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Tagesspiegel 1

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Wendejahr 1989
Wir waren das Volk
Die Deutsche Kinemathek präsentiert in einer Sonderausstellung im Filmhaus am Potsdamer Platz
Privataufnahmen aus dem Herbst des Wendejahres 1989.
Der Herbst 1989 begann im Mai. Am 1.
demonstrierte das Volk ein letztes Mal in der Karl-
Marx-Allee missmutig an der Partei- und
Staatsführung vorbei. Auf einem großen roten
Spruchband stand in weißen Buchstaben, wie sich
die SED die Rolle des Volkes dachte: „Alles mit dem
Volk, alles durch das Volk, alle… das Volk.“ Das
Kurzbesuch bei der Tante im Westen. 20. Wort nach „alle“ ist nicht zu erkennen auf dem Foto
Juni 1989. Foto: Deutsche Kinemathek
Von Kerstin Decker
des Amerikaners Edward G. Murray, denn ein
4.5.2009 0:00 Uhr riesiger Lautsprecher steht davor.

Auch Murray demonstrierte am 1. Mai 1989 versehentlich an der Partei- und


Staatsführung vorbei, denn er floh gerade vor der Volkspolizei (illegaler
Geldtausch): „Die Menschenmenge, in der wir uns sicher glaubten, geriet plötzlich
in Bewegung… Ich dachte, die einzige Möglichkeit, Schwierigkeiten zu vermeiden,
sei es zu fotografieren, als ob ich damit beauftragt sei.“

Dass die schönen 1.-Mai-Fotos mit dem ein letztes Mal lachenden Erich Honecker
nicht von der Welt ungesehen in Murrays Familien-Album in Massachusetts
verschwunden sind, verdanken wir der Deutschen Kinemathek und ihrer
Sonderausstellung „Wir waren so frei …“. 6000 Privatfotos, entstanden vom
Frühjahr 1989 bis zum Herbst 1990, hat sie gesammelt. Normalerweise fühlt sie
sich den etwas beweglicheren, von vornerein für den nichtprivaten Gebrauch
bestimmten Bildern verpflichtet, aber in diesem Fall dachte sie um.

Das Jahr 1989 war ein miserables Kinojahr gewesen, was die Kinemathek
vermuten ließ, dass es die eigentlichen Bilder damals nicht im Kino, sondern in
der Wirklichkeit zu sehen gab. Sie ist diesem Verdacht nachgegangen und hat
nicht nur 6000 Fotos, sondern auch unzählige Privat-Videos gesammelt bis hin zu
Filmaufnahmen so bekannter Dokumentaristen wie Thomas Heise, Volker Koepp
oder Helke Misselwitz.

Über das Ziel der Ausstellung im Filmhaus am Potsdamer Platz sind sich Rainer
Rother von der Kinemathek und Thomas Krüger von der kooperierenden
Bundeszentrale für politische Bildung einig. Krüger: „Die Produzenten von
Geschichtspolitik blenden die einen Bilder ein, die anderen aus.“ Brecht die
Bildmonopole! Krüger muss sich gerade sehr geärgert haben über andere
Bildpolitiker, denn er sprach zur Eröffnung sogar von einem „kolonialen,
hegemonialen Blick“, der „die Vielzahl der Perspektiven“ verstelle. Sprach es fast
quer in seinem Sessel hängend, einen unschönen, längst festgestellten Zug von
Müdigkeit und Überdruss um den Mund. Welch ein Kontrast zum in der
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Müdigkeit und Überdruss um den Mund. Welch ein Kontrast zum in der
Ausstellung dokumentierten Krüger vor 20 Jahren! Hinter einem schwarzen
langen Vollbart versteckt, die Währungsumstellung 1:1 predigend, sah er aus wie
ein entlaufener orthodoxer Mönch. Was für Perspektiven!

Die ungewöhnliche Schau versucht eine Bildgeschichte „von unten“ zu schreiben


über das lange kurze Jahr, in dem die Losung des 1. Mai „… alles durch das Volk,
alle… das Volk“ Wirklichkeit wurde. Vielleicht, hofft der Leiter der Bundeszentrale,
bekommen wir „in diesem 20. Jahr nun endlich die Diskussion über Geschichte,
die es bis jetzt nicht gab“. Ob das klappt mit diesem Material?

Bleiben wir beim 1. Mai, nehmen wir den nächsten, den 1. Mai 1990, festgehalten
von Reiner Hoffmann, Berlin. Sein Video zeigt das Volk, also ihn selbst und Frau
Hoffmann beim Abendessen. Sie essen, was sie ein Jahr zuvor nicht für möglich
gehalten hätten: Lachs! Und sie trinken Sekt dazu. Das Video dauert, bis der Lachs
aufgegessen ist, das Fazit des Tischgesprächs lautet: „Und morgen essen wir
Kaviar und kaufen uns einen Mercedes!“ Die Ausstellung findet interessant, was
Menschen damals interessant fanden. Recht hat sie. Irgendwann im Laufe des
Jahres ’89 merkten die meisten, dass jeden Tag etwas passieren konnte, was tags
zuvor noch keiner für möglich gehalten hätte. Sogar in Gotha oder Eberswalde.
Also nahmen sie Fotoapparate und Kameras mit für ihre Die-Geschichte-und-ich-
Bilder.

Wer fotografiert, ist schon Zuschauer seiner selbst geworden. Darum gibt es von
den ersten Montagsdemonstrationen in Leipzig so wenig Bilder. Nicht nur weil
Fotoapparate die Aura zerstört hätten und man nicht zugleich eine Kerze und eine
Kamera halten kann: Die Anspannung war zu groß. Und jedes Klicken hätte die
Stille gesprengt.

Viele Bilder sind zugleich Bilderrätsel. Was soll bemerkenswert sein am Rostocker
Marktplatz, der voller Autos steht? Das war schon lange so. Nur parkte jetzt, im
Juli 1990, kein einziger Trabant oder Wartburg dort. Alles Westwagen. „So groß
war also die Neugier aufeinander“, sagte Ulrike Schmiegelt, die dieses
ungewöhnliche Bildprojekt der Kinemathek ins Werk setzte, „ich hatte das schon
fast vergessen.“ Wahrscheinlich geht es nicht nur ihr so, und so ist der Mittelteil
der Ausstellung mit Zeugnissen deutsch-deutscher Begegnungen – man fährt auf
Schiffen und in Postkutschen aufeinander zu – vielleicht der schönste. Bis man
irgendwann vor dem Foto steht, auf dem ein einsamer Demonstrant ein einsames
Plakat hochhält: „Wir waren das Volk!“

Der Titel „Wir waren so frei …“ klingt nur unwesentlich zuversichtlicher, er ist
jedoch kein Fazit, sondern er zitiert eine Küchenwand. An der Küchenwand eines
geräumten Prenzlauer-Berg-Hauses stand im März 1989: „Ich hab geträumt/ der
Winter ist vorbei/ du warst hier/ und wir warn frei.“ Heute, wo jeder dank seiner
Handykamera in jedem Augenblick sein potentieller eigener Chronist ist, wäre
eine solche Ausstellung nicht mehr möglich. Aber auch alle Bilder von damals
kann man nicht zeigen, nicht mal die eingesandten 6000 Fotos. Darum ist der
Ausstellung gleich noch ein hochkomfortables Internetarchiv angeschlossen.

Der Herbst 1989 begann vielleicht nicht am 1., wohl aber am 7. Mai., dem Tag der
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Kommunalwahlen, als so viele ihre Wahlzettel ungültig machten oder die


Kandidaten durchstrichen. Das Volk ist ein Singular, das Volk ist eins, also hat es
nur eine Stimme, dachten die regierenden Metaphysiker und korrigierten
stillschweigend den Fehler. Zum letzten Mal.

Filmhaus am Potsdamer Platz, bis 9. November, Dienstag - Sonntag 10 - 18 Uhr,


Donnerstag 10 - 20 Uhr, Tel. 300903-0; Internet-Archiv: www.wir-waren-so-
frei.de

(Erschienen im gedruckten Tagesspiegel vom 04.05.2009)

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