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Ein Käfer Im Ameisenhaufen: Beste sowjetische Science-Fiction
Ein Käfer Im Ameisenhaufen: Beste sowjetische Science-Fiction
Ein Käfer Im Ameisenhaufen: Beste sowjetische Science-Fiction
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Ein Käfer Im Ameisenhaufen: Beste sowjetische Science-Fiction

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About this ebook

Der mittlerweile 40-jährige Maxim Kammerer – ehemals „freier Sucher“ (Aufspüren fremder Zivilisationen im Weltall) und danach „Progressor“ (eine Art Entwicklungshelfer für fremde Zivilisationen) – arbeitet in der „KomKon2“, einer Organisation, die für die Sicherheit der Erde zuständig ist. In einer Zeit, in der die Erde sich zu einem sozialistischen Utopia entwickelt hat, sind Raub, Diebstahl und Mord unbekannt. Gefahr droht Leib und Leben der Bewohner dieser fiktiven Zukunft nur aus den Konsequenzen menschlicher Experimente oder den Einwirkungen fremder Rassen. Daher arbeitet Maxim hauptsächlich mit Wissenschaftlern und Experten für außerirdische Zivilisationen zusammen. Sein aktueller Auftrag, von dem der Roman erzählt, besteht darin, den Progressor Lew Albakin zu finden. Dieser ist nach einem Zwischenfall auf dem „Sarraksch“, bei dem ein anderer Progressor ums Leben kam, auf der Erde untergetaucht, ohne sich bei seinen Vorgesetzten zu melden. Bei der Untersuchung des Falls erfährt Maxim, dass das mysteriöse, außerirdische Volk der „Wanderer“ vor 40.000 Jahren dreizehn menschliche „Findelkinder“ erzeugt und in einem technischen „Sarkophag“ als Embryonen eingelagert hat. Diese wurden ohne erkennbaren Grund aktiv und wuchsen zu Erwachsenen heran, darunter auch Albakin. Die „Findelkinder“ gleichen normalen Menschen vollkommen; es ist aber unklar, in welcher Absicht sie geschaffen wurden. Da Maxims Vorgesetzter Sikorsky fürchtet, Albakin könne der Menschheit Schaden zufügen, tötet er Albakin mit einer Schusswaffe.

LanguageDeutsch
Release dateJun 7, 2023
Ein Käfer Im Ameisenhaufen: Beste sowjetische Science-Fiction

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    Ein Käfer Im Ameisenhaufen - Arkadi Strugatzki

    Arkadi Strugatzki, Boris Strugatzki

    EIN KÄFER IM AMEISENHAUFEN

    Beste sowjetische Science-Fiction

    EIN KÄFER IM AMEISENHAUFEN

    by Arkadi und Boris Strugatzki

    Ein Mann stand am Tor,

    die Tiere davor.

    Er nahm sein Gewehr,

    und sie lebten nicht mehr.

    Verse eines kleinen Jungen

    1. JUNI’78

    Maxim Kammerer, Mitarbeiter der KomKon 2

    Um 13:17 Uhr rief mich Seine Exzellenz zu sich. Er blickte nicht auf, und ich sah nur seinen kahlen Schädel, bedeckt von blassen Sommersprossen, wie man sie bei alten Männern häufig findet. Wenn Seine Exzellenz mich so empfing, dann bedeutete das tiefste Verstimmung und Besorgnis - wenn auch nicht meinetwegen.

    »Nimm Platz.«

    Ich setzte mich.

    »Du musst jemanden ausfindig machen«, sagte er, verstummte dann aber plötzlich und schwieg eine Weile. Mürrisch zog er die Stirn in Falten. Fast hätte man meinen können, ihm gefielen die eigenen Worte nicht - ihre Form vielleicht oder der Inhalt? Seine Exzellenz legte nämlich größten Wert auf absolut exakte Formulierungen.

    »Wen denn?«, fragte ich, um ihn aus seiner Erstarrung zu befreien.

    »Lew Wjatscheslawowitsch Abalkin. Progressor. Hat gestern die Polarbasis auf dem Saraksch in Richtung Erde verlassen. Auf der Erde bislang nicht registriert. Du musst ihn finden.«

    Er verstummte erneut, hob den Kopf und blickte mich zum ersten Mal an. Seine Exzellenz hatte große, fast unnatürlich grüne Augen. Er tat sich sichtlich schwer, und ich begriff: Die Sache war wirklich ernst.

    Ein Progressor, der sich nach seiner Rückkehr auf die Erde nicht registrieren ließ, beging zwar eine Ordnungswidrigkeit, aber für unsere Kommission, noch dazu für Seine Exzellenz persönlich, konnte das unmöglich von Interesse sein. Und dennoch befand er sich offensichtlich in einer so schwierigen Lage, dass ich glaubte, gleich werde er sich im Sessel zurücklehnen und nahezu etwas erleichtert sagen: »In Ordnung. Entschuldige. Ich kümmere mich selbst darum.« So etwas kam, wenn auch selten, vor.

    »Wir haben Grund anzunehmen«, sagte Seine Exzellenz, »dass sich Abalkin versteckt hält.«

    Fünfzehn Jahre früher - und ich hätte ungeduldig und brennend vor Neugier gefragt: »Vor wem?« Aber seitdem waren so viele Jahre vergangen und mit ihnen auch die Zeit der ungeduldigen Fragen.

    »Finde ihn und gib mir sofort Nachricht«, fuhr Seine Exzellenz fort. »Keine physischen Kontakte. Überhaupt keinerlei Kontakt. Finden, beobachten, benachrichtigen. Das ist alles.«

    Ich wollte mich schon verabschieden und nickte kurz, um ihm zu zeigen, dass ich alles verstanden hatte, aber Seine Exzellenz schaute mich so durchdringend an, dass ich es für besser hielt, seinen Befehl noch einmal betont langsam und exakt zu wiederholen.

    »Ich soll ihn ausfindig machen, unter Beobachtung nehmen und Sie benachrichtigen. Auf keinen Fall versuchen, ihn festzunehmen, ihm nicht unter die Augen kommen und mich schon gar nicht auf Gespräche einlassen.«

    »In Ordnung«, sagte er, »und jetzt noch Folgendes.«

    Er griff in das Seitenfach seines Tisches, wo Mitarbeiter für gewöhnlich die Daten-Kristallothek aufbewahren, und holte etwas Voluminöses heraus, dessen Bezeichnung mir nicht gleich einfiel, beziehungsweise nur auf Honti: »sakurrapia«. Wörtlich übersetzt bedeutet es »Behältnis für Dokumente«. Erst als Seine Exzellenz es vor sich auf den Tisch legte und seine knochigen Finger darüber verschränkte, erinnerte ich mich wieder und rief: »Eine Aktenmappe!«

    »Lass dich nicht ablenken«, sagte Seine Exzellenz streng. »Hör genau zu. Niemand in der Kommission weiß, dass ich mich für Abalkin interessiere. Und es darf auf keinen Fall jemand erfahren. Folglich wirst du alleine arbeiten. Keine Gehilfen. Deine gesamte Gruppe wird Claudius unterstellt. Du wirst mir berichten und nur mir. Ohne jede Ausnahme.«

    Das hatte es noch nicht gegeben. Ich war sprachlos. Eine solche Geheimhaltungsstufe hatte ich auf der Erde bisher gar nicht für möglich gehalten. Deswegen erlaubte ich mir die ziemlich dumme Frage: »Was heißt ›ohne Ausnahme‹?«

    »In diesem Fall heißt es einfach ›ohne Ausnahme‹. Es gibt zwar noch ein paar Personen, die informiert sind, aber da du nie mit ihnen zusammentreffen wirst, kannst du davon ausgehen, dass nur wir beide davon wissen. Bei deinen Nachforschungen wirst du natürlich mit vielen Leuten sprechen müssen, aber erfinde bitte jedes Mal eine Geschichte dazu, eine Legende. Und um diese Geschichten kümmere dich bitte selbst. Direkt, das heißt ohne eine Legende, darfst du ausschließlich mit mir sprechen.«

    »Jawohl, Exzellenz«, sagte ich willig. »Du wirst«, fuhr er fort, »mit seinen Kontaktpersonen beginnen. Alles, was wir über seine Kontaktpersonen wissen, findest du hier.« Er klopfte mit dem Finger auf die Mappe. »Es ist nicht allzu viel, aber für den Anfang reicht es. Nimm.«

    Er überreichte sie mir. Es war das erste Mal, dass ich auf der Erde eine solche Mappe in Händen hielt. Die Deckel waren aus mattem Kunststoff und wurden von einem Metallschloss zusammengehalten. Auf der oberen Seite gab es eine karminrote Prägung: Lew Wjatscheslawowitsch Abalkin. Und darunter: 07.

    »Exzellenz«, sagte ich, »warum in dieser Form?«

    »Weil das Material in anderer Form nicht existiert«, erwiderte er kühl. »Übrigens: Das Anfertigen einer Kristallkopie ist nicht erlaubt. Weiter hast du keine Fragen?«

    Das war natürlich keine Einladung zum Fragenstellen. Eher war es eine kleine Stichelei, denn es war klar, dass ich in diesem Stadium eine Menge Fragen hatte. Aber solange ich mich nicht mit der Mappe vertraut gemacht hatte, war es sinnlos, sie zu stellen. Dennoch erlaubte ich mir zwei.

    »Termin?«

    »Fünf Tage. Nicht länger.«

    Das war unmöglich zu schaffen, dachte ich.

    »Kann ich sicher sein, dass er sich auf der Erde befindet?«

    »Ja.«

    Ich stand auf, um zu gehen, doch er hielt mich zurück und schaute mich eindringlich an. Die Pupillen seiner grünen Augen verengten und weiteten sich wie bei einer Katze. Er sah natürlich, dass ich mit dem Auftrag nicht zufrieden war, dass er mir nicht nur merkwürdig, sondern geradezu unsinnig vorkam. Doch aus irgendeinem Grund war es ihm nicht möglich, mir mehr darüber zu sagen. Er konnte mich aber auch nicht einfach so gehen lassen, ohne ein Wort. Also sagte er: »Weißt du noch: Auf einem Planeten namens Saraksch war ein gewisser Sikorsky alias ›der Wanderer‹ hinter einem flinken Milchbart her, der Mak hieß …«

    Ich erinnerte mich natürlich.

    »Also«, sagte ›der Wanderer‹ alias Seine Exzellenz. »Sikorsky hat es damals nicht rechtzeitig geschafft. Aber uns beiden muss es gelingen. Denn der Planet heißt diesmal nicht Saraksch, sondern Erde. Und Lew Abalkin ist kein Milchbart.«

    »Sie sprechen in Rätseln, Chef«, sagte ich, um die in mir aufkeimende Unruhe zu verbergen.

    »Geh an die Arbeit«, erwiderte er.

    1. JUNI’78

    Einiges über Lew Abalkin, Progressor

    Andrej und Sandro hatten auf mich gewartet. Als ich ihnen mitteilte, sie seien ab sofort Claudius unterstellt, waren sie entsetzt. Sie wollten sogar bockig werden. Ich aber war noch immer getrieben von Unruhe und fuhr die beiden so an, dass sie schließlich zutiefst beleidigt abzogen. Beim Hinausgehen sahen sie die Mappe mit misstrauischen, fast alarmierten Blicken an, was in mir sogleich die nächste Sorge weckte: Wo sollte ich dieses monströse »Behältnis für Dokumente« aufbewahren?

    Ich setzte mich an den Schreibtisch, legte die Mappe vor mich hin und sah automatisch auf den Registrator: Sieben Mitteilungen in den fünfzehn Minuten, die ich bei Seiner Exzellenz gewesen war. Sofort stellte ich sämtliche Dienstverbindungen auf Claudius um - was ich, wie ich zugeben muss, nicht sonderlich bedauerte. Dann befasste ich mich mit der Mappe.

    Wie erwartet, enthielt sie nichts weiter als Papiere. Zweihundertdreiundsiebzig durchnummerierte Blätter von unterschiedlicher Farbe, unterschiedlicher Beschaffenheit, unterschiedlichem Format und unterschiedlichem Erhaltungsgrad. Seit fast zwanzig Jahren hatte ich nicht mehr mit Papier zu tun gehabt, und mein erster Impuls war, den ganzen Stapel in den Translator zu stecken; aber ich hielt rechtzeitig inne. Papier, hm … gut, dann eben Papier.

    Die Blätter wurden von einer Metallvorrichtung mit Magnetverschluss fest zusammengehalten, daher bemerkte ich nicht sofort die Funkkarte, die unter der oberen Klemme steckte; es war ein Funkspruch darauf, den Seine Exzellenz heute Mittag erhalten hatte - sechzehn Minuten bevor er mich zu sich beordert hatte. Der Text lautete: 01. 06. - 13:01 turm an wanderer.

    auf ihre anfrage vom 01. 06. - 07: 11 betreffend tristan teile ich mit: am 31. 05. - 19:34 traf hier eine information vom kommandanten der basis saraksch 2 ein. zitat: ausfall von huron (abalkin, chiffrierer im stab der flottengruppe z des inselimperiums). am 28. 05. flog tristan (loffenfeld, arzt der basis im außendienst) zur reihenuntersuchung hurons. heute am 29. 05. - 17:13 erschien mit tristans flugboot huron in der basis. nach seinen worten wurde tristan unter unbekannten umständen von der spionageabwehr des stabes z gefasst und getötet. beim versuch, tristans körper zu retten und zur basis zu bringen, enttarnte sich huron. tristans körper konnte er nicht retten. beim gewaltsamen durchbruch wurde huron nicht verletzt, befindet sich jedoch am rande eines psychischen zusammenbruchs. auf seine nachdrückliche bitte hin wird er mit linientransfer 611 zur erde geschickt. ende des zitats.

    auskunft: 611 kam am 30. 05. - 22:32 auf der erde an. abalkin hat keine verbindung mit der komkon aufgenommen, auf der erde ist er bis heute 12:53 nicht registriert, auf den zwischenstationen der linie 611 (pandora, kurort) ist er bis zum selben zeitpunkt ebenfalls nicht registriert. turm.

    Die Progressoren … Also, ehrlich gesagt: Ich mag Progressoren nicht - obwohl ich ja selbst einer der ersten gewesen bin. Und das zu einer Zeit, als der Begriff noch ausschließlich in theoretischen Abhandlungen verwendet wurde. Meine Einstellung den Progressoren gegenüber ist aber nichts Ungewöhnliches, denn die überwiegende Mehrheit der Erdbewohner kann nicht verstehen, dass es in manchen Situationen keine Kompromisse geben kann: er oder ich - und keine Zeit herauszufinden, wer im Recht ist. Für einen normalen Erdenmenschen klingt das barbarisch, und ich kann ihn verstehen. Ich war ja selbst ein solcher, bevor ich auf den Saraksch geriet. Ich erinnere mich noch genau an dieses Weltbild, dem zufolge jedes vernunftbegabte Wesen a priori als dem Menschen ethisch gleichwertig angesehen wird. Dadurch ist die Fragestellung, ob das Wesen besser oder schlechter ist als man selbst, von vorneherein obsolet, selbst wenn seine Ethik und Moral sich von der unseren unterscheidet …

    Eine theoretische Vorbereitung oder auch die Konditionierung am Modell sind hier nicht ausreichend - man muss die Schattenzone der Moral selbst durchschreiten und die Dinge mit eigenen Augen sehen, sich gehörig die Finger verbrennen und eine Menge abscheulicher Erinnerungen ansammeln, bis man es endlich begreift. Das heißt, nicht nur begreift, sondern bis man den eigentlich sehr trivialen Gedanken in seinem Weltbild verankert, dass es im Universum auch intelligente Wesen gibt, die wesentlich und weitaus schlechter sind als man selbst - wer immer man auch sein mag. Und erst dann wird man in der Lage sein, Freund und Feind zu unterscheiden und in kritischen Situationen augenblicklich Entscheidungen zu treffen. Man wird den Mut haben, sofort zu handeln und erst später darüber nachzudenken.

    Und das ist, meiner Meinung nach, was einen Progressor ausmacht: Es ist die Fähigkeit, entschlossen zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Weil er das kann, begegnet man ihm auf der Erde mit ängstlicher Bewunderung, mit bewundernder Angst, und auf Schritt und Tritt mit abfälligem Argwohn. Das kann man nicht ändern; man muss es hinnehmen - wir ebenso gut wie sie. Denn entweder gibt es Progressoren, oder die Erde muss aufhören, in außerirdischen Angelegenheiten mitzumischen. Aber zum Glück haben wir in der KomKon 2 recht selten mit Progressoren zu tun.

    Aufmerksam las ich den Funkspruch ein zweites Mal durch. Seltsam. Seine Exzellenz interessierte sich also hauptsächlich für diesen Tristan alias Loffenfeld. Und um etwas über ihn in Erfahrung zu bringen, war er heute in aller Frühe aufgestanden und hatte sich nicht gescheut, unseren »Turm« aus dem Bett zu scheuchen, der, wie wir alle wissen, immer erst schlafen geht, wenn die Hähne krähen.

    Und noch etwas Sonderbares: Man könnte meinen, Seine Exzellenz hätte im Voraus gewusst, was »Turm« antworten würde. Denn um die Suche nach Abalkin zu beschließen und die Mappe mit seinen Papieren für mich vorzubereiten, hatte er nur fünfzehn Minuten gebraucht. Es sah fast so aus, als hätte die Mappe schon vorher bei ihm bereitgelegen …

    Und das Seltsamste: Abalkin war sicher der letzte Mensch gewesen, der Tristan oder zumindest seine Leiche gesehen hatte. Wenn aber Seine Exzellenz Abalkin suchen ließ, weil er ihn als Zeugen im Fall Tristan brauchte, wozu dann dieses mysteriöse Gleichnis vom Wanderer und dem Milchbart?

    Selbstverständlich hatte ich dazu schon die verschiedensten Versionen - zwanzig, wenn nicht mehr -, von denen folgende besonders hervorstach: Huron-Abalkin war von der Spionageabwehr des Inselimperiums angeworben und »umgedreht« worden; dann brachte er Tristan-Loffenfeld um. Seitdem hält er sich auf der Erde versteckt und plant, den Weltrat zu unterwandern.

    Ich las den Funkspruch noch einmal und legte ihn dann beiseite. Also gut. Blatt Nr. 1. Abalkin, Lew Wjatscheslawowitsch. Codenummer soundso. Genetischer Code soundso. Geboren am 6. Oktober’38. Erziehung in der Internatsschule 241, Syktywkar. Lehrer: Fedossejew, Sergej Pawlowitsch. Ausbildung an der Progressoren-Schule Nr. 3 (Europa). Ausbilder: Horn, Ernst Julius. Berufliche Neigungen: Tierpsychologie, Theater, Ethnolinguistik. Berufliche Indikationen: Tierpsychologie, theoretische Xenologie. Arbeit: Februar’58 bis September’58, Diplompraktikum, Planet Saraksch, Kontaktversuch mit der Rasse der Kopfler in ihrer natürlichen Umwelt.

    Ich stutzte. Na, so was! Womöglich kannte ich diesen Abalkin sogar … Richtig, ich erinnerte mich: Es war’58, eine ganze Truppe war auf dem Saraksch angekommen - Komow, Rowlingson, Martha … und dieser etwas mürrische Bursche: der Praktikant. Seine Exzellenz (damals »der Wanderer«) hatte mir befohlen, alles stehen- und liegenzulassen und die Gruppe über die Blaue Schlange in die Festung zu bringen, getarnt als Expedition des Wissenschaftsdepartements. Abalkin war dürr, sehr blass und hatte lange schwarze Haare wie ein Indianer. Ja, genau! Und alle, außer natürlich Komow, hatten ihn »den Heuler« genannt. Nicht etwa, weil er immer geheult hätte, sondern weil er eine Stimme hatte, die heulte wie ein Tachorg. Wie klein die Welt doch ist! Gut, schauen wir nach, was dann aus ihm geworden ist.

    März’60 bis Juli’62, Planet Saraksch: Leitung und Ausführung der Operation »Mensch und Kopfler«. Juli’62 bis Juni’63, Planet Pandora: Leitung und Ausführung der Operation »Kopfler im Weltraum«. Juni’63 bis September’63, Planet Esperanza: Teilnahme an der Operation »Tote Welt« (gemeinsam mit dem Kopfler Wepl). September’63 bis August’64, Planet Pandora: Umschulungskursus. August’64 bis November’66, Planet Giganda: erster selbstständiger Infiltrationsversuch, zunächst als Unterbuchhalter einer Jagdhundezucht, dann als Hundeführer des Marschalls Nagon-Gigh, schließlich Jägermeister des Herzogs von Alay (siehe Blatt Nr. 66).

    Ich sah mir Blatt Nr. 66 an - nicht mehr als ein Fetzen Papier, irgendwo hastig herausgerissen und zerknittert vom Zusammenknüllen. Darauf stand in flüchtiger, schwungvoller Schrift: »Rudi! Damit du dir keine Sorgen machst: Auf der Giganda hat das Schicksal zwei von unseren Mehrlingen zusammengeführt. Ich versichere dir, dass es reiner Zufall war und ohne Folgen bleibt. Wenn du’s nicht glaubst, schau in 07 und 11. Maßnahmen wurden bereits ergriffen.« Dann eine unleserliche, verschnörkelte Unterschrift. Das Wort »reiner« war dreimal unterstrichen. Auf der Rückseite des Papiers stand ein gedruckter Text in arabischer Schrift.

    Was war davon zu halten? Ich wusste es nicht; nachdenklich kehrte ich zu Blatt Nr. 1 zurück.

    November’66 bis September’67, Planet Pandora: Umschulungskursus. September’67 bis Dezember’70, Planet Saraksch: Infiltration in die Republik Honti als Untergrundkämpfer der Union, Kontaktaufnahme mit dem Geheimdienst des Inselimperiums (erste Etappe der Operation »Stab«). Dezember’70, Planet Saraksch, Inselimperium: Häftling im Konzentrationslager (bis März’71 ohne Kontakt), Übersetzer in der Lagerkommandantur, Soldat bei den Pioniertruppen, Obersoldat der Küstenwache, Übersetzer im Stab einer Abteilung der Küstenwache, Übersetzer und Chiffrierer beim Flaggschiff der 2. Unterseeflotte der Gruppe Z, Chiffrierer im Stab der Flottengruppe Z. Beobachtende Ärzte:’38 bis’53 - Lekanowa, Jadwiga Michailowna;’53 bis’60 - Grăsescu Romuald; seit’60 - Loffenfeld, Kurt.

    Ende. Mehr stand nicht auf dem Blatt Nr. 1. Das heißt, auf der Rückseite hatte jemand über das ganze Blatt verwischte braune Streifen gezogen, wie mit Gouache; sie ähnelten einem stilisierten kyrillischen »she«.1

    Nun denn, Lew Abalkin, genannt »der Heuler« - jetzt weiß ich schon ein wenig mehr über dich und kann mit der Suche beginnen. Ich weiß, wer dein Lehrer ist. Ich weiß, wer dich an der Progressoren-Schule betreut hat. Ich kenne deine beobachtenden Ärzte. Aber was ich nicht weiß: Wer braucht eigentlich dieses Blatt Nr. 1, und wozu? Wenn jemand wissen wollte, wer Lew Abalkin ist, könnte er das Informatorium anrufen (ich rief das GGI an), den Namen oder die Codenummer eingeben (ich gab die Codenummer ein) und nach … eins und zwei und drei und … vier Sekunden alles erfahren, was ihm an Informationen über eine fremde Person rechtmäßig zusteht.

    Bitte sehr: Abalkin, Lew, und so weiter, Codenummer, genetischer Code, geboren am Soundsovielten, Eltern (übrigens, warum waren auf Blatt Nr. 1 die Eltern nicht angegeben?): Abalkina, Stella Wladimirowna, und Zjurupa, Wjatscheslaw Borissowitsch, die Internatsschule in Syktywkar, der Lehrer, die Progressoren-Schule, der Ausbilder … Stimmt alles. Weiter. Progressor, Arbeit seit’60: Planet Saraksch. Hm. Nicht viel. Nur die offiziellen Daten. Es scheint, als habe sich Abalkin nicht mehr die Mühe machen wollen, seine Angaben weiterhin an den GGI-Dienst zu melden. Und was steht da? »Adresse auf der Erde: nicht registriert.«

    Ich tippte eine neue Anfrage ein: »Unter welchen Adressen ist Codenummer soundso auf der Erde registriert gewesen?« Nach zwei Sekunden kam die Antwort: »Die letzte Adresse Abalkins auf der Erde ist die Progressoren-Schule Nr. 3 (Europa).« Auch ein interessanter Hinweis. Denn entweder ist Abalkin seit achtzehn Jahren kein einziges Mal auf der Erde gewesen, oder er ist äußerst menschenscheu, lässt sich nie auf der Erde registrieren und mag keine Angaben über sich machen. Beides ist natürlich denkbar, scheint mir aber doch ziemlich ungewöhnlich.

    Das GGI speichert bekanntlich nur die Daten, die eine Person über sich mitteilen möchte. Was aber enthält das Blatt Nr. 1? Ich kann darauf nichts finden, was sich für Abalkin zu verheimlichen lohnte. Sicher, alles ist sehr detailliert aufgeführt, aber es fiele doch niemandem ein, sich wegen solcher Einzelheiten ans GGI zu wenden. Frage bei der KomKon 1 nach, schon erhältst du alle Informationen. Und was sie bei der KomKon nicht wissen, erfährt man, wenn man sich unter die Progressoren mischt - auf der Pandora zum Beispiel, wo sie rekonditioniert werden oder sich am Diamantenen Strand erholen, am Fuß der großartigsten Sanddünen im bewohnten Universum.

    Egal, ist nicht so wichtig. Was ich allerdings noch immer nicht verstehe, ist, wozu man das Blatt Nr. 1 überhaupt braucht, noch dazu so ausführlich? Und wenn es schon so ausführlich ist, warum steht dann kein Wort über die Eltern darin? Stopp. Wahrscheinlich geht mich das wieder nichts an.

    Warum aber hat sich Abalkin nach der Rückkehr auf die Erde nicht bei der KomKon gemeldet? Der psychische Zusammenbruch vielleicht? Ekel vor der eigenen Arbeit? Also: Ein Progressor am Rande eines psychischen Zusammenbruchs kehrt auf den Heimatplaneten zurück, den er seit mindestens achtzehn Jahren nicht mehr betreten hat. Wohin wendet er sich? Sicher nicht an seine Mutter, meine ich, das wäre in seinem Zustand unangebracht. Zudem sieht mir Abalkin nicht wie ein Waschlappen aus. Der Lehrer? Oder der Ausbilder? Möglich. Sogar wahrscheinlich. Sich ausweinen. Das kenne ich aus eigener Erfahrung. Wobei der Lehrer eher infrage kommt als der Ausbilder. Denn der Ausbilder ist ja doch in gewisser Weise ein Kollege; wir indes ekeln uns vor unserer Arbeit. Stopp. Stopp! Was ist denn mit mir los? Ich schaute auf die Uhr. Für zwei Dokumente hatte ich vierunddreißig Minuten gebraucht. Dabei hatte ich sie nicht einmal durchgearbeitet, sondern nur angesehen. Ich zwang mich zur Konzentration; aber dann wurde mir bewusst, dass ich gar keine Lust hatte darüber nachzudenken, wie ich Abalkin finden sollte. Es interessierte mich viel mehr, warum er so dringend gefunden werden musste. Ich ärgerte mich also maßlos über Seine Exzellenz, obwohl er mir sicher sämtliche Erklärungen gegeben hätte, wenn sie mir bei der Suche von Nutzen gewesen wären. Hatte er mir also nicht erklärt, warum Abalkin

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