht Anchora ein grimmiges Gesicht? Nicht aus moralischer
Entrüstung, sondern weil der Hund ihr mit seinem Verhalten einen Stich ins
Herz versetzt hat. Jetzt ist sie sauer. Kaum hat sie ihn angemessen beschimpft,
löst sich der Krampf in unserem erstaunlichen Mädchen und sie macht eine
Geste der Versöhnung.

55: Anchora kramt in der Tasche, wo die Kekse stecken, ...

56: ... zieht einen raus...

Halten wir für einen Augenblick das Herz des Publikums an.

57: ... und hält ihn dem knurrenden, Zähne fletschenden Wolf hin. In einer
Grossaufnahme sind das Furcht erregende Maul des Wolfes und die zarte
Kinderhand zu sehen, so dass als nächstes Bild nur noch ein blutiger Armstumpf
in Frage zu kommen scheint.

Sämtliche Horrorfilme laufen nun vor dem geistigen Auge des Publikums ab.
Und manche werden die Augen verschliessen und nicht mehr weiter lesen wollen,
denn das wäre wohl kaum zu ertragen, wenn diesem niedlichen Geschöpf jetzt die
Hand abgebissen würde. Trotzdem muss, durch die Fingerschlitze der
vorgehaltenen Hand weiter gelesen werden. Denn hier aufzuhören ist unmöglich.

58: Das Zähnefletschen hat aufgehört. Die Nase des Wolfes erschnuppert den
Keks.

59: Das Maul nähert sich dem Keks...

60: ... und fast zärtlich packen die mörderischen Fangzähne den Keks, ...

61: ... der mit einem kurzen Aufwerfen des Kopfes im Rachen verschwindet.

62: Als wäre es die selbstverständlichste Sache der Welt, sitzt Anchora kauend
neben dem Wolf im Trockenen und hält ihm einen weiteren Keks hin.

Mag sein, dass das Mädchen noch was zu seinem Hundi sagt. Aber eigentlich
wollen wir dieses stille Bild nicht mit Geschwätz stören. Hören wir lieber auf die
Buh-Rufe der Abgebrühten im Publikum, die sich lautstark über diese kekssüsse
Wendung aufregen, weil sie so 'unrealistisch' und 'unlogisch', 'kitschig' ist und
'leider einen guten Ansatz durch Unglaubwürdigkeit zerstört, schade'. Die
Abgebrühten hätten lieber eine 'ehrliche' abgebissene Hand gehabt.

Noch bevor wir unsere Hand haben können, um sie zu besänftigen, verlassen ein
paar ihre Sessel auf Nimmerwiedersehen. Wenn es eines unserer kreativen
Hilfsmittel ist, mit den Vorurteilen des Publikums zu spielen, dann müssen wir
solche Reaktionen ertragen. Klischees und Vorurteile sind für viele
gleichbedeutend mit 'Wahrheit'. Und wenn wir diese 'Wahrheit' verletzen... dann
Gnade uns Gott.
Schreiben wir unsere Geschichte weiter für jene, die genug geistige Lockerheit
besitzen, um zu sagen 'Ich bin auch etwas ratlos, ja irritiert... Ich habe keine
Ahnung, wie es weiter gehen könnte... Aber die Atmosphäre gefällt mir... und die
Spannung... Bitte weiter.'. Dies ist ein kostbarer Augenblick, den wir ein paar
Sekunden geniessen wollen. Denn das Publikum hat uns eben sein Vertrauen
geschenkt...

Gönnerhaftigkeit und Besserwisserei sind einer gewissen Hilflosigkeit gewichen.


Dafür hat sich der Zauber einer neuen Geschichte aufgetan. Lasst uns hart
arbeiten an diesem schwerelosen Feenflügel.

Wie geht's jetzt weiter? Wollen wir noch zeigen, wie der Wolf diesen
hingehaltenen Keks isst? Oder wäre das bloss eine überflüssige Wiederholung auf
Kosten der Spannung? Das ist eine Frage des Tempos und schwierig zu
beantworten. Wir klauben uns die Geschichte mühevoll im Zeitlupentempo aus
dem Gehirn und können sie nicht mal in 'Echtzeit' betrachten, weil sie noch nicht
gezeichnet ist. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als die beschriebenen
Bilder durchzulesen und uns mit grösster Konzentration die Abfolge
vorzustellen...

Zwischen Bild 61 und 62 haben wir auf die Beschreibung des Hinhockens
verzichtet und den kleinen Zeitsprung zum 'gemütlichen Beisammensein' gewagt.
Solange dem Publikum klar ist, was dazwischen gelaufen ist, dient ein solcher
Sprung dem Fluss der Geschichte. Ist der Sprung aber zu gross, entsteht eine
Lücke, die das Publikum nicht auffüllen kann, und die Geschichte bekommt
einen Riss.

Bestimmen wir zuerst, was als nächstes kommen soll. Erinnern wir uns des
zweiten Teils unseres Inhaltes: ... Das zärtliche Prasseln des Regens wärmt das
Herz und schafft Augenblicke der Geborgenheit, die hell leuchten im
melancholischen Grau.

Das Mädchen, das sich zum Schlafen an den Wolf kuschelt, eine Armlänge
entfernt das zärtliche Prasseln des Regens... Wäre das nicht ein Herz wärmender
Augenblick der Geborgenheit? Unglaubwürdig, kitschig? Ein bisschen kitschig
vielleicht, aber nicht unglaubwürdig. Auch wenn ich es nicht weiss, vermute ich
doch stark, dass Wölfe sich beim Schlafen gegenseitig wärmen. Schliesslich sind
es Rudeltiere und wer erfriert schon gern in einer kalten Winternacht? Also
dürfte unser Wolf das 'Kuscheln' gewöhnt sein. Und ob ein kleines Mädchen sein
Gesichtchen gern ins Fell eines Tiers vergräbt... Darüber müssen wir wohl nicht
diskutieren. Unsere einzige Schummelei besteht darin, dass sich der Wolf als
Nachttier nicht unbedingt in der Nacht zum Schlafen hinlegt. Aber da behaupten
wir einfach kühn, Anchora habe ihn so mit Keksen abgefüllt, dass er sich jetzt ein
Verdauungsschläfchen gönnt.

Um uns vollends ins Lager der Glaubwürdigen zurück zu manövrieren, werden


wir diesen Augenblick der Geborgenheit durch eine realistische Zäsur abgrenzen.
Das Raubtier Wolf wird durch den Regen nicht zum Schosshündchen. Er hat
bloss Anchora nicht im Blutrausch zerfetzt, bleibt wild, klaut Anchora die
restlichen Kekse und macht sich aus dem Staub bzw. Schlamm in unserer nassen
Geschichte. Anchoras Magen wird knurren, wenn sie aufwacht. Ihre Lage spitzt
sich zu. Ans Werk!

Wir riskieren wohl nicht allzu viel, wenn wir nicht zeigen, wie der Wolf auch
diesen Keks frisst. Aber wir müssen ihn davon überzeugen, dass die Keksausgabe
beendet ist, sonst gibt er keine Ruhe.

63: Anchora verschliesst die Tasche, aus der sie die Kekse genommen hat.

Jetzt lenken wir die Aufmerksamkeit auf den Regen, um die Kuschelszene darin
einzubetten.

64: Sie hat die Knie angezogen, das Kinn drauf gelegt und betrachtet den
Regen, der fast in Griffweite zärtlich den Boden zu streicheln schein.

65: Anchoras Blick fällt auf den Wolf, der neben ihr sitzt und schnuppernd
und mit wachem Blick auf den nächsten Keks wartet.

66: Aus der Sicht des Wolfes verneint das Mädchen mit einer langsamen
Kopfbewegung.

Ja kein überflüssiges Geschwätz jetzt!

67: Der Wolf beobachtet immer noch Anchora, die nun wieder, Kinn auf
Knien, regungslos da sitzt.

68: Anchora beobachtet den Wolf, wie er sich, den Rücken ihr zugewandt,
seitlich hin legt.

69: Sie muss gähnen, denn sie ist mitten in der Nacht aufgestanden und
überhaupt nicht ausgeschlafen.

70: Anchora legt sich neben den Wolf...

71: ... und kuschelt sich an seinen Rücken.

72: Friedlich liegen die beiden Schlafenden neben einander. Anchora hat, falls
das von der Kleidung her möglich ist, fürsorglich einen Teil ihres geöffneten
Mantels über den Wolf gelegt. Die Kamera steht dabei ausserhalb des
Unterstandes und fängt dieses Bild durch eine Regenwand ein. Das Lampion
wirft sein warmes Licht auf die Schlafenden.

Pro Mangaseite werden etwa vier, fünf unserer Bilder verbraten. 72 : 5 oder 4 =
14 bis 18 Seiten. Mit den vorgesehenen 1000 Bildern zielen wir auf ein
mindestens 200-seitiges Werk. Wir haben also noch keine 10 Prozent unserer
Geschichte. Diese Rechnung müssen wir immer wieder machen, um zu spüren,
wo im Handlungsbogen wir sind. Vergleichen wir den Handlungsbogen mit einer
dieser schönen, alten aus Steinen gefügten Bogenbrücken, die eine Schlucht
überspannen. Überspitzt gesagt, trägt jeder Stein den Druck der ganzen Brücke
Fehlt der Stein, bricht der Bogen zusammen und die Brücke stürzt in die Tiefe.
Jeder Stein ist gemäss seinem Platz im Bogenrund behauen. Mit den
Seitenflächen liegt er nahtlos an seinen Nachbarn. Dadurch wird der Druck, den
seine Nachbarn ausüben, gleichmässig auf die ganze Seitenfläche verteilt. Ist der
Stein aber schlecht geformt, nimmt er die gewaltigen Drücke nur mit seinen
Ober- oder Unterkanten auf. Das mag eine Weile gut gehen, aber wehe, wenn
eine der Kanten ausbricht. Dann haben wir den Steinsalat.

Jede Szene muss sich in den Bogen unserer Handlungsbrücke einfügen. Unsere
vorläufige Handlungsbrücke führt vom Luftschiff zum Sonnental des Tyrannen
und wieder zum Luftschiff. Anchora könnte jetzt zur Wolfsfamilie gehen, dort
Welpen knuddeln und Abenteuer erleben. Das wäre etwa so, als hätten wir die
Steine am Anfang unserer Brücke senkrecht aufeinander gestellt. Wir sind nicht
vom Fleck gekommen. Und wenn wir dann auf Seite 190 erschrocken feststellen,
dass wir noch ins Sonnental sollten, machen wir womöglich einen 10-seitigen
Murks, um es doch noch hin zu kriegen. Unsere 'elegante Bogenbrücke' sähe in
etwa so aus: Am einen Schluchtrand ein zwanzig Meter hoher Steinturm, von
dessen Spitze ein dünnes Wäscheseil schräg hinunter zum anderen Schluchtrand
führt. Auch wenn wir uns die Ohren zuhalten, hören wir deutlich das Gefluche
des Publikums, wenn es sich mit aufgerissenen Handflächen an dem dünnen Seil
auf die andere Seite arbeiten muss.

Das Abgleichen der Seitenzahl mit dem Handlungsbogen ist ein einfaches Mittel,
sich nicht zu verlieren. Es hilft uns, die wuchernden Gefühle zu bändigen, und so
zum 'Publikumsblick' zurück zu finden. So denke ich, dass es uns auf den ersten
paar Seiten gelungen ist, eine nicht allzu befremdliche, doch mysteriöse Welt zu
erschaffen. Dieses Mysteriöse erzeugt eine gewissen unterschwellige Spannung.
Weiter haben wir einen Chara aufgebaut, der sich unbemerkt ins Herz des
Publikums geschlichen hat und von dessen Schicksal es mehr erfahren will. Wir
haben dabei mit sehr bescheidenen Requisiten gearbeitet und viel Raum gelassen
für die Gefühle und Fantasien des Publikums. Der Anfang unserer Bogenbrücke
ragt dreist, aber viel versprechend über den Abgrund.

Montieren wir den letzten Stein dieses Anfangs, indem wir Anchoras ersten
dramatischen Partner verabschieden. Zum Dank erhält er den Rest der Kekse.

73: Szenenanfang:
Eine Stunde oder so später, es ist immer noch Nacht, hebt der Wolf schnuppernd
und Ohren spitzend den Kopf, als habe er etwas gehört.

Ergreifen wir die günstige Gelegenheit, das Publikum auf eine falsche Fährte zu
locken. Die Situation ist zu herrlich klassisch klischös: Die Menschen schlafen,
die Bedrohung naht, die Tiere merken's zuerst, um dann die stumpfen Menschen
mit putzigen Verhaltensweisen auf die Gefahr aufmerksam zu machen.

74: Rasch ist er auf den Beinen, ...

75: ... um hell wach in Richtung des Gehörten zu starren.

Herz in Hose! Böses kommt!

76: Zwei Schritte vor, bis kurz vor den Regenvorhang. Die schnuppernde Nase
bewegt sich.

77: Der Kopf wendet sich zurück zu dem schlafenden Mädchen. Das Lampion
spendet noch immer sein mildes Licht.

78: Der Wolf steht über Anchora. Für einen Moment sind die Augen einer
Bestie in Nahaufnahme zu sehen.

Noch ein Abschiedsschauder.

79: Schnuppernd wie ein Staubsauger fährt die Nase des Wolfs Anchoras
Kleidung entlang.

80: Wie er die Kekstüte gefunden hat, zieht er sie mit seinen Zähnen aus der
Tasche.

81: Die Spitze seines Mauls ist in der am Boden liegenden Tüte verschwunden,
während er gierig den Rest der Keks zerknirscht.

82: Die leere Tüte zurück lassend, trottet der Wolf sang- und klanglos hinaus
in die Regennacht.

So, jetzt ist die Bühne frei. Und das Publikum hat keinen blassen Schimmer, wie
es weiter geht. Um ehrlich zu sein, wir auch nicht. Fast nicht. Immerhin wissen
wir, dass da ein Tälchen ist mit einem Tyrannen...

Die Zeit wäre günstig, einen neuen Handlungsstrang mit dem Tyrannen und
seinem Opfer anzufangen, um später Anchora reinzuflechten. Aber irgend wie ist
es auch schade, die liebevoll aufgebaute Atmosphäre um Anchora durch einen
abrupten Szenenwechsel aufzureissen. Das kommt mir vor wie das Zerreissen
eines zarten, halb durchsichtigen Gewebes. Weben wir lieber weiter an diesem
Stoff.

Dafür gibt es auch einen handfesten Grund. Die Augen Anchoras sind ein
kostbares Instrument. Die Welt durch sie zu betrachten und zu ergründen hat
etwas Zauberhaftes. Hingegen könnte uns die Beschreibung des Tyrannen und
seines Opfers aus einer neuen Perspektive nur allzu schnöd, distanziert, kühl
geraten, Wie kann etwas Zauberhaftes ein 'handfester' Grund sein?

Sprache geschieht einfach. Wörter sind Glückssache. Logik ist eine Illusion.
Sobald die Wörter den Boden des Gefühls unter ihren Füssen verloren haben,
sind sie hochgradig gefährdet, sich zu blutleeren Gebilden zu verklumpen. Mit
Wörtern kannst du alles beweisen und alles widerlegen. Der einzige Massstab ist
die Plausibilität. Und die ist reines Gefühl.

Lasst uns mit unserem Handwerk fortfahren und handfeste Zaubergefühle zu


nebligen Metallen schmieden, bevor das hier zu einem Traktat über die Logik
ausartet.

Genug gepennt, Anchora, wach auf! Wir müssen uns nur vorher kurz fragen, wie
denn dieser Morgen aussieht. Den mit schweren, dunklen Wolken verhangenen
Himmel sollten wir beibehalten, damit die Beleuchtung im Regen nie über ein
melancholisches Grau hinaus geht.

83: Szenenanfang:
Es ist Morgen, was daran zu erkennen ist, dass sich die blinde Nachschwärze in
ein bleiernes Grau verwandelt hat, welches wenigstens eine gewisse Sicht durch
den Regenvorhang zulässt. Anchora schläft noch im Schutz des Felsens. Das
brennende Lampion trägt nur noch wenig zur Erhellung bei.

Langweilen wir das Publikum nicht mit Augenaufschlagen, Gähnen und


Armestrecken, sich Umsehen und leere Tüte entdecken. Verkürzen wir das
Prozedere zu 'Augen auf mit Blick auf Tüte'.

84: Anchora schlägt die Augen auf und sieht als erstes die leere Kekstüte.

85: Mit verschlafenem Gesichtchen richtet sie ihren Oberkörper auf und greift
gleichzeitig in die Tasche, wo die Kekstüte war.

Sagt sie jetzt 'Blöder Hund, du hast mir alle Kekse weggegessen.' oder nur 'Blöder
Hund.'? Das kleine, schwache Mädchen steht in grosser dramatischer Spannung
zu der bedrohlichen, unwirtlichen Landschaft und der gewaltigen Naturkraft der
dräuenden Wolken mit ihrem Dauerregen. Jedes Wort zu viel stört dieses
stumme Drama.

Anderseits muss das Publikum auch begreifen, was geschieht, sonst ist die
Spannung auch dahin. Die Faustregel 'Kein Wort zu viel, keines zu wenig.' klingt
zwar einfach, ist aber schwierig zu befolgen. Lassen wir noch zusätzlich Anchoras
Magen knurren, dürfen wir hoffen, dass das Publikum versteht.

86: Anchoras Magen knurrt. Sie zieht ihre Hand aus der Kekstasche, legt sie
auf den Magen und sagt verschlafen: "Blöder Hund."
Neinnein, so geht das nicht! Das ist hölzern, konstruiert, zu viel auf einmal.
Trennen wir das auf:

86: Während Anchora aufsteht, knurrt ihr Magen.

Und jetzt eine typisch kindliche Reaktion.

87: Mit einem Tritt gegen die Tüte sagt Anchora grimmig: "Blöder Hund."

Damit lassen wir offen, ob Anchora nur wegen der Kekse sauer ist oder auch, weil
der 'Hund' abgehauen ist. Gut so. Zeitraffer ein, Anchora Richtung Tälchen
marsch!

88: Anchora marschiert, im nun ziemlich nutzlosen Schein ihres Lampions,


durch Schlamm und Regen.

89: Die in der Nacht schwach schimmernde Lichtsäule hat nun durch die
Sonne an Leuchtkraft gewonnen. Deutlich ist sie im Grau zu sehen und scheint
auch nicht mehr so weit weg zu sein.

Das Lampion ist kein mystisches ewiges Licht. Also schalten wir es aus.

90: Im Weitergehen macht Anchora sich an dem Lampion zu schaffen, so dass


es erlischt.

'Zeigen' wir den Weg und die Stunden, die Anchora noch braucht bis ins Tal in
einem einzigen Bild.

91: Von weit oben wirkt das tapfer voran schreitende Mädchen klein und
verloren in dieser grossen, trostfreien Landschaft.

Unser Talkessel. Wir stehen davor und wissen wieder mal nicht weiter. Ich sehe
einen fast kreisrunden Hügel, der sich aus der flachen Landschaft erhebt. Seine
Hänge sind erdig uns voller Schlamm. War dies der Einschlagkrater eines
Meteoriten? Und woher kommt die Erde, wenn es keinen Bewuchs hat? Vom
Dauerregen wäre sie doch längst runtergewaschen worden und der blanke Fels
käme zum Vorschein. Anderseits könnte ein hartnäckiges Gestrüpp, welches sich
flächendeckend in den Boden krallt, die Erde festhalten.

Eine solche Kratermulde würde sich im Dauerregen rasch zu einem See auffüllen.
Damit hätte der Ingenieur auch seine rationale Erklärung, warum er den Regen
mit Kraftfeldern abhalten muss. Wer sieht schon gern sein Haus in einem See
versinken? Ja und natürlich braucht es auch Sonnenlicht, damit Pflanzen
gedeihen und etwas zu essen wachsen kann. Unser Ingenieur ist ein richtiger
Held.
Bisher habe ich gedacht, Anchora müsste zuerst dem scheuen, durch den
Tyrannen verstörten Jungen begegnen, um dann aus dessen Perspektive den
schrecklichen Tyrannen kennen zu lernen. Aber wenn ich mir nun unseren
heldenhaften Ingenieur ansehe, könnte er bestimmt zu Beginn Anchora und das
Publikum begeistern. Was für eine tolle Vaterfigur für dieses aufgeweckte
Mädchen!

Damit hätten wir das Publikum mal wieder satt in die Wüste geschickt und
könnten nun genüsslich mit der Demaskierung des Tyrannen beginnen, indem
wir den Jungen auftreten lassen, der befremdlich, ja irgendwie krank und
neurotisch auf diese tolle Vaterfigur reagiert. Das Publikum soll denken, der
Junge sei undankbar. Und der Ingenieur, der alles tut und gibt für den Jungen,
ist das Opfer der Undankbarkeit. Vielleicht muss Anchora ihn sogar trösten!

Unsere Methode, blind durch die Geschichte zu stolpern, um ja nicht


durchschaubar zu sein, scheint nicht recht zu klappen. Wo wir doch schon so viel
Material zusammen getragen haben. Mit dem Material ist das so eine Sache.
Erinnern wir uns unserer Begeisterung über die Idee, der Regen könnte
rasiermesserscharf die Lebewesen ins gute oder ins teuflische Lager schubsen.
Davon ist nun nicht mehr die Rede. Denn wie sollen wir dieses Thema auch noch
einbauen in unsere kurze Geschichte?

Unser 'Material', das sind bloss Projektionen, Skizzen, Entwürfe, Möglichkeiten.


Welche dieser möglichen Zukünfte in unserer Geschichte 'Realität' wird,
überlassen wir der Eigendynamik der bisherigen Geschehnisse und der
Charaktere. Wir sind Dienende des Regens, der uns Geborgenheit vermitteln will,
von Anchora, dem Tyrannen, dem Jungen. Indem wir diese Kräfte geschaffen
haben, haben wir gleichzeitig den Gang der Geschichte bestimmt, ohne ihn zu
kennen. Wir dienen diesen Kräften, indem wir uns ihnen aussetzen. Staunend
erleben wir, wie sie unseren Stift führen. Ähnlich hilflos wie das Publikum,
können wir uns zwar Gedanken machen. Aber was schliesslich auf dem Papier
stehen wird, wissen wir nicht.

Eigentlich wollten wir ja nur rausfinden, wie unser Tal beschaffen sein soll.
Naben dem Meteoritentalkessel gibt es auch die Möglichkeit eines Rundtales, das
von reissenden Gewässern aus Felsen gewaschen wurde. Die Bedrohung durch
den See können wir ja beibehalten. Ist doch irgendwie dramatisch, wenn der
Ingenieur seine Angst vor der Heilkraft des Regens mit einem vordergründigen
Kampf gegen Überflutung verdrängt.

In felsigem Gelände führt dann eine Schlucht in einen tiefer gelegenen Talkessel.
Auf der anderen Seite des Talkessels führt folglich eine ebenfalls erhöht liegende
Schlucht weiter. Schliesslich musste das Wasser früher irgendwo abfliessen. Eine
dritte Möglichkeit wäre, Zu- und Abfluss mit 'ebenerdigen' Bächen, dazwischen
die leere Seemulde.
Der Felsenkessel tritt mit seiner imposanten Wucht in störende Konkurrenz zu
unserem Naturphänomen, dem Dauerregen. Die Seemulde ist doch recht
langweilig. Das Amphitheater eines Meteoritenkraters hingegen ist eine würdige
Kulisse für unser Schauspiel. Wählen wir ihn blank geputzt, ohne Pflanzen-
Schnickschnack als Kontrast zum dahinter liegenden Garten Eden.

92: Anchora hebt ihren von der Anstrengung schon wieder müden Kopf und
streift mit ihrem Blick den felsigen Abhang, der frisch gewaschen ist vom Regen,
der sich zu Rinnsalen sammelt, die sich überall durch schlängeln. Und alles
glänzt im Licht.

93: Anchoras Kopf liegt im Nacken, der Mund weit offen vor Staunen.

94: Auf dem Grat der Anhöhe beginnt eine Lichtsäule von gewaltiger
Leuchtkraft in den Himmel zu steigen oder sie fällt vom Himmel herab, was ihrer
göttlichen Wirkung auf Anchora eher angemessen erscheint.

Natürlich ist es die Sonne, aber in diesem kleinen, wunderbaren Augenblick kann
es alles sein.

Lassen wir Anchora noch ein bisschen staunen und machen wir uns derweilen
Gedanken über Requisiten und Kulissen. Wie zum Beispiel hält der Ingenieur ein
so starkes Kraftfeld aufrecht?

Unsere Science Fiction Geschichte soll nicht 'streng' sein, viel mehr poetisch. Wir
dürfen uns also etwas Feines ausdenken. Mir kommen dabei Windmühlen in den
Sinn. Ja, ich weiss, das ist nicht besonders originell. Aber seit ich von dem
Kraftfeld weiss, kommen die blöden Dinger immer wieder aus der Versenkung.
In einem solchen Fall ist es besser, die Windmühlen bei den Flügeln zu packen
und sie aufs Papier zu nageln.

Das heisst, wir prüfen den Gedanken und schauen, ob sich was anderes ergibt
oder wir doch plötzlich Feuer und Flamme sind. Eine Windmühle kommt mir
natürlich in den Sinn, weil es eine Energiequelle ist und eine romantische dazu.
Erinnern wir uns an Don Guichote, der heldenhaft gegen Windmühlen gekämpft
hat. Oder an diese flachen, leeren, melancholischen Landstriche, wo ein einsames
Steintürmchen mit langsam drehenden Holzflügeln steht, das uns einlädt, in
seinen Mauern Wärme und Schutz zu suchen.

Auch wenn die Verhältnisse damals nicht besser waren, die Menschen sich wie
immer eifrig die Köpfe einschlugen, so hatten sie doch nicht die technischen
Möglichkeiten, ihre Lebensgrundlagen zu zerstören. Die Windmühle als Symbol
für einen angemessenen, intelligenten Umgang mit Natur und Ressourcen. Die
Wehmut angesichts solch heilen Wirtschaftens.

Na wunderbar, was wollen wir jetzt noch dagegen sagen nach diesem Lobgesang?
Blicken wir in das gestrenge Antlitz unserer Muse, die wachsam jedes unserer
Worte registriert, bemerken wir die langsam schwellende Zornesader, was uns,
gesenkten Hauptes nun, daran erinnert, unsere Pflicht zu tun und auch anderes
zu prüfen, bevor wir uns leichtfertig dem ersten besten Bilde hingeben.

Greifen wir in die kreative Trickkiste und versuchen wir folgenden Zauberspruch:
Suche das Gegenteil!

Um uns von der fixen Vorstellung der Windmühle zu befreien, fragen wir also:
Was ist das Gegenteil einer Energiequelle?

Nun, was kommt uns in den Sinn? ... Energieloch, schwarzes Loch, leere Batterie,
Energievernichtungsaggregat, Energieverbrauchsgerät, ein Kühlschrank... er
vernichtet Energie und das Ergebnis ist Kälte. Klingt fast poetisch.

Nehmen wir den Kühlschrank als 'Gegenteil' und stellen ihn auf den Kraterrand.
Oder ist das falsch? Die Energiequelle muss ja nicht auf dem Kraterrand stehen.
Sie kann ebenso gut im Tal sein. Bei den Kraftfelderzeugern wäre es schon eher
plausibel, dass sie rings ums Tal herum postiert sind. Der Kühlschrank könnte
uns als Kraftfelderzeuger dienen, dergestalt dass die Wirkung des Kraftfeldes
sämtliche Wassermoleküle zu Schnee ausflockt. Damit haben wir immer noch
keine Energiequelle, aber so ein bisschen Schnee ist ganz hübsch.

Warum muss die Energiequelle auch im Tal stehen? Immer diese zentralistische
Sicht der Dinge. Da haben wir einen Abhang, wo pausenlos tonnenweise Wasser
runter fliesst. Die Kraft dieses Wasser zu nutzen wäre doch auch sehr elegant.
Womöglich mit Millionen von Nanowasserrädchen. So kleine Dinger, die ihre
gewonnene Energie direkt zu den Frostwandprojektoren senden. Das ist zwar
nicht sehr poetisch, aber es erlaubt uns ein anderes schönes Bild vom Sämann.

Die Wasserrädchen müssen ja irgend wie über den Abhang verteilt werden.
Stellen wir uns den Jungen vor, dessen Aufgabe es ist, mit umgeschnallter
Bauchtasche auf dem Grat des Abhangs zu schreiten und beidhändig mit grossem
Wurf frische 'Wasserrädchensamen' auszustreuen. Der Sämann, dessen Ernte
nicht aus Getreide sonder Energie besteht.

Die Wasserrädchen werden Vom Regen allmählich weggeschwemmt und


ausgedünnt, so dass das Säen zum festen Aufgabenbereich des Jungen gehört.
Dadurch kommt er auch regelmässig mit dem Regen in Berührung, was ihn
natürlich von seinen Widerwärtigkeiten erlöst.

Das Bild vom Sämann und die romantischen Schneeflocken, die den Grat des
Kraterhügels wie ein Zuckerguss bedecken. Können sie uns über den Verlust der
Windmühle hinweg trösten? Es will sich keine Entscheidung heraus schälen.
Denn die Frostwandprojektoren funktionieren auch mit Windmühlen, so dass
wir Windmühlen mit Zuckerguss hätten. Anderseits finde ich es doch recht
unglaubwürdig, dass ein paar müde Windmühlen die Energie für ein solch
gewaltiges Kraftfeld liefern könnten. Also beten wir, dass uns niemand
vorrechnet, die Gesamtmenge des abfliessenden Wassers sei viel zu gering, um
das Kraftfeld zu speisen, und wagen den Kopfsprung in die Nanowasserrädchen.

95: Erfüllt von Neugier und dem kindlichen Wunsch, die Lichtsäule zu
'berühren', käfert Anchora, auch mit den Händen Halt suchend, den Abhang
hoch.

96: Auf halber Höhe richtet sie sich auf und betrachtet prüfend ihre
Handflächen.

97: Diese sind übersät mit groben, schwarzen Sandkörnern.

98: Doch Sand ist Sand und die Lichtsäule lockt, also geht Anchora weiter.

99: Wie ihre Hand auf dem letzten Meter nach der Hügelkuppe greifen will,
bleibt sie in der Luft hängen.

100: Mit ungläubigem Staunen schaut sie auf die zwanzig Zentimeter Schnee,
die bei diesen Temperaturen und bei so viel Regen unmöglich dort liegen können.
Anchora denkt: 'Schnee im Sommer?!'

Mag sein, dass sie gar nichts denkt, einfach nur staunt. Aber hier hat Vorrang,
dass das Publikum die Situation versteht.

101: Ihr Blick schiesst hoch und erst jetzt sieht sie die tanzenden
Schneeflocken.

102: Unbeschwert akzeptiert sie die absurde Situation und stapft schon durch
das zwei Meter breite Schneeband auf der Hügelkuppe.

103: Auf der anderen Seite des Schneebandes bleibt sie stehen, starker
Schneefall von oben, gleissendes Sonnenlicht von vorn, und schaut staunend
hinab ins Tal.

Jetzt können wir uns nicht mehr drücken. Die Kulisse für das Tal ist fällig. Die
Hauptarbeit überlassen wir den Zeichnenden und beschränken uns auf die
Nennung der für die Geschichte wesentlichen Komponenten. Nur wenn wir nicht
zu viel reinreden, können wir ein atmosphärisch dichtes Bild aus einem Guss
erwarten.

Fangen wir mal an mit dem, was wir wissen... hm... A ja, die Sonne scheint und es
ist paradiesisch. Wir wissen also wieder mal nichts. Und eigentlich ist es auch
unmöglich zu sagen, was wir noch alles brauchen werden. Und eigentlich
widerstrebt es mir ziemlich, hier alles 'offen' auf einen Präsentierteller zu legen.
Diese Offenheit wirkt viel zu friedlich und freundlich angesichts des
komplizierten Charakters unseres Tyrannen. Als Schöpfer des Talinhaltes müsste
doch sein 'Seelenabdruck' spürbar sein. Freundlich und sadistisch,
hochintelligent und verbohrt, verlässlich und unheimlich. Das Ganze irgend wie
befremdlich kalt, bedrohlich, undurchschaubar, warum nicht ein bisschen
kafkaesk?

Stöhn, ob wir solche Ansprüche erfüllen können? Bleiben wir zuversichtlich.


Wenn wir uns der inneren Logik der Geschichte hingeben und die gröbsten
Fehler vermeiden, werden wir es schaffen. Und wenn wir nicht alle Ansprüche
erfüllen, ist das Wurst, Hauptsache ein passables, nützliches Geschichtchen, das
sein Geld wert ist.

Anchora schaut nicht ins Tal, sondern auf die Lichtsäule und die Aussicht ins Tal
versperren wir ihr einfach mit ein paar hohen Bäumen, Punkt. Bild 103 muss also
abgeändert werden.

103: Auf der anderen Seite des Schneebandes bleibt sie stehen, starker
Schneefall von oben, gleissendes Sonnenlicht von vorn, und betrachtet staunend
die Lichtsäule, die sich so trennscharf vom Regen abgrenzt, als stecke sie in
einem Glaszylinder. Die 'Wand' des 'Glaszylinders' scheint dabei auf der
Hügelkuppe zu stehen, die sich links und rechts krümmt, so dass sie einen Kreis
um eine grosse, sanfte Talmulde zu beschreiben scheint. Dieses Tal jedoch kann
Anchora nicht einsehen, da mächtige Bäume ihr die Sicht nehmen.

104: Entschlossen macht Anchora einen Schritt nach vorn durch diese
'Glaswand'. Ein kurzer Kälteschock durchfährt ihre Glieder. Anchora denkt: 'Uah,
ist das kalt!'

105: Doch sobald sie die Wand hinter sich gelassen hat, sieht sie den blauen
Himmel über sich und spürt die wärmenden Strahlen der Sonne auf dem Gesicht.
Lächelnd und mit geschlossenen Augen tankt Anchora die Sonne.

Anchora hat unser Amphitheater betreten. Das Mädchen steht am Rand eines
Waldes. Rotkäppchen verfolgt uns.

Wie geht's weiter? Lassen wir uns einen Augenblick durchvibrieren von der
kleinen Angst des Versagens. Was wenn wir es nicht hinkriegen? Dieses
fortwährende Schreiten ins Nichts geht ganz schön an die Nerven. Als Mittel zum
Überleben schlage ich vor, dass wir unser Nervenkostüm in ein Bad aus milden
Grössenwahn legen. Geschützt vom Wahn der eigenen Unbezwingbarkeit, gelingt
es uns, die Attacken des Zweifels auszublenden. Gestatten wir uns dieses
therapeutische Stück Wahnsinn, damit wir uns wieder konzentrieren können.
Ohne äusserste Konzentration ist die Geschichte hier und jetzt beendet.

Wir haben es noch jedes Mal geschafft. Wir sind die Grössten. Wir werden die
nächste Szene in den Griff kriegen. Lasst uns ins Leere greifen...

Vorerst strebt Anchoras Neugier zum Wald.


106: Anchoras Füsse tappen den sanften Grashang hinunter auf das Wäldchen
zu.

107: Am Fusse eines mächtigen Baumes bleibt Anchora stehen, um mit in den
Nacken gelegtem Kopf die Wipfel zu betrachten.

108: Sie streckt die Hände hoch, als wolle sie das Blätterdach berühren. Freude
liegt auf ihrem Gesicht. Anchora liebt Bäume.

Das zeigt sie dem Publikum, wie es nur ein Kind zeigen kann:

109: Sie betrachtet die grobe Rinde des alten Stammes, ...

110: ... um dann ihre Wange dran zu legen und den Stamm zu umarmen, was
angesichts seines beachtlichen Umfanges nur etwa zu einem Viertel gelingt.

Mag das Publikum sich ruhig vorstellen, dass durch solche 'Baumbeschwörung'
ein paar zirpende Feen auftauchen und dem Mädchen übers Haupthaar
streichen. Wenn da nicht noch ein Regenschutz drauf ist. Also Kleider anpassen.

111: Anchora passt ihre Kleidung dem wärmeren Sonnenklima an und zockelt
weiter durch die

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