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1992

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Robert
Reprint Der Hero
Die künstlerische Entwicklung des Schauspielers
Robert de Niro vom Chamäleon zum Charakter —
Reportageporträt eines Metamorphosen-Manns.

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Von Gundolf S. Freyermuth

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Inhalt

Daten De Niro ........ 3


Artikel ................. 5
Info ................... 38

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Daten Robert De Niro


Geburtsdaten: 17. August 1943 in New York City

Wohnsitz: TriBeCa, New York City

Top-5-Filmrollen
• Junggangster Charlieboy in Martin Scorceses Mean Streets (dt. Hexenkessel, 1973)
• Mafioso Vito Corleone als junger Mann in Francis Ford Coppolas Godfather, Part II (dt. Der Pate
II, 1974)
• Taxifahrer Trevor Bickle in Martin Scorceses Taxi Driver (1976)
• Boxer Jake LaMotta in Martin Scorceses Raging Bull (dt. Wie ein wilder Stier, 1980
• Gewaltverbrecher Max Cady in Martin Scorceses Cape Fear (1992)

Ehrungen
• 1974: Oscar für die beste Nebenrolle (in Mean Streets)
• 1981: Oscar für die beste Hauptrolle (in Raging Bull)
• 1991: Commandeur des Arts et des Lettres
• 1992: Oscar-Nominierung für die beste Hauptrolle (in Awakenings, dt. Zeit des Erwachens)

Familie

Vater Robert De Niro sen. Maler, Mutter Victoria Admiral ebenfalls Künstlerin. Robert De Niro ist ge-

schieden (von der Schauspielerin und Sängerin Diahanne Abbot); vier Kinder, zwei adoptiert.

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Top-3-Zitate
• »Ich hasste die Schule, ich hasste meine Armut, ich hasste nicht zuletzt mich
selbst.« (Auf die Frage nach seinen Kindheitserinnerungen.)

Interview: 5. und 6. April 1992, Vancouver, Kanada • »Ich habe ein paar Leute umgebracht, in Stücke geschnitten und ihre
Leichenteile an Leute verschickt, die ich nicht ausstehen kann.« (Auf die
Frage eines Reporters, wie er sich auf die Rolle des Killers in GoodFellas
vorbereitet habe.)
• »Es ist manchmal nicht einfach, unter Menschen zu sein.«

Kritische Stimmen
• »De Niro scheint überhaupt keine eigene Persönlichkeit zu haben.« (Jack Kroll
in Newsweek, 1977)
• »Die Rollen des Verwandlungskünstlers De Niro werden sich immer ähnlicher,
er ist immer ausschließlicher nur noch De Niro.« (Wolf Donner im tip, 1990)
• »Kann es noch einen Zweifel darüber geben, dass De Niro zu dem Mann
herangereift ist, zu dem Brando hätte werden können?« (Guy Flatley in
Cosmopolitan, 1992)
• »Ich mag ihn, weiß aber nicht, ob er sich selber mag.« (Regisseur Francis Ford
Coppola)

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1
Kapitel
Robert De Niro wartet. Seine braunen, nach innen verlorenen Augen gleiten gleichgültig
über die Maschine, aus der sich ein schier endloses Papierband herauspresst. Das Fax
zieht sich, über zwanzig Seiten lang, quer durch den Arbeitsraum. Auf dem Schreibtisch
stapeln sich Filmskripte und Videokassetten. Vom Schlafzimmer dringt Samba-Musik
herüber. Es ist kurz vor zehn, Sonntag morgen. Robert De Niro hat zwei Stunden Work-
out hinter und eine unangenehme Sache vor sich.

Für ein paar Minuten ist er allein in der weitläufigen Suite im obersten dreiundzwan-
zigsten Stockwerk des Pan Pacific Hotels. In seinem Rücken liegt, als sei die Glasfront
ein gewaltiges Schaufenster, die Bucht von Vancouver; ein verlockendes Sonderangebot
aus Hochhäusern und Hafenanlagen, glänzend und feucht, in einem typischen April-
Wechselbad aus Wolken und Sonne, aus Nieselregen und Hagelschauern.

De Niro geht zu dem linken der beiden Fernrohre, die am Fenster stehen. Ihre Ob-
jektive sind wie Kanonen auf die Bucht gerichtet. Schon mit bloßem Auge reicht der
Blick weit über das ferne Ufer, über die Stadt hinweg, bis hin zu den schneebedeckten
Bergen, deren Spitzen in den Wolken verschwinden. Den Oberkörper leicht vorgereckt,
beugt Robert De Niro sich über den Sehschacht des Teleskops. Ein U-Boot-Kapitän ver-
kehrt, himmelhoch auf Tauchstation.

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Weit unten ist gerade eine Fähre eingelaufen. Auf einer langen, verglasten Brücke
strömen die Passagiere über das Gleisgewirr hinüber zum Bahnhof. Auf der anderen
Seite der Bucht, viele Kilometer entfernt, sind an den Hängen die Seile eines Skilifts zu
erkennen. Ein Stück weiter vorn, am Ufer, ragen Wolkenkratzer auf. Hinter ihren Glas-
scheiben bewegen sich Menschen.

Von Beruf Exhibitionist, so verstehen die meisten Schauspieler ihre Rolle im Leben.
Robert De Niro will es anders. Er liebt die Anonymität. Aus der Ferne zu beobachten ist
ihm lieber, als selbst im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Ausdauernd studiert er
Bewegungen, Gesten, Haltungen, Reaktionen, um sie später in seine Rollen einzubauen.
Robert De Niro ist ein Sammler von Menschenbildern, ein Liebhaber von Verhaltenswei-
sen.

Heute allerdings fehlt ihm die Muße. Die Gemälde an den Wänden der teuersten Qua-
dratmeter im teuersten Hotel von Vancouver sind nicht Kunst, sondern Beruhigungs-
mittel. Auf De Niro verfehlen sie ihre Wirkung. Unruhig geht er auf und ab. Das Fax
war es nicht, worauf er wartet. Sein Körper schmerzt. Zwei lange Drehtage lang hat er
sich mit seinem Widersacher im Wortsinne herumschlagen müssen. Der wievielte Job in
Reihe das ist, den er gerade beendet, wüsste er auf Anhieb nicht zu sagen.

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In den Anfängen seiner Karriere drehte De Niro kaum mehr als einen Film pro Jahr,
manche Rollen beschäftigten ihn zwei Jahre und mehr. In der vergangenen Zeit jedoch
hat sich seine Produktionsrate verdoppelt, verdreifacht: Midnight Run (1988), Jackknife
(1989), We’re No Angels (1989), Stanley & Iris (1990), GoodFellas (1990), Awakenings
(1990), Guilty by Suspicion (1991), Backdraft (1991), Cape Fear (1991).

Gleich drei weitere Werke hat er nun abgehakt: Neben Mistress (1992), De Niros er-
ster eigenen Produktion, Night and the City (1992) mit Jessica Lange, ein Remake des
gleichnamigen Jules-Dassin-Klassikers aus den fünfziger Jahren sowie John McNortons
Mad Dog and Glory (1993), produziert von Martin Scorcese, in dem De Niro neben Urma
Thurman spielt.

Und von den Szenen eines vierten Films, This Boy’s Life (1993) mit Ellen Barkin, würde
De Niro sich gerade gerne erholen. Doch für diesen Sonntagmorgen steht Unangeneh-
meres als Arbeit auf dem Terminplan. Ein Interview.

Robert De Niro spricht nicht gerne mit Reportern. Ihre Fragen lassen ihn sich unwohl
fühlen, ihre Gegenwart macht ihn angespannt. Über die Jahrzehnte hat er sich eine
beachtliche Reputation für katastrophalen Umgang mit der Presse erworben. Er brachte
es fertig, in acht Jahren nur vier Interviews zu geben.

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»Warum soll ich mich mit Journalisten unterhalten, die dumme Fragen stellen und mir
die Zeit stehlen?«
Die düpierten Medien tauften ihn den »Unsichtbaren«, den »Schattenkönig«. Und die
wenigen Auserwählten, die er überhaupt empfing, wurden mit ihrem Hauptgewinn sel-
ten glücklich. Denn ihnen gegenüber machte er mit Vorliebe so prägnante Mitteilungen
wie:

»Vielleicht.«

»Könnte sein.«

»Das möchte ich nicht sagen.«


»Hmmh.«

Besonders aggressiv reagiert er auf drei Standard-Fragen. Nach seinen Zukunftsplänen:

»Da bin ich abergläubisch.«

Nach seiner politischen Einstellung:

»Meine Sache.«

Und nach seinem Privatleben:

»Ich wüsste nicht, warum das irgend jemanden interessieren sollte.«

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Bei dem ersten längeren Interview, dem er sich dann 1989 so widerwillig unterzog wie
einer lange hinausgezögerten Operation, begann er bereits nach wenigen Minuten, sich
wieder zu verabschieden: Eigenhändig stellte er das Tonband ab. Fünfmal. Bis die Fra-
gesteller entnervt aufgaben.

Zufrieden ist mit diesen Begegnungen auch Robert De Niro nicht. In New York hat er
mit dem Aufbau der eigenen Produktionsfirma TriBeCa begonnen (benannt nach dem
Viertel, in dem sie liegt - Triangle Below Canal Street). Für ihren Erfolg ist ein freund-
licherer Umgang mit den Medien unumgänglich. In den vergangenen Monaten hat De
Niro versucht, die Zumutungen, Aufdringlichkeiten, das lausige Benehmen und die ganz
normale professionelle Neugier der Journalisten besser zu ertragen; doch nicht immer
gelang es ihm. Noch vor drei Wochen donnerte er einem Interviewer, der ihm auf die
Nerven fiel, das Aufnahmegerät in die Kaffeetasse.

Der nächste Take in Sachen Öffentlichkeitsarbeit soll heute stattfinden.

Anlass: TriBeCas erste Produktion Mistress, eine liebevoll inszenierte Billig-Geschichte,


um die niemand großen Wind machen wird. Low-Low-Budget und Funny-High-Brow.
Eine wilde Komödie um Kinoträume – über die viele Resignierte nicht so werden lachen
können wie die wenigen, die ihre eigenen Träume erst halb begraben haben. Kein Groß-

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ereignis, keine Materialschlacht, kein Gewaltspiel. Das Publikum wird nicht durchge-
rüttelt, nicht schockiert, keine Lenden schwellen. Nach den mediokren Maßstäben des
Massenmarktes handelt es sich also um ein geradezu intellektuelles Werk.
Richtig daran: Mistress ist ein kleiner Film mit großen Schauspielern — Martin Landau,
der mit Billy Wilder und Alfred Hitchcock arbeitete, Danny Aiello, Eli Wallach, Christo-
pher Walken, Robert Wuhl und natürlich Robert De Niro. Sie alle glänzen in einem Stück
Unterhaltung, wie es in der heutigen Supermarkt-Abspiellandschaft kaum noch Platz
findet: Kino mit und für Menschen, die ihren Spaß haben wollen, ohne zu verblöden. Ein
menschenfreundlicher Film, zu dem die in der Filmindustrie machthabenden Menschen
nicht sehr freundlich gewesen sind. Kein amerikanischer Verleiher hat bislang angebis-
sen. Die Weltpremiere findet in Europa statt.

Kurzum, der Film braucht Unterstützung. Starthilfe, wie sie nur Robert De Niro, Kopro-
duzent und prominentester (Neben-) Darsteller höchstpersönlich geben kann. Warum
sonst würde er sich an seinem einzigen freien Tag diesem Interview unterziehen ...

Seit gestern schon fühlt der Schauspieler sich deshalb unwohl. Kurzerhand hat er den
Mistress-Regisseur, seinen alten Freund Barry Primus, aus Los Angeles einfliegen lassen.
Primus ist formulierungssicherer, intellektueller. De Niro liegt es nicht, sich in eigenen

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Worten auszudrücken. Sein natürliches Medium ist der Körper. Gesten, Mimik, Haltung,
Bewegung. Sätze gehen ihm nicht leicht über die Lippen. Jede Äußerung, die noch in
keinem Skript geschrieben stand, soll stimmen, nicht missverständlich, wohlüberlegt
sein. Daher das berüchtigte Zögern, das stumme Nachdenken, die nichtssagenden Inter-
views.

Den Reporter in der eigenen Suite zu empfangen, inmitten des privaten Durcheinan-
ders, der Gedanke hat Robert De Niro heute morgen erschreckt. Die Situation, der er
sich beim letzten Interview aussetzte, erscheint ihm nun zu intim. Seine Assistentin
Robin Chambers, eine schwarzhaarige Schönheit Mitte dreißig, hat deshalb eigens für
das Interview eine weitere Suite anmieten müssen.

Es ist kurz nach zehn. Robert De Niro zieht seine dunkelbraune Wildlederjacke an, setzt
seine Sonnenbrille auf und fährt hinunter in den 18. Stock. In der unbewohnten Suite
wartet schon Barry Primus. De Niro ruft Robin an. Sie wiederum gibt dem Journalisten
Bescheid. Sein Zimmer liegt auf demselben Gang. Keine Minute vergeht, bis es an der
Tür klopft.

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2
Kapitel
»Hi, I’m Robert«, sagt De Niro. Er macht einen vorsichtigen Schritt zur Seite, um mich
vorbeizulassen. Sein Händedruck ist weniger fest, als zu erwarten war. Sonst aber wird
alles dem an der Leinwand geschulten Vorurteil gerecht. Die braunen Augen, der Le-
berfleck auf dem rechten Wangenknochen, kurz unterhalb der Schläfe, die abwehrende
Freundlichkeit ...

De Niro ist mittelgroß und trägt eine braune Cordhose mit Umschlag, darüber ein
schwarzes Hemd mit leichten weißen Streifen. Die Farbkombination nehmen die Schuhe
wieder auf: schwarzes Wildleder, braune Schnürsenkel. Bescheiden stylish. Ein Mann,
so unprätentiös und unauffällig, dass er sofort auffällt: Robert De Niro, geborener New
Yorker, Nachkomme italienischer, irischer und jüdischer Vorfahren, achtundvierzig
Jahre alt.

Seine klassische Ausbildung zum Rollenfanatiker erhielt er bei Stella Adler, Erwin Pisca-
tor und Lee Strasberg: wie sein großes Vorbild Marlon Brando, wie James Dean, wie Al
Pacino. Gleich ihnen und vielen anderen Hollywoodstars ist De Niro ein (Spät-)Produkt
der europäischen Emigrantenkultur, die in den dreißiger Jahren Constantin Stanislaws-
kis naturalistischen Theater-Stil aus Russland in die Neue Welt brachte und ihm dort
zum Durchbruch verhalf.

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Am längsten und nachhaltigsten wirkte Strasberg. Über ein halbes Jahrhundert, von
1930, als er aus Galizien in New York ankam, bis zu seinem Tod 1982 propagierte und
praktizierte er unermüdlich das Method acting, zunächst in seinem legendären Group
Theatre, seit 1951 dann als künstlerischer Leiter des von Elia Kazan begründeten Actors
Studio. Drei, vier Generationen von Schauspielschülern studierten unter dem Einfluss
von Strasbergs Methode. Mit ihr veränderte er wie kein anderer das amerikanische
Theater und das Hollywoodkino.

Robert De Niro perfektionierte vor allem eine der vier Grundtechniken, die laut Stras-
berg zur schauspielerischen Meisterschaft führen: Entspannung, Konzentration sowie
der Rekurs auf persönliche Erfahrungen und Gefühle, die ebenso berühmte wie viel-
geschmähte Motivation, mochten wichtig sein. Entscheidend für De Niros exzessives
Rollenstudium wurde jedoch die vierte Forderung des creative if: In jeder spielerischen
Situation sollte sich der Akteur exakt so verhalten können, wie er reagieren würde,
wenn ihm Ähnliches in der Realität zustieße. Um dazu in der Lage zu sein, musste, wer
etwa einen Boxer spielte, sich aufs Boxen verstehen. Der Schauspieler hatte also einen
Teil der Rollen zu leben, bevor er sie gestalten konnte — was den dramatischen Charak-
ter, wie ihn der jeweilige Autor beschrieben hatte, in den Hintergrund drängte und den
Spielenden tendenziell in den Rang des eigentlichen Helden erhob.

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Der Aufwertung der Schauspieler-Rolle im Theater und in der Filmproduktion entsprach


die Aufwertung der erfolgreichen Künstler in der Öffentlichkeit, ihr Aufstieg zu interna-
tionalen Kultfiguren. Robert De Niros offizielle Heiligsprechung zum »American Cultural
Symbol« erfolgte bereits vor anderthalb Jahrzehnten in Newsweek: »Wie Brando und
James Dean in der Nachkriegszeit, scheint De Niro die sich widersprechenden, suchen-
den Energien seiner Generation zu verkörpern, einer Generation, die in den zersplitter-
ten siebziger Jahren langsam erwachsen wird.«

Robert De Niro kämpfte damals in den Mean Streets (1973), er irrte als Taxi Driver
(1976) durch die schmutzige Nacht, er gehörte zu den verlorenen Vietnam-Opfer-Tätern
in The Deer Hunter (Die durch die Hölle gehen, 1978). Seitdem bildet er zusammen mit
Al Pacino und Jack Nicholson die Große Zelluloid-Rock’n’Roll-Trinität. Ein existentiel-
ler, ein Anti-Held. Kein glatter Liebhaber, sondern ein verdrehter Kerl. Einer, der nicht
müde wird, das wilde Leben zu spielen, von dem der Rest der Babyboom-Generation,
der abgedrönten Siebenundsechziger und der aufgestiegenen Achtundsechziger, so ver-
geblich träumt.

Robert De Niro betritt eine Szene, und aus Leinwandschatten werden Bilder, die sich
in die Erinnerung einschreiben. Auf eine seltsame, bescheidene, unspektakuläre Art ist
das in der Realität ebenso. Sein Haar trägt er heute, anders als in Cape Fear, anders

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auch als noch in Mistress, militärisch kurz geschnitten. Die weißen Einsprengsel sind
unübersehbar, an den Schläfen halten sich schwarz und weiß fast die Waage.

Und sonst? De Niro ist kein Raumverdränger wie unsere Kultur-Rhetoriker, er spielt sich
nicht auf, erst recht nicht in den Vordergrund. Ihm mangelt es auf geradezu unglaubli-
che Art am Willen zur Knallcharge, weshalb er auf Parties, bei Podiumsdiskussionen und
in Talkshows nie den großen Erfolg davon tragen kann. Für Celebrity-Jäger ist er mithin
kein gefundenes Fressen, sondern ein harter Brocken. Wer ihm jedoch allein gegen-
übersitzt, der kann sich seiner Ausstrahlung kaum entziehen.

Am Fenster der Suite steht, seinem berühmteren Freund das Feld überlassend, Barry
Primus, halblange Haare, grünes Hemd, grüne Cordhose. Ein hochgewachsener Mann
mittleren Alters mit einem milden Lächeln. Sein Gesicht kennt man ebenfalls, aus New
York, New York (1977) und Guilty by Suspicion (Schuldig bei Verdacht, 1991). Zusam-
men mit Jonathan Lawton, dem Autor von Pretty Woman, hat er das Drehbuch zu De
Niros erster Produktion geschrieben und dann die Regie geführt.

Mit dem Helden des Films, dem erfolglosen Regisseur Marvin, verbindet ihn nicht nur
eine gewisse physische Ähnlichkeit. Einen Großteil der quichottischen Abenteuer und
zum Schreien komischen Demütigungen, die zwischen dem Träumer von der traurigen

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Gestalt und der Realisierung seines großen Ziels stehen — einem ominösen Film namens
Die Dunkelheit und das Licht —, hat Barry Primus im Laufe der Jahre selbst bestehen
müssen.
»Begonnen hat alles vor über sieben Jahren«, erzählt Robert De Niro. »Barry versuchte
damals, einen Film auf die Beine zu stellen, und traf ständig neue potentielle Finan-
ziers. Die meisten waren alte Männer mit sehr jungen Freundinnen, denen sie eine
Rolle kaufen wollten. Barrys Erlebnisse waren so irrwitzig komisch, dass ich schließlich
gesagt habe: ›Vergiss den anderen Film, schreib ein Drehbuch darüber!‹«

Barry Primus lächelt. »Es war wirklich bizarr. Jedoch nicht lächerlich. Im Gegenteil,
manchmal war es geradezu rührend, wie diese Menschen mit ihren unzulänglichen Mit-
teln ihre Träume zu realisieren suchten. Und ich selbst wollte ja auch nichts anderes.
Nur dass sich unsere Träume natürlich nicht vereinbaren ließen. Ich meine, da war
diese Stewardess, die mir erklärte, wie ich ihren Part zur Hauptrolle machen sollte.
Oder dieser Mann, der seinen finanziellen Beitrag davon abhängig machte, dass er mit
der Stoppuhr im Schneideraum sitzen durfte und kontrollieren, wie viele Sekunden
seine Freundin im Film zu sehen sein würde. Mit dem habe ich mich eines Tages regel-
recht geprügelt, ich wollte seinen Kopf in einem Suppenteller ertränken.«

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Barry Primus lacht laut heraus, und Robert De Niro lacht leise in sich hinein. Mehr mit
den Augen, um die sich fröhliche Fältchen bilden, als mit dem Mund, dessen Lippen
vorsichtig schmal bleiben.

»Jeder, der etwas auf die Beine stellen will, hat solche Sachen erlebt«, sagt De Niro.
»Ende der sechziger Jahre ging es mir genauso. Monatelang habe ich mit einflusslosen
Leuten verhandelt, die andere einflusslose Leute kannten, die mal einen getroffen hat-
ten, der angeblich Einfluss haben sollte.« Er rutscht unruhig auf dem Sofa hin und her
und hebt abwehrend die schmalen, feingliedrigen Hände: »All diese Erfahrungen sind in
Mistress. Aber wir haben keinen Film über das Filmemachen, über Hollywood gemacht.
Die Handlung ist eine große Metapher für unser aller Leben: Was wir unseren Hoffnun-
gen und Sehnsüchten antun. Wie wir versuchen, Integrität zu bewahren.«

Abrupt springt er auf. »Ich muss«, sagt er im Gehen, »mal telefonieren.« Dann hält er
noch einmal inne: »Der Film ist nicht besonders kommerziell. Aber ich bin froh, dass
gerade er TriBeCas erste Produktion geworden ist. Denn er ist ein gutes Beispiel für das,
was wir machen wollen: ein persönliches, sehr witziges, intelligentes Stück Arbeit.«

Mit drei, vier schnellen Schritten verschwindet er im Badezimmer der Suite. Sekunden
später hören wir seine Stimme leise und gleichmäßig sprechen.

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»Wir haben vor ein paar Tagen den Film Marcello Mastroianni gezeigt«, erzählt Barry
Primus. »Und Marcello hat gesagt: ›Man muss nicht Filmemacher sein, um sich mit der
Geschichte identifizieren zu können. Wir alle kennen einen Marvin. Und die meisten
von uns waren einmal selbst in einer Situation, wo wir an etwas glaubten, und einfach
niemanden fanden, der an uns glaubte.‹ Und Marcello hat natürlich Recht. Wir wollen
alle einmal etwas Eigenes machen, etwas Besonderes. Warum sonst leben wir?«

Barry Primus lächelt vorsichtig, als schäme er sich, wegen dieses Eingeständnisses. Und
als schäme er sich, weil er stolz auf seinen Film ist.

»Wir waren jedenfalls froh, dass die Bilder des Films stark und eindeutig genug waren
— Mastroiannis Englisch ist nur solala, und die meisten Witze sind an ihm vorbeige-
rauscht.«

Mistress ist in der Tat voller guter und gut gesprochener Sätze, und der Gedanke, was
die Fließband-Synchronisierer mit ihnen anfangen werden, stimmt nicht hoffnungsfroh.
Ebenso wenig wie die Vorstellung, was das Feuilleton dichten wird: Mistress ist kein
pompös-prätentiöser Kunstfilm, der an Kritikergeschmack appelliert.

»In einer der dramatischsten Szenen«, frage ich, »wirft Marvins Frau ihm seine Traum-
tänzerei vor. ›Gewöhn dich an die Wirklichkeit. Die Vögel in einem Gemälde können

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nicht davonfliegen. Sie bleiben einfach, wo sie sind. Man kann nicht alles haben. Du
musst aufhören zu träumen!‹«

»Das ist für mich die Schlüsselszene. Denn natürlich gibt es solche Traumvögel nicht.
Doch es gibt Menschen wie Marvin, die an ihre Visionen glauben und die, indem sie
nicht aufgeben und das Unmögliche versuchen, ein Stück des Traums in die Wirklichkeit
transportieren können. Marvin will es möglich machen. Er will, dass die Vögel aus dem
Bild fliegen können.«

»Damit dann keiner davon Notiz nimmt? So wie niemand in den USA bislang Ihren Film
sehen konnte?«

»Das ist zwar schade. Aber die Moral dieser Geschichte ist auch meine Moral: Es gibt
Dinge, die nicht käuflich sein sollten. In keine Richtung. Nichts, gar nichts wurde geän-
dert, um den Stoff marktgängiger zu machen. Leider haben solche Filme im Augenblick
in Amerika keinen Ort mehr. Deshalb hat Robert ja TriBeCa ins Leben gerufen.«

Die Stimme hinter der Tür verstummt. Robert De Niro kommt, ein wenig entschuldigend
grinsend, aus dem Badezimmer.

»Also los«, sagt er: »Fragen Sie mich!«

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3
Kapitel
»Robert De Niro — Schauspieler, Regisseur, Produzent? Sind Sie auf dem Weg vom Idol
zum Mogul? Wollen Sie der nächste Last Tycoon werden?«

»Unsinn. TriBeCa ist ein ganz anderer Traum, der langsam Realität wird. Mit dem Film-
center, das ich in diesem wunderschönen alten Gebäude einrichte, erfülle ich mir den
Wunsch meines Lebens. Wie alles am Ende aussehen wird, bin ich mir noch nicht sicher.
Aber es wird mehr sein als eine Firma zur Produktion von Filmen. Wir haben bereits
ein gutes Restaurant. Gerade habe ich das Grundstück nebenan gekauft. Ich will dort
drei, vier Kinos bauen. Die sollen vierundzwanzig Stunden am Tag spielen. Klassiker und
kleine, künstlerische Filme, an die sich kein Verleiher wagt. Auch die obskursten Werke
finden in einer Stadt wie New York ihr Publikum, und sei es um drei Uhr morgens. Ich
möchte Filmfestivals veranstalten, Seminare und Kurse organisieren. Geld ist damit na-
türlich nicht zu machen.«

»Sie betätigen sich als Ihr eigener Mäzen?«

»In Europa wird so etwas meist staatlich finanziert oder zumindest subventioniert. Von
unserer Regierung können Sie das nicht erwarten. Hier muss man alles privat machen.
Ich habe ein paar Sponsoren gewinnen können. Kodak zum Beispiel beteiligt sich. Ich
denke daran, Tonstudios einzurichten, deren Einnahmen zum Unterhalt des Filmcen-

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ters beitragen. Aber es geht nicht darum, Geld zu machen. Es geht mir darum, einen
Treffpunkt zu schaffen. Ein kreatives Zentrum, wie es einmal für die Bildende Kunst das
Bauhaus war.«

»Ihre Aktivitäten geben dem Wort Kulturmafia eine ganz neue Bedeutung. Ohnehin
sind ihre besten Filme immer wieder mit denselben italienischen Namen verbunden –
Martin Scorcese vor allem, dann Francis Ford Coppola, Sergio Leone, Brian De Palma,
um nur ein paar der bekanntesten zu nennen. Steht hinter TriBeCa der Wunsch, sich
eine künstlerische Familie zu schaffen?«

»Gewiss. Etwas Dauerhaftes, das zusammenwächst und noch in zwanzig, dreißig Jahren
da ist. Warum auch nicht? Mit Bekannten zu arbeiten, mit Menschen, die man mag, ist
doch schöner als immer gegen anonyme Apparate zu kämpfen. Aber vor allem geht es
mir darum, kulturelle Wirkung zu erzielen, Einfluss zu nehmen.

»Nicht zuletzt auf Ihre eigene Arbeit ...«

»Ja, mit meiner Produktionsfirma, die in dem Haus ihre Räume hat, will ich mehr Kon-
trolle über meine künstlerische Entwicklung erlangen. Maler oder Schriftsteller haben
es einfacher. Filmemachen ist eine komplexere Angelegenheit, und Herr über das

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Endprodukt ist man als Schauspieler nie. Ich möchte deshalb selbst produzieren, meine
eigenen Skripte schreiben, ich möchte Regie führen.«

»Als Schauspieler sind Sie Extremist, lieben Exzesse ...«


»Extremist? Was für Exzesse? Das müssen Sie mir schon erklären ...«

»In Bloody Mama spielten Sie einen Drogensüchtigen und hungerten sich auf fünfund-
fünfzig Kilo runter. Und für die Rolle des verfetteten Altboxers in Raging Bull fraßen
Sie sich zwanzig Kilo an, mal abgesehen davon, dass Sie sich vorher erstmal zu einem
der zehn besten Mittelgewichtler der USA hoch boxten. Sie lernten Saxophon und
Taxifahren und einen exotischen sizilianischen Dialekt, Sie perfektionierten sich als
Fechter und Priester, für GoodFellas besorgten Sie sich Al Capones Boxershorts, obwohl
Sie in dem Film nie ohne Hosen auftreten, für Cape Fear ließen Sie Dutzende von ver-
urteilten Vergewaltigern befragen ...«

»Okay, okay. Wenn Sie das extrem finden ... Ich brauche dieses Wissen und diese Er-
fahrungen, weil ich will, dass jede Darstellung automatisch geschieht, aus dem Cha-
rakter heraus, ohne Reflexion. Das ist wie Autofahren. Solange ich noch beim Abbiegen
darüber nachdenken muss, wie ich es machen soll, bin ich nicht gut, wirke ich nicht
natürlich. Jede Entscheidung muss ich spontan, ohne Zögern fällen können. Wie es die

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Personen, die ich spiele, auch tun würden. Denn die stecken ja meist seit Jahren in
ihrer Haut, nicht wahr ...«

»Sie recherchieren wie ein Reporter, dringen in das Leben fremder Leute ein. Ein
Reporter liefert allerdings am Ende ein Stück Wirklichkeitsbeschreibung ab, Sie pro-
duzieren Illusionen. Ist diese weitgetriebene Form des Method acting à la Stanislawski
in einer Zeit, da die Wirklichkeit selbst hochgradig fiktionalisiert ist, nicht überholt?
Muss Kunst unentwegt die Realität verdoppeln? Liefern Sie anstelle von Wahrheit nicht
nur Schein-Realität?«

»So zu spielen ist gewiss nicht die einzige Möglichkeit. Aber immer noch die beste,
glaube ich. Wir produzieren Illusionen, Träume. Doch Träume haben, wenn wir sie träu-
men, eine Realität. Wirklichkeit und Wahrheit werden immer einen engen Bezug zuein-
ander haben, egal, was wir mit unserem Leben, unserer Umwelt anstellen. Das heißt
natürlich nicht, dass man, um als Mörder glaubhaft zu sein, erst jemanden umbringen
muss, wie ein nicht sehr kluger Kollege von ihnen einmal meinte. Es geht nur um die
Echtheit der Gefühle. Ich kann einen Mörder realistisch spielen, wenn ich die Gefühle
fühle, die jemand hat, der einen anderen Menschen töten will.«

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»Seinen Körper dem Leben anderer Menschen zu leihen, gibt reichlich Gelegenheit,
sich selbst zu verstecken ...«

»Man muss viel von sich preisgeben, damit es wirklich und bedeutungsvoll wird. Wenn
man die Rolle nicht zu einem Teil von sich selbst macht, bleibt das Spiel unpersönlich,
bekommt nicht diesen speziellen Kick, der es erst fesselnd werden lässt.«

»Ist die Recherche der Rollen nicht ein Versuch, den künstlerischen Tod zu vermeiden:
Wiederholung?«

»Das ist ein angenehmer Nebeneffekt der Bemühung um Authentizität. Je mehr man ein
anderer wird, desto weniger ist man immer wieder nur man selbst. Wichtiger noch als
das, was man tut, ist gerade, was man nicht tut. Man muss ungewöhnliche Entscheidun-
gen treffen, damit Rollen außergewöhnlich werden.«

»Man erzählt von Ihnen, wie Sie bisweilen so in Ihrem Spiel stecken, dass Sie nach
Drehschluss nicht herausfinden ...«

»So ein Quatsch schreibt sich natürlich gut. Mir geht es nicht anders als jedem, der
viel arbeitet. Wenn man den Tag über sich intensiv um etwas bemüht hat, dann ist man
abends angespannt und nicht so locker ... Nachklingen tun allenfalls körperliche Sa-
chen, ein Tonfall oder ein Akzent zum Beispiel ... Wie eine schlechte Angewohnheit.«

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»Sie leben die Rollen gewissermaßen eine Weile zur Probe. Was bleibt davon zurück,
wenn der Film abgedreht ist?«

»Hmmh. Tja, ich weiß nicht ... Wie dem auch immer sei ...«

»Spielen Sie noch Saxophon?«

»Würde ich gerne, habe keine Zeit.«

»Boxen?«

»Nein.«

»Unsere Persönlichkeit, sagt man, sei eine Akkumulation vergangener Erfahrungen ...«

»Ja, das glaube ich auch.«

»Also müssten Sie heute zum Teil die Summe Ihrer Rollen sein?«

»Nun, ich habe diese fremden Leben nur gekostet, angeschmeckt. Und viele Erfahrun-
gen waren allein technischer Art: Wie man Saxophon spielt etwa.«

»Die Frau Ihres Lehrers war anderer Meinung. Sie beklagte sich, dass Sie ihren Mann
zum Sklaven machen und am liebsten noch mit den beiden ins Bett kriechen wür-
den ...«

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»Das haben Sie irgendwo gelesen. Vergessen Sie das lieber ... Ich meine, vielleicht
bleibt ja gar nichts von all diesen Erfahrungen ...«

»Der Mensch, wie ihn De Niro sieht: Kein Baum, dem sich Lebenserfahrung wie Jahres-
ringe umlegt, sondern eine Schlange, die sich in regelmäßigen Abständen häutet?«

»Kein schlechtes Bild. Ich meine, das beste im Leben ist sowieso, sich ständig selbst zu
überraschen.«

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4
Kapitel
Robert De Niros Fanatismus, die eigene Person immer wieder als ein anderer zu ver-
wirklichen, weckte in den siebziger und achtziger Jahren ungeheure Faszination — weit
über die sportive Begeisterung hinaus. Seine Versuche, sich selbst zu entkommen,
boten eine sehr poetische Interpretation der alltäglichen Exzesse, für die wir diese
Epoche liebten. De Niro erhob die kollektive Selbstzerstörung der siebziger und das
massenhafte Leben auf der Überholspur der achtziger Jahre zur Kunst. Aus der Leere
der fragmentierten Persönlichkeit, unserem traurigen Sozialcharakter, der auf der Su-
che nach sich selbst immer wieder nur eine dogmatische Heilslehre nach der anderen
entdeckte, ausbeutete und dann verwarf, formte er Idol auf Idol. Als Reporter der
Rollen stahl er sich in gelebtes Leben, vampirisierte und sezierte es und formte, ein
Frankenstein im Selbstversuch, daraus laufende Bilder unserer Sehnsüchte.

Wenn auch die Hohen Kritiker der Filmkunst, die in ihm eine Art Reinhold Messmer
des Kinos sahen, von dem neuen, normaleren De Niro zunehmend enttäuscht sind und
die »Routiniertheit« seiner jüngsten Auftritte bemäkeln — für die Neunziger, die keine
Zeit für Exzesse und Extravaganzen mehr sind, ist dieser Mann bestens gewappnet. Die
Jahre der rücksichtslosen Rollenspiele haben sein Verhaltens-Reservoir bis zum Rand
gefüllt. Der reife Robert De Niro ist ein Experte für Reaktionen, ein Manager der Meta-

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morphosen, ein Genie der Gesten. Ein Verwandlungskünstler, der sein Können in jedem
Zweikampf mit der Kamera neu beweist.

Und auch um sein ausgeprägtes Bedürfnis nach Privatheit zu befriedigen, setzt er sein
Talent erfolgreich ein.

Seit Stunden sitzen wir in dieser Suite und wollen nun ein wenig frische Luft schnap-
pen. Genauer: Ich will frische Luft schnappen. De Niro kommt nur sehr widerwillig mit:

»Wir werden keine Ruhe finden.«

Angespannt wartet er auf den Fahrstuhl. Als die Tür sich öffnet, ist die Kabine leer. De
Niro atmet durch. Eine freundlich-scheppernde Frauenstimme spricht zu uns:

»Eighteenth floor. Going down. Going down.«

Diese Art von zwischenmenschlichem Kontakt scheint nach De Niros Geschmack. Auf
dem Boden liegt ein bunter Teppich, der jeden Tag gewechselt wird. Die gegenwärtige
Inschrift verrät, dass wir heute Sonntag haben. Mehr nicht. Als ein paar Stockwerke
tiefer andere Hotelgäste den Fahrstuhl besteigen, senkt der schmale, leicht unruhige
Mann seinen Blick gen Boden und studiert das Teppichmuster mit einem Interesse, wie
man es sonst nur von Literaturwissenschaftlern und Insektenforschern kennt.

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De Niro, dessen Intensität mich seit zwei Stunden in den Bann schlägt, scheint plötzlich
ein Schatten seiner selbst. Ein durchschnittlicher Sympathico. Eine einsame Seele, die
sich nicht ganz wohlfühlt auf dieser Welt. Ein Mann ohne eigene Eigenschaften. Ein
Chamäleon, dessen Persönlichkeit gerade die neutralen Farben des Fahrstuhls ange-
nommen hat. Nichtvorhandensein in seiner vollendeten Form. Lediglich seine Augen
zeigen einen Menschen auf dem Sprung.

Die Fähigkeit zur absoluten Präsenz, die der Schauspieler Robert De Niro besitzt, wie
Musiker über das absolute Gehör verfügen, erweist sich jetzt als Reflex der Aufmerk-
samkeit, die er seinem Gegenüber und die sein Gegenüber ihm schenkt. Und nichts
gleicht in dieser Hinsicht an Geduld und Liebe der Kamera. De Niros Aura ist nicht ob-
jektiv, sie ist ein Werk der Objektive. Er ist ein Kamera-Mann. Sein Glanz kommt nicht
von innen, sondern aus dem Zelluloid.

Die Fahrstuhltür öffnet sich. Licht, Glas, Raum. Eine Hotellobby, in der zwei Wohnhäu-
ser übereinander Platz fänden. De Niro stürmt vorneweg in die gedämpfte Musik und
das rosa Design.

Von einer Sekunde auf die nächste vermittelt er den Eindruck eines Kämpfers, der
jederzeit zuschlagen könnte. Nun, da er nicht mehr wie während des Interviews stillsit-

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zen muss, nicht länger mit Fremden im Käfig des Fahrstuhls gefangen ist, wirken seine
Bewegungen selbstbewusst, fast aggressiv.

Wie unter Zwang richten sich die Blicke auf ihn. Nicht jeder, der ihm nachschaut, er-
kennt ihn. Nicht sein Ruhm, nicht die Bekanntheit, allein seine physische Präsenz ist es,
die wie ein Magnet die Augen auf sich zieht.

Die Aufmerksamkeit, die er erregt, registriert Robert De Niro sofort.

»Zu viele Menschen,« sagt er leise und eilt durch einen Seitenausgang auf dem kürze-
sten Weg hinaus.

Der Kongressanbau des Hotels gleicht einem Schiff mit fünf Segeln, das in Beton ge-
gossen wurde. Die Terrasse davor ist menschenleer. Doch je verlassener, desto wohler
scheint sich Robert De Niro zu fühlen. Ein Schauspieler, der nicht das Publikum, sondern
sich selbst sucht.

»Was gibt es Ihnen«, frage ich ein wenig atemlos hinter ihm her stolpernd, »nicht mehr
nur Schauspieler, sondern zusätzlich Produzent und Regisseur zu sein?«

De Niro nuschelt mir die Antwort über die Schulter zu: »Ich möchte neben meinem
Körper auch meinen Kopf gebrauchen, und ich möchte meinen Kopf durchsetzen. Mir
geht es vor allem darum, meine eigenen Stoffe zu schreiben. Regie zu führen ist dann

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der zweite Schritt. Beides zusammen scheint mir die höchste Möglichkeit, mich im Film
auszudrücken.«

Ich lasse Robert De Niro vorneweg laufen. Seine Art zu gehen ist sehenswert, eine Kon-
stante aller Metamorphosen, unverwechselbarer noch als seine Stimme: Die Füße nach
außen gekippt, leicht wiegend, leicht o-beinig. Eine Bewegung, die den ganzen Men-
schen nach vorn schiebt. Ein aggressiver Gang, der Gang eines Angreifers. Robert Der
Hero. Er lehnt sich über die weiße Brüstung und schaut hinaus auf die Bucht. Abgeklärt.
Einsam. Mit sich allein.

Allerdings nicht für lange. Ein großer, übergewichtiger Fan mit einem Messesticker am
ungemein himmelblauen Jackett tritt auf ihn zu. In der Hand trägt er ein zusammenge-
rolltes Filmplakat.

Robert De Niro sieht ihn erst sehr spät, zu spät, doch er braucht nur Bruchteile von Se-
kunden, um sich vom bufferhaften Tough Guy zum schüchternen, Mitleid erweckenden
Opfer zu wandeln.

»Ich möchte Sie nicht belästigen«, sagt der Mann, dessen Annäherung eben noch sehr
entschlossen und gar nicht verlegen war. »Aber wir haben hier gerade einen Videokon-
gress, bei dem wir Cape Fear vertreiben ...«

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Mehr wagt er nicht in De Niros gequältes Gesicht zu sagen. Stumm bittend rollt er das
Plakat aus. De Niro lächelt verlegener denn je, zieht wortlos einen Stift aus der Innen-
tasche seiner Wildlederjacke und signiert das Plakat.
Der Blick, den er mir dabei aus den Augenwinkeln zuwirft, sagt zweierlei, das aber ein-
deutig.

Erstens: »Was für eine Frage, welche Vorteile das Autorendasein bringt? Wäre ich Autor
oder Regisseur, bliebe mir das hier erspart.«

Und zweitens: »Ich wollte im Hotel bleiben. Ich habe es gewusst. Wer sich in die Öf-
fentlichkeit begibt, wird eines Tages in ihr umkommen.«

Der Mann im himmelblauen Jackett rollt das signierte Plakat zusammen. Seine Haltung
verrät das schlechte Gewissen, das ihm De Niro bereitet hat. Der sieht ihm bedauernd
hinterher. Dann fasst er mich unvermittelt am Arm.

»Wir sehen uns«, sagt er. »Morgen. Ich werde Sie anrufen.«

Dazu das berühmte Robert-De-Niro-Lächeln, bei dem das Gesicht nahezu unbeweglich
bleibt; lediglich ein paar Muskeln ziehen Teile der Mundpartie hoch. Ein steiles, hartes
Grinsen, das in seinem Gesicht ungewöhnliche Lachfalten produziert hat. Im selben Au-
genblick bricht die Sonne wie Blitze aus den tiefliegenden Wolken hervor.

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Robert De Niro schreitet davon, zu den Fahrstühlen in der Lobby, in die rettende Ruhe
seiner Suite, als wäre es die Sorte Film, in der er nie mitspielen wollte.

Vorher aber hat er versprochen, mir einen Wunsch zu erfüllen, der nicht nur ein Jour-
nalistentraum ist: Wer würde nicht gerne wissen, was geschehen ist, bevor man selbst
den Raum betreten hat? Und was geschehen wird, nach dem man gegangen ist?

De Niro hat mir von der letzten halben Stunde vor unserer Begegnung erzählt, und er
wird mir morgen mit derselben Akribie berichten, was er jetzt, nach dem Interview,
tun, sagen, denken wird.

Zurück in meinem Hotelzimmer, fünf Stockwerke unter Robert De Niros Suite, spiele
ich, ganz Fan, zum x-ten Mal, Bananaramas De-Niro-Huldigung:

»This is my only escape from it all

Watching a film or a face on the wall

Robert De Niro’s waiting talking Italian ...«

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5
Kapitel
Und Robert De Niro wartet wirklich. Er ist müde, sehr müde. Sein Körper schmerzt.
Zwei Tage Kampf hat er hinter sich. Morgen, am Montag, wird die große Schlussszene
fortgesetzt, die Schlägerei zwischen ihm und dem Stiefvater seines Sohnes.
Robert De Niro geht zum Telefon und bestellt aus der Hotel-Spa eine Masseuse.

Im Bad starrt er, während er sich die Zähne putzt, zwischen den beiden großen Messing-
spiegeln hindurch und hinunter auf die Bucht von Vancouver.

Das Telefon klingelt.

In ein paar Wochen schon sollen die Dreharbeiten zu Bronx Tales beginnen, dem ersten
Film, bei dem De Niro selbst Regie führen wird. Am Morgen, kurz vor dem Interview, ist
die Zeitplanung, die sein Produzent in Los Angeles zusammengestellt hat, aus dem Fax
gequollen. Angesetzt sind sehr viele Nachtdrehs, und das gefällt Robert De Niro nicht.
Der Film erzählt vom Erwachsenwerden eines Jungen in der New Yorker Bronx. Sind
Nachtdrehs immer Kräfte und Nerven raubend, mit Kinderdarstellern werden sie in der
Regel zum Alptraum.

Das Telefon klingelt zum vierten oder fünften Mal, als De Niro den Hörer abhebt. Sein
Produktionsmanager erkundigt sich, ob das Endlosfax gut durchgelaufen ist.

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»John, ich möchte, dass du alles, was nicht unbedingt in der Nacht spielen muss, auf
den Tag verlegst«, sagt De Niro. Sein Tonfall ist vorsichtig, zögernd, doch käme kaum
einer auf die Idee, dieser Stimme, die ihren bedrohlichen Unterton gerade aus der Zu-
rückhaltung gewinnt, zu widersprechen.

»Okay«, lautet die Antwort aus dem Telefonhörer. »Alles, was später Nachmittag ist
oder früher Abend, ändern wir in Tag. Kein Problem.«

Neben der gepolsterten Sitzecke steht der Rollwagen des Room Service. De Niro hebt
mit der linken Hand den Chromdeckel von der Fruchtplatte und greift mit der rechten
in das gelbe Durcheinander aus Ananasstücken und Honigmelonen-Kugeln.

»Regisseure müssen das Schiff steuern und seine Richtung bestimmen«, hat er über
seinen Freund Martin Scorcese gesagt: »Es gibt immer einen Punkt, an dem man sich
grundsätzlich entscheiden muss, ob man diesen oder jenen Weg einschlägt, und Marty
bereiten solche Entscheidungen kaum Probleme.«

Auch Robert De Niro hat seine Grundsatzentscheidung getroffen. Aber auf ihre Verwirk-
lichung muss er warten.

Er tritt an die Fensterfront und schaut ungeduldig hinaus. Die Wolken, die den Tag über
um die Gipfel der Berge lagen, haben sich verzogen. Unter ihnen hat es noch einmal

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geschneit. De Niro öffnet die schmale Luftklappe zwischen den beiden Fenstern. In
der Bucht startet ein Wasserflugzeug, der ohrenbetäubende Lärm kommt hier oben nur
leicht gemildert an. Fast gleichzeitig landet ein Hubschrauber auf dem Heliport des Ha-
fens. Robert De Niro geht hinüber in das Schlafzimmer und beginnt sich zu entkleiden.

Eine Viertelstunde später liegt er nackt auf dem Bett, und sein schmaler, durchtrainier-
ter Körper wartet auf die Entspannung, die ihm die Massage bringen wird.

»Nicht soviel Öl«, sagt er leise.

Die Masseuse ist eher hässlich als schön und fast so alt wie Robert De Niro. Ihren Namen
hat er in der Sekunde vergessen, als sie ihn genannt hat. An dem Druck ihrer Finger
merkt er, wie hart, verkrampft seine Muskeln sind.

Draußen fegt Wind über die Bucht, harter Regen, fast Hagel prasselt an die Scheiben
der Suite. Die ersten Lichter gehen in der Ferne an. Das feste, gleichmäßige Kneten
schläfert seinen Körper ein. Zwei gewaltige Seemöwen stoßen knapp an den Scheiben
vorbei.

Robert De Niro schließt die Augen. Er wartet. Er wartet darauf, dass Entspannung in
seinen Körper dringt. Er wartet auf den Traum. Bis ein Knall ihn hochschreckt.

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»Die Vögel!« sagt die Masseuse. »Sie haben Hunger. Viele Gäste füttern sie durch die
Luftklappen.«

Robert De Niro nickt und sinkt zurück. Er hat vergessen, wovon er geträumt hat.

Wieder und wieder, fünf-, sechs-, siebenmal fliegen die Seemöwen ihre Angriffe; sie
stoßen aus der heraufziehenden Dunkelheit hervor und schlagen gegen die Scheiben,
die zwischen ihnen und dem hell erleuchteten Bild stehen, als das die Suite aus der
Vogelperspektive erscheinen muss.

Die Berge gegenüber sind jetzt in der Dunkelheit verschwunden. Nur ein paar Lichter
zeigen, wo am anderen Ende der Bucht die Wirklichkeit liegt.

Robert De Niro schließt die Augen. Fast schläft er schon.

»Diese Vögel wollen das Unmögliche«, denkt er leise, unscharf, während er erneut in
den Traum hinabsteigt, »sie erkennen die Grenzen nicht, wie Marty, wie Marvin, wie
wir.«

Und dann, zum ersten Mal an diesem langen Sonntag in Vancouver, hört Robert De Niro
auf zu warten.

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info
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einem Creative Commons
Namensnennung-Keine DRUCKGESCHICHTE
kommerzielle Nutzung- Robert Der Hero. (Porträt Robert De Niro). In: TEMPO, Mai
Keine Bearbeitung 2.0 1992, S. 28-38.
Deutschland Lizenzvertrag Überarbeitete Fassung nachgedruckt unter demselben Titel.
lizenziert. Um die Lizenz In: Spion unter Sternen (s. o. 1994), S. 10-33.
anzusehen, gehen Sie bitte
zu http://creativecommons. DIGITALER REPRINT
org/licenses/by-nc-nd/2.0/ Der Reprint folgt der überarbeiteten Fassung von 1994.
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Brief an Creative Com- in Adobe InDesign und Adobe Acrobat erstellt und am 30.
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Suite 300, San Francisco, Commons License veröffentlicht (siehe Kasten links).
California 94105, USA. Version: 1.0.

ÜBER DEN AUTOR


Gundolf S. Freyermuth ist Professor für Angewandte Medienwissenschaften an der ifs — Internationale
Filmschule Köln (www.filmschule.de).

Weitere Angaben finden sich auf www.freyermuth.com.

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