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Euklid
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Friedrich Nietzsche
Schöpfer, Welt?« -
hat?
Über den Prozeß seines Dichtens hat uns Schiller
durch eine ihm selbst unerklärliche, doch nicht be-
denklich scheinende psychologische Beobachtung
Licht gebracht; er gesteht nämlich, als den vorberei-
tenden Zustand vor dem Aktus des Dichtens nicht
etwa eine Reihe von Bildern, mit geordneter Kausali-
tät der Gedanken, vor sich und in sich gehabt zu
haben, sondern vielmehr eine musikalische Stimmung
(»Die Empfindung ist bei mir anfangs ohne bestimm-
ten und klaren Gegenstand; dieser bildet sich erst spä-
ter. Eine gewisse musikalische Gemütsstimmung geht
vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische
Idee«), Nehmen wir jetzt das wichtigste Phänomen
der ganzen antiken Lyrik hinzu, die überall als natür-
lich geltende Vereinigung, ja Identität des Lyrikers
mit dem Musiker - der gegenüber unsre neuere Lyrik
wie ein Götterbild ohne Kopf erscheint -, so können
wir jetzt, auf Grund unsrer früher dargestellten ästhe-
tischen Metaphysik, uns in folgender Weise den Lyri-
ker erklären. Er ist zuerst, als dionysischer Künstler,
gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Wi-
derspruch, eins geworden und produziert das Abbild
dieses Ur-Einen als Musik, wenn anders diese mit
Recht eine Wiederholung der Welt und ein zweiter
Abguß derselben genannt worden ist; jetzt aber wird
diese Musik ihm wieder, wie in einem
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erschöpft ist: und hier zeigt sich, daß die ganze Auf-
fassung des Dichters nichts ist als eben jenes Licht-
bild, welches uns, nach einem Blick in den Abgrund,
die heilende Natur vorhält. Odipus der Mörder seines
Vaters, der Gatte seiner Mutter, Odipus der Rätsellö-
ser der Sphinx! Was sagt uns die geheimnisvolle
Dreiheit dieser Schicksalstaten? Es gibt einen uralten,
besonders persischen Volksglauben, daß ein weiser
Magier nur aus Inzest geboren werden könne: was wir
uns, im Hinblick auf den rätsellösenden und seine
Mutter freienden Odipus, sofort so zu interpretieren
haben, daß dort, wo durch weissagende und magische
Kräfte der Bann von Gegenwart und Zukunft, das
starre Gesetz der Individuation und überhaupt der ei-
gentliche Zauber der Natur gebrochen ist, eine unge-
heure Naturwidrigkeit - wie dort der Inzest - als Ur-
sache vorausgegangen sein muß; denn wie könnte
man die Natur zum Preisgeben ihrer Geheimnisse
zwingen, wenn nicht dadurch, daß man ihr siegreich
widerstrebt, d.h. durch das Unnatürliche? Diese Er-
kenntnis sehe ich in jener entsetzlichen Dreiheit der
Ödipusschicksale ausgeprägt: derselbe, der das Rätsel
der Natur - jener doppelgearteten Sphinx - löst, muß
auch als Mörder des Vaters und Gatte der Mutter die
heiligsten Naturordnungen zerbrechen. Ja der Mythus
scheint uns zuraunen zu wollen, daß die Weisheit und
gerade die dionysische Weisheit ein naturwidriger
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In des Wonnemeeres
wogendem Schwall,
in der Duft-Wellen
tönendem Schall,
in des Weltatems
wehendem All -
ertrinken - versinken -
unbewußt - höchste Lust!
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verwandeln pflegt?
Man müßte auch an unserem deutschen Wesen
schmerzlich verzweifeln, wenn es bereits in gleicher
Weise mit seiner Kultur unlösbar verstrickt, ja eins
geworden wäre, wie wir das an dem zivilisierten
Frankreich zu unserem Entsetzen beobachten können;
und das, was lange Zeit der große Vorzug Frankreichs
und die Ursache seines ungeheuren Übergewichts
war, eben jenes Einssein von Volk und Kultur, dürfte
uns, bei diesem Anblick, nötigen, darin das Glück zu
preisen, daß diese unsere so fragwürdige Kultur bis
jetzt mit dem edlen Kerne unseres Volkscharakters
nichts gemein hat. Alle unsere Hoffnungen strecken
sich vielmehr sehnsuchtsvoll nach jener Wahrneh-
mung aus, daß unter diesem unruhig auf und nieder
zuckenden Kulturleben und Bildungskrampfe eine
herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft verborgen
liegt, die freilich nur in ungeheuren Momenten sich
gewaltig einmal bewegt und dann wieder einem zu-
künftigen Erwachen entgegenträumt. Aus diesem Ab-
grunde ist die deutsche Reformation hervorgewach-
sen: in deren Choral die Zukunftsweise der deutschen
Musik zuerst erklang. So tief, Mutig und Seelenvoll,
so überschwänglich gut und zart tönte dieser Choral
Luthers, als der erste dionysische Lockruf, der aus
dichtverwachsenem Gebüsch, im Nahen des Früh-
lings, hervordringt. Ihm antwortete in wetteiferndem
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