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Einführung

in das Heilsmysterium

in 4 Teilen
auf 4 Semester aufgeteilt
ab WS 2004-05

P. Dr. Karl Josef Wallner OCist

Phil.-Theol. Hochschule Heiligenkreuz

Vorlesungsskriptum

ad usum tantum privatum audientium!


Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 -2-

1. Teil: WS 2004 / 2005 (1 Sws)

„Die anthropologischen Voraussetzungen für die Frage nach


Gott und die natürliche Gotteserkenntnis“

§ 1: Einleitung

1. Die Neuordnung der kirchlichen Studien durch das 2. Vatikanum

Der Kurs trägt den Titel „Einführung in das Heilsmysterium“ und geht direkt auf einen
Wunsch des 2. Vatikanischen Konzils (1962-1965) zurück. Im Dekret über die Priester-
ausbildung „Optatam Totius“ (=OT) ist in Artikel 13 zunächst von einer gründlichen
Vorbildung der Alumnen die Rede. U. a. sollen sie „soviel Latein lernen“, dass sie die
wissenschaftlichen Quellen und kirchlichen Dokumente verstehen und benutzen können.
In Artikel 14 geht es dann um eine grundsätzliche Neugestaltung der kirchlichen Studien.
Das Konzil will die neuscholastische Ordnung der Fächer zumindest im Rahmen des
Möglichen lockern.
Zwei Negativa sind es, die überwunden werden sollen:
1. Die strikte Trennung von Philosophie und Theologie: In der Neuscholastik wurden
Philosophie und Theologie strikt voneinander getrennt vorgetragen. Jedes Fach hatte ihre
genau definierten Traktate, sodass die Beziehung zwischen Denken und Glauben, Philo-
sophie und Theologie kaum mehr sichtbar war. Das spezifische Problem lag auch darin,
dass die Alumnen sich zunächst einige Semester nur durch Philosophie quälen mussten.
2. Die Vernachlässigung der „heilsgeschichtlichen“ Dimension: Die neuscholastische
Theologie verstand sich als eine absolute, ein für allemal gültige Form der Theologie, die
die geschichtliche Bedingtheit jeder theologischen Form nicht reflektierte; sie war „ge-
schichtslos“. Das Konzil aber wünscht eine so genannte „heilsgeschichtliche“ Betrach-
tung: Theologie hat zu bedenken, dass das Geheimnis Christi, „das die ganze Geschichte
der Menschheit durchzieht“ (OT 14,1), in jeder Zeit auf je neue Art und Weise bedacht
wird. Theologie ist ja nur die Form, in der das in sich unveränderliche Mysterium Christi
ausgedrückt wird. Die Form aber ist variabel und unterliegt den Bedürfnissen der Zeit.
Damit diese Ziele erreicht werden, soll ein spezieller Einführungskurs in das Theologie-
studium aufgenommen werden (OT 14,2):
„Damit diese [heilsgeschichtliche] Sicht den Seminaristen schon vom Anfang ihrer
Ausbildung an vertraut werde, sollen die kirchlichen Studien mit einem ausreichend
langen Einführungskurs beginnen. In dieser Einführung soll das Heilsmysterium so
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dargelegt werden, dass die Alumnen den Sinn, den Aufbau und das pastorale Ziel der
kirchlichen Studien klar sehen; dass ihnen zugleich geholfen werde, ihr ganzes per-
sönliches Leben auf den Glauben zu gründen und mit ihm zu durchdringen; dass sie
endlich in der persönlichen und frohen Hingabe an ihren Beruf gefestigt werden.“
(OT 14,2)
Der „Cursus introductorius“, in dem es um das „Mysterium salutis“ geht, hat also ein
dreifaches Ziel1:
1. Orientierung: Der Theologiestudent soll gleich am Beginn seiner Ausbildung die
rechte Orientierung für die zu studierenden Fächer im Gesamtplan seiner Studien gewin-
nen. Er soll sich also nicht in einer Vielfalt von Gegenständen oder in der Unwirtlichkeit
der philosophischen Begriffswelt verloren fühlen. Zugleich soll er von diesem Kurs her
die Bedeutung der theologischen Studien für seinen zukünftigen priesterlichen und seel-
sorglichen Dienst erfassen.
2. Intellektuelle Sammlung: Der Theologie soll in seinem eigenen Glaubensleben ge-
stärkt werden. In einer pluralistischen, wertefreien und doch zugleich antikirchlichen ge-
sellschaftlichen Atmosphäre bedarf der Alumne der Hilfe: Eine Theologie, die als ihr
Zentrum das „Geheimnis Christi“ hat, wird ihm mitten „in der Welt von heute“ (Thema
und Titel von GS) die Möglichkeit geben, die Fülle von Erfahrungen, die er schon in sein
Studium mitbringt, neu zu ordnen und selbst im Geheimnis Christi seine Lebensmitte zu
finden. Didaktische Hilfen bei der Vorlesung: Sätze, Fragen, Zwischenbemerkungen.
usw.
3. Spirituelle Vertiefung: Der Kurs soll schließlich den Sinn und die Größe der priester-
lichen Berufung zeigen und so eine vertiefte Freude an der Berufung wecken. Im Artikel
12 wurde es den Bischöfen anheim gestellt, ihre Alumnen in eine Art „Noviziat vor dem
Studium“ zu schicken, damit der intellektuellen Schulung eine spirituelle Vertiefung vo-
rausgehe.

2. Klärung des Begriffes „Mysterium“

Der Traktat heißt „Heilsmysterium“.


Das „Geheimnis“, um das es hier geht, ist das Geheimnis Gottes selbst, der will, dass „al-
le Menschen gerettet werden“ (1 Tim 2,4). „Gott wohnt in unzugänglichem Licht“ (1 Tim
6,16). Im AT gibt es nicht nur das Verbot, sich ein Bild von Gott zu machen. Es wird
vielmehr sogar gedroht, dass jeder, der Gott schaut, sterben muss. - Heute: Bewusstsein
für diese Sphäre des Mysteriums im Christentum verloren gegangen. Achtung auf die
Begriffe:

1 Vgl. J. NEUNER, Kommentar zu Optatam Totius, in LThK 13,339


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Mysterium = das sich lichtende Geheimnis


Aenigma = das Rätsel. - Ein Rätsel kann gelöst werden, dann hat es keine Heilsbedeu-
tung mehr. (Kreuzworträtsel wird weggeworfen). Gott kann manchmal „aenigma“ sein
(z. B. im Leid), aber er ist nie lösbar. Er ist immer Mysterium.
Nach Anselm von Canterbury liegt das Ziel der Theologie darin, zu begreifen, dass Gott
unbegreiflich ist: Comprehendere, Deum incomprehensibile esse!2
Der wahrhafte Theologe wird „am Schluss“ zum Spielenden, zum Kind, das verträumt
und lachend Löwenzahn durch die Lüfte bläst. Selbst ein Thomas von Aquin hat, wenige
Wochen vor seinem Tod, nach einer innerlichen Schau vor dem Allerheiligsten, seine
Gelehrtenfeder beiseite gelegt. Nie mehr wollte er ein Wort über Gott schreiben, weil
das, was er gesehen hatte, viel größer war, als der Verstand es je ausschöpfen könnte.
Dazu drei Zitate des heiligen Thomas von Aquin, des größten Theologen:
• „Hoc est ultimum cognitionis humanae de Deo: quod sciat se Deum nescire.“
(Thomas von Aquin, Pot 7,5 ad 14)
• Non enim de Deo capere possumus quid est, sed quid non est, et qualiter alia se
habeant ad ipsum.“ (C. G. I, 30)
• „Deus honoratur silentio, non quod de ipso nihil dicamus vel inquiramus, sed
quia intelligimus nos ab ejus comprehensione defecisse.“ (In Trin. 2,1 ad 6).
Bitte beachten: Mystik, Spiritualität - braucht immer das Schweigen über das Ge-
heimnis Gottes. Aber: Es ist nicht das Schweigen, weil man nichts sagen kann, weil
man nichts weiß (= Agnostizismus), sondern es ist das Schweigen angesichts dessen,
was man weiß.
b.) geht es um eine geistliche Haltung angesichts dieses Geheimnisses. In dem Gedicht ist
deshalb von einer ungewissen Reise die Rede. Und doch: „Freue, freue, freue dich!“
Die Freude ist die schönste Aufgabe des Theologen. - Alle suchen Gott, wir kennen ihn! -
Und Gott ist Faszinosum und Tremendum.
Der Religionsphilosoph Rudolf Otto nennt Gott „Mysterium fascinosum et tremendum“.
- Schauder der Erhabenheit. Z. B. in der christlichen Kunst immer eingefangen: Ka-
thedralkirchenbau.
Hans Urs von Balthasar fordert eine „kniende Theologie!“
Das Theologiestudium ist eine „ungewisse Reise“, auch für die Spiritualität. --- viele ver-
lieren dadurch ihren Glauben.

2 ANSELM, Monologion 64 (Schmitt I, 75, 11-12): „Consideratio rationabiliter comprehen-


dit incomprehensibile esse.”
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Ziel des Studiums: besteht nicht im begriffen haben und im Wissen. Wer meint, er sei der
Theologie, der Logik Gottes, Herr geworden, hätte nicht gesiegt, sondern diabolisch ver-
loren. Welcher Mensch könnte sich auch angesichts der Weisheit Gottes selbstherrlich
rühmen (Röm 3,27)?
Am Ende soll also die Klarheit stehen, die schaudern macht vor der Größe des Unbe-
greifbaren.

3. Praktische Vorbemerkungen zum Theologiestudium

1. Intellektuell glauben: Der Kurs „Einführung in das Heilsmysterium“ ist im Verlauf des
Studiums der erste Kurs, in dem die Hörer mit eigentlicher „Theologie“ konfrontiert wer-
den. Nach klassischer Definition kommt Theologie dadurch zu Stande, dass der Glaube
nach tieferem intellektuellen Erkennen und Verstehen strebt: „fides quaerens intellec-
tum“. Zum anderen ist sie aber „intellectus quaerens fidem“, also natürliches Denken, das
nach dem Göttlichen sucht. Ausdrücklich ist dies in der Enzyklika von Papst Johannes
Paul II. 1998 „Fides et Ratio“ dargelegt.
2. Die Dialektik von Sünde und Gnade in der theologischen Erkenntnis. Die Glaubenser-
kenntnis ist durch und durch ambivalent:
Zum einen ist sie eine Folge der Erbsünde, denn der paradiesische Mensch hätte keine
intellektuelle Theologie notwendig, seine Gotteserkenntnis wäre eine unmittelbare und
intuitive (vgl. die Reflexionen über Adam und Eva in Sir 17,3-9). Der prälapsare Mensch
lebt in einer naturhaften Einheit mit Gott, der „im Abendwind“ durch das Paradies spa-
zieren geht ( Gen 3,8). Erst die Verweigerung gegenüber Gott lässt den Menschen aus
dieser Lebensgemeinschaft mit Gott herausfallen, erst die Erbsünde macht es notwendig,
dass der Mensch nunmehr der „Anstrengung des Begriffs“ bedarf, wenn er über Gott
nachdenken will. Man kann sogar sagen, dass erst die Sünde aus der unmittelbaren Du-
Beziehung, die Adam zu Gott hatte, eine Es-Beziehung machte: Gott ist von einem per-
sonalen Gegenüber zu einem Objekt der Erkenntnis geworden, dem man sich sogar ver-
weigern kann, vor dem man sich verbergen kann. Theologie steht also immer auch unter
dem Gesetz der Sünde, die Kirchengeschichte mit ihren vielen Häresien und Verkürzun-
gen gibt ein beredtes Zeugnis, wie sehr die Sünde die Gotteserkenntnis begrenzt und ver-
dunkelt.
Dies ist die eine Seite, die andere aber ist ebenso gewichtig: Theologie ist ebensosehr ein
Geschenk der Gnade. Gerade die katholische Theologie hat dies gegenüber den Erkennt-
nispessimisten aller Zeiten immer wieder betont: Der Mensch ist wahrhaft befähigt, von
seiner intellektuellen Natur her und dann noch tiefer durch die göttliche Offenbarung, die
Geheimnisse Gottes zu durchdringen. Offenbarung bedeutet ja, dass Gott seine Wahrheit
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schenkt. Theologie ist nichts anderes als das demütige annehmen dieses göttlichen Ge-
schenkes, ist also Gnadenaktes Tun.
Fassen wir zusammen: Das Studium selbst steht in der Dialektik von Sünde und Gnade,
wie sie uns von Anfang an in der christlichen Offenbarung vorgegeben ist: • einerseits
will Gott die Sünde nicht; andrerseits ermöglicht er sie indirekt durch die Gabe der Frei-
heit; • einerseits ist die Sünde die Ursache für die Erlösung in Jesus Christus (o Felix
Club); andrerseits verhindert sie weiterhin die volle Annahme dieser Erlösung durch den
Menschen; • auf die Theologie umgelegt: einerseits ist Theologie eine Folge der Erbsün-
de: ohne Erbsünde hätten wir die unmittelbare Gottesschau: Vision beatifica! • Andrer-
seits ist die Theologie auch eine Folge der Gnade, denn ohne Sünde keine Christusoffen-
barung: dann wäre das Wort eben nicht Fleisch geworden und hätte sich uns nicht in
Menschengestalt geoffenbart.
3. Spiritualität: Dem Wunsch des 2. Vatikanums gemäß soll die „Einführung in das
Heilsmysterium“ insbesondere auch zu einer spirituellen Vertiefung des Glaubenslebens
führen. Hans Urs von Balthasar hat vor einer rein „sitzenden Theologie“ gewarnt und die
Aufwertung der „knienden Theologie“ gefordert3. Nach Balthasar müßten dogmatische
Aussagen sogar in irgendeiner Weise „betbar“ sein4. Theologie ist eben immer „fides
quaerens intellectum“, glaubenslose Theologie, die sich dem Gebet verweigert, ist ein
Widerspruch in sich selbst. Deshalb betonte die Weltbischofssynode über das Priestertum
1991 die Verschränkung von Theologie und Spiritualität5. Dies ist wohl auch der Grund,
warum sich in neuerer Zeit im europäischen Raum die „kleineren“ Ordenshochschulen
neuer Beliebtheit erfreuen.
4. Fachvokabular: Der Gebrauch von Fremdwörtern ist in der Theologie nicht nur Mode
und Ausdruck von Bildung, sondern er ist eine Notwendigkeit. Theo-logie bedient sich,
wie der Name schon sagt, vor allem des Wortes, des Logos und seiner Logik. Der Theo-
logiestudent muss in diese Sphäre des Sprechens und Begreifens, des Formulierens und
Argumentierens unbedingt eindringen. Jeder theologische Begriff muss gleichsam intel-
lektuell „geknackt“ und erobert werden. Gemeint sind hier nicht nur Fremdwörter, die oft
sogar sehr leicht zu verstehen sind, wenn man sie nur ins Deutsche übersetzt. Fremdwör-
ter müssen bloß gelernt werden, Begriffe aber müssen begriffen werden. Die schwierigen
Begriffe sind oft sehr harmlos klingende deutsche Worte wie z. B. „Versöhnung“ (nicht:

3 H. U. V. BALTHASAR, Verbum Caro, 224; vgl. dazu K. Rahner, Schriften zur Theologie
1,10, Anm. 1: „ein an sich problematisches Wort”!
4 H. U. V. BALTHASAR, Spiritus Creator, 328
5 Vgl. JOHANNES PAUL II., Nachsynodales Apostolisches Schreiben „Pastores dabo vo-
bis” vom 25. März 1992: AAS 84 (1992) 657-804; vgl. bes. auch: Kongregation für den
Klerus, Direktorium für Dienst und Leben der Priester vom 31. März 1994, deutsch hrsg.
v. Sekretariat d. Österreichischen Bischofskonferenz, St. Pölten 1994.
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Vertöchterung) „Unbefleckte Empfängnis“, „Heilsgeschichte“, „erlösen“, „Geheimnis“,


„Sohn Gottes“ usw. Wenn etwa Rudolf Bultmann von „eschatologisch“ spricht, meint er
etwas anderes als beispielsweise Kardinal Joseph Ratzinger.
5. Die rechte Zuordnung von Glaubenswissen (fides quae) und Glaubenstun (fides qua):
Inhalt der „Einführung in das Heilsmysterium“ ist die „fides quae“, also das Glaubens-
wissen. In den letzten Jahrzehnten wurde eher die Bedeutung der „fides qua“, also der
Glaubensakt als solcher, die Glaubensintensität. Es hat sich aber gezeigt, dass das Glau-
ben dort, wo nicht mehr gewußt wird, was geglaubt wird, nicht funktioniert. Das Erschei-
nen des „Katechismus der Katholischen Kirche“ korrigiert diese Entwicklung und möch-
te die Gläubigen auf die inhaltliche Dimension des christlichen Glaubens aufmerksam
machen. Der KKK hat sich in seiner Darlegung der Glaubenslehre als Strukturprinzip das
Apostolische Glaubensbekenntnis gewählt6.
Zitat Kierkegaard: „Eines ist es, dass einer für uns litt; ein anderes ist es, dass einer
Professor wurde für einen, der litt.“

4. Die Glaubensbekenntnisse als „regula fidei“

Wenn wir über das Heilsmysterium Christi sprechen, dann brauchen wir gleichsam einen
„Leitfaden“, eine Richtschnur, um dieses Geheimnis Christi inhaltlich darzustellen. Hier
bieten sich natürlich die in der Glaubenspraxis der Kirche bewährten Glaubensbekennt-
nisse an, die sogenannten Symbola. Unsere „regula fidei“ wird das Apostolicum sein. Es
handelt sich bei den Symbola um keine Gebete, sondern um inhaltliche Bekenntnisfor-
meln. Wir fragen zuerst nach ihrer Entstehung und zählen dann die wichtigsten auf.

A. Die Entstehung der ersten Glaubensbekenntnissen


Das Apostolicum gehört zur theologischen Gattung der Glaubensbekenntisse. Im wesent-
lichen gibt es drei verschiedene Formen von Bekenntnissen.
1. Die ältesten konfessorischen Kurzformeln: Schon in den frühesten Anfängen der Kir-
che, versuchten die Jünger Jesu, ihre Glaubensüberzeugung in Formeln zu artikulieren.
Die ältesten formelhaften Bekenntnisse beziehen sich darauf, dass Jesus der Herr, der
Christus ist, den Gott von den Toten auferweckt hat.
Phil 2, 10f. (Jerusalemer Bibel): „auf dass im Namen Jesu sich jedes Knie beuge…
und jede Zunge zur Ehre Gottes des Vaters bekenne: Jesus Christus ist der Herr!“

6 Der „Katechismus der Katholischen Kirche” (KKK) gliedert sich in 4 Teile: 1. Glaubens-
lehre anhand des Apostolischen Glaubensbekenntnisses; 2. Gelebtes Mysterium anhand
von Liturgie und Sakramenten; 3. Moral anhand der 10 Gebote; 4. Gebet anhand des Vater
Unser
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Oder 1 Kor 15,3-5: „An erster Stelle habe ich euch ja überliefert, was ich auch über-
kommen habe, nämlich: Christus ist für unsere Sünden gestorben nach der Schrift, er
ist begraben worden und am dritten Tage auferweckt worden nach der Schrift, und er
ist dem Kephas erschienen, dann den Zwölfen…“
Diese Kurzbekenntnisse zu Jesus Christus waren aber bald zuwenig, um die Identität der
Kirche im Bekenntnis zu den Heilstaten Gottes zu sichern. Wie erfolgte die Erweiterung?
Ein anderes Beispiel, an dem das Erlösungsverständnis der frühen Kirche aufleuchtet
ist Röm 3,25: „Gott hat Christus aufgestellt als ‘hilasterion’ für uns!“
2. Die Taufbekenntnisse (Baptismalsymbola, deklaratorische Bekenntnisse):
Die Glaubensunterweisung der Katechumenen erfolgt anläßlich der Taufvorbereitung.
Die Taufe wurde nach dem Taufbefehl in Mt 28,19 gespendet: „Gehet hin und machet
alle Völker zu Jüngern und taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des
Heiligen Geistes…“ Die dreigliedrige Taufformel wurde so zum Grundgerüst für die
Glaubensbekenntnisse, die sich entwickelten. Die sogenannten „Symbola“ (von grie-
chisch „snyballein“, d. h. „zusammenwerfen“ von Wort und Bedeutung zu einem „sym-
bolon“, Sinnzeichen7) oder „Credo“ (nach dem lateinischen Anfangswort „Ich glaube“)
übernahmen also den trinitarischen Aufbau. Ihre grammatikalische Struktur entspricht
der dreifachen Tauffrage nach dem Glauben an die göttliche Dreifaltigkeit. „Ich Glaube
an Gott den Vater … den Sohn … und an den Heiligen Geist“. Das apostolische Glau-
bensbekenntnis (symbolum apostolicum) gehört dieser Gattung an8.
3. Die dogmatischen Glaubensbekenntnisse (Synodalsymbola):
Im 3. und 4. Jahrhundert und danach kam es zu einer immer tieferen denkerischen
Duchdringung der Glaubensgeheimnisse, wozu die griechische Philosophie mit ihren
Begriffen entscheidend beitrug. Die biblische Sprache reichte aber folglich nicht mehr
aus, um das Geglaubte auszudrücken.
Jede Neuformulierung bringt jedoch die Gefahr mit sich, den eigentlichen Inhalt zu ver-
kürzen oder gar ihn zu mißdeuten. Die Kirche musste deshalb ab dieser Zeit immer wie-
der sprachliche Orientierung für die Gläubigen schaffen. Sie tat dies erstmals in weitrei-
chender Form auf dem Konzil von Nizäa 325 (erstes der sogenannten „Ökumenischen
Konzile“), wo gegen Arius formuliert wurde, dass der Sohn dem Vater „wesensgleich“
(homoousios) sei. Das Konzil von Nizäa bediente sich der Form eines Glaubensbekennt-

7 Vgl. KKK 188: Symbolon bezeichnete eine Hälfte eines entzweigebrochenen Gegenstan-
des, z. B. eines Siegels: Es war Erkennungszeichen, dass dazu diente, die Identität des Trä-
gers zu überprüfen. Das Glaubenssymbol dient als Erkennungs- und Gemeinschaftszeichen
für die Gläubigen.
8 Vgl. DH 7-36 über die verschiedenen Formen des Apostolischen Glaubensbekenntnisses.
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nisses (nizänisches Glaubensbekenntnis), nicht um die Gläubigen zu unterweisen, son-


dern um eine Irrlehre abzuweisen. So entstand ein ganz neuer Typ von Symbola, die so-
genannten Synodalsymbola: Nizäa (Dh 125f.), Konstantinopel I (DH 150); die 11. Syno-
de von Toledo (DH 800-802), Lyon II. (DH 851-861), Trient (1862-1870)9. In der feierli-
chen Liturgie ist das nizäno-konstantinopolitanische Credo heute noch in Verwendung10.
In diesen Bekenntnissen geht es nicht um die Gläubigkeit an sich, sondern präziser um
die dogmatisch-orthodoxe Gläubigkeit.

B. Herkunft des Apostolicums

Unter „apostolischem Glaubensbekenntnis“ versteht man eine Glaubensformel, von der


man durch viele Jahrhunderte annahm, sie sei von den Aposteln selbst verfaßt worden11.
Ambrosius nennt es Ende des 4. Jahrhunderts erstmals das „Symbolum der Apostel“12.
Die Behauptung, dass Bekenntnis stamme direkt von den Aposteln, führte zur Entstehung
einer Legende: Schon 404 erzählt Tyrannius Rufinus von Aquileia dass die Apostel vom
Herrn den Befehl erhielten, nach Pfingsten seine Botschaft in der ganzen Welt zu predi-
gen:
Als sie daher im Begriff standen, sich voneinander zu verabschieden, einigten sie sich
zunächst auf eine Norm für ihre zukünftige Predigt, damit sie wegen der weiten Ent-
fernung, in der sie sich voneinander befinden würden, den Menschen, die sie zum
Glauben an Christus einlüden, nicht verschiedene Lehren geben müßten. Also traten
sie an einem Ort zusammen und verfaßten, vom Heiligen Geist erfüllt, dieses kurze
Sinnzeichen (Symbolum), wie ich es nannte, ihrer künftigen Predigt, indem jeder da-
zu beitrug, was er für angemessen hielt; und sie setzten fest, dass es überall als gülti-
ge Lehre den Gläubigen ausgehändigt werden sollte.13
Diese Legende hat zwei theologische Absichten: Zum einen zu zeigen, dass der Glaube
tatsächlich auf der Lehre der Apostel beruht (Authentizität); zum anderen, dass dieser
Glauben - in der Vielfalt seiner Aspekte und Formulierungen - die Einheit der Kirche und
der Christen ausmacht (Identität). Der Hinweis des Rufinus, dass jeder Apostel das Sei-
ne beitrug wird in der folgenden Entwicklung noch legendenhafter ausgestaltet. Wohl aus
dem 8. Jahrhundert stammt die folgende Erzählung, die an Joh 20, 19 anknüpft:

9 Vgl. auch das Quicumque (athanasianisches Glaubensbekenntnis) und das in dieser Weise
völlig neuartige Credo des Gottesvolkes von Paul VI.
10 Vgl. GOTTESLOB Nr. 356
11 Vgl. DH S. 23
12 Ambrosius, Epistula 42,5: PL 16, 1174
13 RUFINUS, Expositio in Symbolum 2: PL 21,337; zitiert nach J. N. D. KELLY, Altchristli-
che Glaubensbekenntnisse, 9.
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Am zehnten Tag nach der Himmelfahrt, als sich die Jünger aus Furcht vor den Juden
versammelt hatten, sandte der Herr ihnen den verheißenen Parakleten. Bei seiner He-
rabkunft wurden sie entflammt wie glühendes Eisen und, da sie mit der Kenntnis aller
Sprachen erfüllt waren, verfaßten sie das Glaubensbekenntnis. Petrus sagte: ‚Ich glau-
be an Gott, den allmächtigen Vater … Schöpfer des Himmels und der Erde’ … And-
reas sagte ‘und an Jesus Christus, Seinen Sohn … unseren einzigen Herrn’ … Jako-
bus sagte ‘der empfangen wurde vom Heiligen Geist … geboren von der Jungfrau
Maria’ … Johannes sagte ‘der unter Pontius Pilatus litt … gekreuzigt wurde, starb
und begraben wurde’ … Thomas sagte ‘der zur Hölle niederfuhr … am dritten Tage
wieder auferstand von den Toten’ … Jakobus sagte ‘auffuhr gen Himmel … sitzt zur
Rechten Gottes, des allmächtigen Vaters’ … Philippus sagte ‘von dannen er kommen
wird, zu richten die Lebendigen und die Toten’ … Bartholomäus sagte ‘Ich glaube an
den Heiligen Geist’ … Matthäus sagte ‘die heilige katholische Kirche … die Gemein-
schaft der Heiligen’ … Simon sagte ‘die Vergebung der Sünden’ … Thaddäus sagte
‘die Auferstehung des Fleisches’ … Matthias sagte ‘ein ewiges Leben’.14
Satz 1: Das Apostolicum ist ein Baptismalsymbolum aus dem 2. Jahrhundert;
wie die Legendenbildung zeigt, galt es den Kirchenvätern als authenti-
sche Zusammenfassung des Glaubensinhaltes, wie er von den Aposteln
überliefert wurde.

C. Aufbau und Inhalt des Apostolicums

KKK 194 spricht davon, dass es apostolisch genannt wird, „weil es mit Recht als treue
Zusammenfassung des Glaubens der Apostel gilt“. Seiner Struktur nach geht es auf die
trinitarische Taufformel in Mt 28 zurück und gliedert sich folglich gemäß den Werken
der drei göttlichen Personen15.
Die drei Hauptteile sind: Im 1. Teil geht es um Gott, den Vater und Schöpfer, also auch
um das Schöpfungswerk; im 2. Teil geht es um die Menschwerdung der zweiten göttli-
chen Person, des Sohnes, in Jesus Christus und damit auch um das Geheimnis der Heils-
geschichte und unserer Erlösung; im 3. Teil schließlich geht es um den Heiligen Geist
und sein Wirken, das in der Kirche, durch die Gnade und in den Sakramenten erfolgt.
Dieses Wirken Gottes gipfelt in der Auferstehung der Toten und im ewigen Leben.
Der Kurs „Einführung ins Heilsmysterium“ wird dieser Struktur folgen.

14 PSEUDO-AUGUSTINUS, Sermo 240: PL 39, 2189; zitiert nach J. N. D. KELLY, Alt-


christliche Glaubensbekenntnisse, 11. Zur Geschichte dieser Legende vgl. H. de Lubac,
Credo, 9-28.
15 ORIGENES, In Exod. homilia IX,3 (GCS 29 = Origenes WW 6,239) nach F. Courth, Der
Gott der dreifaltigen Liebe, 148: Das trinitarische Taufbekenntnis ist „das dreifache Seil,
das nicht zerreißt, an dem die ganze Kirche hängt und von dem sie getragen wird.”
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Wenn der KKK auf das apostolische Glaubensbekenntnis als Strukturprinzip zurückgreift
und namhafteste Theologen unseres Jahrhunderts das Apostolicum interpretieren16, dann
nicht nur deshalb, weil dieses Bekenntnis durch die Tradition ehrwürdig geheiligt wurde,
sondern auch, weil seine trinitarische Gliederung dem dogmatischen Gedanken als sol-
chem entspricht. Unser theologisches Denken ist durch und durch „trinitarisch“, wie die
folgenden Begriffsternare zeigen:
Vater — Sohn — Geist
AT — NT — Kirche
Schöpfung — Erlösung — Vollendung
Religion — Offenbarung — Glaube
Verborgenheit — Enthüllung— Schau Gottes
Tugend — Gnade — Heiligung
Bevor wir aber auf diese eigentlichen Glaubensinhalte eingehen, gilt es im ersten Haupt-
teil etwas anderes abzuklären und zu hinterfragen.
Das 1. Wort des Symbolums lautet bezeichnenderweise: Credo - Ich glaube! Das erste,
das hier ins Spiel gebracht wird, ist der Mensch, ist das Ich des Menschen. Dieses Ich
kann dort, wo es um Gott geht, nicht außer acht gelassen werden: Ist der Mensch über-
haupt fähig, Gott zu erkennen? Was führt ihn dazu, nach „Gott“ zu suchen? Wer ist der
Mensch, dass er zu sagen wagt, er glaubt an Gott? Ist dieser Glaube nicht nur Einbildung
und Phantasie; ist es nicht nur ein Wunschbild, dem ein innerer Instinkt des Menschen
nachjagt? Das sind die Fragen, die uns zuerst beschäftigen müssen, bevor wir über das
eigentliche Heilsmysterium sprechen. Wir müssen die Frage nach dem Menschen stellen,
damit wir die Antwort Gottes auf diese Frage überhaupt in ihrer Klarheit und Schönheit
hören können.

16 J. RATZINGER, Einführung in das Christentum. Vorlesungen über das Apostolische


Glaubensbekenntnis, München 1968 u. ö.; F. W. KANTZENBACH, Credo. Das Apostoli-
kum und christlicher Glaube heute, München 1985; K. BARTH, Dogmatik im Grundriß im
Anschluß an das Apostolische Glaubensbekenntnis, Berlin 1948 (Zürich 1947 u. ö.); W.
PANNENBERG, Das Glaubensbekenntnis ausgelegt und verantwortet vor den Fragen der
Gegenwart, Hamburg 1972 u. ö.; H. U. V. BALTHASAR, Credo. Meditationen zum Apos-
tolischen Glaubensbekenntnis. Einführung von Medard Kehl SJ, Freibrug-Basel-Wien
1989; H. DE. LUBAC, Credo. Gestalt und Lebendigkeit unseres Glaubensbekenntnisses,
Einsiedeln 1975;
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§ 2. „ Ich glaube“:
Das religiöse Subjekt und der Akt des Glaubens

1. Der Mensch auf der Suche nach Gott

A. Die Endlichkeitserfahrung als Ausgangspunkt der Suche nach Gott

Der Mensch, um den es hier geht, ist noch nicht der Mensch, der sagen kann: Ich glaube.
Es geht hier zunächst einmal um den Menschen als solchen, um den „natürlichen Men-
schen“, der noch nichts von Gott gehört hat, der noch nicht auf diese oder jene religiöse
Lehre gestoßen ist. Dieser natürliche Mensch ist seinem Wesen nach dadurch von allen
anderen Lebewesen unterschieden, dass er zu geistiger Erkenntnis befähigt ist. Sein
Menschsein liegt in dieser seiner Geistigkeit begründet.
Diese geistige Erkenntnisfähigkeit des Menschen ermöglicht ihm zwar - tiefer als jedes
andere Wesen - die Schönheit des Daseins, der Welt, die Liebenswürdigkeit der Mitmen-
schen usw. zu erkennen; sie ermöglicht ihm die positive Erfahrung der Geborgenheit im
Sein dieser Welt. Zugleich aber liegt im Selbsterkennen des Menschen immer auch die
Erfahrung der Endlichkeit und der Begrenztheit. In der Philosophie des 20. Jahrhunderts
wurde diese Endlichkeitserfahrung zu einem bestimmenden Thema, ja für einige sogar
zum Ausgangspunkt ihres Denkens: Nietzsche, Existenzphilosophie…
Die Pastoralkonstitution des 2. Vatikanischen Konzil, welche ja die Kirche mit dem
„natürlichen Menschen“, dem noch-nicht-glaubenden Menschen in Dialog bringen woll-
te, hat über die merkwürdig zwiespältige Daseinserfahrung des modernen Menschen re-
flektiert und dies so zum Ausdruck gebracht. Zuerst wird geschildert, wie die neuzeitli-
chen Entdeckungen und Entwicklungen dem Menschen aus den Händen zu gleiten dro-
hen (GS 9). Dann:
In Wahrheit hängen die Störungen des Gleichgewichts, an denen die moderne Welt
leidet, mit jener tiefer liegenden Störung des Gleichgewichts zusammen, die im Her-
zen des Menschen ihren Ursprung hat. Denn im Menschen selbst sind viele wider-
sprüchliche Elemente gegeben (in ipso enim homine plura elementa sibi invicem
oppugnant). Einerseits erfährt er sich nämlich als Geschöpf vielfältig begrenzt, ande-
rerseits empfindet er sich in seinem Verlangen unbegrenzt und berufen zu einem Le-
ben höherer Ordnung. Zwischen vielen Möglichkeiten, die ihn anrufen, muss er dau-
ernd unweigerlich eine Wahl treffen und so auf dieses oder jenes verzichten. Als
schwacher Mensch und Sünder tut er oft das, was er nicht will, und was er tun wollte,
tut er nicht (vgl. Röm 7,14ff.). So leidet er an einer inneren Zwiespältigkeit, und dar-
aus entstehen viele und schwere Zerwürfnisse auch in der Gesellschaft. Freilich wer-
den viele durch eine praktisch materialistische Lebensführung von einer klaren Erfas-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 13 -

sung dieses dramatischen Zustandes abgelenkt oder vermögen unter dem Druck ihrer
Verelendung sich nicht mit ihm zu beschäftigen. Viele glauben, in einer der vielen
Weltdeutungen ihren Frieden zu finden. Andere wieder erwarten vom bloßen
menschlichen Bemühen die wahre und volle Befreiung der Menschheit und sind da-
von überzeugt, dass die künftige Herrschaft des Menschen über die Erde alle Wün-
sche des Herzens erfüllen wird. Andere wieder preisen, am Sinn des Lebens verzwei-
felnd, den Mut derer, die in der Überzeugung von der absoluten Bedeutungslosigkeit
der menschlichen Existenz versuchen, ihr nun die ganze Bedeutung ausschließlich
aus autonomer Verfügung des Subjekts zu geben. Dennoch wächst angesichts der
modernen Weltentwicklung die Zahl derer, die die Grundfragen stellen oder mit neu-
er Schärfe spüren: Was ist der Mensch? Was ist der Sinn des Schmerzes, des Bösen,
des Todes — alles Dinge, die trotz solchen Fortschritts noch immer weiterbestehen?
Wozu diese Siege, wenn sie so teuer erkauft werden mussten? Was kann der Mensch
der Gesellschaft geben, was von ihr erwarten? Was kommt nach diesem irdischen
Leben17
Die Urerfahrung des Menschen ist also die der Zwiespältigkeit: einerseits diese Sehn-
sucht, dieses Ausgreifen nach immer Größerem (gerade auch im neuzeitlichen Fort-
schritt), andrerseits aber die beständige Bedrohung durch Krankheit, Tod usw. Der
Mensch erfährt sich zugleich unbegrenzt und begrenzt, zugleich unendlich und endlich,
angelegt auf Unsterblichkeit und doch nur allzu gebrechlich und sterblich. Diese Erfah-
rung macht den Menschen zu dem „existierenden Fragezeichen schlechthin“18. „Daher
fragt er nach sich selber!“19
Dieses Fragen nach sich selbst ist der Beginn der Suche nach dem Grund des Daseins.
Der letzte Grund des Daseins aber ist Gott. Deshalb beginnt der natürliche Mensch, der
sich seiner inneren Zwiespältigkeit und damit der Frage nach sich selbst stellt (Wer bin
ich? Wozu lebe ich? Woher komme ich? usw.), bereits, nach Gott zu suchen. Das bedeu-
tet aber noch nicht, dass er auch wirklich zur Erkenntnis Gottes durchdringt. Drei Mög-
lichkeiten gibt es, wie er sich dieser Erkenntnis verweigern kann.

17 2. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 10: DH 4310. Dies ist übrigens der einzige Text
des 2. Vatikanums, den Hans Urs von Balthasar zu kommentieren für wert befand, da er als
einziger mit Realismus die sündige Verfaßtheit des Menschen zur Sprache bringt und nicht
von der naiven Aufbruchseuphorie der Sechzigerjahre geprägt ist. Vgl. Theodramatik 3,
403 und 446-449.
18 H. U. V. BALTHASAR, Pneuma und Institution, 13.
19 2. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 9: DH 4309. Dies ist die interpretatorische Ü-
bersetzung des lateinischen „Unde seipsum interrogat”.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 14 -

B. Mögliche Reaktionen auf die Endlichkeitserfahrungen

a. Verweigerung durch Selbstbetäubung


Der Mensch ist zwar ein geistiges Wesen, aber er kann sich bis zu einem gewissen Grad
dieser seiner Geistigkeit auch verweigern. Er kann die Fragen, die sich ihm von innen her
stellen, verdrängen und versuchen, sie durch die Befriedigung seiner leiblichen und psy-
chischen Bedürfnisse zum Verstummen zu bringen. Gemeint ist hier eine materialistische
Lebensorientierung, die lebt um zu leben und nicht nach dem Warum oder Wozu fragt.
Vgl. 1 Kor 15,32: Wenn keine Toten erweckt werden, wenn das Leben keinen höheren
Sinn hat, dann „lasst uns essen und trinken, denn morgen sind wir tot!“
Die Selbstbetäubung des fragenden Geistes erfolgt aber nicht nur durch auf der Ebene
irdischer Bedürfnisbefriedigung, sondern sie erfolgt oft auch auf pseudo-intellektueller
Ebene, indem man sich suggeriert, das Leben und Sterben sei nichts anderes als ein zufäl-
lig entstandener Prozess (Evolution), der seinen Zweck in sich hat. In den materialisti-
schen Lebenseinstellungen geht es um eine Abwehr der Frage nach dem Dasein und da-
mit nach Gott. Insgesamt handelt es sich um einen Irrweg, „da sich der Keim der Ewig-
keit, den der Mensch in sich trägt, nicht auf bloße Materie zurückführen lässt“20.
Zusammenfassung: Die erste mögliche negative Reaktion auf die Endlichkeitserfahrung
kann so formuliert werden: „Es ist sinnlos, die Frage nach einem letzten Grund zu stellen.
Der letzte Grund zu leben, ist zu leben.“

b. Gnostische Erkenntnis als „Durchschauen des Scheines“


Im Menschen gibt es eine Urerfahrung und damit auch eine Urfrage. Die zweite aporeti-
sche Lösung, die sich als Antwort anbietet ist das „Erkenne dich selbst“. Im Unterschied
zur ersten Lebenshaltung stellen sich die Menschen der aufdämmernden Urfrage. Sie
meinen die Antwort zu finden, indem sie nur tief genug in sich hineinhorchen, indem sie
„sich selbst erkennen“. Diese Selbsterkenntnis gilt ihnen dann auch schon als die ganze
Antwort. In der Antike stand über dem Eingang des Tempels zu Delphi eingemeißelt:
„Gnothi sauton“21. Dies sollte bedeuten, dass die Selbsterkenntnis den Weg in den Tem-
pel, den Weg zur Gottheit ebnet.
Aus der Antike wurde diese Selbsterkenntnis in verschiedenen Mysterienkulten zum o-
bersten Ziel des Daseins erhoben. Der Myste gewinnt durch bestimmte Rituale und Initia-
tionen einen Blick auf die göttliche Dimension seines Seins. Die Geschichte dieser Mys-

20 2. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 18: DH 4318.


21 Diese Selbsterkenntnis wird von Juvenal als göttlicher Weg geschildert: „E caelo descendit
Gnothi sauton”. JUVENAL XI, 27; vgl. H. U. V. BALTHASAR, Pneuma und Institution,
14.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 15 -

terienkulte ist insofern interessant, da sie heute in der nachchristlichen Gesellschaft wie-
der an Aktualität gewinnen. Den antiken Mysterien ist sind die östlichen „Religionen“
ähnlich, in denen es auch um Selbstversenkung und Selbstdurchdringung geht, den göttli-
chen Funken in sich aufzuspüren und dort im Inneren eins zu werden mit dem Ganzen.
Bemerkenswert ist für diese Weltanschauung auch, dass es durchaus Askese und Selbst-
beherrschung gibt.
Warum beantwortet die Gnosis die Frage des Menschen nach dem Sinn des Daseins letzt-
lich nicht? Der Grund liegt darin, dass die Antwort nur im Erkennen und Durchschauen
seiner selbst gesucht wird. Bei den östlichen Meditations- und Versenkungstechniken
handelt es sich um eine Art suggestiver Selbstberuhigung angesichts der unbeantwortba-
ren Fragen. Dem meditativ in sich selbst Versenkten und Erleuchteten kümmert es nicht,
dass um ihn herum die Menschen verhungern, all das durchschaut er als „Schein“ um
ganz in seiner Erkenntnis in einer vorgetäuschten Glückseligkeit in sich zu weilen. Es ist
evident, dass der Mensch durch bloße Meditation und Selbstversenkung nicht wirklich
erlösen kann.
Zusammenfassung: Die zweite mögliche negative Reaktion auf die Endlichkeitserfahrung
kann so formuliert werden: „Erkenne dich selbst, ziehe dich in deine innere Geistigkeit
zurück. Du trägst den letzten Grund des Seins in dir selbst. Erkenne ihn und lass dich da-
bei von den Fragen dieser Welt nicht beunruhigen. Das Fragen selbst wird hier zur Ant-
wort, die endliche Geistigkeit zur scheinbaren Göttlichkeit, der Weg zum Ziel.“

c. Der Kampf wider die Antwort


Mit der Frage des Menschen nach dem Sinn seines Daseins und mit der Erfahrung seiner
Endlichkeit drängt sich ihm bereits ein Gefühl, eine Vorahnung, ein Ausgriff auf Unend-
lichkeit auf: Er fühlt sich darin schon unendlich, dass er überhaupt die Frage nach einem
letzten Sinn und Grund zu stellen vermag. Es dämmert dem natürlichen Menschen darin
schon die große Ahnung von einem unendlichen Gott. Es gibt nun in der Geschichte der
Philosophie und der Menschheit immer wieder Geister, die so reagieren, dass sie sich aus
dieser Tragik heraus gleichsam in den Kampf gegen die aufdrängende Antwort werfen,
also in den Kampf gegen das Urgefühl, dass es Gott gibt. Diese Haltung umgibt sich mit
dem Flair des tragischen Heldenmutes und des Weltschmerzes: Man spürt förmlich den
inneren Kampf gegen dies innere Gefühl, dass es Gott gibt und das Leben deshalb einen
letzten Sinn hat.
Nietsche, die Gestalt des Faust in Goethe („Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt
der Glaube“), die Existentialisten Sartre, Camus und Amery usw. verdeutlichen die hier
gemeinte Position. Ihr Kampf ist nicht nur ein Kampf gegen die Gotteserkenntnis, son-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 16 -

dern auch der Kampf gegen sich selbst22. Sie wollen nicht, dass es mehr gibt als die zer-
klüftete Existenz.
Zusammenfassung: Die dritte mögliche Reaktion auf die Endlichkeitserfahrung können
so formuliert werden: „Verachte dein Herz, das Dir zuflüstert: ‘Es gibt Größeres als diese
Welt!’ oder ‘Es gibt einen Gott!’ und bekämpfe in dir die Antwort, die sich dir auf-
drängt.“
Satz 2: Der Mensch kann in dreifacher Weise die Erfahrung der Endlichkeit
zu bewältigen versuchen: durch materialistische Selbstbetäubung,
durch gnostische Selbstberuhigung oder durch eine Haltung des Pro-
testes.

C. Die Offenheit des Menschen auf Gott


Wir sind von der Endlichkeitserfahrung ausgegangen. Der Mensch erfährt sich selbst
endlich und zugleich erfährt er darin die Unendlichkeit eines „Horizontes“ (Rahner), auf
den hin er lebt. In der Endlichkeitserfahrung und in den vielen Fragen nach sich selbst,
die sich dem Geistwesen Menschen stellen, liegt bei näherer Betrachtung ein doppeltes
Vorwissen begründet.
1. Zum einen weiß der Mensch gleichsam instinktiv, dass alle Antworten, die er selbst
sich geben wird, das Letzte nicht treffen werden, dass alles, womit er sich selbst antwor-
tet, letztlich unbefriedigend bleiben muss.
2. Zum anderen ahnt er sogar schon, dass der „Horizont“ selbst ihm die Antwort geben
könnte. (Eine Vorahnung oder Vorhoffnung auf die Selbstoffenbarung Gottes.)
Dieses Vorwissen oder Ahnen bewirkt eine innere Offenheit des Menschen; es formt aus
dem Menschen die Gestalt des beständigen Lauschers, der seine Ohren - mitten im Lärm
der Welt - ja doch gierig aufsperrt, um nur ja von irgendwoher die Antwort auf das Rät-
sel, die Antwort auf sich selbst, zu vernehmen. Um diese Offenheit des Menschen, letzt-
lich die Offenheit des Menschen auf Gott, soll es nun gehen.

a. Der Mensch als „Hörer des Wortes“ oder die „Transzendentalität“


Karl Rahner († 1984) hat wie kein anderer neuzeitlicher Theologe die Ausrichtung des
natürlichen Menschen auf Gott („Horizont“) betont. Hier ist immer noch die Rede vom
natürlichen Menschen, also vom Menschen, der noch nicht im Raum der Offenbarung

22 Jean Amery, eigentlich Johann Mayer, geboren 1912, † 1978 in Salzburg durch Selbstmord
gemäß seinem Buch „Hand an sich legen”.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 17 -

steht. In seiner Dissertation 1941 unter dem Titel „Hörer des Wortes“23 stellt er die
Grundfrage: Ist der Mensch wirklich von Natur aus offen für Gott und damit für eine
mögliche göttliche Offenbarung? Wieso stellt Rahner als Theologe solche Fragen, ist das
nicht eine rein philosophische Fragestellung? Nein. Rahner reflektiert hier sehr bewußt
als Theologe. Er fragt nach den Bedingungen, die auf seiten des Menschen, also in seiner
Geistigkeit vorhanden sein müssen, damit Offenbarung von Gott her überhaupt „ankom-
men“ kann: Wie hat Gott den Menschen angelegt, damit sein Wort, wenn er es spricht,
nicht auf taube Ohren stößt.
Die Antwort Rahners: Die Offenheit des natürlichen Menschen auf Gott hin ist so grund-
legend, dass eben diese Offenheit das Menschsein des Menschen ausmacht. Das Wesen
des Menschen ist es, auf Gott hin zu lauschen:
„Nur wer so hört, ist das, was er eigentlich zu sein hat: Mensch.“24 Und: „Der
Mensch ist das Seiende von hinnehmender Geistigkeit, das in Freiheit vor dem freien
Gott einer möglichen Offenbarung steht, die, wenn sie kommt, in seiner Geschichte
im Wort sich ereignet.“25
Rahner prägt für diese konstitutive Offenheit des Menschen die Begriffe „existential“ und
„transzendental“, die von den ähnlich klingenden Begriffen „existentiell“ und „transzen-
dent“ präzise zu unterscheiden sind:
„Existenz“: die konkrete Art, wie ein Mensch sein Menschsein realisiert, wie er aus dem
allgemeinen Sein herausragt (ex-sistere = herausragen).
„existentiell“: was die Existenz des Menschen bestimmt, was auf den Menschen zu-
kommt; z. B. die Redeweise: „ein existentielles Problem haben“
„existential“: was zur Bestimmung des Menschen geworden ist; was seine Existenz jetzt
durchformt und ausmacht
„Existential“: die Bestimmtheit der Existenz
Existentiell oder existential? Die Endung -tial deutet darauf hin, dass etwas zur Eigen-
schaft, zur Bestimmtheit geworden ist. Dazu muss es aber jemanden geben, der bestimmt.
Wenn Rahner vom „Existential“ im Menschen spricht, so meint er damit zugleich, dass
Gott dieses Existential angelegt hat.
„transzendent“: die Endlichkeit übersteigend (trans-cedere = übersteigen); transzendent
bezeichnet die grundlegende Eigenschaft Gottes

23 Vgl. H. FRIES, in: MySal 1,794-795


24 K. RAHNER, Hörer des Wortes, München 1941, 203
25 K. RAHNER, Hörer des Wortes, München 1941, 209
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 18 -

„Transzendenz“: die Weltjenseitigkeit Gottes


„transzendieren“: Tätigkeit des Menschen, der versucht, in die Sphäre Gottes hinauszu-
dringen
„transzendental“: die Weltjenseitigkeit Gottes ist zur Bestimmtheit des Menschen ge-
worden; transzendental bezeichnet die grundlegende Eigenschaft des Menschen
„Transzendentalität“: die Ausrichtung des Menschen auf Gott, die ihm zuvor schon
von Gott her bestimmt ist
Transzendent oder transzendental? Die Unterscheidung dieser beiden Begriffe ist leich-
ter, da es sich bei ersterem um eine Eigenschaft Gottes, bei letzterem um eine Eigen-
schaft des Menschen handelt. Freilich ist bei Rahner dabei mitgesagt, dass Gott es ist, der
dem Menschen diese Ausrichtung auf IHN hin schenkt. Statt Transzendentalität kann
Rahner auch vom „übernatürlichen Existential“ sprechen. Er meint damit, dass schon das
Existieren des Menschen als Geistwesen von Gottes Selbsthingabe in Jesus Christus er-
möglicht ist26, Die eigentlich theologische Grundthese Rahners lautet: Die Selbstmittei-
lung Gottes, wie sie in Jesus Christus offenbar wird, macht den Menschen erst zum Men-
schen. Alles wahrhaft Menschliche ist deshalb auch wahrhaft christlich.
Satz 3: Die Offenheit des Menschen auf Gott hin nennt Rahner die „Transzen-
dentalität“. Sie ist nach Rahner das, was den Menschen erst zum Men-
schen macht.

b. Das „desiderium naturale“


Nach Karl Rahner ist der Mensch von Natur aus „Hörer des Wortes“, seine Existenz ist
hingeordnet auf die Erkenntnis Gottes und findet nur darin ihre letzte Erfüllung. Dieses
Phänomen, das Rahner in Anlehnung an Kant und die Existenzphilosophie des 20. Jahr-
hunderts „Transzendentalität“ genannt hat, war in der Theologie schon lange vorher unter
anderem Namen abgehandelt worden. Thomas von Aquin (†1274) spricht davon, dass in
jedem Menschen ein naturhaftes Verlangen lebt, Gott unmittelbar zu schauen. Er nennt es
das „desiderium naturale videndi Deum“27, die natürliche Sehnsucht nach der Gottes-
schau. Zwei Eigenschaften an diesem desiderium sind den Theologen wichtig:

26 vgl. dazu K. RAHNER, Schriften zur Theologie 14, 48-62; der berühmte „Grundkurs des
Glaubens”, an dessen Beiträgen Rahner seit 1964 arbeitete und der 1976 erschien ist das
Handbuch für die Theologie Rahners. Der „harmlose” Titel stammt vom Verlag, der Unter-
titel von Rahner: „Einführung in den Begriff des Christentums”. Es geht hier also um den
Begriff des Christentums. Vgl. H. Vorgrimler, Karl Rahner verstehen. Eine Einführung in
sein Leben und Denken, Freiburg-Basel-Wien 1985
27 Vgl. J. ALFARO, Art. Desiderium naturale, in: LThK 3,248-250
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 19 -

1. Erstens die Naturhaftigkeit: Es handelt es sich um ein desiderium naturale, d. h. es


gehört zur Grundausstattung des Menschen von der Schöpfung her; es ist deshalb eine
konstitutive Eigenschaft eines jeden Menschen und nicht etwa erst eines von Gott in be-
sonderer Weise ergriffenen Gläubigen. In der Geschichte der Theologie hat es jedoch
gerade über diesen Aspekt heftige Streitigkeiten gegeben28.
2. Zweitens die Ungeschuldetheit. Es muss klargestellt sein, dass auch dann, wenn Gott
die Sehnsucht, die er als Schöpfer in den Menschen hineingelegt hat, als Erlöser nicht
erfüllen würde, die Existenz des Menschen trotzdem nicht sinnlos wäre. (Gott versagt als
Schöpfer nicht, auch wenn er als Erlöser nicht tätig wäre.) D. h. aber konkret, dass das
„desiderium naturale“ schon etwas in sich Positives ist, auch wo es nicht auf Christus als
letzte Erfüllung trifft. Wichtig ist den Theologen die Ungeschuldetheit. Dass Gott den
Menschen auf sich hin ausrichtet, besagt nicht, dass er jetzt gleichsam gezwungen ist,
Mensch zu werden, um so die Sehnsucht des Menschen zu erfüllen. Der Schöpfer zwingt
sich nicht, Erlöser zu werden. Gott hätte - trotz des von ihm geschaffenen desiderium
naturale - auch ein schweigender Gott bleiben können29
Insgesamt hat das Christentum ein positives Menschenbild: Der Mensch ist von sich aus
offen für das Gute, das Schöne, offen für Gott. In seinem regen Geist lebt eine existentia-
le Sehnsucht nach Gott, wie die berühmte Formulierung von Augustinus sagt:
„Du hast uns auf dich hin geschaffen, und ruhelos ist unser Herz, bis es ruht in Dir!
(…inquietum est cor nostrum, donec requiescat in Te!)“30
Dieses naturhafte Streben nach Gott hat Karl Rahner gemeint, wenn er von „anonymen
Christentum“ spricht; Stoeckle nennt es „vorchristliches Christentum“31. Wo diese grund-
legende Offenheit für Gott so gehandhabt wird, dass der Mensch dann sich selbst die
Antwort gibt, dort entsteht das, was wir im theologischen Sinn „Religion“ nennen.
Satz 4: Es gibt im Menschen eine naturhafte Religiosität in Form einer Sehn-
suchtsdynamik hin auf Gott. Diese nennt Thomas „desiderium natura-
le“.

28 Cajetan etwa lehnt die Naturhaftigkeit des desiderium ab. Auch für Rahner ist ja die Trans-
zendentalität schon eine „übernatürliche” Sache, weil sie von der Selbsthingabe Gottes in
Christus Jesus ermöglicht ist.
29 H. FRIES, in: MySal 1,167
30 AUGUSTINUS, Confessiones 1,1,1.
31 B. STOECKLE, in: MySal 2,1047
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 20 -

2. Die Religionen und das Christentum

A. Das Wesen von Religion

a. Etymologie des Wortes Religion


Es gibt also eine grundsätzliche Offenheit des Menschen, es gibt das, was Thomas von
Aquin „desiderium naturale“, was Karl Rahner „Transzendentalität“ nennt als anthropo-
logische Ureigenheit. Hierin liegt das Wesen von „Religion“ begründet. Der Begriff Re-
ligion ist hier theologisch genau zu bestimmen, da er im herkömmlichen Sprachgebrauch
ganz allgemein für alle jene Weltdeutungen verwendet wird, die etwas mit Gott oder dem
Göttlichen zu tun haben. So spricht man auch von der „christlichen Religion“ oder der
„katholischen Religion“; katholischen Schülern wird der „Religionsunterricht“ erteilt.
„Religion“ scheint ein Überbegriff zu sein, der für alle und jede Weltanschauung gilt. Die
Frage ist aber, ob der Begriff Religion so einfachhin auch als Bezeichnung für das Chris-
tentum verwendet werden kann? Ist Christentum nur eine Religion unter anderen? Was
ist - theologisch gesehen - das Wesen von Religion? Von seiner Etymologie her paßt der
Begriff zunächst tatsächlich auf alles und jedes, was mit Gott zu tun hat.
Die ursprünglichste Bedeutung des lateinischen Begriffes „religio“ liegt im Dunkeln.
Thomas von Aquin unterscheidet im Anschluß an Augustinus drei Bedeutungen, die alle
zusammen dem Begriff seine Bedeutung geben32:
1. Von „re-legere“, „durchgehen“. Cicero interpretiert „religio“ in dieser Weise als
„Durchmachen“ bestimmter kultischer Verpflichtungen33. Gottesverehrung ist bei den
Römern weniger eine Sache des Herzens, sondern die gesellschaftliche Beobachtung ge-
wisser kultischer Pflichten gegenüber den Göttern. Nach Walter Brugger ist diese Ausle-
gung jene, die der ursprünglichen Bedeutung von religio am nächsten kommt.
2. Von „re-eligere“, „immer wieder wählen“. Augustinus berichtet diese Interpretation34.
Gemeint ist, dass durch die Religion der Mensch sich seinen ursprünglichen Zustand
wiederherstellen möchte. „Religio“ wird also als die Wiederherstellung einer ursprüng-
lich vorhandenen Einheit mit Gott.

32 THOMAS VON AQUIN, Summa theologica II-II, q. 81, a. 1, resp. dic. Vgl. Vgl. W.
Brugger (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Freiburg-Basel-Wien, 11. Auflage, 1964,
263ff.
33 Cicero, De natura deorum 2, 28, 72.
34 AUGUSTINUS, De Civitate Dei 10, 4: „Wir müssen uns wieder für Gott entscheiden, den
wir durch Vernachlässigung verloren haben”
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 21 -

3. Von „re-ligare“, „zurückbinden“. Diese Interpretation gefällt Augustinus am besten35,


besagt sie doch das Gebundensein des Menschen an Gott bzw. die Rückbindung sogar
des Sünders an Gott36. Die Kirchenschriftsteller Laktanz, Ambrosius, Hieronymus ver-
wenden „religio“ ebenfalls in dieser Bedeutung. Deshalb werden auch im heutigen kirch-
lichen Sprachgebrauch die Ordensleute als „Religiosen“ bezeichnet: „religiosi“ sind jene,
die sich durch Gelübde an Gott gebunden haben. Thomas von Aquin dazu: „Obwohl alle,
die Gott verehren, gemeinhin ‘religiosi’ genannt werden können, so werden doch jene in
besonderer Weise ‘religiosi’ genannt, die ihr ganzes Leben dem göttlichen Dienst weihen
und sich von weltlichen Dingen fernhalten.“37
Im Zusammenhang mit dieser Wortklärung definiert Thomas von Aquin Religion als
„Tugend, durch welche die Menschen Gott den geschuldeten Kult und die Ehre erwei-
sen.“38

b. Eine extreme Position: „Religion“ nach Karl Barth


Im 20. Jahrhundert hat sich der Schweizer reformierte Theologe Karl Barth († 1968) des
Themas Religion besonders angenommen. Für ihn besteht ein absoluter Unterschied, ja
Gegensatz zwischen „Religion“ und Christentum. Religion ist die Suche des Menschen
nach Gott. In der Religion greift die natürliche Sehnsucht hinaus in den Raum der Unend-
lichkeit und möchte sich über diesen Raum ein Bild machen. Religion ist also der Ver-
such des endlichen Geistes, in den verborgenen Bereich Gottes vorzudringen: die Bewe-
gung des „hinaus“. Hingegen handelt es sich beim Christentum um die genau umgekehrte
Bewegung: Gott dringt in diese Welt ein, Er sucht den Menschen, Er offenbart sich ihm.
Der Christ ist nicht ein Suchender, sondern ein Gesuchter. Nach Barth ist das Christen-
tum keine „Religion“, denn es gilt: Hier Offenbarung Gottes, da Religion!39
Bis hierher haben die Überlegungen Barths einen Wahrheitsgehalt, der mit der katholi-
schen Auffassung übereinstimmt. Eine Analyse der Struktur von nichtchristlicher Religi-
osität zeigt, dass sie sich grundsätzlich von christlicher Religiosität unterscheidet. Doch
Barth geht einen Schritt weiter: Wenn sich Gott allein in Christus offenbart, dann sind
alle religiösen Versuche, Gott anderswie oder anderswo zu finden, sündhaft40. Alle Reli-

35 AUGUSTINUS, De vera religione 55, 111, 307: „Religat nos religio uni omnipotenti
Deo.” Retractationes 1, 12, 13.
36 AUGUSTINUS, De quantitate animæ 36, 80.
37 THOMAS VON AQUIN, Summa theologica II-II, qu. 81, a. 1, ad 5.
38 THOMAS VON AQUIN, Summa theologica II-II, qu. 81, a. 1, Conclusio
39 Vgl. z. B. RGG 5,981f.
40 Diese Konzentration auf Christus ist typisch für die protestantische Theologie: Luthers
„Christus solus” klingt hier durch. Was ist darunter zu verstehen? Nach lutherischer Auf-
fassung ist das Werk des Schöpfers durch die Sünde durch und durch verdorben, d. h. im
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 22 -

gionen stehen deshalb unter dem Gesetz der Sünde, sie wollen selbstherrlich von sich aus
das Geheimnis Gottes lüften; sie sind diabolischer Hochmut, die Epiphanie des „Eritis
sicut Deus!“41
Wir fassen zusammen:
Satz 5: „Religion“ bezeichnet im nichtchristlichen Sinn die Bewegung „hin-
aus“, Offenbarung die Bewegung „hinein“.
Religion ist „Mensch zu Gott“, Offenbarung ist „Gott zum Menschen“.
Deshalb ist Christentum nicht einfachhin eine Religion unter anderen.

Nach Karl Barth offenbart sich Gott allein in Christus, Religion ist deshalb grundsätzlich
widerchristlich und sündhaft. Das ist aber nicht die katholische Auffassung.

c. Die katholische Auffassung von „Religion“ ist positive Hinordnung auf Gott
Zur Erinnerung: Der Mensch ist das einzige Wesen mit der Fähigkeit zur Selbstreflekti-
on. Mittels seines Geistes kann der Mensch über sich selbst nachdenken und die Frage
nach dem Sinn des Daseins überhaupt stellen. Während das Tier über seine Taten und das
Woher und Wohin seines Daseins nicht nachdenken kann, drängt sich dem menschlichen
Geist die Frage nach dem Warum auf. Diese geistige Sensibilität kann zwar durch die
vordergründige Befriedigung der materiellen Wünsche verdrängt, aber in keinem Men-
schen je ganz getilgt werden42. Jeder Mensch ist offen auf eine Wahrheit, die ihm die
Antwort auf die Fragen seines Geistes gibt, er ist „Hörer des Wortes“.
Das Geistwesen Mensch sucht also gleichsam „instinktiv“ nach dem Letzten, nach dem
Wahren. Der Mensch ist somit von Natur aus, also vom Schöpfer her, als ein religiöses
Wesen geschaffen. Er ist durch und durch ein „ens religiosum“, sogar dann wenn er gar
nicht ausdrücklich nach Gott sucht. Religion kann mit Thomas von Aquin († 1274) am
kürzesten definiert werden als „ordo hominis ad deum“, eine Hinordnung des Menschen
auf das Göttliche. Diese Hinordnung ist zunächst etwas unendlich Positives, ein Ge-
schenk des Schöpfers an sein Geschöpf. Die naturhafte Religiosität gleicht den Ohren,
die Gott dem Menschen schenkt, damit er Sein Wort hören kann. So ist Religion also et-
was Positives, da sie Zeugnis ablegt von der Güte des Schöpfers, der dem Menschen die
Fähigkeit gibt, ihn zu suchen:

natürlichen Menschen ist nichts Gutes mehr; folglich ist und bleibt alles, was er tut, Sünde.
Nur das Werk Christi bringt Positives. Da Religion also das Werk des natürlichen Men-
schen ist, die Suche des Menschen nach Got_, ist sie Sünde.
41 K. BARTH, Der Römerbrief, 251; vgl. Kirchliche Dogmatik I/2, 344-356 („Religion als
Unglaube”)
42 Vgl. oben die Ausführungen zu Gaudium et Spes 10.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 23 -

„Die Menschen erwarten von den verschiedenen Religionen Antwort auf die ungelös-
ten Rätsel des menschlichen Daseins, die heute wie je die Herzen der Menschen im
tiefsten bewegen: Was ist der Mensch? Was ist Sinn und Ziel unseres Lebens? Was
ist das Gute, was die Sünde? Woher kommt das Leid, und welchen Sinn hat es? Was
ist der Weg zum wahren Glück? Was ist der Tod, das Gericht und die Vergeltung
nach dem Tode? Und schließlich: Was ist jenes letzte und unsagbare Geheimnis unse-
rer Existenz, aus dem wir kommen und wohin wir gehen?“43
Sind die anderen Religionen deshalb für uns nur etwas Positives? Nein. So sehr die Got-
tessehnsucht und Gottesverehrung grundsätzlich positiv ist44, und sosehr die Religiosität
an sich Zeugnis ablegt von der Güte des Schöpfergottes, sosehr sind die konkreten Reli-
gionen doch auch Zeugnis für die Schwäche des Menschen. Problematisch ist es, wenn
der Mensch aus seiner Religiosität eine Religion macht, indem er sich selbst ein Bild von
Gott machen, dass sie das eigentliche Wort Gottes nicht hören und sich selbst eine Musik
produzieren, die sie in ihren Lebensfragen beruhigt.
Satz 6: Nach katholischer Auffassung ist Religiosität (ordo hominis ad deum)
etwas Positives, da sie Zeugnis gibt für die Güte des Schöpfergottes, der
die Natur des Menschen auf sich selbst hingeordnet hat.

B. Das Christentum und die Religionen

a. Das Wesen der nichtchristlichen Religion und die Religionskritik Feuerbachs


Wir vergleichen jetzt Christentum mit der Struktur der anderen konkreten Religionen.
Frage: Wie entstehen konkrete Religionen? Da es eine grundsätzlich Religiosität, Offen-
heit auf Gott gibt, kann es geschehen, dass sich der Mensch aufgrund seiner Lebenserfah-
rung, seines Nachdenkens über die Fragen des Lebens nicht nur eine „Weltanschauung“
bildet, sondern auch eine „Gottanschauung“. Was er über Gott denkt, wird formuliert,
geschildert, weitergegeben. Aus der privaten „Gottanschauung“ eines einzelnen wird die
Religion einer Sippe, einer Gruppe usw. Die Stifter der großen Religionen wie etwa
Siddhartha Gautama Buddha oder Muhammad, sind durchaus Menschen mit einer beson-
deren Offenheit für die letzten Lebensfragen nach dem Sinn des Daseins. Als religiösen
Menschen verstehen sie ihre Vorstellungen über das Göttlichen anderen mitzuteilen.
Kommen zu der von der Gruppe akzeptierten Gottanschauung des Stifters noch heiligen
Schriften, Ritualen, Traditionen und Kulte hinzu, so ist aus der Gotteserfahrung des ein-
zelnen eine Religion erwachsen.

43 2. Vatikanisches Konzil, Declaratio „Nostra aetate” 1: DH 4195. Vgl. KKK 2566: „Alle
Religionen zeugen von diesem Suchen, das dem Wesen des Menschen entspricht.”
44 THOMAS VON AQUIN, Summa theologica II-II, qu. 81, a. 1: Religio est virtus per quam
homines Deo debitum cultum et reverentiam exhibent.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 24 -

Die grundsätzliche Frage lautet aber: Ist der Mensch berechtigt, soweit zu gehen? Ist er
überhaupt fähig, von sich aus Gott zu erkennen, Gott zu erfahren, das Geheimnis Gottes
zu enträtseln? Die biblische Offenbarungsreligion widerspricht hier eindeutig! Wo der
Mensch versucht, sich „aus eigenem“ (de suo) ein Bild von Gott zu machen, entsteht ein
„Götzenbild“ (Idol).
Ludwig Feuerbach (1804-1872) hat hier in gewissem Maße mit seiner Religionskritik
recht. Religion entsteht nach seiner Auffassung aus dem Wunschdenken, dem Sehn-
suchtsstreben des Menschen nach Unendlichkeit. Für Feuerbach gilt. Eines seiner
Hauptwerke trägt auch den bezeichnenden Titel: „Vom Wesen der Religion“, ein anderes
heißt „Vom Wesen des Christentums“. Was ist also nach Feuerbach das Wesen der Reli-
gion? Nicht Gott hat den Menschen geschaffen, sondern der Mensch hat sich seinen Gott
geschaffen. Gott ist eine Projektion des menschlichen Selbstbewußtseins. Der Mensch
projiziert das, was er selbst in sich ist, nach außen und verehrt es als seinen Gott. Dem-
nach gibt es keine Transzendenz, sondern diese ist nur die eingebildete und in ein schein-
bares Jenseits projizierte Immanenz. D. h. der Mensch möchte nicht sterben und macht
aus diesem Wunsch einen Gott, der unsterblich ist; der Mensch möchte nicht begrenzt
sein und macht daraus einen Gott, der unbegrenzt, unendlich ist usw.
„Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde.“45 Das absolute Wesen, der Gott der
Menschen, ist sein eigenes Wesen. Wie der Mensch denkt, wie er gesinnt ist, so ist
sein Gott. Das Bewußtsein Gottes ist das Selbstbewußtsein der Menschen, die Er-
kenntnis Gottes ist die Selbsterkenntnis des Menschen. Aus seinem Gott erkennst du
den Menschen, und wiederum aus dem Menschen seinen Gott.“46
Mit dieser Bestimmung von Religion hat Feuerbach in gewisser Weise recht. Der ewige,
unsichtbare, unnahbare und radikal transzendente Gott muss dem Menschen, die ihn in
ihrer Religiosität suchen ein letztlich verborgenes Geheimnis bleiben. Wo der Mensch
sich aus seiner Endlichkeit aufmacht, um von sich aus das Ewige zu erfassen, entsteht
notwendig eine „Projektion“ der Endlichkeit, die dann zwar „Gott“ (deus) genannt wird,
aber nicht „Gott“ (Deus) ist. Auch nach christlicher Auffassung kann der Mensch von
sich aus - wie es die Religionen tun - keine tragende Brücke der Erkenntnis zu Gott bau-
en. Wenn es eine Brücke zwischen Welt gibt, dann muss sie von der anderen Seite her
gebaut worden sein: von der Seite Gottes her. Gott muss sich schenken, um erkannt zu
werden. Nach dem Urteil des Alten Testamentes ist die „Verbildlichung“ des unendli-

45 L. FEUERBACH, Sämtliche Werke, hrsg. v. W. Bolin / F. Jodl, Bd. VI, 297


46 L. FEUERBACH, ebd. Bd. VI, 15
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 25 -

chen Gottes sündhaft, ist Idolatrie47. In der jüngeren Philosophie hat Ernst Bloch über
Religion gespottet als „Kontingenzbewältigung“.
Worin besteht also das Wesen der Religionen? Die Religionen sind immer die Versuche
der Menschen, von sich aus Brücken von der Endlichkeit in die Unendlichkeit, von der
Welt zu Gott hin zu bauen. Diese Versuche beinhalten zwar in verschiedenen Graden
„Wahres und Heiliges“48. Doch dies nur bruchstückhaft, denn der Mensch kann Gott
„von sich aus“ nicht im letzten erkennen. Und es wird so sein, dass dort, wo Gott sich
den Menschen in letzter und vollendeter Weise zeigt, nämlich in Jesus Christus, alle diese
religiösen Versuche ihrer Vorläufigkeit und Fragmentarität überführt werden. Dort zeigt
sich dann, dass die Weisheit Gottes weiser ist als die Weisheit dieser Welt (1 Kor 1). In
Jesus Christus gibt sich Gott selbst dem Menschen als der Weg, die Wahrheit und das
Leben (Joh 14,6), sodass die Menschen erst und nur in ihm „die Fülle des religiösen Le-
bens finden, in dem Gott alles mit sich versöhnt hat.“49
Satz 7: Das Wesen der nichtchristlichen Religion liegt darin, dass der endliche
Geist sich - von sich aus - ein Bild von Gott macht, das letztlich selbst
endlich sein muss. Alle religiösen Gottesbilder sind in gewisser Weise
„Projektionen“, was aber nicht ausschließt, dass sie auch „Wahres und
Heiliges“ enthalten.

b. Das Wesen der christlichen Religion


Das Wesen des Christentums besteht in der Erkenntnis, dass Gott selbst auf den Men-
schen zugeht50. Die Struktur der Religionen lag in dieser Bewegung vom Menschen hin
zu Gott: „ordo hominis ad deum“. Die Struktur des Christentums ist die umgekehrte Be-
wegung Gottes hin zum Menschen, also der „ordo Dei ad hominem“. Man kann von hier
aus verstehen, warum Karl Barth sich weigerte, das Christentum als „Religion“ zu be-
zeichnen.
Ein Einwand könnte aber lauten: Die Unterscheidung gelte nicht, da es doch auch das
Christentum eine Hinordnung, Hinbewegung auf Gott sei: In der christlichen Theologie

47 Idol = Abbild. Das sündhafte Moment der Religionen ist eine Folge der Erbsünde, die eine
natürliche vollkommene Gotteserkenntnis verhindert. Nach der Erbsünde gilt: Gott muss
sich offenbaren, um in seinem Wesen erkannt zu werden.
48 2. Vatikanisches Konzil, Nostra aetate 2: DH 4196. Je bescheidener sich die Erkenntnisfä-
higkeit des Menschen gibt, desto höher ist von christlicher Sicht diese Religiosität zu be-
werten. Z. B. in der Philosophie die demütige Erkenntnis des Sokrates: „Scio me nihil sci-
re!”; in den Religionen die Einsicht einiger östlicher Religionen, Gott nicht erkennen zu
können.
49 Ebd. 2. Vatikanisches Konzil, Nostra aetate 2: DH 4196.
50 Vgl. KKK 50-53.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 26 -

sucht doch auch der Mensch, Gott zu erkennen, und im christlichen Gebet, in der Medita-
tion usw. sucht er nach der Einheit mit Gott wie dies die Nichtchristen tun. Dagegen ist
zu antworten: Es trifft zu, dass auch der Christ auf dem Weg zu Gott ist, aber diesem sei-
nen „Hin-zu-Gott“ liegt etwas voraus und zugrunde: nämlich das „Hin-zum-Menschen“
Gottes, wie es die Offenbarung zeigt. Gott war immer schon vorher der, der uns gesucht
hat, bevor wir begonnen haben, ihn zu suchen. Die Theologie spricht hier von einem
„Prius“ der Offenbarung Gottes, um mit diesem Komparativ grammatikalisch auszudrü-
cken: Das Offenbaren Gottes ist „immer vorher“ als unser Suchen nach ihm51. Dieses
Prius nach den Formulierungen des Corpus Johanneum:
„Nicht darin besteht die Liebe, dass wir Gott geliebt haben (Mensch zu Gott), son-
dern dass er uns geliebt und seinen Sohn als Sühne für unsere Sünden gesandt hat
(Gott zum Menschen).“ (1 Joh 4,10f.)
„Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt.“ (Joh 15,16)
Zu diesem Prius kommt ein weiteres Moment: Das Streben der Religionen zu Gott ist
eine Form des „Aufstieges“, ein Hinaufgreifen in die Sphäre des Göttlichen. In allen Re-
ligionen wird ja auch als Ort Gottes das „Oben“, bzw. das „Außerhalb“ angegeben. Die
„Aszendenz“ gehört zum Wesen der Religion. Das Wesen des Christentums liegt nun
wieder in einer umgekehrten Bewegung, nämlich im Abstieg Gottes, in seiner „Deszen-
denz“. Gott, „der in unzugänglichem Licht wohnt“ (1 Tim 6,16) neigt sich in die End-
lichkeit hinab: In der Menschwerdung des Sohnes wird er sogar selbst ein „Teil“ dieser
Endlichkeit. Aus diesem Prius der Deszendenz Gottes ergeben sich drei grundlegende
Eigenschaften für das christliche Verhältnis von Gott und Welt:
1. Gott handelt initiativ: Die Initiative, der Impuls, eine letztgültige Verbindung zwischen
Endlichkeit und Unendlichkeit, Welt und Gott herzustellen, liegt auf der Seite Gottes.
Gott wird aktiv, um sich der Welt mitzuteilen. Gott gibt sich, weil es ihm selbst gefällt
und nicht weil der Mensch nach ihm verlangt52. In der Heilsgeschichte kommt dies so
zum Ausdruck, dass die Adressaten über die Offenbarung Gottes „erschrocken“ und
„verwundert“ sind, da sie von ihr gleichsam überrumpelt werden: z. B. Abraham: Gen
17; Moses: Ex 2; Samuel: 1 Sam 3; Zacharias: Lk 1,12; Maria: Lk 1,29 usw.
2. Gott handelt personal und partnerschaftlich: Gott geht auf den Menschen als ein perso-
nales, freies „Du“ zu. Wenn Gott in die Endlichkeit absteigt, dann hebt das die Freiheit

51 Karl BARTH spricht in seinem „Römerbrief” immer wieder davon, dass diese vorauslie-
gende Offenbarung Gottes „senkrecht von oben” in die Menschenwelt eingebrochen ist.
52 Vgl. 2. Vatikanisches Konzil, Dei Verbum 2: „Es hat Gott in seiner Güte und Weisheit
gefallen, sich selbst zu offenbaren und das Geheimnis seines Willens bekannt zu machen,
dass die Menschen durch Christus, das Fleisch gewordene Wort, im Heiligen Geist Zugang
zum Vater haben und der göttlichen Natur teilhaftig werden.”
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 27 -

nicht auf; Freiheit wird auch nicht von Gott bloß noch geduldet, sondern gerade die Frei-
heit ist Adressat der Offenbarung Gottes. Gott erhebt den freien Menschen zu seinem
Partner, schließt einen Bund mit ihm.
3. Gott handelt dialogisch: Der Abstieg Gottes zum Menschen ist keine Einbahnstraße.
Gerade dadurch, dass Gott sich dem Menschen gibt, eröffnet er dem Menschen einen
Weg zu Gott: Gott redet, damit der Mensch antwortet. Auf diese Weise entsteht ein
Wechselverhältnis zwischen offenbarendem Gott und antwortendem Menschen, ein Dia-
log.
Satz 8: Das Wesen des Christentums liegt im Prius des Handelns Gottes. Alle
christliche Religiosität ist (nur) Antwort auf das Zuvor des Sich-
Schenkens Gottes.

C. Christentum als Offenbarungsreligion

a. Der Begriff „Offenbarung“


Die Deszendenz Gottes, sein Sich-Zeigen in die Geschichte des Menschen hinein, wird
herkömmlich als „Offenbarung“ bezeichnet, Christentum ist demnach die Religion der
Selbstoffenbarung Gottes. Die griechischen bzw. lateinischen Bezeichnungen
(αποκαλυπτειν, αποκαλυψις, revelare, revelatio) bedeuten: „die Hülle, den Schleier
wegziehen“. Apokalypse ist demnach die „Enthüllung“. Der deutsche Terminus „Offen-
barung“ nimmt ein anderes Bild zu Hilfe: die „Bahre“, das „Aufbahren“. „Offenbaren“
meint, „etwas obenauf bahren“, sodass alle es sehen können.
Gott wohnt im „unzugänglichen Licht, so dass ihn kein Mensch je gesehen hat noch se-
hen kann“ (1 Tim 6,16). Offenbarung bedeutet nun, dass er den undurchdringlichen
Schleier zurückgezogen hat, sein Wesen enthüllt hat. Nach der Theologie der Evangelien,
vor allem des Johannes, geschieht diese letzte Enthüllung Gottes am Kreuz: wo die Hülle
des Leibes Christi durchstoßen wird und aus dem Herzen Blut und Wasser strömen (Joh
19,31-37: Gottes Liebe fließt vollständig aus in diese Welt), wo der Vorhang im Tempel
zerreißt (Mk 15,38; Lk 23,45; Mt 27,51: Gottes innerstes Heiligtum ist jetzt nicht mehr
verborgen, sondern offenbar; vgl. Hebr 10,20), wo schließlich nicht mehr ein Tuch den
Blick auf Gott verhüllt wie einst bei Moses am Horeb (Ex 34,33-35), sondern das Tuch
liegt „zusammengewickelt an einer besonderen Stelle“ (Joh 20,7).
Gott entschleiert sein Geheimnis aber nicht nur, indem er sich selbst - beginnend von Ab-
raham bis zu Christus - durch sein Heilswort oder seine Heilstaten in der Welt darstellt.
Offenbarung gibt es auch außerhalb des Christentums. Wir unterscheiden im katholischen
Verständnis drei grundlegende Arten von göttlicher Offenbarung.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 28 -

1. Die „natürliche Offenbarung“ oder „Schöpfungsoffenbarung“: Gott ermöglicht es


dem Menschen, kraft seiner geistig-vernünftigen Natur - trotz der Erbsünde - ihn aus den
Werken der Schöpfung zu erkennen. Instrument der Erkenntnis Gottes ist hier die natürli-
che Vernunft, deshalb „natürliche Offenbarung“. Einige Stellen der Schrift weisen aus-
drücklich darauf hin, dass Gott aus seinen Werken erkannt werden kann: Außer den
Psalmen 8, 19 und 24 v. a. Weish 13,1-7 und
Röm 1,20: „Denn sein unsichtbares Wesen, seine ewige Macht und Göttlichkeit sind
seit Erschaffung der Welt an seinen Werken durch die Vernunft zu erkennen!“
Das 1. Vatikanische Konzil hat 1870 in der Abwehr des Fideismus die natürliche Er-
kennbarkeit Gottes als Dogma erklärt53.
2. Die „übernatürliche“ oder „heilsgeschichtliche Offenbarung“: Gott enthüllt sich
dem Menschen in der Heilsgeschichte des Alten und Neuen Bundes; er macht so sein
ewiges Wesen und seine Ratschlüsse kund (1 Kor 2,7-10). Instrument der Erkenntnis
Gottes ist hier die von der Gnade zum Glauben erhobene Vernunft, deshalb „übernatürli-
che Offenbarung“. Die übernatürliche Offenbarung ereignet sich in zwei Stufen: im Alten
Testament offenbart Gott durch Menschen; im Neuen Testament offenbart Gott als
Mensch.
3. Die „eschatologische Offenbarung“: Gott enthüllt sich dem vollendeten Menschen
unmittelbar und gewährt ihm die selige Schau „von Angesicht zu Angesicht“. Diese letz-
te Form steht hier nicht zur Diskussion.
Satz 9: Offenbarung ist die Selbstbewegung Gottes, in der er sich dem Men-
schen aus eigener Initiative selbst erschließt. Die Theologie unterschei-
det zwischen natürlicher, heilsgeschichtlicher und eschatologischer
Gottesoffenbarung.

b. Die 7 Strukturelemente der alttestamentlichen Gottesoffenbarung


Die Tatsache, dass Gott sich von sich her offenbart, und die Weise, wie er dies tut, unter-
scheidet bereits das alttestamentliche Geschehen von anderen Religionen. Einige der
wichtigsten Charakteristika der anhebenden Selbstoffenbarung Gottes:
1. Medialität
Gott offenbart sich „medial“, d. h. er „vermittelt“ sich und gebraucht dazu auch „Mittel“
und „Mittler“. Nicht nur Propheten und Hagiographen sind die „Medien“ der Selbstof-
fenbarung Gottes, sondern auch die Erfahrungen, die Israel in der Geschichte macht. Je-
denfalls ist klar, dass Gott sich einerseits selbst zeigen will (z. B. Ex 2, brennender Dorn-

53 DH 3026
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 29 -

busch), dass aber andrerseits dieses Sich-Zeigen noch nicht in unmittelbarer Weise er-
folgt, sondern Mittler eingeschoben sind. Erst in Christus werden Mittler und Gottesof-
fenbarung identisch sein (vgl. Hebr 8,6; 9,15; 12,24).ss
2. Dialogisch
Gott offenbart sich „dialogisch“, d. h. er spricht den Menschen als seinen wahrhaftigen
Partner an, geht mit diesem Menschen sogar einen Bund ein. Die Dialogik Gottes zeigt
sich nicht nur in den ringenden Wechselgesprächen der Propheten mit Gott54, sondern in
dem Auf-und-Ab in der Beziehung zwischen Gott und seinem Volk.
3. Partikularität
Gott offenbart sich „partikulär“ bzw. „komprimiert“, d. h. er verendlicht sich, um dem
Menschen zugänglich zu werden. Im Alten Testament sehen wir das unfaßbare „Vortre-
ten des absoluten Subjekts“55, das durch sein Wort und seine Taten seine Absolutheit der
Endlichkeit preisgibt: der Wille Gottes wird durch konkrete Gesetze und Vorschriften
ausgedrückt (Torah). Unendlichkeit wird zugänglich, indem sie endlich wird; Absolutheit
wird zugänglich, indem sie konkret wird. Was unter „Partikularität“ gemeint ist, zeigt
sich auch darin, dass - zum Skandal für alle anderen Völker - dieses absolute göttliche
Subjekt an ein einziges kleines Volk binden möchte: der konkrete Bund Gottes mit dem
einen Volk meint aber zugleich das umfassende Heil für alle.
4. Geschichtlich
Gott offenbart sich „geschichtsmächtig“, d. h. er agiert in der Geschichte dieses Volkes.
Mehr als ein Drittel der ersttestamentlichen Bücher sind Geschichtsliteratur. Gott offen-
bart sich, indem er in der Geschichte Israels mitredet, mitentscheidet. Die hebräische
Sprache drückt dies so aus, dass Gott sich durch seine „dabar“ offenbart: „dabar“ bedeu-
tet zugleich „Wort“ und „Tat“.
5. Pädagogik
Gott offenbart sich „pädagogisch“, d. h. er erzieht Israel, ihn so zu akzeptieren, wie Er ist.
In erster Linie soll Israel allen selbstmächtigen Versuchen abschwören, sich selbst ein
Bildnis von Gott zu schaffen. Israel muss lernen, das Prius des Sich-Gebens Gottes anzu-
nehmen (vgl. das täglich zu betende Bekenntnis „Schema Jisrael“ Dtn 6,4). Diese Päda-
gogik beinhaltet auch den „Zorn Gottes“. Der Zorn und die Eifersucht des sein Volk er-
ziehenden Gottes ist aber eine Modalität seiner Liebe. Nur wer liebt, eifert und zürnt. Die
Kirche lehnt die Irrlehre des Markion im 2. Jahrhundert ab, der im Alten Testament die

54 Z. B. Abraham, der mit Gott um Sodom feilscht; Jona, der Gott nicht gehorchen möchte;
Jeremia, der sich seiner Berufung verweigern möchte usw.
55 H. U. V. BALTHASAR, Herrlichkeit 3/2/1, 15
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 30 -

Offenbarung eines zornig-bösen Gottes sehen wollte, im Neuen Testament aber die des
liebenden Gottes. Es ist derselbe liebende Gott, der einst sein treuloses Volk strafte, der
in der Fülle der Zeit diesen seinen Zorn auch nicht „unter den Tisch kehrt“, sondern an
sich selbst erleiden möchte: an seinem Sohn am Kreuz.
6. In der Enthüllung verhüllt
Gott offenbart sich in einer „Dialektik von Enthüllung und Verhüllung“, d. h. je mehr er
von sich enthüllt, desto geheimnisvoller erscheint er den Menschen. Die Enthüllung Got-
tes führt gerade nicht dazu, dass der Mensch dadurch Gottes habhaft wird, alles über Gott
wüßte. Der offenbare Gott ist kein gelöstes Kreuzworträtsel. Vielmehr gibt es ein dialek-
tisches Wechselspiel: Je näher Gott dem Menschen kommt, desto unnahbarer und ferner
erscheint er ihm. Das „Bild“, das Gott von sich gibt, besteht im Nicht-Bild (Ex 20,4). Das
Schauen Gottes besteht im Nicht-Schauen-Können: Moses muss sein Angesicht verhül-
len, um Gott gegenübertreten zu können (Ex 34,33-35).
7. Linear eschatologisch
Gott offenbart sich, indem er Hoffnung auf eine heile Zukunft und insbesondere auf ei-
nen endzeitlichen Heilsmittler (Messias) gibt. Die heidnische Zeitvorstellung ist geprägt
von dem immer wiederkehrenden Zyklus der Jahreszeiten und des Lebensablaufes (ge-
zeugt werden - wachsen - gebären - sterben usw.), sie ist in sich gefangen und zukunfts-
los. Im Unterschied dazu hat Israel aus seiner Begegnung mit Gott heraus „Geschichte“:
es lebt aus jener Begegnung mit Gott heraus, die den Vätern einst in der Vergangenheit
widerfahren ist, es schöpft daraus Kraft für die Gegenwart und es erwartet, dass Gott
selbst einmal in der Zukunft die Geschicke seines Volkes in die Hand nehmen wird. Im
Unterschied zu dem paganen Zeitgefühl kennt Israel also das Ausgespanntsein zwischen
einer Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dem Zyklus steht die lineare Ausrichtung
gegenüber, wobei das futurische Moment, die Hinordnung auf eine große, heile Zukunft
das Charakteristische ist. Israel lebt geistig von der Kategorie des „Noch-Nicht“ (Ernst
Bloch). Die Erwartung eines zukünftigen göttlichen Heiles in der Geschichte macht Israel
zum „Volk der Hoffnung“56. Ein wesentlicher Aspekt dieser futurischen Grundoption
Israels ist die Hoffnung auf einen „meshiach“, einen von Gott gesandten Heilsmittler.
Der Ausdruck kommt zwar nur 38mal vor und es wäre folglich unrichtig, das ganze Alte

56 Vgl. E. BLOCH, Gesamtausgabe Bd. 5: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt 1959; J. Molt-
mann, Im Gespräch mit Ernst Bloch, München 1976; J. MOLTMANN, Theologie der
Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen einer christlichen
Eschatologie, München 1964; E. FEIL, Marxistischer Denker der Hoffnung. Zum Tod von
Ernst Bloch, in: Herder Korrespondenz 31 (1977) 478-481.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 31 -

Testament nur als Ankündigung des Messias zu verstehen57, doch macht der Begriff doch
klar, dass Israel stets mit dem konkreten geschichtliche Eingreifen Gottes rechnet, dass
die Heilssehnsüchte dieses Volkes sich in einem besonderen Punkt kristallisieren werden.
Satz 10: Die Haupteigenschaften der altestamentlichen Gottesoffenbarung sind
die Institution von Mittlerpersonen, die dialogische Bundesbeziehung,
die Erwählung eines partikulären Volkes, die Geschichtsereignisse als
Pädagogik Gottes, die Steigerung des Mysteriums durch dessen Ent-
hüllung und die eschatologische Hinordnung auf ein von Gott gesetztes
Heil (Messias).

c. Die Inkarnation im biblischen und im hellenistischen Verständnis


1. Aktualistisches und ontologisches Denken
Die Struktur der neutestamentlichen Gottesoffenbarung bringt die alttestamentliche zur
Erfüllung darin, dass hier Gott selbst „die Bühne der Welt“ betritt. Er tut dies in Jesus
Christus, seinem Sohn.
„Vielmals und auf mancherlei Art hatte Gott von alters her zu den Vätern gesprochen
durch die Propheten. In der Endzeit dieser Tage hat er zu uns gesprochen durch den
Sohn, den er zum Erben des Alls eingesetzt, durch den er auch die Welten geschaffen
hat. Er, der der Abglanz seiner Herrlichkeit und Ausprägung seines Wesens ist, der
auch das All trägt durch sein machtvolles Wort, hat Reinigung von den Sünden voll-
bracht und sich zur Rechten der Majestät in der Höhe gesetzt…“ (Hebr 1,1-3)
Der zentrale Satz, die gleichsam „theologischste“ Formulierung, die dieses endzeitliche
Sprechen Gottes „durch den Sohn“ ausdrückt, findet sich im Prolog des Johannesevange-
liums, Joh 1,14: και ο λογος σαρξ εγενετο και εσκηνωσεν εν ηµιν - et verbum caro
factum est et habitavit in nobis. Im Anschluß an die lateinische Ausdrucksweise (verbum-
caro-factum) nennt die Theologie das Geschehnis, dass Gottes Sohn Mensch wurde, um
unser Heil zu wirken „Inkarnation“, d. h. „Fleisch- oder Menschwerdung“58. Und wenn
die Theologie von Jesus Christus unter der Hinsicht spricht, dass er der menschgeworde-
ne Gott ist, so nennt sie ihn „Verbum-Caro“, den „inkarnierten Logos“ oder einfach das
„fleischgewordene Wort“.
Was ist unter „Fleischwerdung des Wortes“, gemeint? Was ist darunter zu verstehen,
dass der Logos zur Sarx wurde, das Verbum zur Caro? An dieser Stelle ist vor allem zu

57 Vgl. H. GAZELLES, Alttestamentliche Christologie. Zur Geschichte der Messiasidee, Ein-


siedeln 1983; E. ZENGER, Jesus von Nazaret und die messianischen Hoffnungen des alt-
testamentlichen Israel, in: W. Kasper (Hrsg.), Christologische Schwerpunkte, Düsseldorf
1980, 37-78.
58 KKK 461ff.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 32 -

fragen, was Johannes unter „Logos“ versteht. Hier ist zu beachten, dass sich in der theo-
logischen Interpretation immer zwei grundsätzliche Weisen der Betrachtung ergeben, die
voneinander oft unterschieden sind: die jüdische und die hellenistische Auffassung.
Die jüdische Fragestellung bezieht sich immer auf das Handeln und Wirken einer Sa-
che: Was tut es, was bringt es mir, was habe ich davon. Biblisch-jüdisches Denken ist
aktualistisch. (Was ist es für mich? Was bringt es mir? Was habe ich davon, wie wirkt es
sich aus?)
Die hellenistische Fragestellung ist im eigentlichen Sinn philosophisch und metaphy-
isch: Was steckt dahinter, dass es so ist wie es ist (meta-physisch: was ist hinter seiner
Natur); wie ist sein Wesen, seine Substanz usw.
Satz 11: Jüdisches Denken ist aktualistisch und effektbezogen, hellenistisches
Denken ist ontologisch und metaphysisch.

2. Zwei Sichtweisen von Inkarnation


Der johanneische Satz vom Logos, der zur Sarx geworden ist, ist eindeutig von beiden
Denkformen geprägt und beeinflußt, sodass beide - jüdische und hellenistische - Denk-
form zu berücksichtigen sind:
1. Im alttestamentlich-jüdischen Verständnis ist „Verbum-Caro“ vom hebräischen
„dabar“ her zu verstehen. Dabar ist nicht nur das gesprochene Wort (siehe oben), sondern
es bezeichnet das geschichtliche Handeln Gottes selbst. In dieser Interpretation wäre un-
ter Joh 1,14 also zu verstehen: Das Handeln Gottes Jahwes an seinem Volk verdichtet
sich, konkretisiert sich, wird greifbar, sichtbar in der Person und im Handeln Jesu. Gott
handelt in Jesus, seiner konkreten dabar, an seinem Volk. Typisch „jüdisch“, die Antwort
die Jesus in Mt 11,5 (Lk 7,22) auf die Frage gibt, wer er sei. Er verweist auf sein Wirken,
seine Taten, die sein Wesen offenbaren: „Blinde sehen, Lahme gehen…“
2. Im hellenistisch-philosophischen Verständnis, durch das der Johannesprolog
beeinflußt ist (Philo von Alexandrien) bezeichnet „Logos“ etwas spezifisch Göttliches59.
Nach der griechischen Vorstellung gibt es einen ewigen göttlichen Geist (Nous), der aus
sich heraustreten kann. Dieses Heraustreten Gottes aus sich selbst wird „Logos“ genannt.
Logos bezeichnet also die Weise, in der die göttliche Einheit zur Welt hin „eine Brücke
schlägt“; Logos ist eine Form der göttlichen Substanz. „Verbum-Caro“ heißt dann, dass
der göttliche Logos sich in der Begrenztheit des Fleisches mitten in der Welt konkreti-
siert. Gott wird zum „Faktum“ dieser Welt. Die griechische Auffassung der Inkarnation
ist also mehr ontologisch: dass es wirklich die Wesenheit Gottes ist, die in Jesus Christus

59 Vgl. H. MÜHLEN, Die Veränderlichkeit Gottes als Horizont einer zukünftigen Christolo-
gie, Münster 1969.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 33 -

(„dem Sohn“) erschienen ist: „Wer mich sieht, sieht den, der mich gesandt hat!“ (Joh
12,45).
Die Gemeinsamkeit der beiden Interpretationsweisen liegt in der Bewegung: Das göttli-
che Handeln wird zum angreifbaren geschichtlichen Faktum; die ewige Substanz wird
zum endlichen Menschen: Gott selbst tritt in die Geschichte ein, wird Akteur auf der
Bühne dieser Welt, um sein verborgenes Wesen letztgültig zu offenbaren.
Satz 12: Die Fleischwerdung des Logos wird im biblischen Denken als die letzt-
rettende Tat Gottes (dabar) verstanden, im hellenistischen Denken als
Verendlichung der göttlichen Substanz.

Bitte unbedingt den Unterschied zwischen biblisch-jüdischem Denken (= aktualisti-


schem, „Was bedeutet es für mich“) und „hellenistischem“ Denken (= substanzontolo-
gisch, „Was ist es in sich“) merken:
Denn nach biblisch-jüdischem Verständnis bezeichnet der johanneische Ausdruck „Ver-
bum-Caro“ das unüberbietbare erlösende Handeln Gottes in Jesus Christus. Nach helle-
nistisch-philosophischem Verständnis meint „Verbum-Caro“ aus, dass Gott selbst es sei-
nem Wesen nach ist, der in Jesus Christus handelt.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 34 -

3. Das Verhältnis von Glauben und Wissen: „Fides et Ratio“

A. Das neuzeitliche Problem mit dem Glauben

Bisher wurde klargestellt, dass der Mensch von sich aus „religiös“ ist; dass diese Religio-
sität nicht ins Leere geht, nicht bloß Wunschdenken ist, sondern dass Gott sich von sich
aus dem Menschen zuneigt. Offenbarung ist dieses Phänomen des Zuneigens Gottes. A-
ber auch diese geht nicht ins Leere, sondern sie zielt auf eine Antwort des Menschen her
ab. Gott möchte, dass der Mensch auf seine Zuwendung „re-agiert“, dass er Liebe mit
Liebe beantwortet. Die von Gott erwirkte und eingeforderte Reaktion des Menschen ist
der Glaube.
Die Neuzeit hat mit dem Akt des Glaubens durchaus Probleme, denn Gegenstand und
Ursache dieses menschlichen Verhaltens ist ja das Handeln Gottes, seine Offenbarung,
also etwas Übernatürliches. Eine übernatürliche Ursache jedoch paßt nicht in ein aufge-
klärtes Weltbild. Immanuel Kant und mit ihm die Philosophie des 17. und 18. Jahrhun-
derts sieht im Glauben eine Form der „selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Die Aufklä-
rung möchte allein die Vernunft als oberstes Kriterium der Erkenntnis sehen (Rationalis-
mus: „Wahr ist nur, was vernünftig ist!“). Noch einen Schritt weiter geht die materialisti-
sche Weltanschauung ab dem 19. Jahrhundert: Auch die denkende Vernunft kann irren,
deshalb darf aus Prinzip nur das gelten, was man statistisch quantitativ erfassen kann, das
was der empirischen Erkenntnis zugänglich ist, was meßbar und zählbar ist (Naturwis-
senschaft: „Wahr ist nur, was man empirisch beweisen kann!“). Auf der anderen Seite
gab es in der evangelischen und teilweise auch in der katholischen Theologie eine Ge-
genbewegung zu diesen Rationalismen: Der Vernunft wurde die Fähigkeit zur Wahr-
heitserkenntnis gänzlich abgesprochen, allein der Glaube könne zur letztgültigen Er-
kenntnis der Wahrheit gelangen (Fideismus: „Das kann man nur glauben!“).
Alle diese Auffassungen widersprechen dem christlichen Glaubensbegriff. Glaube ist
sowohl übernatürlich als auch vernünftig. Seit der Aufklärung lautet daher die große
Problemstellung für die Theologen: Wie ist das Verhältnis zwischen Glauben und Wis-
sen, Glauben und Vernunft? Kann man vernünftig glauben? Bis in die Zeit vor dem 2.
Vatikanische Konzil hat diese Frage die größten Theologen des Jahrhunderts umgetrie-
ben60. Die neuscholastische Theologie war sogar soweit gegangen, den Glaubensakt de-
tailliert analysieren zu wollen (Analysis fidei).

60 Z. B. Rahner, Guardini, Balthasar, Söhngen usw. Vgl. A. LIEGÉ, Der Glaube, in: Die ka-
tholische Glaubenswelt, Bd. 2, 396-445; A. KOLPING, Einfühung in die katholische
Theologie, Münster 1963, 97-104.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 35 -

Satz 13: Der Rationalismus der Aufklärung und der Empirismus der Naturwis-
senschaften lehnen „Glauben“ als Form der Wahrheitserkenntnis ab.
Der Fideismus verfällt ins andere Extrem und möchte ohne Vernunft
auskommen.

B. Biblischer und griechischer Glaubensbegriff

a. Der biblische Glaubensbegriff


Ein gängiges, sprichwörtlich gewordenes Vorurteil lautet: „Glauben heißt: nichts wis-
sen!“ Zunächst soll vom biblischen Glaubensbegriff her festgehalten werden, dass „glau-
ben“ zunächst sehr wohl etwas mit „wissen“ zu tun hat, dass dieses „Wissen“ aber auch
einen ganzmenschlichen Akt umfaßt: den Akt des Vertrauens auf Gott als Herren über
Leben und Tod, Himmel und Erde. Im Zentrum des biblischen Glaubensbegriffes steht
das Vertrauen auf die unsichtbare Wahrheit:
Hebr 11,1: „Der Glaube ist das feste Vertrauen auf das Erhoffte, ein Überzeugtsein
von dem, was man nicht sieht.“
Joh 20,19: „Selig, die nicht sehen und doch glauben!“
Unter Glaube (πιστις) versteht die Schrift aber keineswegs ein verstandeslos, blindes
Vertrauen. Vielmehr bedeutet glauben, wie es vor allem bei Paulus begegnet, die Hinga-
be des ganzen Menschen - mit Verstand und Willen - an eine Wahrheit, die von Gott
gleichsam garantiert wird. Für Paulus ist diese ganzmenschliche Glaubenshingabe die
Voraussetzung unserer Rechtfertigung: Nicht Werke machen den Menschen vor Gott ge-
recht, sondern allein der Glaube (Röm 1,17; Gal 3,11; Hebr 10,38 im Anschluß an Hab
2,4). „Glauben“ bezieht sich im Neuen Testament auch stets auf einen bestimmten Inhalt,
vor allem an die Auferweckung Christi, an sein „Herr-Sein“. Paulus nennt ja diesen zent-
ralen Inhalt „sein Evangelium“ (1 Kor 15,1). So lautet eine alte Formel, die er im Römer-
brief zitiert:
Röm 10,9f.: „Wenn du mit deinem Mund Jesus als den Herrn bekennst und in deinem
Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet werden.
Denn mit dem Herzen glaubt man zur Gerechtigkeit, und mit dem Mund bekennt man
zum Heil.“
Insgesamt ist festzustellen, dass im biblischen Verständnis von „glauben“ der personale
Akt des Menschen, seine Hingabe an Gott betont wird. Dies entspricht dem semitischen
Denken, dem es - aktualistisch - immer auf die Handlung und deren Wirkung ankommt.
Wendet man hier die klassische Unterscheidung von fides quae (Glaubensinhalt) und fi-
des qua (Glaubensakt) an, so liegt die Betonung eindeutig auf letzterem.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 36 -

b. Der hellenisierte Glaubensbegriff


Mit der Übernahme der Kulturform der Griechen in die Kirche verändert sich auch die
Denkform. Die hellenistische Philosophie ist ja stets an der intellektuellen Seite einer
Sache, ihrem „Warum ist es“ und „Was ist es in sich“ interessiert. Das Interesse konzent-
riert sich jetzt auf den Inhalt des Glaubens. Es genügt nicht mehr, dass geglaubt wird,
sondern von Bedeutung wird immer mehr, was geglaubt wird. Den Griechen geht es
mehr um die fides quae, um das kognitive Moment. Und je mehr die ersten hellenisti-
schen Philosophen - angefangen von Origenes - aus der biblischen Sprache eine intellek-
tuelle, begriffliche Theologie formen, desto wichtiger wird, welche Inhalte im einzelnen
geglaubt werden.
Genügte für Paulus noch ein Bekenntnis zu Christus als dem Herrn, um gerettet zu wer-
den (Röm 10,9f.), so wird es jetzt als heilsentscheidend angesehen, das Richtige zu be-
kennen. Um richtig glauben zu können, muss man auch theologisch richtig erkannt haben
und sich zur richtigen Formulierung bekennen. Einschneidend für dieses Verständnis von
Glauben ist die Tatsache, dass 325 das 1. Ökumenische Konzil von Nikaia eine dogmati-
sche Glaubensformel, das nizänische Symbolum, vorlegt. Bezeichnend ist, dass diese
Lehrformel einfach „der Glaube“ genannt wird: die „fides“ von Nikaia,
η πιστις η κατα Νικαιαν. Auch im Deutschen gab es den Ausdruck „Beten wir den
Glauben!“, der verrät, dass hier „glauben“ und „Glaubensformel“ einfach gleichgesetzt
werden.
Im Laufe der Jahrhunderte trat auf diese Weise eine immer stärkere Verengung des Beg-
riffes „Glauben“ ein, sodass darunter nur mehr ein intellektuelles Fürwahrhalten61 be-
stimmter übernatürlicher Lehren und Sachverhalte verstanden wurde. Die Seite des Ge-
mütes, der ganzmenschlichen Hingabe, also die fides qua wurde vernachlässigt.
Satz 14: Der biblische Glaubensbegriff ist mehr affektiv im Sinn von „Vertrau-
en“; der hellenistische Glaubensbegriff ist mehr kognitiv im Sinn von
„Fürwahrhalten“ bestimmter Heilslehren zu verstehen.

C. Die Definition des kirchlichen Glaubensbegriffs

a. Elemente des Glaubensbegriffes


1. Glauben heißt nicht „meinen“. Im täglichen Sprachgebrauch wird Glauben oft im
Sinne von „meinen“ gebraucht: „Ich glaube, dass das Wetter schön bleibt.“ Dem „Mei-
nen“ steht aber das „Wissen“ gegenüber, denn dieses bedeutet ja, sich verstehend einer

61 So die Definition, die das 1. Vatikanische Konzil in der Konstitution „Dei Filius” gibt:
Glauben ist das Annehmen, dass das von Gott Geoffenbarte wahr ist (DH 3008).
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 37 -

Sache gewiß sein. Würde das Vokabel „glauben“ im Sinn von „meinen“ aufgefaßt wer-
den, dann hieße Glauben wirklich „nichts wissen“. Aber wenn die Theologie von „glau-
ben“ spricht, dann in einem ganz anderen Sinn. Die Bedeutung von „meinen“ ist für den
Glaubensbegriff auszuschließen.
2. Glaube ist die vernünftige Übernahme von Fremdeinsicht. Das Fürwahrhalten einer
Sache kann sich auf die eigene Einsicht stützen. Hier ist es die Evidenz der Sache selbst,
die mich zum Erkennen nötigt. Aber viele Dinge muss ich Fürwahrhalten, ohne dass sie
mir selbst unmittelbar evident sind. So ist einem Nicht-Reisenden die eigene Einsicht in
das Vorhandensein des Kontinents Amerika verwehrt. Er muss sich auf die Zeugenschaft
anderer stützen. Dennoch wird ihm die Existenz Amerikas nicht weniger gewiß sein als
die Existenz seiner Schuhe. Dies ist ein wesentlicher Aspekt des theologischen Glau-
bensbegriffes: Gewisses Fürwahrhalten aufgrund der Einsicht eines anderen erkennenden
Wesens. Zum Glauben gehört die Übernahme von Fremdeinsicht.
3. Glaube gründet in der Glaubwürdigkeit des Verkündigers. Wenn Glaube also die
Übernahme fremder Erkenntnis ist, so werde ich dessen Erkenntnis nur annehmen, wenn
er mir selbst vertrauenswürdig, glaubwürdig erscheint. Der entscheidende Grund dafür,
dass ich ihm glaube, liegt in seiner Glaubwürdigkeit (Kredibilität, credibilitas). D. h. a-
ber, dass ich, um ihm glauben zu können, erkannt haben muss, dass er die Fähigkeit und
Autorität hat, solches mitzuteilen. Glaube ist also die in der Kredibilität des Verkündigers
begründete Übernahme von Fremdeinsicht.
4. Glaube ist ein personal freier Willensakt. Die Existenz meiner Schuhe anzuerkennen
zwingt mich die Evidenz der Eigeneinsicht. Es gibt hier gleichsam keine Möglichkeit,
sich dieser Erkenntnis zu verweigern. Anders ist dies jedoch bei der Übernahme von
Fremdeinsicht, hier spielt das Wollen eine entscheidende Rolle. Augustinus sagt:
„Cetera potest facere homo nolens, credere non nisi volens! - Alles andere kann der
Mensch tun auch ohne zu wollen, glauben aber kann er nur, wenn er will!“62
Der Wille muss gleichsam dem Verstand befehlen, die von fremder Hand vermittelten
Einsichten zu ergreifen. Matthias Joseph Scheeben: Der Glaube ist ein „assensus“ (Zu-
stimmung des Verstandes) aufgrund eines „consensus“ (Übereinstimmung des Willens)
mit einer glaubwürdigen Person. Der Glaubenskonsens, also die willentliche Komponen-
te, macht den Glaubensakt deshalb zu einer freien Handlung. Auch wenn die Glaubens-
evidenz so wäre, dass der Verstand fasziniert und überwältigt ist, so bliebe dem Men-
schen immer noch die Freiheit, willentlich diese Glaubenserkenntnis abzulehnen. Damit
ist sichergestellt, dass der Glaube immer ein freier, personaler Akt ist. Diese bleibende
Freiheit im Glauben macht die Glaubenstreue letztlich zu einem verdienstvollen Tun.

62 AUGUSTINUS, Tractatus 26 in Ioannem


Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 38 -

Diese Freiheit zum Ja oder Nein gegenüber Gott macht die Würde der menschlichen Per-
son aus. Alle Menschen - und insbesondere der Staat - sind verpflichtet, diese Glaubens-
freiheit bzw. „Religionsfreiheit“ zu respektieren, wie das 2. Vatikanische Konzil lehrt,
sodass „niemand gegen seinen Willen zur Annahme des Glaubens gezwungen werden
darf“. Es entspricht nämlich „völlig der Wesensart des Glaubens, dass in religiösen Din-
gen jede Art von Zwang von seiten der Menschen ausgeschlossen ist.“63
5. Glauben in diesem Sinn ist nichts außergewöhnliches, denn die begründete Über-
nahme von Fremdeinsicht ist eine Selbstverständlichkeit im alltäglichen Leben. Ohne
Wissenserwerb aufgrund dessen, dass wir anderen Vertrauen schenken, uns von fremder
Einsicht leiten lassen, könnten wir im alltäglichen Leben nicht bestehen.
6. Der, dem geglaubt wird, ist Gott selbst. Ist Glaube also die begründete Übernahme
fremder Einsicht, ein personaler Willensakt, der in der Glaubwürdigkeit des Verkündi-
gers gründet, dann ist noch zu fragen, wer eigentlich der „Fremde“ ist, dem hier geglaubt
werden soll. Die Antwort: Gott selbst. Glaube ist die Übernahme dessen, was Gott von
sich offenbart aufgrund der Glaubwürdigkeit Gottes selbst. Daraus wird freilich auch er-
sichtlich, dass die Struktur des Glaubens zirkulär ist: Wir Glauben Gott aufgrund seiner
selbst: credimus Deo propter Deum.
Satz 15: Glauben im theologischen Sinn hat nichts mit bloßem „meinen“ zu tun,
denn es handelt sich um die begründete freie Übernahme von Fremd-
einsicht aufgrund der Glaubwürdigkeit des Verkünders und der Auto-
rität Gottes.

b. Die kirchliche Definition des theologischen Glaubens


Das 1. Vatikanische Konzil betont in der Konstitution „Dei Filius“, dass der Glaube sei-
nen letzten Grund in der Autorität Gottes hat:
„Cum homo a Deo tamquam creatore et Domino suo totus dependeat et ratio
creata increatae Veritati penitus subiecta sit, (1) plenum revelanti Deo intellec-
tus et voluntatis obsequium fide praestare tenemur. Hanc vero fidem, quae hu-
manae salutis initium est, Eclesia catholica profitetur, virtutem esse supernatu-
ralem, qua, Dei aspirante et adiuvante gratia, ab eo (2) revelata vera esse credi-
mus, non propter intrinsecam rerum veritatem naturali rationis lumine perspec-
tam, sed (3) propter auctoritatem ipsius Dei revelantis, qui nec falli nec fallere
potest. ‘Est enim fides, testante Apostolo, sperandarum substantia rerum, ar-
gumentum non apparentium’ (Hebr 11,1).
Da der Mensch ganz von Gott als seinem Schöpfer und Herrn abhängt und die ge-
schaffene Vernunft der ungeschaffenen Wahrheit völlig unterworfen ist, sind wir

63 2. Vatikanisches Konzil, Dignitatis humanae 10: DH 4245.


Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 39 -

gehalten, dem offenbarenden Gott im Glauben (1) vollen Gehorsam des Verstandes
und des Willens zu leisten. Dieser Glaube aber, der der Anfang des menschlichen
Heiles ist, ist nach dem Bekenntnis der katholischen Kirche eine übernatürliche Tu-
gend, durch die wir mit Unterstützung und Hilfe der Gnade Gottes glauben, dass das
von ihm (2) Geoffenbarte wahr ist, nicht [etwa] wegen der vom natürlichen Licht
der Vernunft durchschauten inneren Wahrheit der Dinge, sondern (3) wegen der Au-
torität des offenbarenden Gottes selbst, der weder sich täuschen noch täuschen
kann. ‘Der Glaube ist nämlich’ nach dem Zeugnis des Apostels ‘die Gewißheit zu
erhoffender Dinge, der Beweis des nicht Sichtbaren’ (Hebr 11,1).“64 (DH 3008)
Wieder lässt sich die Zirkelstruktur klar erkennen: Der glaubt Gott wegen der Autorität
Gottes selbst. Diese Zirkelstruktur wird auch dadurch ausgedrückt, dass der Glaube eine
„übernatürliche Tugend“ genannt wird, also etwas, das letztlich nicht in der Natürlichkeit
und der bloßen Vernünftigkeit gründet. Im einzelnen sind folgende drei Eigenschaften
des Glaubens von Interesse.
1. Glaube wird als Gehorsam verstanden, der Intellekt und Willen umfasst. Entschei-
dend ist der personale Aspekt: Dieser Gehorsam wird nicht blind geleistet, sondern ist
gleichsam die Reaktion auf die Offenbarung Gottes. Er gilt deshalb „revelanti Deo“, dem
offenbarenden Gott.
2. Glaube ist ein Fürwahrhalten der „revelata“ (Nominativ Plural!), also der einzelnen
Offenbarungsinhalte. Hier kommt die hellenistische Verkürzung des Glaubensbegriffes
auf bloßes Fürwahrhalten von Dogmen und Lehren zum Tragen.
3. Glaube ist „vernünftig“ und verantwortbar, weil er in der Wahrheit Gottes selbst be-
gründet ist. Gottes Glaubwürdigkeit ist Garant der Vernunftmäßigkeit des Glaubens, da
Gott weder sich täuschen noch täuschen kann. Die „Autorität“ Gottes begründet im letz-
ten die Wahrheit des Geglaubten und damit auch Sinnhaftigkeit des Glaubens.
Satz 16: Glaube ist nach der Lehre der Kirche der Gehorsam des Willens und
des Verstandes gegenüber dem sich offenbarenden Gott. Glaube ist
vernünftig, da er in der Autorität des absolut wahren Gottes begründet
ist.

c. Der Glaubensakt ist ein freier gesamtmenschlicher Akt


Die theologische Definition des Glaubens, wie das 1. Vatikanum sie vorlegt, ist in ihrer
Logik zwar unumstritten, sie klammert jedoch die eigentliche geistliche Tiefe des Glau-
bens aus. Glaube ist wesentlich nicht nur die - vor der Vernunft legitimierbare - Akzep-
tanz von Glaubenswahrheiten. Glaube ist das gnadenhaft geschenkte freie und befreiende

64 1. Vatikanisches Konzil, Dei Filius: DH 3008.


Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 40 -

Vertrauen in die Wahrheit Gottes; und diese Wahrheit hat sich in der Liebe Christi zu uns
eröffnet. Paulus kann deshalb schreiben:
„Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir. Soweit ich aber jetzt noch in die-
ser Welt lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für
mich hingegeben hat.“ (Gal 2,20)
In der Erklärung über die Religionsfreiheit gibt das 2. Vatikanische Konzil eine Vertie-
fung des Glaubensverständnisses, indem es erstens betont, dass der Glaube den Charakter
einer Antwort hat. Glaube ist nicht die phantasievolle Selbstproduktion von religiösen
Vorstellungen, sondern Glaube ist Antwort auf das Wort Gottes. Zweitens wird der
Glaube ein „Anhangen“ an Gott genannt, also ein ganzmenschliches Tun, nicht bloß ein
intellektuelles Akzeptieren von göttlichen Lehrsätzen. Der Glaube ist somit nicht nur ein
„actus hominis“ (wie z. B. das Denken), sondern es ist mehr: ein Tun, das alle Dimensi-
onen des Menschseins umfaßt, und an dem sich die Menschlichkeit des Menschen eigent-
lich erst bemißt: ein „actus humanus“. Dass das Konzil hierbei besonders die Freiwillig-
keit des Glaubensaktes betont, ist durchaus nichts Innovatives, sondern entspricht der
klassischen Lehre der Kirche:
„Es ist ein Hauptbestandteil der katholischen Lehre, in Gottes Wort enthalten und von
den Vätern ständig verkündet, dass der Mensch freiwillig durch seinen Glauben Gott
antworten soll, dass dementsprechend niemand gegen seinen Willen zur Annahme
des Glaubens gezwungen werden darf. Denn der Glaubensakt ist seiner Natur nach
ein freier Akt, da der Mensch, von seinem Erlöser Christus losgekauft und zur An-
nahme an Sohnes Statt durch Jesus Christus berufen, dem sich offenbarenden Gott
nicht anhangen könnte, wenn er nicht, indem der Vater ihn zieht, Gott einen ver-
nunftgemäßen und freien Glaubensgehorsam leisten würde. Es entspricht also völlig
der Wesensart des Glaubens, dass in religiösen Dingen jede Art von Zwang von
seiten der Menschen ausgeschlossen ist.“65
Satz 17: Der Glaube an den offenbarenden Gott ist ein „actus humanus“, der al-
le Dimensionen des Menschen umfasst: Verstand und Herz, Geist und
Leib.

65 2. Vatikanisches Konzil, Dignitatis humanae 10: DH 4245. Auf dem 1. Vatikanischen


Konzil wurde die Behauptung, der Glaubensakt sei „keine freie Zustimmung, sondern
werde durch Beweise der menschlichen Vernunft notwendig hervorgebracht” mit dem A-
nathem belegt (DH 3035).
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 41 -

4. Theologie als Auswortung des Glaubens

A. Der Begriff der wissenschaftlichen Theologie

a. Wissenswertes zum Ausdruck „Theologie“

Etymologisch bedeutet Theologie „Rede über Gott“ (περι του θεου λογος). „Logos“
bezeichnet in der Antike eine in sich systematisch gegliederte Rede, also eine sinnvolle
Rede. Logos bezeichnet daher das, was innerlich zusammenhängt, das „Sinnhafte“. Zu-
nächst bezeichnet Theologie also jede sinnhafte Rede über Göttliches oder über Gott66.
Im spezifisch christlichen Sinn müßte man sogar besser von „Theo-Logik“ sprechen,
denn es geht hier ja nicht um irgendeine Rede über Gott, sondern es geht um die „Logik
Gottes“, die Er seinen Geschöpfen offenbart. So nennt Hans Urs von Balthasar den 3.
Teil seiner Trilogie auch „Theologik“. Entscheidend ist, dass es mehr um ein Reden, das
von Gott her kommt, geht, als um ein Selbst-Denken Gottes67.
Von seiner Geschichte her wurde der Ausdruck „theologia“ in der Antike als Bezeich-
nung für mythische Erzählungen verwendet. Alles religiöse Poesie, die über die Götter
oder über Göttliches handelte, war den Griechen „Theologie“. Theologie ist für sie My-
thologie68. Die großen Mythendichter werden deshalb Theologen genannt: Hesiod, Ho-
mer, Orpheus. Auch Plato, dessen Philosophie stark auf das Göttliche, den göttlichen ei-
nen Geist konzentriert ist, wird Theologe genannt69.
Für die frühen Christen war das Vokabel „Theologie“ - wie viele andere Ausdrücke auch
- heidnisch belastet, sodass sie es nur zögernd verwendeten. Tertullian und Augustinus
reden durchaus noch im abwertenden Sinn von „Theologie“, indem sie darunter heidni-
sche Götterdarstellungen bezeichnen. . Ab dem 4./5. Jahrhundert bürgert sich vom Osten

66 AUGUSTINUS, De Civitate Dei VIII, 1: Theologia, quo verbo graeco significari intelligi-
mus de divinitate rationem sive sermonem.
67 Vgl. J. RATZINGER, Wesen und Auftrag der Theologie. Versuche zu ihrer Ortsbestim-
mung im Disput der Gegenwart, Einsiedeln 1993; A. NOSSOL, Der Mensch braucht Theo-
logie, Einsiedeln 1986.
68 F. KATTENBUSCH, Die Entstehung einer christlichen Theologie. Zur Geschichte der
Ausdrücke theologica, theologia, in: ZThK (NF) 11 (1930) 159-205.
69 Aristoteles hingegen wird bezeichnenderweise nie Theologe genannt; er spottet auch über
die „Theologen” und meint damit die Mythendichter: A. KOLPING, Einführung in die ka-
tholische Theologie, Münster 1963, 17ff.; P. EICHER, Theologie. Einführung in das Stu-
dium, München 1980, 46-54. Aristoteles teilte seine Philosophie in drei Teile: Mathematik,
Physik und Metaphysik (=„das, was nach der Naturbetrachtung kommt”). Der dritte Teil
handelt philosophisch über Gott. „Theologie” ist für Aristoteles dort gerade nicht Mythen-
dichterei, sondern „erste Philosophie”.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 42 -

her der Ausdruck „theologia“ doch im christlichen Sprachgebrauch ein. Er hat jedoch
eine spezifische Bedeutung: Die griechischen Väter stellen immer „theologia“ und „oiko-
nomia“ gegenüber: Theologie bezeichnet die Lehre von „Gott in sich“ (das Wesen Got-
tes, die Gottheit, die immanente Trinität); Ökonomie bezeichnet das Heilshandeln Gottes
an uns (Schöpfung, Erlösung, Heiligung, ökonomische Trinität usw.). Beide zusammen,
Theologia und Ökonomia, ergeben die gesamte Glaubenslehre.
Satz 18: „Theologia“ bezeichnete in patristischer Zeit spezifisch die Lehre über
das innere Wesen Gottes, im Unterschied zur „Ökonomia“, dem Heils-
handeln Gottes.

Ab dem 8. Jahrhundert wird jedoch „Theologie“ schon für die gesamte Glaubenslehre
verwendet. In der Scholastik spricht man auch von „sacra doctrina“, „sacra scriptura“
oder „sacra pagina“, wenn man die Gesamtheit der Glaubenslehre meint. Thomas von
Aquin nennt sein Hauptwerk „Summa theologiae“. So setzt sich durch, dass der Begriff
Theologie das gesamte Gotteswissen bezeichnet, wie er uns heute selbstverständlich ist.
Heute bezeichnet Theologie das gesamte Bemühen um Verstehen der Glaubenslehre (in-
tellectus fidei).
Satz 19: Heute bezeichnet„Theologie“ im allgemeinen religiösen Sinn ein „Re-
den des Menschen über Gott“; im besonderen dogmatischen Sinn je-
doch „das Reden des Menschen über die Rede Gottes von sich selbst“
(Theo-Logik).

b. Drei Formen des Theologietreibens


Meint „Theologie“ also die sinnhafte Erkenntnis und Rede über Gott, dann gibt es - ent-
sprechend den zwei Zugängen zur Erkenntnis Gottes - auch zwei Arten und Weisen, wie
über Gott gesprochen werden kann. Schließlich ist drittens die eschatologische Schau
Gottes zu nennen, die das Ziel aller kreatürlicher Gotteserkenntnis ist.
1. Die natürliche Theologie („theologia naturalis“). Die erste Form der Gotteserkenntnis
ist die „natürliche“, allein auf den natürlichen Gegebenheiten basierende, also Gotteser-
kenntnis ohne Offenbarung. Instrument dieser Erkenntnis Gottes und seiner Eigenschaf-
ten, ist die Vernunft. So sagt Paulus in Röm 1,19-20:
„Was von Gott erkennbar ist, das unter ihnen [den Heiden] offenbar. Gott selbst hat
es ihnen offenbar gemacht, denn sein unsichtbares Wesen lässt sich seit Erschaffung
der Welt an den Schöpfungswerken mit den Augen der Vernunft wahrnehmen, näm-
lich seine ewige Macht und göttliche Majestät.“70

70 Vgl. auch Weish 13-15; Apg 14,15-17; 17,24-28


Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 43 -

Man nennt diese „natürliche Erkenntnis“ Gottes auch die „philosophische Gotteserkennt-
nis“ oder eben „natürliche Theologie“. So ist es Lehre der Kirche, feierlich definiert auf
dem 1. Vatikanischen Konzil, dass Gott „aus dem, was geschaffen worden ist, mit dem
natürlichen Licht der Vernunft mit Sicherheit erkannt werden kann“71 (DH 3004). Seit
Leibniz gibt es auch den Begriff „Theodizee“, was die vernunftmäßige Rechtfertigung
eines Schöpfergottes bezeichnet. Der Gottesbegriff, den die philosophische Vernunft er-
arbeiten kann, nennt man auch den „Gott der Philosophen“. Die natürliche Theologie
kann aufgrund ihres Prinzips der Seinsanalogie von den Wesenseigenschaften Gottes vie-
les erkennen: dass es ein höchstes, einfaches göttliches Wesen geben muss, das unverur-
sacht, in sich unbegrenzt, unendlich und unsterblich, alles Endliche durchdringend und es
zugleich in allem übersteigend sein muss usw. Die natürliche Gotteserkenntnis wird in
der Fundamentaltheologie ausführlich behandelt.
2. Die übernatürliche Theologie.
Die eigentliche „Theologie“, die im Mittelpunkt der Dogmatik steht, ist die „übernatürli-
che Theologie“ (theologia supranaturalis). Sie will Gott nicht bloß aus den Werken der
Natur kraft der bloßen Vernunft erkennen, sondern die Weise bedenken, wie Gott sich
dem Menschen geoffenbart hat. Objekt der natürlichen Theologie ist Gott, insofern er
gesucht wird; Objekt der übernatürlichen Theologie ist Gott, insofern er den Menschen
gefunden hat, d. h. insofern er sich geoffenbart hat: Deus inquantum revelatus. Instru-
ment dieser eigentlichen Theologie ist der von der Gnade erleuchtete Verstand. Die über-
natürliche Theologie setzt also die Annahme der übernatürlichen Offenbarung voraus,
den Glauben an die im AT und NT offenbar gewordene Heilsgeschichte Gottes mit dem
Menschen.
Satz 20: Die natürliche Theologie denkt sich mit der Vernunft an die Existenz
und das Wesen Gottes heran, indem sie vom endlichen Sein auf das
göttliche Sein schließt.

3. Kontemplative Theologie
Eine dritte - letztlich wichtigste - Weise des Zuganges zu Gott sei hier noch erwähnt.
Während in der theologischen Ausbildung sowohl natürliche als auch übernatürliche Got-
teslehre „diskursiv“, also methodisch und schlußfolgernd betrieben werden, so ist doch
die entscheidende Form der Begegnung mit Gott die Kontemplation! Es ist das innere,
nicht bloß intellektuell-rationelle „Schmecken“ und „Verkosten“ Gottes (lateinisch: sape-
re, davon „sapientia“). Akademische Theologie ist ihrer Natur nach eher „scientia“, doch
sie braucht zu ihrer Ergänzung die „sapientia“ als Grundhaltung auf seiten des Theolo-
gen. Hier sei an das Postulat Balthasars nach einer „knienden Theologie“ erinnert. Diese

71 1. Vatikanisches Konzil, Dei Filius: DH 3004; vgl. den dazugehörigen Canon DH 3026
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 44 -

„schmeckende“ oder „kniende“ Form der Theologie ist letztlich ein Geschenk des Heili-
gen Geistes, wie Franz von Sales schreibt:
„Es gibt keine andere wahre Wissenschaft als die, die der Heilige Geist gibt. Aber sie
wird bloß den Demütigen zuteil. Haben wir nicht große Theologen gesehen, die
Wunderbares über die Tugenden gesagt haben, aber ohne sie zu üben? Im Gegensatz
hierzu haben wir sehr viele Frauen gesehen, die nicht in der Lage waren, sich über die
Tugenden gelehrt zu äußern, aber wohl verstanden, die Werke der Tugenden würdig
zu praktizieren. Jene hat der Heilige Geist zu Weisen gemacht, weil sie sowohl die
Furcht des Herrn als auch die Frömmigkeit und Demut besaßen.“72
Nach unserem Verständnis hat wissenschaftliche Theologie somit drei verschiedene
Hauptdimensionen: zuerst gibt es tatsächlich einen naturhaften Zugang mittels der Ver-
nunft (theologia naturalis), sodann ist es Aufgabe der Theologie, die übernatürlichen
Glaubenswahrheit verstandesmäßig zu durchdringen (intellectus fidei, theologia suprana-
turalis), schließlich muss in alledem die innere Glaubensbeziehung des Theologen zu
Gott zum Tragen kommen (contemplatio, sapientia).
Satz 21: Theologie als systematische „scientia“ muss stets getragen werden von
der „sapientia“, also der Spiritualität der existentiellen Gottesbegeg-
nung.

B. Die Kriterien authentischer kirchlicher Theologie

Gerade in der heutigen pluralistischen Zeit, in der jede noch so geistlose Meinung - auch
innerhalb der Theologie - sich Gehör zu verschaffen versteht, stellt sich die Frage: Wel-
che Kriterien gibt es, um kirchliche Theologie von nichtkirchlicher Theologie zu unter-
scheiden. Diese Frage stellt sich gerade dem katholischen Christen, der ja davon ausgeht,
dass es nicht beliebig viele „Wahrheiten“ geben kann, sondern sich die Fülle der Wahr-
heit in Jesus Christus uns geschenkt hat. Die Kirche als etwas, das ja „dem Herrn gehört“
(das deutsche „Kirche“ leitet sich von „κυριακη“ ab), ist letztlich auch gegründet, um
die Authentizität der Theologie zu gewährleisten. Nicht jede Rede, die von Gott spricht,
ist schon authentische kirchliche Theologie, manchmal kann sie vielleicht sogar das Ge-
genteil sein.
Eine theologische Lehre, eine Theologieform ist dann authentisch kirchlich, wenn sie
einer Prüfung durch fünf Kriterien standhält: Schrift, Tradition, Lehramt, wissenschaftli-
che Theologie, Glaubenssinn der Gläubigen. Die Harmonie mit allen fünf Kriterien ergibt

72 FRANZ VON SALES, Sermo 23 vom Pfingstmontag, zitiert nach A. KOLPING, Einfüh-
rung in die katholische Theologie, Münster 1963, 21.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 45 -

die Stimmigkeit. Die Authentizität ist abhängig von der Konsonanz der fünf wichtigsten
Kriterien73.

a. Das Kriterium der Schrift (scriptura)


Nach 1 Joh 1,1 war das Urereignis der christlichen Offenbarung die Begegnung mit dem
lebendigen „Logos“ Gottes in Menschengestalt. Die Apostel schauten, hörten und be-
tasteten den, der unter den Menschen zelten wollte (Joh 1,14). Diese - gleichsam konkret
interpersonale - Form der Begegnung mit dem sich offenbarenden Gott ist mit dem Tod
des letzten Apostels abgeschlossen, sodass es darüberhinaus keine weitere Offenbarung
mehr gibt, welche der Substanz des Offenbarten etwas hinzufügen könnte74. Die Urkunde
dieser personalen Offenbarung ist die Heilige Schrift. Insofern sie von der Offenbarung
kündet ist sie unfehlbare Norm aller Glaubenslehren, die von niemandem geändert wer-
den kann: „norma normans non normata“. Eine Auffassung, die der Heiligen Schrift
dem Wortlaut oder dem Sinn nach widerspricht oder sich nicht aus ihr ableiten lässt, kann
niemals kirchliche Lehre sein. Inhalte, die nicht den Glauben betreffen - z. B. naturwis-
senschaftliche Auffassungen der biblischen Autoren - sind unverbindlich.
Eines der drei „Sola-Prinzipien“ bezieht Martin Luther auf die Heilige Schrift: „sola fides
- sola gratia - sola scriptura“. Hier ist aber übersehen, dass schon die Schrift ein Produkt
eines Traditionsprozesses innerhalb der frühen Kirche ist. Schon früh schied der kirchli-
che Glaubenssinn Schriften, selbst wenn sie hohe Autorität hatten (z. B. die Didache) aus,
und nahmen nur bestimmte in den Kanon auf. Schließlich ist das Christentum auch eben
keine Buchreligion wie etwa der Islam oder einige östliche Religionsformen; sein Ur-
sprung liegt in der lebendigen Begegnung der Apostel mit Christus und in deren Verkün-
digung, die zunächst auch rein mündlich erfolgte.

b. Das Kriterium der Überlieferung (traditio)


Tradition kommt von „tradere“, was soviel wie „weitergeben“, „überliefern“, „auslie-
fern“ bedeutet75. Gott hat seine Offenbarung wahrlich dem Tun der Menschen ausgelie-
fert. Die Weitergabe des Glaubens erfolgt durch Menschen, die in verschiedenen Zeiten,
unter verschiedenen Umständen und mit verschiedenen Voraussetzungen über die Offen-
barung nachdenken. Dabei ist es von großer Bedeutung, dass der Prozess der Glaubens-
weitergabe eine bleibende Identität in sich selbst hat. Ein Beispiel: Auch wenn die Theo-

73 Nach W. BEINERT, Dogmatik studieren. Einführung in dogmatisches Denken und Arbei-


ten, Regensburg 1985, 47
74 2. Vatikanisches Konzil, Dei Verbum 4: DH 4204.
75 Der Begriff „traditionell” ist streng von dem Ausdruck „traditionalistisch” zu unterschei-
den. Unter letzterem versteht man ein Erstarren und Festhalten an den Äußerlichkeiten ei-
ner vergangenen Frömmigkeits- oder Theologieform.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 46 -

logie sich weiterentwickelt hat, so ist der Glaube eines Katholiken des 17. Jahrhunderts
doch identisch mit dem eines Katholiken im 3. Jahrhundert. Die Tradition beschenkt uns
mit der Authentizität des Geglaubten und bewahrt davor, den Glauben nach zeitgeistigen
Kriterien stets neu erfinden zu müssen, die Schrift stets nach der heutigen Mode interpre-
tieren zu müssen.
Im engeren Sinn versteht man in der Dogmatik unter „Tradition“ die Bezugnahme auf die
anerkannten Kirchenväter der patristischen Epoche, ebenso die Bezugnahme auf die li-
turgische und pastorale Praxis vergangener Zeiten.
Allgemein anerkannt wird in der Welt von heute die Gültigkeit eines synchronen Kon-
senses: „das, was heute alle machen“ wird gerne als Norm akzeptiert. Die Kirche kennt
darüber hinaus aber einen diachronen Konsens: das, was zu allen Zeiten geglaubt wurde,
ist auch heute Norm des Glaubens. Von Vinzenz von Lerins († vor 450) stammt eine
klassische Definition dieses Traditionskonsenses. Das von Vinzenz in seinem „Commo-
nitorium“ formulierte Traditionsprinzip besagt, dass nur das Glaubenswahrheit ist,
„In ipsa item catholica ecclesia magnopere curandum est, ut id teneamus quod ubi-
que, quod semper, quod ab omnibus creditum est. Hoc est etenim vere proprieque
catholicum!“ - „was immer, was überall, was von allen geglaubt wird!“76
c. Das Kriterium des Lehramtes (magisterium)
In der antiautoritären westlichen Gesellschaft ist die Institution eines kirchlichen Lehram-
tes (magisterium ecclesiae bzw. magisterium eclesiasticum) auch zu einem theologischen
Problem geworden, insofern die Kirche glaubt, dass es sich dabei um eine durchaus „au-
toritäre“ Instanz für die Bewahrung, Weitergabe und Interpretation der Glaubenswahrheit
handelt. Die Bischöfe als Nachfolger der Apostel sind die Träger dieser Lehrautorität, die
wiederum in ihrer sakramentalen Identität mit Christus gründet: „Wer euch hört, hört
mich.“ (Lk 10,16) „Wer euch aufnimmt, der nimmt mich auf.“ (Mt 10,40) Es gibt ein
wahres Bleiben Christi bei den Aposteln bis ans Ende der Zeiten (Mt 28,20).
Für die Bischöfe bedeutet diese Auszeichnung zugleich die Pflicht, den Glauben unver-
fälscht zu bewahren. Sie bilden zusammen mit dem Nachfolger des Petrus das Bischofs-
kollegium. Aufgrund der Einsetzung des Simon zum Felsen/Petrus und zum Binden und
Lösen (Mt 16,18-19) und zum Hirten der ganzen Herde (Joh 21,15-17) ist dem Petrus
eine besondere Aufgabe übertragen. Das bedeutet, dass der Papst einen gewissen Primat
innehat, den die Kirche so versteht:
„Der Römische Bischof hat kraft seines Amtes, nämlich des Stellvertreters Christi
und des Hirten der ganzen Kirche, die volle, höchste und allgemeine Vollmacht über

76 VINZENZ VON LERINS, Commonitorium 2.


Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 47 -

die Kirche, die er immer frei ausüben kann.“77 Die Person des Papstes ist „das im-
merwährende und sichtbare Prinzip und Fundament für die Einheit der Vielheit so-
wohl von Bischöfen als auch von Gläubigen“.78
Das Bischofskollegium (Papst und Gesamtheit der Bischöfe) übt die Glaubensverkündi-
gung entweder auf gewöhnliche oder auf außergewöhnliche Weise aus: als Magisterium
ordinarium oder als Magisterium extraordinarium.
Magisterium ordinarium:
1. Ein einzelner Bischof ist in seiner gewöhnlichen Lehrverkündigung nicht sicher irr-
tumsfrei. Das gilt auch für den Papst! Wenn aber die Gesamtheit der Bischöfe aber in der
gewöhnlichen Verkündigung moralisch übereinstimmen, dann lehren sie unfehlbar, auch
außerhalb eines Konzils. Z. B.: Wenn alle Bischöfe darin übereinstimmen, dass Abtrei-
bung eine Sünde wider das menschliche Leben ist, braucht es keiner feierlichen Definiti-
on, um hierin eine für die ganze Kirche gültige Glaubenslehre zu sehen.
2. Die gewöhnliche Verkündigung der Bischöfe spricht, auch wenn sie nicht sicher irr-
tumsfrei ist, dennoch „authentisch“, d. h. sie interpretiert wahrheitsgemäß die göttliche
Offenbarung und ist so von den Gläubigen als Norm zu akzeptieren.
Magisterium extraordinarium:
1. Papst – Kathedralentscheidungen. Zunächst ist es der Papst alleine, der sein Lehramt in
„außerordentlicher Weise“ ausüben kann, indem er feierliche „ex cathedra“ spricht. Es
geht dabei darum, theologische Unklarheiten zu beseitigen, indem gewisse Sätze feierlich
als von Gott geoffenbarte Wahrheit verkündet werden. So geschehen in den Mariendog-
men von 1854 (Immaculata Conceptio) und 1950 (Assumptio corporalis). In diesen Fäl-
len lehrt der Papst „infallibel“, untäuschbar bzw. irrtumsfrei, da er den Glauben der Kir-
che durch einen Satz, ein Dogma, interpretiert.
2. Bischofskollegium – Ökumenisches Konzil: Das außergewöhnliche Lehramt üben aber
auch die Bischöfe aus, wenn sie sich, vom Papst einberufen, zu einem Ökumenischen
Konzil versammeln und dort - mit dem Papst - Glaubenswahrheiten definieren. So ge-
schehen auf dem 1. Vatikanischen Konzil 1870. Zur Ausübung des außerordentlichen
Lehramtes gehört die Absicht, infallibel zu sprechen. Wichtig ist, dass solche infallible
Dogmatisierungen keine „Erfindungen“, sondern „Feststellungen“ sind. Das Lehramt
stiftet den Glauben nicht, es bewahrt ihn und verteidigt ihn.
Muss man auf das Lehramt hören? Die Katholiken betrachten das Lehramt, das Christus
seinen Apostel übertragen hat, als Geschenk, denn dadurch wird ihnen sichergestellt, dass

77 2. Vatikanisches Konzil, Lumen gentium Nr. 22: DH 4146.


78 2. Vatikanisches Konzil, Lumen gentium Nr. 23: DH 4147.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 48 -

sie nicht irgendwelchen Fabeleien und ideologischen Moden glauben, sondern Jesus
Christus selbst, dessen Botschaft zu allen Zeiten eine Provokation des Zeitgeistes war!

d. Das Kriterium der wissenschaftlichen Theologie (theologia)


Aufgabe der wissenschaftlichen, akademischen Theologie ist es, den Glauben intellektu-
ell immer tiefer zu erfassen. Theologie ist nicht bloß Religionswissenschaft über das
Christentum, also Betrachtung „von außerhalb“, sondern sie ereignet sich innerhalb des
Raumes des Glaubens, gemäß der Definition von Theologie als „intellectus fidei“. And-
rerseits ist die Theologie der Vernunft verpflichtet, d. h. sie darf kritisch, frei und dialo-
gisch mit der Welt sein. Freilich würde man sich angesichts der heutigen Situation wün-
schen, dass die Theologie gläubiger wird, dass sie nicht das Evangelium kritisiert, son-
dern auf der Basis des Evangeliums dort kritisch auftritt, wo sich nicht nur Unchristli-
ches, sondern auch Widerchristliches zeigt.
Obwohl die wissenschaftliche Theologie nicht selbst Lehramt ist, haben ihre Erkenntnis-
se doch einen bedeutenden Einfluß auf das Glaubensverständnis. So hat beispielsweise
die nachkonziliare Theologie wichtige vergessene Aspekte neu ins Bewußtsein gebracht,
die heute allgemeine Lehrmeinung geworden sind, z. B. die grundsätzliche Gnadenprä-
gung jedes Menschen (Karl Rahner: übernatürliches Existential). Im vorigen Jahrhundert
lieferte die Theologie des Duns Scotus († 1308) ein Verständnismodell für die erbsünd-
freie Empfangensein Mariens und ermöglichte durch die Idee der „Præservatio“ die feier-
liche Dogmatisierung eines schon lange in der Volksfrömmigkeit verankerten Glaubens-
gutes.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 49 -

e. Das Kriterium des Glaubenssinnes (sensus fidei)


Glaube ist ja nicht abstraktes Theoretisieren, sondern setzt sich in die Praxis, in das kon-
krete Leben der Gläubigen um. Das ganze christliche Volk (insofern es wahrhaft aus dem
Glauben lebt) besitzt nun den „Sinn Christi“ (1 Kor 2,16) und kann kraft des Geistes den
Glauben verstehen (Kol 1,9; vgl. Joh 14,17 u. a.). Man könnte hier auch - mit den Kir-
chenvätern - von einem „instinctus fidei“ sprechen. Stellt der Glaubenssinn also eine Art
„demokratisches“ Kriterium für Glaubenswahrheiten dar? Die Innerlichkeit und Heilig-
keit des Gläubigen wird als Gradmesser für den Glaubenssinn heranzuziehen sein. Je tie-
fer einer aus dem Heiligen Geist lebt, desto tiefer er in die Abgründe der Pläne Gottes
schauen können, desto mehr Gewicht ist seinem Glaubensverständnis zuzumessen. Je
heiliger, desto tiefer der Glaubenssinn.
Der Sensus fidei funktioniert also nicht nach demokratischen Prinzipien, wo jede Stimme
- unabhängig von der Qualifikation des Wählenden - gleiches Gewicht hat. Glaubens-
wahrheiten können nicht mittels eines demokratischen Mehrheitskonsenses geändert
werden. Deshalb bringen Umfrageergebnisse unter Gläubigen oft nur zum Vorschein,
dass eine Mehrheit keinen „sensus fidei“ besitzt. Hingegen war in vergangenen Zeiten für
die Dogmatisierung der Unbefleckten Empfängnis Mariens das Drängen des gläubigen
Volkes von entscheidender Bedeutung. Verschiedene Kaiser und Fürstenhäuser, viele
Heilige „kämpften“ für diese ihnen teuer gewordene Glaubenserkenntnis, für die progres-
sive „nova opinio“ des Duns Scotus. Der Dominikanerorden hingegen hielt an der alten
thomanischen Lehre fest. An der Universität in Paris wurde beispielsweise 1497 die Ver-
leihung eines akademischen Grades vom Eid abhängig gemacht, die Immaculata Concep-
tio zu verteidigen79. Das Abgehen von kirchenarchitektonischen Utopien, wie sie um
1970 Mode wurden, ist nicht zuletzt dem Widerstand der einfachen Gläubigen und ihrem
Charisma des rechten Glaubensverständnisses zu verdanken.
Satz 22: Authentische Glaubenslehre ist, was sich in Übereinstimmung mit
Schrift, Tradition, Lehramt, Theologie und dem Glaubenssinn der
Gläubigen befindet.

79 Vgl. U. HORST, Die Diskussion um die Immaculata Conceptio im Dominikanerorden,


Paderborn 1987, hier 15.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 50 -

2. Teil: SS 2005 (1 Sws)

„Das Mysterium Gottes, - des Vaters“

§ 3: „…an Gott“:
Die Erkenntnis Gottes durch das natürliche Subjekt

1. Die natürliche Erkenntnis der Existenz Gottes

A. Kann Gott allein kraft der Vernunft erkannt werden?

a. Die Lehre von Schrift und Tradition


Die Schrift lehrt, dass jeder Mensch das Dasein Gottes aus der Natur erkennen kann. Das
bereits unter dem Einfluss griechischen Denkens alttestamentliche Buch der Weisheit ist
hierfür ein Hauptbeleg: In Weish 13 klagt der Hagiograph, wie töricht doch die Men-
schen sind, denen die Erkenntnis Gottes fehlt. Töricht, weil sie nicht aus den sichtbaren
Dingen, aus der Schönheit der Weltdinge die noch größere Schönheit Gottes erkennen.
Vielmehr bleiben die Heiden bei den geschaffenen Dingen stehen und halten sie selbst
für Götter.
Weish 13,5 „Denn aus der Größe und Schönheit der Geschöpfe wird durch Verglei-
che (αναλογως) der Schöpfer erschlossen.“
Dieselbe Argumentation verwendet Paulus an verschiedenen Stellen. Der Grundtenor
lautet, dass Gott das Vermögen, ihn aus den Werken der Schöpfung zu erkenne bzw. sei-
nen Geboten zu folgen, in das Herz des Menschen eingeschrieben hat (vgl. Röm 2,14f.).
Die Heiden hätten also Gott - als den Höchsten, den erhabenen Schöpfer - sehr wohl kraft
ihres bloßen Verstandes aus den Werken der Natur erkennen müssen. Darin, dass die
Heiden aber nicht zur wahren Gotteserkenntnis gelangen, sondern zur Anbetung von
Götzen, darin offenbart sich der Zorn Gottes. Die berühmte Stelle in Röm 1 lautet:
Röm 1,18-23: „Gottes Zorn enthüllt sich vom Himmel her über alle Gottlosigkeit und
Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit in Ungerechtigkeit niederhalten. Ist
doch, was sich von Gott erkennen lässt, in ihnen offenbar; Gott selbst hat es ihnen
kundgetan. Denn sein unsichtbares Wesen, seine ewige Macht und Göttlichkeit sind
seit Erschaffung der Welt an seinen Werken durch die Vernunft zu erkennen. Sie sind
darum nicht zu entschuldigen, weil sie trotz ihrer Erkenntnis Gottes ihn nicht als Gott
verherrlichten und ihm nicht dankten; sondern sie verfielen in ihren Gedanken auf
Nichtigkeiten, und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert. Sie rühmten sich, weise
zu sein, und sind zu Toren geworden. Sie vertauschten die Herrlichkeit des unver-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 51 -

gänglichen Gottes mit dem Abbild der Gestalt von vergänglichen Menschen, von Vö-
geln, Vierfüßlern und Gewürm.“
Auch in der Apostelgeschichte finden wir in der Verkündigung des Paulus die Konzepti-
on, dass die Erkenntnis Gottes eigentlichen allen Menschen, gerade auch den Heiden,
zugänglich sein müßte: Rede zu Lystra (Apg 14,14-16; Rede auf dem Areopag zu Athen
(Apg 17,26-29, „denn in ihm leben wir, bewegen wir uns und sind wir“).
Die frühen Kirchenväter, welche den christlichen Gottesbegriff in eine griechisch vorge-
bildete Welt zu verkünden hatten, knüpften gerne an die paulinische Lehre von der all-
gemein zugänglichen, natürlichen Erkennbarkeit Gottes an. Wegen dieser Selbstverständ-
lichkeit des Gott-Erkennen-Könnens meint Tertullian, dass jede Seele von Natur aus
christlich sei: Anima humana naturaliter christiana!80
Satz 23: Nach Weish 13 und Röm 1,20 kann jeder Mensch von Natur aus Gott
aus den Werken der Schöpfung erkennen.

b. Gibt es eine angeborene Gottesidee?


Wenn also die Erkenntnis Gottes jedem Menschen - kraft seiner Vernunft - jedem Men-
schen zugänglich ist, stellt sich die Frage, ob nicht vielleicht die Idee Gottes als solche
dem Menschen angeboren sein könnte. Im vorigen Jahrhundert wurden solche Thesen
von katholischen Theologien vertreten (Heinrich Klee, Anton Staudenmaier, Ludwig
Thomassinus, Johannes von Kuhn); deren Lehre wird als sogenannter „Ontologismus“
bezeichnet. Wenn es eine „idea innata“, eine angeborene Idee vom Dasein Gottes gibt,
dann hätte dies weitreichende Konsequenzen: erstens könnte die Existenz Gottes nie mit
Sicherheit erkannt werden, da die angeborene Gottesidee ja auch bloß ein Spiel der Phan-
tasie sein könnte, dem in der objektiven Wirklichkeit nichts entspricht. Zweitens wäre
damit die Vernunft in ihrer Fähigkeit zur Wahrheitserkenntnis entmachtet, sie könnte gar
nicht anders als das zu erkennen, was ihr ein innerer Betriebsplan vorgibt. Drittens wider-
spricht eine solche Auffassung der Tatsache, dass die Schrift immer wieder davon
spricht, dass Gott „aus den Werken der Natur“ erkannt wird. Damit ist aber gegeben, dass
die Vernunft Gott „diskursiv“, also „schlußfolgernd“ erkennt.
Die Kirche hält in ihrer Lehre fest, dass nicht die Gottesidee selbst dem menschlichen
Verstand angeboren ist, wohl aber hat Gott von Natur aus dem Verstand die Fähigkeit
eingepflanzt, ihn schlußfolgernd zu erkennen81. Die natürliche Gotteserkenntnis ist also

80 Im Original lautet das Zitat TERTULLIANS, Apologia 17: „„O testimonium animae natu-
raliter christianae!”
81 THOMAS VON AQUIN, In Boethium De Trinitate qu. 1 a. 3 ad 6: „Eius [Dei] cognitio
nobis innata dicitur esse, in quantum per principia nobis innata de facili percipere possu-
mus Deum esse.”
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 52 -

eine „ratiocinatio“, eine logische, diskursive Schlußfolgerung: Von der Existenz der end-
lichen Dinge wird auf die Existenz des Unendlichen, von der Schönheit der Welt auf die
Schönheit Gottes usw. geschlossen.
Satz 24: Nicht die Idee Gottes ist angeboren, sehr wohl aber die Fähigkeit Gott
zu erkennen.

B. Die Lehre der Kirche über die natürliche Gotteserkenntnis


Das 1. Vatikanische Konzil lehrt in seiner Konstitution „Dei Filius“ von 1870: Es formu-
liert dort die traditionelle Lehre der Kirche über die Gottfähigkeit der Vernunft in einer
dogmatischen Formel aus:
„Dieselbe heilige Mutter Kirche hält fest und lehrt, dass Gott, der Ursprung und das
Ziel aller Dinge, mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft aus den ge-
schaffenen Dingen gewiß erkannt werden kann; ‘das Unsichtbare an ihm wird näm-
lich seit der Erschaffung der Welt durch das, was gemacht ist, mit der Vernunft ge-
schaut (Röm 1,20)…“82
Die Konzilsdefinition beinhaltet folgende Präzisierung der kirchlichen Position:
1. Wer kann Gott erkennen? Jeder Mensch, insofern er „mit dem natürlichen Licht der
menschlichen Vernunft“ ausgestattet ist. Die Fähigkeit, Gott zu erkennen, ist also eine
allgemein-menschliche Anlage. Hingegen lehrt der „Fideismus“, dass Gott nur dem
Glaubenden zugänglich ist, die Gotteserkenntnis also strikt übernatürlich ist.
2. Wie kann man Gott erkennen? Die Gotteserkenntnis geschieht „aus den geschaffenen
Dingen“. Der Blick auf die Weltdinge gleitet weiter zum Blick auf den Schöpfer dieser
Dinge. Hingegen lehrt der „Ontologismus“, dass die Gottesidee selbst schon angeboren,
im Inneren des Menschen verankert sei, und nicht von außen gewonnen wird.
3. Was kann von Gott auf diese Weise erkannt werden? Das Konzil nennt Gott hier „Ur-
sprung und Ziel aller Dinge“. Gott kann also zumindest als Schöpfer der Welt erkannt
werden.
4. Wie sicher ist eine solche Erkenntnis? Das Konzil spricht in sehr kluger Weise davon,
dass Gott solcherart „gewiß erkannt werden kann“ (certo cognosci posse). Das heißt ei-
nerseits, dass niemand von seinem Verstand gezwungen wird, die Existenz eines Schöp-
fergottes zu erkennen (posse: gegen den Erkenntnisrationalismus, der meinte, die Gottes-
erkenntnis sei notwendig zwingend). Aber andrerseits die natürliche Gotteserkenntnis in
ihrer Art doch keine bloße Einbildung oder Wunschidee ist, sondern kraft ihrer Logik

82 1. Vatikanisches Konzil, Dei Filius: DH 3004; vgl. den dazugehörigen Canon 3026.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 53 -

„sicher“ ist (certo: gegen den Vernunftpessimismus, der meinte, die Vernunft allein kön-
ne nichts mit Sicherheit erkennen).
Das 2. Vatikanum hat diese Lehre in einem einzigen Satz aufgegriffen und in anderer
Weise akzentuiert: Ging es dem 1. Vatikanum um die Fähigkeit der Vernunft, Gott zu
erkennen, geht es dem 2. Vatikanum um Gott, der dem Menschen die Chance gibt, ihn
aus den geschaffenen Dingen zu erkennen. Der lapidare Satz in der Konstitution „Dei
Verbum“ lautet:
„Gott, der durch das Wort alles erschafft (vgl. Joh 1,3) und erhält, gibt den Menschen
jederzeit in den geschaffenen Dingen Zeugnis von sich (vgl. Röm 1,19-20).“83
Satz 25: Lehre der Kirche ist, dass Gott als Schöpfer in den geschaffenen Din-
gen Zeugnis ablegt von sich selbst. Deshalb kann der Mensch mit ver-
nünftiger Gewissheitserkenntnis die Existenz Gottes aus den geschaffe-
nen Dingen erschließen.

2. Die Kausale Schlussfolgerung auf die Existenz Gottes

A. Zum Begriff „Gottesbeweis“

a. Was heißt „Gottesbeweis“?


Bisher wurde festgestellt, dass Gott von jedem Menschen erkannt werden kann, sodann
dass diese Erkenntnis „a posteriori“ erfolgt. Die Existenz eines Gottes ist keine angebo-
rene Idee, sondern erschließt sich dem menschlichen Erkennen aus der Begegnung mit
den geschaffenen Dingen. Die Frage lautet: Gibt es die Möglichkeit, dass Dasein Gottes
schlüssig logisch aufzuzeigen? Gibt es „Gottesbeweise“? Dabei ist zu sagen, dass der
deutsche Ausdruck „Gottesbeweis“ irreführend und falsch ist, wenn „Beweis“ im moder-
nen naturwissenschaftlichen Sinn verstanden wird: Die Naturwissenschaft „beweist“,
indem sie experimentiert, quantifiziert und somit die Vernunft „zwingt“, gewisse zu-
nächst verborgene „geheimnisvolle“ Wahrheiten (z. B. das Gesetz der Relativität von
Raum und Zeit) unwiderlegbar anzunehmen. Der Verstand ist etwa nicht frei, anzuneh-
men, dass die Erde rund ist. Er muss es, da die Beweise dafür absolut evident sind. In
diesem Sinn kann Gott selbstverständlich nicht bewiesen werden. Aufgrund des Gegens-
tandes, der erkannt werden soll, nämlich Gott als unendlich erhabenes, absolut transzen-
dentes Wesen, ist klar, dass der endliche Verstand dieses Gottes niemals habhaft werden
kann. Der Mensch bleibt immer frei, die Existenz Gottes - auch wenn sie noch so logisch

83 2. Vatikanisches Konzil, Dei Verbum 3: DH 4203: „Deus, per Verbum omnia creans et
conservans, in rebus creatis perenne sui testimonium hominibus praebet…”
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 54 -

sein sollte - anzunehmen, da Gott eben gerade nicht naturwissenschaftlich evident bewie-
sen werden kann.
Wenn von „Gottesbeweisen“ die Rede ist, dann ist gemeint, dass die Existenz Gottes
durch schlußfolgerndes Denken „aufgewiesen“ werden kann. Der Begriff „Gottesauf-
weis“ wäre demnach vorzuziehen. Die Lehre der Kirche spricht von einem „demonstra-
re“. Wurde 1870 durch das 1. Vatikanum definiert, dass Gott „mit Sicherheit erkannt
werden kann“, so erweitert Papst Pius X. diese Lehre, wenn er im Antimodernisteneid
1910 festlegt, dass die Existenz Gottes „adeoque demonstrari posse“, sogar aufgewiesen
werden könne:
„Ich bekenne, dass Gott, der Ursprung und das Ziel aller Dinge, mit dem natürlichen
Licht der Vernunft, durch das, was gemacht ist’ (Röm 1,20), das heißt durch die
sichtbaren Werke der Schöpfung, als Ursache vermittels der Wirkungen (tamquam
causam per effectus) sicher erkannt und sogar auch bewiesen werden kann (certo
cognosci, adeoque demonstrari etiam posse).“84
Ebenso hat Pius XII. in seiner Enzyklika „Humani Generis“ von 1950 erklärt, dass „die
menschliche Vernunft ohne die Hilfe der göttlichen ‘Offenbarung’ und göttlichen Gnade
mit Argumenten, die aus den geschaffenen Dingen abgeleitet wurden, beweisen kann,
dass ein persönlicher Gott existiert.“85
Satz 26: Nach der Lehre der Kirche ist ein argumentativ stringentes Aufweisen
(demonstrare) der Existenz Gottes – a posteriori – möglich.

b. Die fünf kosmologischen Gottesbeweise


Die Lehre der Kirche von einem „Deum demonstrari posse“ ist keineswegs neu, sondern
entspricht einer langen philosophischen Tradition. Nicht erst die Kirchenväter (die Apo-
logeten, Tertullian, Augustinus, Anselm usw.) suchten Argumente für die Existenz Got-
tes anzuführen, sondern schon die Philosophen der Antike, allen voran Aristoteles und
Platon.
Was macht eine Argumentation aber zum „Gottesbeweis“ im spezifischen, vom Lehramt
gemeinten Sinn? Von entscheidender Bedeutung ist, dass der Denkweg „a posteriori“
erfolgen muss, also von der evidenten Seinserkenntnis ausgehend kausal auf die Existenz
Gottes schließen muss, von der Wirkung auf die Ursache. Im Lateinischen nennt man

84 DH 3538. Vgl. schon DH 2751, wo gegen den Fideisten und Traditionalisten Louis-
Eugène Bautain festgestellt wurde, dass das „schlußfolgernde Denken (le raisonnement)
die Existenz Gottes mit Sicherheit beweisen kann (peut prouver avec certitude l’existence
de Dieu…”
85 PIUS XII, Humani Generis: DH 3890. Vgl. die Studie von G. KRAUS, gotteserkenntnis
ohne Offenbarung und Glaube, paderborn 1986.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 55 -

dieses logische Schlußfolgern „ratiocinatio“. Da hier von der Beobachtung des endlichen
Seins (kosmos) ausgegangen wird, spricht man auch von den „kosmologischen Gottes-
beweisen“86.
Die Systematisierung der kosmologischen Argumentation, die bereits von Aristoteles
bzw. Platon entwickelt wurde, erfolgt durch Thomas von Aquin in der Summa theologica
I, q. 2, a. 387. Thomas spricht auch nicht von „Gottesbeweisen“ oder ähnlichem, sondern
er nennt es die „Wege“, auf denen die Vernunft zur Einsicht in die Existenz Gottes ge-
langen kann. Da er fünf solcher logischer Denkformen aufzählt, spricht er von den „quin-
que viae“. Im Deutschen hat sich das Wort „Gottesbeweis“ eingebürgert. Die fünf tho-
manischen Wege, alle basierend auf dem kosmologischen Argument, lauten:
1. Von der Bewegung in der Welt wird auf einen ersten unbewegten Beweger geschlos-
sen (Aristoteles).
2. Die Kausalität, also die Ordnung von Ursache und Wirkung in der Welt verweist auf
eine erste unverursachte alles verursachende Ursache (Aristoteles).
3. Das Seiende in der Welt ist nur möglich, nur zufällig; es fordert daher ein ermögli-
chendes, begründendes und letztnotwendiges Sein (Platon).
4. Es gibt in der Welt eine Stufung der Seienden, dazu ist ein höchstes vollkommenes
Sein notwendig (Platon).
5. In der Welt gibt es Zweckmäßigkeit und Zielstrebigkeit, daher muss es einen höchsten
geistigen Urheber geben (Platon)
Satz 27: Unter „Gottesbeweis“ im engeren Sinn versteht die Theologie den apos-
teriorischen, schlussfolgernden Aufweis einer letzten nichtkontingenten
Ursache der geschaffenen Dinge.

c. Der „ontologische Gottesbeweis“ des Anselm von Canterbury


Es gibt in der Theologiegeschichte auch den Versuch, gleichsam „apriori“ die Existenz
Gottes aufzuweisen. Anselm von Canterbury († 1109) wollte von der Tatsache, dass es in
unserem Denken die Vorstellung von etwas gibt, worüber hinaus nichts größeres gedacht
werden kann (aliquid quo maius cogitari nequit) auf die Existenz eines solchen Größten
zu schließen: Nach Anselm gehört zum Begriff des „Größten“ auch das Sein, die Exis-
tenz, sonst wäre es nicht das Größte. Also ist Gott!

86 Vg. F. COURTH, Der Gott der dreifaltigen Liebe, 49-55. Courth zählt neben dem kosmo-
logischen Argument noch weitere „Gottesbeweise” auf.
87 Vgl. auch in der Summa contra gentiles I, 13.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 56 -

Die Kritik an diesem Gottesbeweis ist nicht schwer: Hier werden die Ebene der Idee und
die Ebene der Wirklichkeit miteinander gleichgesetzt. Schon Gaunilo von Marmoutier
veröffentlichte eine Spottschrift auf Anselm „Liber de insipiente“ (Schrift über den
Dummkopf): Nach Gaunilo könnte es ja auf diese Weise auch eine höchst vollkommene
Insel geben, die angeblich irgendwo bestehe, obwohl sie niemand je gesehen hat. Gemäß
der anselmschen Logik müsse diese Insel sowohl im Verstehen als auch in der Wirklich-
keit existieren, da sie ja die höchst vollkommene Insel sei. Anselm hat in einem „Liber
apologeticus contra Gaunilonem“ dagegen geantwortet, dass die Idee einer vollkommens-
ten Insel innerlich unmöglich sei, da jede Insel Begrenzung und Unvollkommenheit ein-
schließe.
Sehr scharf hat Thomas von Aquin auf die Unlogik des anselmschen Gott-Denkens hin-
gewiesen; er ist trotzdem unter dem Namen „ontologischer Gottesbeweis“ in die Theolo-
giegeschichte eingegangen. Der logische Fehler ist, dass hier vom Vorhandensein eines
Gedankens auf das Vorhandensein einer objektiven Wirklichkeit geschlossen wird, also
von der Idee auf das Sein, vom Begriff auf die Wirklichkeit.
Wir merken uns: Der „ontologische Gottesbeweis“ stellt einen Zirkelschluss dar, der vom
Gedanken eines Höchsten auf die Existenz eines Höchsten schließen möchte. Dies wider-
spricht der Logik, der „Ratiocinatio“.
Satz 28: Der von Anselm entwickelte „ontologische Gottesbeweis“ schließt vom
Vorhandensein der Idee eines Höchsten (id quo maius) auf dessen Exis-
tenz.

B. Die Struktur der klassischen „Gottesbeweise“


Unter Gottesbeweis versteht man also die Möglichkeit, innerhalb eines rein philosophi-
schen Denkens, die Existenz Gottes schlußfolgernd aufzuweisen. Die „quinque viae“ des
Thomas von Aquin sind, um es nochmals zu betonen, weder empirische Beweise im Sinn
quantifizierbarer Experimente, noch logisch stringente Beweise im Sinne mathematischer
Formeln. Alle fünf Wege haben die gleiche Struktur (mit Ausnahme des fünften, soge-
nannten „teleologischen“ Beweises): Ausgangspunkt sind für Thomas letztlich zwei Phä-
nomene der Metaphysik, nämlich die „Kontingenz“ und die „Kausalität“. Exemplarisch
soll hier nur der „erste Weg“ vorgestellt werden, der auch der Beweis aus der „Bewe-
gung“ genannt wird. „Bewegung“ meint hier nicht die geographische Ortsveränderung,
sondern die Seinsentwicklung, das „Werden“. Alles Werden ist ja eine Bewegung aus der
Möglichkeit in die Wirklichkeit, aus der Potentialität in die Aktualität. Hier die „prima
via“:
„Fünf Wege gibt es, das Dasein Gottes zu beweisen. Der erste und nächstliegende
geht von der Bewegung aus. Es ist eine sichere, durch das Zeugnis der Sinne zuver-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 57 -

lässig verbürgte Tatsache, dass es in der Welt Bewegung gibt. Alles aber, was in Be-
wegung ist, wird von einem anderen bewegt. Denn etwas kann nur in Bewegung
sein, sofern es unterwegs zum Ziel der Bewegung ist… Bewegen heißt nämlich
nichts anderes als: ein Ding aus seiner Möglichkeit in die entsprechende Wirklichkeit
überführen… Es ist unmöglich, dass etwas sich selbst bewegt. Also muss alles, was
in Bewegung ist, von einem anderen bewegt sein. Wenn demnach das, wovon etwas
seine Bewegung erhält, selbst auch in Bewegung ist, so muss auch dieses wieder von
einem anderen bewegt sein, und dieses andere wieder von einem anderen. Das kann
aber unmöglich so ins Unendliche fortgehen, da wir dann kein erstes Bewegendes
und infolgedessen überhaupt kein Bewegendes hätten. Denn die späteren Beweger
bewegen ja nur kraft des ersten Bewegers, wie der Stock nur insoweit bewegen kann,
als er von der Hand bewegt wird. Wir müssen also unbedingt zu einem ersten Bewe-
genden gelangen, das von keinem bewegt ist. Dieses erste Bewegende aber meinen
alle, wenn sie von Gott sprechen.“88
In der Argumentationsstruktur ist Thomas ein treuer Schüler des Aristoteles89Die Denk-
schritte der kosmologischen Gottesbeweise lassen sich summarisch zusammenfassen:
1. Alles, was ist, ist kontingent, d.h. es kann (so) sein, muss aber nicht mit letzter Not-
wendigkeit so sein. (Kontingenzprinzip)
2. Alles, was ist, ist verursacht. Jede Ursache ist aber wieder zugleich die Wirkung einer
kontingenten Ursache. (Kausalitätsprinzip)
3. Aus diesen Prämissen kann die Konklusion gezogen werden: Da alles Kontingente
eine kontingente Ursache hat gibt es, wenn alle Ursachen kontingent sind, keine hinrei-
chende Erklärung für das Dasein der Welt. Oder einfacher gesagt: Endliches kann nicht
nur von Endlichem allein verursacht sein. Auch ein „regressus ad infinitum“ würde nichts
erklären, da auch eine „unendliche Kette“ von verursachten Ursachen nicht die Existenz
der Kausalkette an sich erklären könnte. Es erhebt sich also die Frage nach einer Ursache,
die jenseits der kontingenten Kausalität steht, die Frage nach einer Ursache, die nicht
wieder verursacht ist. Diese letzte, unverursachte Ursache, so Thomas, meinen alle, wenn
sie von Gott sprechen.
Diese Schlussfolgerung ist im eigentlichen Sinne schon „theologisch“, denn der Philo-
soph könnte ja die kontingente Ursache als unbeantwortbare Frage abtun. Eine letzte un-
verursachte und absolute Ursache von allem anzunehmen, ist ein Akt meta-
philosophischer Reflexion. Es ist deshalb korrekt, hier bereits von „natürlicher Theolo-
gie“ zu sprechen, noch dazu wenn man bedenkt, dass das thomanische Denken in weite-
ren Schlüssen - mittels der Seinsanalogie - durchaus auch Eigenschaften dieser letzten

88 THOMAS VON AQUIN, Summa theologica I, q.2,3.


89 K. OEHLER, Der Unbewegte Beweger des Aristoteles, Frankfurt 1984.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 58 -

Ursache zu erdenken weiß: sie muss transzendent, vernünftig, unbewegt, bewegungslos,


leidlos, personal usw. sein.
Satz 29: Die logische Struktur der Gottesbeweise geht von der Vernunfter-
kenntnis aus, wonach es 1. ein Gesetz der allgemeinen Kontingenz und
2. ein Gesetz der allgemeinen Kausalität gibt. Von daher gelangt man
zu folgendem Syllogismus: Da alles Kontingente eine kontingente Ursa-
che hat, der letzte Grund des Seins aber nicht in einer unendlichen Ket-
te kontingenter Ursachen liegen kann, muss es eine unverursachte Ur-
sache geben.

C. Einige Irrtümer hinsichtlich der natürlichen Erkennbarkeit Gottes

1. Der Traditionalismus, der hier gemeint ist, ist eine theologische Strömung im Frank-
reich des 19. Jahrhunderts. Seine Vertreter sprechen der Vernunft die Fähigkeit ab, Gott
von sich aus zu erkennen90. Dass in allen Menschen eine Form der Gottessehnsucht vor-
handen ist, wird so erklärt, dass Gott dem Menschen bei der Schöpfung eine Art „Urof-
fenbarung“ seiner selbst geschenkt hat. Diese gnadenhafte geschenkte Erkenntnis der
Existenz Gottes und der sittlichen Grundwahrheiten wurde dann durch Tradition von Ge-
neration zu Generation weitergegeben.
2. Der Atheismus versucht die Existenz Gottes und damit auch die Erkennbarkeit Gottes
zu leugnen. Atheismus ist Agnostizismus. Nun kann nach katholischer Auffassung Gott
aber mit Sicherheit - kraft aposteriorischer Vernunfterkenntnis - erkannt werden. Daraus
folgt, dass es nach der Lehre der Kirche eine sichere Einsicht, dass Gott nicht existiert,
nicht geben kann! Konkret heißt das: Es widerspricht der Vernunft mehr, nicht zu glau-
ben, als zu glauben! Der Atheismus tritt in verschiedenen Formen auf: als Agnostizismus,
Skeptizismus, Materialismus, Pantheismus und Kritizismus. Das 2. Vatikanische Konzil
hat in 3 Kapiteln von „Gaudium et Spes“91 versucht, das Wesen des Atheismus zu ver-
stehen; darauf hingewiesen, dass der Atheismus nicht nur der Würde des Menschen wi-
derstreitet, sondern dass er auch die Fragen des Menschen in schmerzlicher Weise unbe-
antwortet lässt. Paulus spricht in Röm 1,20 davon, dass jene, die sich der Erkenntnis Got-
tes widersetzen „unentschuldbar“ sind.
3. Eine besondere Rolle in der Lehre von der Erkennbarkeit Gottes nimmt Immanuel
Kant ein. In der 1781 erschienen Schrift „Kritik der reinen Vernunft“ leugnet er die
Stringenz der klassischen, thomanischen Gottesbeweise. Ansatzpunkt seiner Kritizismus

90 Wichtige Vertreter des Traditionalismus sind: L. E. Bautain, F. de Lamenais, L. G. A. de


Bonald. Schon 1855 wurde Augustin Bonetty verurteilt, weil er traditionalistische Er-
kenntnislehre vertrat: DH 2811-2814.
91 2. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 19-21.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 59 -

ist die Auffassung, dass es im menschlichen Geist eine Reihe von Schemata gibt, soge-
nannte Kategorien, welche vorgegeben - apriori - sind und die sinnlich aufgenommene
Erkenntnis ordnen. So ist das Kausalitätsprinzip für Kant durchaus nichts, das in der Ob-
jektivität allgemeingültig gegeben ist, sondern ein inneres Apriori, ein Raster; und diese
Kategorie gelte nur für die sinnenfällige Erkenntnis. So könne man nicht mittels der Kau-
salität von der Schöpfungswelt auf Gott schließen. Die Unerkennbarkeit Gottes ist die
logische Folge dieser Voraussetzungen. Für Kant ist der Begriff Gott nichts anderes als
das innere Apriori einer höchsten Kategorie92.
4. Erwähnenswert ist auch der „Modernismus“, eine binnenkatholische Zeitströmung am
Anfang des 20. Jahrhunderts. Nach Alfred Loisy und George Tyrell ist die Religion et-
was, das aus dem inneren Gottesbedürfnis entsteht. Die Vernunft ist nicht fähig, in diesen
seelenimmanenten Bereich der Bedürfnisse und Sehnsüchte vorzudringen. Nach dem
Modernismus ist letztlich die Idee Gottes selbst ein Produkt der eigenen Wünsche.
Satz 30: Alle Richtungen, welche Fähigkeit der Vernunft bezweifeln, Wahres zu
erkennen, bestreiten folglich auch die natürliche Erkennbarkeit Gottes.

92 K.-H. MICHEL, Immanuel Kant und die Frage der Erkennbarkeit Gottes, Wuppertal 1987,
197-248.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 60 -

§ 4: „…an Gott, den Vater den allmächtigen“

1. Die Seinsanalogie

Begriffe: analogia (gr.) = similitudo (lat.) = Ähnlichkeit (dt.)

A. Gibt es eine Ähnlichkeit zwischen Welt und Gott und wie ist sie beschaf-
fen?

a. Die Bedeutung der Seinsähnlichkeit


Das Wesen der Gottesbeweise besteht darin, von der Tatsache, dass es endliches Sein
gibt, auf die Tatsache zu schließen, dass es unendliches Sein gibt: vom Sein der Welt
wird auf das Sein Gottes geschlossen. Dies ist nur unter der Voraussetzung möglich, dass
es eine natürliche Ähnlichkeit (Analogie) zwischen den beiden Dimensionen gibt: eine
Ähnlichkeit im Sein, eine „Analogia Entis“. Die Lehre von der Analogia Entis ist eines
der Fundamente der katholischen Theologie. Sie besagt, dass Gott die Welt nach seinem
Bild geschaffen hat, also ähnlich zu sich selbst. Gott ist das reine Sein (actus purus) und
die geschaffene Welt partizipiert allein dadurch, dass sie ist, an diesem Sein Gottes. Alles
endliche Sein ist Sein durch Teilhabe, partizipatives Sein. Die Folge ist, dass ein Blick
auf die endliche Welt tatsächlich einen Blick freigibt auf die unendliche Welt, so wie das
Anschauen eines Kunstwerkes etwas vom Wesen des Künstlers verstehen lässt.
Der kalvinistische Theologe und Schweizer Pfarrer Karl Barth († 1968) lehnte die katho-
lische Analogielehre heftig ab. Für ihn kann es eine Gotteserkenntnis nur aufgrund Jesu
Christi geben, nur aufgrund des Glaubens (solus Christus, sola fides). Allein der Glaube
ermöglicht ein Art Verstehen Gottes. Es gibt keine Analogia Entis sondern nur eine Ana-
logia Fidei. Die katholische Lehre von der natürlichen Gotteserkenntnis kraft der Seins-
analogie ist für ihn geradezu widerchristlich, da sie doch bedeutet, der Mensch brauche
Jesus Christus nicht, um Gott zu erkennen. Der Mensch könne ohne Glauben nach Gott
greifen. Der „Gott der Philosophen“ ist für Barth aber ein Götze, ein menschliches
Selbstprodukt. Nach Barth ist Gott „ganz anders“ als diese Welt. Nach eigenem Aus-
spruch ist die Analogielehre der einzige Grund, nicht katholisch werden zu können.
In der Konfrontation mit Karl Barths sogenannter „dialektischer Theologie“ - „Dia-
lektik“ im Sinn von „Wider-spruch“ (Gott ist ganz anders!) - hat die katholische Theolo-
gie ihr Analogieverständnis präzisiert. Hier sind vor allem P. Erich Przywara SJ und
Hans Urs von Balthasar zu nennen. Sie räumen vor allem das Missverständnis aus, die
Analogielehre würde dem - noch ungläubigen - Menschen gleichsam erlauben, Gottes
habhaft zu werden, das Geheimnis Gottes von selbst ergründen zu können. Dem ist nicht
so. Schon 1215 hat die Kirche auf dem 4. Laterankonzil das Prinzip der Analogie defi-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 61 -

niert. Anlass war die naive Trinitätslehre des Zisterzienserabtes Joachim von Fiore (†
1202). Die berühmte Definition lautet:
„Quia inter creatorem et creaturam non potest tanta similitudo notari, quin in-
ter eos maior sit dissimilitudo notanda! - Denn von Schöpfer und Geschöpf kann
keine noch so große Ähnlichkeit ausgesagt werden, ohne dass nicht eine noch größere
Unähnlichkeit ausgesagt werden muss.“ (DH 806)
Dies ist gleichsam das Prinzip jedes Redens über Gott: Zunächst ist festgehalten, dass es
eine „similitudo“ (Ähnlichkeit) zwischen Schöpfer und Geschöpf gibt. Hiergegen würde
Barth heftig protestieren. Sodann ist aber zugleich gesagt, dass diese Ähnlichkeit eine
„noch größere Unähnlichkeit“ miteinschliesst. Das Wesen Gottes liegt also in einer „ma-
jor dissimilitudo“, in einer größeren Andersheit. Dem könnte Barth wohl zustimmen. Ein
Beispiel: Da zur Vollkommenheit des endlichen Seins auch die Weisheit gehört, ist kraft
der Analogie zu schließen, dass auch Gott weise sein muss. Zugleich ist jedoch die „ma-
jor dissimiltudo“ dieser göttlichen Weisheit zu bedenken: Gott ist also ganz anders weise
als wir Menschen weise sind93.
Satz 31: Zwischen Schöpfer und Geschöpf besteht die Ähnlichkeit des Seins (A-
nalogia Entis). Deshalb ist es erlaubt, vom Sein der Welt auf das Sein
Gottes zu schließen, Ähnlichkeiten festzustellen. Die dialektische Defi-
nition des 4. Laterankonzils hält fest, dass Gott der Welt mehr unähn-
lich als ähnlich ist (maior dissimilitudo)!

b. Augustinus: Die endlichen Dinge rufen „Ich bin nicht Gott“


Hier ein berühmter Text über die Seinsanalogie von Augustinus († 430), Aus den „Be-
kenntnissen“ (Stundenbuch II / 15. Woche / Mittwoch)
Herr, ich zweifle nicht, sondern ich bin mir klar bewusst, dass ich dich liebe. Du hast
mein Herz mit deinem Wort getroffen, da liebte ich dich. Was liebe ich aber, wenn
ich dich liebe? Nicht körperliche Anmut und zeitliche Schönheit; nicht den Glanz
des Lichtes, der unseren Augen so lieb ist; nicht die süßen Weisen vielfältiger Gesän-
ge; nicht den Duft von Blumen, Salben und Gewürzen; nicht Manna und Honig, nicht
liebevolle Umarmung. Das ist es nicht, was ich liebe, wenn ich meinen Gott liebe.
Und doch ist es etwas wie Licht, was ich liebe, etwas wie eine Stimme, ein Duft, eine
Speise, eine Umarmung, wenn ich meinen Gott liebe: das Licht, die Stimme, der

93 1 Kor 1, 21-24: „Denn da die Welt angesichts der Weisheit Gottes auf dem Weg ihrer
Weisheit Gott nicht erkannte, beschloß Gott, alle, die glauben, durch die Torheit der Ver-
kündigung zu retten. die Juden fordern Zeichen, die Griechen suchen Weisheit. Wir dage-
gen verkündigen Christus als den Gekreuzigten: für Juden ein empörendes Ärgernis, für
Heiden eine Torheit, für die Berufenen aber, Juden wie Griechen, Christus, Gottes Kraft
und Gottes Weisheit.”
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 62 -

Duft, die Speise, die Umarmung meines inneren Menschen. Da leuchtet meiner Seele
etwas, was keinen Raum umfasst; dort erklingt, was die Zeit nicht wegrafft; dort duf-
tet, was der Wind nicht verweht, dort schmeckt, was beim Essen nicht sättigt; dort
werden Liebende durch keinen Überdruss entzweit. Das ist es, was ich liebe, wenn
ich meinen Gott liebe.
Und was ist das? Ich habe die Erde gefragt, und sie sagte: Ich bin es nicht 1 Und al-
les, was es auf ihr gibt, bekannte dasselbe. Ich habe das Meer befragt und seine Tie-
fen und die Lebewesen, von denen sie wimmeln, aber sie antworteten: Wir sind nicht
dein Gott. Suche droben, über uns! Ich habe die wehenden Winde gefragt, aber der
ganze Luftkreis und alle seine Bewohner sprachen: Anaximenes irrt sich; wir sind
nicht Gott! Ich fragte den Himmel, Sonne, Mond und Sterne, und sie sagten: Auch
wir sind der Gott nicht, den du suchst! Da sagte ich zu allem, was da vor der Tür
meines leiblichen Daseins umhersteht: Sprecht mir von meinem Gott, da ihr es nicht
seid, sagt mir etwas über ihn! Da riefen sie mit lauter Stimme: „Er hat uns geschaf-
fen.“ (Ps 100,3) Fragend schaute ich aufmerksamer hin, und die Antwort war ihre
Schönheit.
Da wandte ich mich an mich selbst und sprach zu mir: „Wer bist du?“ Ich erwiderte:
„Ein Mensch!“ Es gibt bei mir einen Leib und eine Seele, das eine die Außen-, das
andere die Innenseite. Was davon muss ich gebrauchen, um meinen Gott zu suchen?
Ich habe ihn im Bereich des Leiblichen gesucht, überall von der Erde bis zum Him-
mel. Soweit nur der Blick meiner Augen als Boten reichte.
Aber was innen ist, das ist besser. Denn das Innere ist der Herr und Richter über die
Antworten von Himmel und Erde und über alles, was in ihnen ist, wenn sie sagen:
„Wir sind nicht Gott“ und: „Er hat uns gemacht.“ Der innere Mensch gewinnt seine
Erkenntnisse durch den Dienst des äußeren! Ich, der innere, erkenne es, ich, der
Geist, durch die Sinne meines Leibes.
So habe ich die gewaltige Welt über meinen Gott gefragt, und sie hat mir geantwor-
tet: „Ich bin es nicht; er hat mich gemacht!“

B. Die Weise der analogen Gotteserkenntnis

a. Die drei Prinzipien der analogen Gotteserkenntnis


Es wurde festgehalten, dass zwischen Welt und Gott eine Ähnlichkeit des Seins besteht,
die Gott in sie hineingelegt hat. Beide „sind“, wenn auch der unendliche Gott in einer
ganz anderen Weise als die endliche Welt „ist“. Die katholische Theologie macht sich
diese Ähnlichkeit zunutze, indem sie vom geschöpflichen Sein Schlüsse auf das Sein
Gottes zieht, z. B. etwa aus der Weisheit innerhalb der Naturordnung auf die „Weisheit“
Gottes. In der Analogielehre lassen sich drei klassische Prinzipien dieses Schließens un-
terscheiden: durch Bejahung, durch Verneinung und durch Übersteigerung.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 63 -

1. „Via affirmativa“: Der Mensch erkennt in den Dingen dieser Welt verschiedene gute
Eigenschaften. Die Scholastik nennt solche auch „perfectiones“, Vollkommenheiten. Das
Kausalitätsprinzip berechtigt nun, diese Vollkommenheiten auch von Gott zu behaupten.
Gott ist ja die letzte Ursache des endlichen Seins, und da die Wirkung nicht vollkomme-
ner sein kann als die Ursache - nemo dat, quod non habet -, muss auch in Gott die gute
Eigenschaft vorhanden sein. Z. B.: eine Vollkommenheit im endlichen Sein ist die Perso-
nalität, also kann geschlossen werden, dass auch Gott personal sein muss. Gott kann nicht
bloß ein abstraktes wabberndes Nirvana sein, während seine geistigen Geschöpfe die
Würde der Personalität besitzen; die Ursache kann nicht weniger sein als die Wirkung.
2. „Via negativa“: Der Mensch erkennt im Sein der Welt aber auch etliche negative Ei-
genschaften, etwa die Vergänglichkeit, die Begrenztheit, die Sterblichkeit, das Unterwor-
fensein unter die Gesetze des quantitativen Raumes usw. Dies alles stellt eine Einschrän-
kung im eigentlichen Sein dar, eine „privatio“ des Seins, eine „Unvollkommenheit“. Die-
se „imperfectiones“ aber können sich in Gott nicht vorfinden, da er reines uneinge-
schränktes Sein sein muss, sie müssen von Gott negiert, ferngehalten werden. Die „Via
negativa“ oder auch „Via remotionis“ schaut auf das reine Sein Gottes: Gott ist folglich
un-endlich, un-sterblich, un-begrenzt, un-vergänglich usw. Wo in der natürlichen Gottes-
erkenntnis die Negation vernachlässigt wird, entstehen sehr menschliche Vorstellungen
von Gott, Mythen. Das Wesen der anthropomorphen Gottesidee - wie etwa die antiken
Göttervorstellungen - liegt ja eben darin, auch die endlichen Unvollkommenheiten (Kör-
perlichkeit, Affekte, Vielheit usw.) auf das göttliche Sein zu übertragen.
Schon Xenophanes († 478 v. Chr.) kritisiert die mythologische Göttervorstellung:
„Homer und Hesiod haben alles den Göttern angehängt, was nur bei Menschen
Schimpf und Tadel ist: Stehlen und Ehebrechen und einander Betrügen… Auch wäh-
nen die Sterblichen, die Götter würden geboren und hätten Gewand und Stimme und
Gestalt wie sie. Doch wenn die Ochsen und Rosse und Löwen Hände hätte oder ma-
len könnten mit ihren Händen und Werke bilden wie die Menschen, so würden die
Rosse roßähnliche, die Ochsen ochsenähnliche Göttergestalten malen und solche
Körper bilden, wie jede Art gerade selbst ihre Form hätte. Die Äthiopier behaupten,
ihre Götter seien stumpfnasig und schwarz, die Thraker, blauäugig und rothaarig…“94
So droht, wo die Negation vernachlässigt wird, die Mythologie. Wo hingegen nur das
„Nicht-So-Sein“ Gottes betont wird, entsteht eine „negative Theologie“, auch „apophati-
sche Theologie“ genannt, in der Gott immer nur der Unbegreifliche, Ganz-Andere ist.
Die östlichen Religionen sind zu sehr von diesem „Aliud“ Gottes geprägt. – Treffend die
Sicht des Nikolaus von Kues: Gott ist das „Aliud“, weil er das „Non-aliud“ ist.

94 XENOPHANES, Fragmente 11f. und 14-16, zitiert nach: W. Jaeger, Die Theologie der
frühen griechischen Denker, Stuttgart 1953, 54.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 64 -

3. „Via eminentiae“: Das dritte Prinzip besagt, dass alles, was von Gott aus dem endli-
chen Sein abgeleitet wurde, ins Übermaß gesteigert werden muss. Weisheit, Güte, Un-
endlichkeit usw. gibt es in Gott nicht nur in großem Maß, sondern in einem alles überra-
genden, unvorstellbaren Maß, eben im „eminenten Sinn“. Endliche Eigenschaften dürfen
nicht bloß quantitativ vergrößert werden (wie man von einem Wassertropfen auf ein gan-
zes Meer denkt), sondern müssen auch qualitativ ins Unendliche übersteigert gedacht
werden. Die „Via eminentiae“ hat das klarzustellen, was die Analogiedefinition des 4.
Laterankonzils die „major dissimilitudo“ nennt: Erkenntnis des endlichen Seins und Got-
teserkenntnis sind nicht univok, sondern eben nur analog.
Die drei Wege von Affimation, Negation und Eminenz, sind voneinander nicht zu tren-
nen, wenn man zu einem Begriff vom Sein Gottes gelangen möchte. In jeder Übertragung
auf Gott müssen alle drei Prinzipien ihre Anwendung finden. Z. B.: Die Schönheit ist
eine Vollkommenheit des endlichen Seins, also ist auch das unendliche Sein schön (via
affirmativa). Die Schönheit Gottes ist aber nicht an materielle Ausdrucksformen gebun-
den wie das endliche Sein, sie ist also weder beschränkt noch vergänglich (via negativa).
Da Gott also ohne Einschränkungen in höchstem Maße schön sein muss, ist er die absolu-
te Schönheit, die Schönheit selbst (via eminentiae).
Die neuscholastischen Lehrbücher geben eine Bibelstelle an, in welcher die drei phi-
losophischen Prinzipien analoger Gotteserkenntnis zusammengefaßt scheinen. Aus
didaktischen Gründen sei auf diese Stelle Sir 43,27ff. verwiesen. Dort ist davon die
Rede, dass „Gott alles ist: το παν εστιν αυτος!“ (affirmatio), sodann jedoch heißt es,
dass er „größer ist als all seine Werke!“ (negatio). Und schließlich wird dazu aufge-
fordert, den Herrn nach allen Kräften zu preisen, denn „er ist noch größer!“ (eminen-
tia)95.
Satz 32: Ein verstandesmäßiges Schließen vom endlichen Sein auf das Sein Got-
tes ist unter der Bedingung möglich, dass die Prinzipien der Affirmati-
on, Negation und Eminenz angewendet werden.

b. Die Grenzen der bloß natürlichen Gotteserkenntnis


Die katholische Theologie traut dem natürlichen Verstand sehr viel zu: so kann nicht nur
die Existenz des Schöpfergottes „sicher“ (1. Vatikanum) erkannt werden, sondern auch
bestimmte Wesenseigenschaften kann sich die Philosophie erdenken. Die Einsicht, dass
Gott allmächtig, weise, gütig, allumfassend, unendlich, unvergänglich, ewig, geistig, per-
sonal usw. ist, bedarf keines Glaubensaktes, sondern ist der bloßen Vernunft zugänglich,

95 M. PREMM, Katholische Glaubenskunde. Ein Lehrbuch der Dogmatik, Bd. 1: Wien 1951,
86.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 65 -

sodass es tatsächlich eine philosophische Gotteslehre96 gibt! Es ist hier jedoch festzuhal-
ten, dass die natürliche Gotteserkenntnis, auch wenn sie nach den beschriebenen Prinzi-
pien vorgeht, begrenzt ist, sie bleibt der von Paulus sosehr gelästerten „Weisheit dieser
Welt“ verhaftet. Aus folgenden Gründen:
1. Die analoge Gotteserkenntnis häuft Eigenschaft über Eigenschaft auf Gott und trifft
gerade damit nicht das Wesen Gottes. Gottes Sein ist ja nicht zusammengesetzt, sondern
höchst einfach. Gott ist nicht allweise und allmächtig und unendlich usw., sondern er ist
das einfache Sein schlechthin. Das zusammengesetzte und sukzessive Beschreiben des
Wesens Gottes ist bereits Zeichen, dass wir Gott nicht adäquat erkennen.
2. Die analoge Gotteserkenntnis ist nur analog. Erich Przywara hat in unserem Jahrhun-
dert - mit dem 4. Laterankonzil - unablässig betont, dass Gott immer größer ist als er er-
dacht werden könnte: „Deus semper major“97. Anselm von Canterbury hat recht, wenn er
Gott dasjenige nennt, „quo maius cogitari nequit“, worüberhinaus man nichts Größeres
denken kann98. Es gibt also das Prinzip des beständigen „maius“, d. h. deshalb auch: das
Prinzip des beständigen: „ganz anders“! Ein Beispiel: Die natürliche Erkenntnis stellt mit
Sicherheit fest, dass Gott mächtig ist, aber ebenso sicher stellt sie fest, dass Gott ganz
anders (maius) mächtig ist, als wir dies aus dem Endlichen kennen. In der christlichen
Offenbarung wird Gott selbst dem Glaubenden diese Einsicht bestätigen, indem er seine
Allmacht gerade in der Ohnmacht des Kreuzes zeigt.
3. So bleibt festzustellen, dass die Gotteserkenntnis der Philosophie letztlich inadäquat
bleibt. Der endliche Verstand hat keine Möglichkeit das Wesen Gottes adäquat, d. h. sei-
nem wahren Sein gemäß, zu erfassen. Nur Gott erkennt sich selbst in adäquater Weise.
Dennoch ist die Anstrengung solcher Gotteserkenntnis nicht falsch oder überflüssig. Sie
führt gleichsam in die Erkenntnis der Unerkennbarkeit Gottes:
Przywara: „Das denkende Erkennen Gottes beginnt und muss beginnen mit der theo-
logia positiva der Eigenschaften Gottes, wie sie sich gleichermaßen in der Schöpfung
widerspiegeln; aber sein Höhepunkt, da, wo es einigermaßen zu erkennen beginnt,
was eigentlich Gott sei, ist die Erkenntnis Gottes als des Unbekannten, d. h. als desje-

96 Vgl. W. BRUGGER, Summe einer philosophischen Gotteslehre, München 1979; B.


WEISSMAHR, Philosophische Gotteslehre, Stuttgart 1983.
97 „Deus semper major” ist der Titel eines der Hauptwerke Przywaras (ein dreibändiger
Kommentar zu den ignatianischen Exerzitien, 1938). Das andere Hauptwerk nennt Przywa-
ra „Analogia Entis” (1932
98 Urheber der Formulierung „semper major” ist AUGUSTINUS, In psalmum 62,16: „Wie
sehr wir auch wachsen würden, immer ist Er je größer, sodass wir unter Ihm, dem je Grö-
ßeren, immer die Kücken bleiben.”
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 66 -

nigen, dessen eigentliche Transzendenz erst an der Wesensschranke dieses denkenden


Erkennens geheimnisvoll aufleuchtet.“99
Die Unbegreiflichkeit Gottes - als die Form seines Wesens - ist somit das eigentliche Ziel
der natürlichen Theologie. Die Anstrengung der Vernunft ist also gerade dort, wo sie im
Staunen über die Unfaßlichkeit der Größe Gottes endet, nicht umsonst, sondern an ihrem
eigentlichen Ziel. Und damit ist auch die Fähigkeit der Vernunft definiert:
Anselm von Canterbury: „Consideratio rationabiliter comprehendit, [Deum] in-
comprehensibile esse! - Das Denken kann mit der Vernunft erfassen, dass Gott mit
der Vernunft nicht zu erfassen ist!“100
Satz 33: Philosophische Gotteserkenntnis bleibt inadäquat, da Gott vom endli-
chen Verstand nicht endgültig erfaßt werden kann; sie bleibt auch
fragmentarisch angesichts der Herrlichkeit, mit der sich Gott in seiner
Offenbarung selbst zu erkennen gibt.

C. Der „Gott der Philosophen“ ist (noch) nicht der lebendige Gott Jesu
Christi

a. Menschenweisheit
1. Obwohl die Philosophie hier der Theologie Hilfe und Vorschub leisten kann, bleibt das
Gottesbild, das der Mensch philosophisch erreicht, doch immer nur ein skizzenhaftes Ne-
belbild. Das 4. Laterankonzil hat definiert, dass die Unähnlichkeit zwischen Gott und
Welt immer größer ist als die Ähnlichkeit, die der menschliche Geist ergründen kann. Die
philosophische Gotteslehre bleibt fragmentarisch. Wie könnte der Mensch auch ohne
Gottes Offenbarung ahnen, dass Gott das liebende „Du“ des Menschen sein will101. Die
Dreifaltigkeit, die Menschwerdung, die sühnende Selbstdarbringung des Sohnes Gottes
für die Sünden der Menschen am Kreuz, all das bleibt dem Philosophen „undenkbar“!
Hier zeigt sich, dass die Weisheit auch der philosophischen Theologie nur Menschen-
weisheit bleibt.
Es gab Zeiten in der Theologie, wo man dem philosophischen Gottesbild sehr huldigte.
Vor allem die Aufklärung, die dem Deismus huldigte, wollte Gott vor allem bei seinen
vernunftmäßig zugänglichen Eigenschaften begreifen: Gott als erstes Sein, höchstes Gut,

99 E. PRZYWARA, Religionsphilosophie katholischer Theologie, 32, hier zitiert nach M.


PREMM, Katholische Glaubenskunde. Ein Lehrbuch der Dogmatik, Bd. 1: Wien 1951, 85.
100 ANSELM VON CANTERBURY, Monologion 64 (Schmitt I, 75, 11-12)
101 So kann beispielsweise der Philosoph Martin Buber in seiner dialogischen „Du-
Philosophie” nur deshalb von Gott als dem Über-Du sprechen, weil er als Jude geprägt ist
von der alttestamentlichen personalen Gottesoffenbarung.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 67 -

als Weltenbauer usw. Die aufgeklärte Sprache ersetzte sogar das Wort Gott durch Eigen-
schaften des göttlichen Wesens: „die Vorsehung“ (La providence), „die göttliche Weis-
heit“, „der erhabene Baumeister“ (Le grand architecte) usw.
2. Der Ausdruck „Gott der Philosophen“ stammt aus dem Mémorial von Blaise Pascal
(1623-1662, Frankreich).
Blaise Pascal († 1662) hat gegen die aufgeklärte Religionsphilosophie streng unterschie-
den zwischen dem philosophisch erdachten Gott und dem Gott der christlichen Offenba-
rung. Er prägt in seinem Mémorial für den philosophisch erdachten Begriff von Gott den
Ausdruck vom „Gott der Philosophen“ und stellt ihm den „Gott Abrahams, Isaaks und
Jakobs“ gegenüber. Eine Gegenüberstellung, die in die Sprache der Theologie eingegan-
gen ist102. Der bewiesene und beweisbare Gott, der Gott des kühlen reinen Seins, der Gott
als letzte Ursache ist nicht der lebendige Gott103.
Pascal hatte sich in seiner Jugend als Mathematiker und Physiker hohes Ansehen er-
worben. 1654 erfuhr er eine Bekehrung, ein mystisches Erlebnis. Bislang war sein
Gottglaube der übliche „Deismus“: also ein abstraktes göttliches Etwas jenseits der
Weltwirklichkeit.
Das Mémorial ist ein Stück Papier, das man nach Pascals Tod eingenäht in seine
Kleider fand. Handschriftlich hat er dort sein Bekehrungserlebnis festgehalten: „Jahr
der Gnade 1654. Montag, den 23. November, Tag des heiligen Klemens, Papst und
Märtyrer, und anderer im Martyrologium… Seit ungefähr abends zehneinhalb bis un-
gefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht: Feuer: ‚Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott
Jakobs’, nicht der Philosophen und Gelehrten. Gewißheit, Gewißheit, Empfinden:
Freude, Friede. Gott Jesu Christi… Nur auf den Wegen, die das Evangelium lehrt, ist
er zu finden… Freude, Freude, Freude und Tränen der Freude… Nur auf den Wegen,
die das Evangelium lehrt, kann man ihn bewahren…“
Pascal schloss sich dann der jansenistischen Bewegung (streng, antijesuitisch, sola
gratia – eine katholische Form des rigorosen Luthertums – an.) Man kämpfte dort vor
allem gegen den moralischen Laxismus der Jesuiten!
Was merken wir uns? Dass beides gilt: Gott ist grundsätzlich dem vernünftigen Nach-
denken erkennbar. Diese natürliche Erkenntnis wird aber überhöht / und korrigiert / durch
die Selbstoffenbarung Gottes. Die Kirche hält immer daran fest, dass die natürliche Got-

102 Blaise PASCAL, Über die Religion und über einige andere Gegenstände (Pensées). Übers.
und hrsg. von E. Wasmuth, Heidelberg 1972, 250-254.
103 Vgl. JOHANNES PAUL II., Die Schwelle der Hoffnung überschreiten, Hamburg 1994,
56.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 68 -

teserkenntnis die übernatürliche Offenbarung nicht überflüssig macht104, sondern be-


gründet.
Satz 34: Der Gott, den die Vernunft erkennen kann, ist noch nicht der Gott, wie
er sich in Jesus Christus geoffenbart hat. Die übernatürliche Offenba-
rung wird also durch die natürliche Theologie nicht überflüssig.

b. Der Wert der natürlichen Theologie für die übernatürliche Theologie


Wozu dann überhaupt die Bemühungen des Verstandes, wozu die im 19./20. Jahrhundert
von der Kirche so heftig verteidigte „ratiocinatio“ (logische Schlussfolgerung) hin zum
Sein Gottes? Warum die langen und argumentativen Ausführungen von Papst Johannes
Paul II. in seiner Enzyklika „Fides et Ratio“ von 1998, die im letzten dem Schutz des
Heiligtums der Vernunft dienen?
1. Der erste und wichtigste Grund liegt in der Behauptung, dass der Glaube an Gott nicht
„widersinnig“ oder „widervernünftig“ ist. Zwischen Vernunft und Glaube gibt es keinen
Gegensatz, beide arbeiten einander in die Hand. So das 1. Vatikanische Konzil in „Dei
Filius“:
„Aber auch wenn der Glaube über der Vernunft steht, so kann es dennoch niemals ei-
ne wahre Unstimmigkeit zwischen Glauben und Vernunft geben: denn derselbe Gott,
der die Geheimnisse offenbart und den Glauben eingießt, hat in den menschlichen
Geist das Licht der Vernunft gelegt; Gott aber kann sich nicht selbst verleugnen, noch
kann jemals Wahres Wahrem widersprechen.“105
Das 2. Vatikanische Konzil schlägt - etwas moderater - denselben Ton an, indem es fest-
stellt, dass das Bekenntnis zu Gott dem Menschen weder seinen Verstand noch seine
Freiheit raubt106. Glaube ist nicht Aberglaube.
2. Der zweite Grund liegt schließlich darin, dass die natürliche Gotteserkenntnis gleich-
sam die Höhe erkennen lässt, aus der sich Gott in seiner Selbstoffenbarung in Jesus
Christus gleichsam „hinabstürzt“. Christliche Offenbarung hat ja die Struktur des Ab-
stiegs, Gott offenbart sich in einer absteigenden Bewegung „de arriba“, „von oben her-
ab“107: der Unendliche wird zum Endlichen, der Allmächtige zum Ohnmächtigen, der
Unsterbliche zum Sterblichen usw.

104 1. Vatikanisches Konzil, Dei Filius: DH 3027. Vgl. das grundlegende zweibändige Werk,
hrsg. v. W. WEISCHEDEL, Der Gott der Philosophen, Darmstadt 1971/1972; auch: J.
SPLETT, Über die Möglichkeit, Gott heute zu denken, in HFTh 1,136-155
105 1. Vatikanisches Konzil, Dei Filius: DH 3017.
106 2. Vatikanisches Konzil, Gaudium et Spes 21: DH 4321
107 So Ignatius von Loyola in seinem Exerzitienbüchlein.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 69 -

3. Der dritte Grund liegt darin, dass die philosophisch erdachten Eigenschaften des Seins
Gottes in der christlichen Offenbarung nicht geleugnet werden, sie werden jedoch „sub
contrario“, durch ihr Gegenteil (hier hat Luther recht) geoffenbart: Z. B. Gott verliert in
seiner Menschwerdung keineswegs seine Unsterblichkeit, er beweist die Weise seiner
Unsterblichkeit gerade darin, dass er auch sterblich werden kann, konkret: dass er am
Kreuz stirbt. So ist die Unsterblichkeit Gottes - in der Auferstehung Jesus Christus ge-
schaut - ganz anders als die abstrakte Unsterblichkeit, wie die Philosophen sie sich
erdachten. Die Erkenntnisse der Theologia naturalis werden von der Theologia suprana-
turalis nicht abgestreift, sondern durch die konkrete Offenbarung präzisiert und auf un-
ausdenkbare Weise vertieft.
Satz 35: Die natürliche Gotteserkenntnis ist für die katholische Theologie un-
entbehrlich, da sie zeigt, dass das Werk der Erlösung (übernatürliche
Offenbarung) dem Werk der Schöpfung (natürliche Offenbarung) ent-
spricht.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 70 -

2. Der Vatername Gottes im AT und in der heidnischen Antike

A. Die Vaterschaft Gottes im Alten Testament

1. „Vatersein in Israel“: Wir betrachten zunächst das normale Vatersein in Israel. Israel
ist von einer patriarchalen Kultur geprägt. Die hebräischen und aramäischen Worte für
Vater (hebräisch ‘ab, aramäisch ‘abba) kommen etwa 1200mal im Alten Testament vor,
jedoch meist in der Bedeutung des Familien-Vaters oder der Vorfahren. In der sozialen
Stellung unterscheidet sich der hebräischer Familienvater als Haupt und Zentrum der
Familie nicht vom Vaterbild der umliegenden Kulturen.
In der späteren Zeit bezeichnet man als „Väter“ auch religiöse Persönlichkeiten, also jene
bedeutenden Männer der Vorzeit, an die die Gottesoffenbarung erging. Sir 44 schildert
diese Väter der Vorzeit, an deren Taten sich das Selbstbewußtsein der Nachkommen
erbauen kann (Sir 44,1-50,26). Hier liegt der Ursprung der „Kirchenväter“.
2. Gottes Vater-Sein als Fürsorge im AT: In übertragenem Sinn wird Jahwe also selbst
mit dem Vaternamen bezeichnet, und zwar an 15 Stellen. Es handelt sich dabei keines-
wegs um ein biblisches Spezifikum, wie der Vergleich mit den umliegenden orientali-
schen Religionen zeigt108. – Auch in den anderen Religionen wird Gott als „Vater“ be-
zeichnet. - Spezifisch für Israel ist jedoch, dass sich die Vaterschaft oder Väterlichkeit
Jahwes im geschichtlichen Handeln dieses Gottes an seinem erwählten und an ihn ge-
bundenen Volk erweist: darin, dass er sein ganzes Volk zur Kindschaft bestimmt. Wohl
um mythologische Mißverständnisse zu vermeiden, nennen die Schriften Gott nur selten
Vater109, meist im Zusammenhang mit dem „elterlichen Eifer“ Jahwes für sein Volk:
„Der Sohn ehrt den Vater, und der Knecht fürchtet seinen Herrn. Wenn ich nun Vater
bin, wo ist meine Ehre? Und wenn ich der Herr bin, wo ist die Furcht vor mir?, spricht
Jahwe Sebaot.“ (Mal 1,6)
3. Der Name „Mutter“ als Bild für die Fürsorge Gottes: Das Alte Testament kann Gott
ebenso als Mutter, mit weiblich-mütterlichen Zügen zeichnen herausgestellt (z. B. Hos
11,1-11; Jer 31,20; Jes 66,9-13). Wenn Jahwe Vater oder Mutter genannt wird, so soll
damit bildlich ein Fürsorge-Verhältnis charakterisiert werden, die Sorge Gottes um Israel:
„Kann denn eine Frau ihr Kind vergessen, eine Mutter ihren eigenen Sohn? Und

108 J. ASSMANN, Das Bild des Vaters im Alten Ägypten, in: Vaterbild - Mythos, 12-49; zum
jüdischen personalen Gottesbild: M. VOGEL, Einige Reflexionen über die jüdischen
Gottesbegriffe, in: Conc (D) 13 (1977) 155-159.
109 Dtn 32,6; 2 Sam 7,14; 1 Chr 17,13; 22,10; 28,6; Jes 63,16; 64,7; Jer 3,4.9; 31,9; Mal 1,6;
2,10; Ps 89,27; Sir 23; l.4; 5l,l0; Weish 2,16; 14,3; Tob 13,4.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 71 -

selbst wenn sie ihr Kind vergessen würde, ich vergesse dich nicht!“110 (Jes 49,15)
Der Vatername Jahwes erweist sich somit als ein Symbol, das die elterlich-fürsorgende
Beziehung Gottes zu seinem Volk ausdrücken soll. Vater ist, auf Gott angewandt, ein
„Beziehungswort“111.
Im Judentum ist es zur Zeit Jesu ungewöhnlich, Gott etwa im Gebet Vater zu nennen.
Wir finden das ja übrigens in den Psalmen: „Dixi: Pater meus es tu!“ (Ps 89,27; ebenso
Sir 51,10; Mal 1,6; 2,10).
Warum ist der Vatername häufiger, wichtiger: Um Mythologische Mißverständnisse zu
vermeiden!
Satz 36: Der Vatername ist im Alten Testament eine Metapher für die ge-
schichtsmächtige Fürsorge Gottes – Gott sorgt „wie ein Vater“ - , die
auf keinen Fall eine Geschlechtsbestimmung Gottes sein will.

B. Gott als Vater in der heidnischen Antike


Die Bezeichnung Gottes / der Götter als Vater gibt es auch in der heidnischen Antike.
Die griechische und römische Kultur der Antike war zunächst von einem mythologischen
Polytheismus, dann zunehmend von einem abstrakt-philosophischen apersonalen Gottes-
bild geprägt. Sie unterschied sich darin grundlegend von der personalen Offenbarung des
einen Gottes in der jüdischen Religion112. Dementsprechend besteht ein grundlegender
Unterschied in der religiösen Verwendung des Vaternamens!
Also: Judentum personal, griechische Philosophie: apersonal

a. In der griechischen Mythologie


Wenn Homer Zeus rund hundertmal „Vater“ bzw. „Vater der Menschen und Götter“113
nennt, so wird damit dem ranghöchsten Gott ein Ehrentitel zugesprochen. Das väterliche
Verhältnis Gottes zur Welt und zu den Menschen, das im Alten Testament durch den Va-
ternamen Gottes symbolisiert wird, kommt nicht in den Blick. Im Gegenteil: Der Ober-

110 Jes 49,15; vgl. Hos 11,1-4; Jes 66,9.13.


111 L. PERLITT (s. Anm. 10) 51; zustimmend: R. HAMERTON KELLY, Gott als Vater in
der Bibel und in der Erfahrung Jesu. Eine Bestandsaufnahme, in: Conc (D) 17 (1981) 247-
256, hier: 249
112 Vgl. N. LOHFINK, Das Alte Testament und sein Monotheismus, in: K. Rahner (Hrsg.),
Der eine Gott und der dreieine Gott, München-Zürich 1983, 28-47; R. NEUDECKER, Die
vielen Gesichterdes einen Gottes. Zur Gotteserfahrung im rabbinischen Judentum, in: ebd.
86-116.
113 Odysse 1,28; 2,1.544; Illias 1,544; weitere Belege: ThWNT 5, 952-953; RAC 18/4, 2120-
2121.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 72 -

gott verhält sich nicht fürsorgend-väterlich, sondern er ist „der Vater“ als oberster
Machthaber über den Kosmos und die Götter. Im Überstieg vom Mythos zur Philosophie
ergeben sich in dieser Bestimmung des göttlichen Vaternamens kaum Änderungen.

b. In der griechischen Philosophie

Wenn etwa Plato oder die Stoiker die Idee des Guten, Höchsten und Letzten „πατηρ“114
nennen so steht hier Vater als Synonym für den Inbegriff an Macht und Vollkomenheit.
Zeus ist Vater, weil er der „allmächtige Tyrann“ der Welt ist; aber auch die abstrakten
Philosophen können Gott Vater nennen: sie meinen damit keine personale Bestimmung
des göttlichen Wesens, sonder einfach, dass das Göttliche eben das letzte Prinzip des
Seins und Denkens ist115.
Die Kirchenväter haben später diese Differenz zum biblischen Vater-Gott durchaus er-
kannt. Klemens von Alexandrien schreibt: „Nicht auf den Ausdruck soll man achten,
sondern auf die Bedeutung. So sagt auch Homer ‚Vater der Menschen und Götter‘, ohne
zu wissen, wer der Vater ist und wie er ist.“116
Bei Plato beschränkt sich das Verhältnis der göttlichen Idee zur Weit, das durch den Va-
ternamen ausgedrückt werden soll, auf eine Art kosmologischer, ursprünglicher Zeugung
der materiellen Welt: „Den Vater und Schöpfer dieses Alls zu finden, ist eine schwere
Aufgabe, und wenn man ihn gefunden hat, ist es unmöglich, ihn allen zu verkünden.“117
Der Vaterbegriff bei Plato ist also kosmologisch. Vater sein heißt: Ursprung von allem
sein.
Satz 37: Der griechische Mythos nannte Zeus Vater, weil er durch geschlechtli-
che Handlungen die anderen Götter hervorbringt; die griechische Phi-
losophie nennt das Göttliche Vater, weil es das kosmologische Ur-
sprungsprinzip von allem ist.

3. Die Offenbarung der Vaterschaft Gottes im Neuen Testament

Das Neue Testament spricht in dreifacher Hinsicht von einer Vaterschaft Gottes: im trini-
tarischen, kirchlichen und kosmologischen Sinn.

114 V. GROSSI, Il titolo cristologico „Padre“ nell antichità cristiana, in: Augustinianum 16
(1976) 237-269, hier: 239-240; ThWNT 5, 954-955.
115 W. MARCHEL (s. Anm. 10) 39-43; P. GUTIERREZ, La paternité spirituelle selon saint
Paul, Paris 1968.
116 KLEMENS VON ALEXANDRIEN, Stromata 6, l7, l5l-l52 (GCS 2,510).
117 PLATO, Timaios 28 C; vgl. Epistola VII, 341 C.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 73 -

A. Die biblischen Grundlagen der Vateroffenbarung Jesu

a. Gott ist für Jesus anders Vater als für uns


1. Nach dem Zeugnis der Synoptiker: Vgl. ThWNT 5 (1954) 946-1016. In der Sache
steht unter allen christlichen Theologen heute einmütig fest, dass Jesus von Nazaret von
Gott in einer ausschließlichen, einmaligen Weise als „seinem Vater“ gesprochen hat. Es
besteht Analogie zwischen „eurem Vater“ und „meinem Vater“, aber keine Identität.
Das heißt: nach exegetischem Befund hat Christus sein persönliches Verhältnis zu Gott
als seinem Vater qualitativ radikal anders verstanden als das Verhältnis der anderen, sei-
ner Jünger zu Gott. Diese Differenz kommt deutlich zum Ausdruck: z. B.: Mt 7,21:
„Nicht wer zu mir sagt ‘Herr, Herr’ … sondern wer den Willen meines Vaters im Him-
mel tut.“ Noch eindrucksvoller etwa in Joh 20,17, wo Jesus am Ostermorgen zu Maria
von Magdala sagt: „Ich gehe hinauf zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem
Gott und zu eurem Gott.“ (Joh 20,17)
2. Der sogenannten Logienquelle entstammt angeblich der Text in Mt 11,27 = Lk
10,21ff: „Alles ist mir von meinem Vater anvertraut worden; niemand kennt den Sohn
außer dem Vater, niemand kennt den Vater, außer der Sohn und der, dem der Sohn es
Offenbaren will.“ Daraus folgt: In der Verkündigung Christi klafft ein Unterschied zwi-
schen dem „euer Vater“ und dem „mein Vater“. Ersteres ist in Mt 6 und 7 siebenmal ent-
halten, das zweitere fünfmal. Durch diese Rede kennzeichnet sich Jesus in ausschließli-
cher Weise als den Sohn. Vgl. z., B. Mk 13,32: den jüngsten Tag kennt „nicht einmal der
Sohn, sondern nur der Vater“. Im Gleichnis von den Winzern nennt er als letzten, den der
Vater sendet, „seinen geliebten Sohn“ (Mk 12,6).
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nach den Synoptikern Jesus den Anspruch er-
hebt, mit dem Vater so innig verbunden zu sein, dass nur er ihn erkennt und diese Er-
kenntnis weitergeben kann (Mt 11,27; Lk 10,22); dass er existentiell vom Vater her und
auf den Vater hin lebt, dass er in Gott einen Vater sieht, dessen Güte und Väterlichkeit
auch jenen offensteht, die zu ihm als ihrem Vater beten.

b. Jesus nennt Gott seinen „abba“


1. Dieses einzigartige Gottesverhältnis Jesu wird vor allem durch die Zeugnisse belegt,
nach denen Christus im Gebet Gott als „seinen Vater“ anruft: Mk 14,36: „Abba, Vater,
alles ist dir möglich…“ Die Abba-Anrede an Gott den Vater ist schlicht auffällig!
Zentral für das Gottesverhältnis Jesu ist die Stelle im ältesten synoptischen Evangelium:
in Mk 14,36par. Es fällt dabei auf, dass der griechischschreibende Markus dieses aramäi-
sche Fremdwort dort in der extrem zugespitzten Todessituation am Ölberg bringt. Sonst
übersetzt er immer mit „pater” und bringt überhaupt wenig Aramäisches. Warum gerade
hier „abba”? Ihm scheint es wichtig zu sein, dass Jesus auch und gerade da noch abba
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 74 -

sagt: In der Situation menschlicher Isolation und Frustration gibt es also immer noch die-
se Relation auf Gott, ist Gott immer noch „abbah”.
2. Für den evangelischen Exegeten Joachim Jeremias ist dies gleichsam der springende
Punkt der neutestamentlichen Offenbarung, an dem sich die Richtigkeit der Trinitätslehre
entscheidet: dass Jesus seinen Vater als liebenden „Papa“ betrachtet. Lange Zeit hat man
mit J. Jeremias (Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie. Göttingen 1966) ge-
meint, dass es sich bei dem Ausdruck „abbah” um eine völlig außergewöhnliche, diminu-
tive und affektive Form von „ab” handelt. Sie sei etwa im Sinn von „Papi, Vater, Daddy”
zu verstehen. — Später hat Jeremias dann zurückgezogen: Abbah sei die normale, unver-
bindliche Anrede des Kindes an den Vater gewesen. Auch Erwachsene hätten ihren Vater
so angesprochen. Dies ist auch heute die gängige Meinung. Freilich: ein Hauch von Inti-
mität schwingt schon durch. Sicher ist auch, dass die Juden zur Zeit Jesu Gott zwar als
„ab” oder „abi” anredeten, nicht aber als „abba” „Abba” ist ganz sicher originäre Sprache
Jesu!
3. Aus den Passionsberichten sind uns ähnliche Ausdrücke überliefert (Mt 26,53f.; Lk
22,42; 23,34; 23,46), wenngleich der aramäische Koseausdruck „Abba“ sich nur in der
Passionserzählung des Markus findet und dann in Gal 4,4-7, wo der Geist des Sohnes es
ist, der in den Herzen der Gläubigen ruft „Abba, Vater!“ und sie so von Knechten zu
Söhnen, von Söhnen zu Erben macht!
Kurz: Dass Jesus den erhabenen Gott Israels in der Umgangssprache und mit großer Di-
rektheit als „abba, Vater” anredet, bezeugt wie vertraut und intim er mit ihm ist.
Satz 38: Jesus nennt Gott-Jahwe nicht nur Vater im metaphorischen Sinn, son-
dern im Sinn einer einzigartigen personalen Beziehung („abba“: Mk
14,36).

c. Der ewige Vater sendet seinen ewigen Sohn (johanneisch)


1. Die Synoptiker sind der „Historie“ viel näher als Johannes. Johannes betreibt bereits
Theologie: Wenn Gott der ewige Vater Jesu ist, wie ist dann das ewige Verhältnis zwi-
schen Vater und „Sohn“? Das ist seine Fragestellung.
Nach dem Zeugnis der johanneischen Schriften. Im Johannesevangelium findet sich
allein quantitativ 115mal der Name Vater für Gott: Der Vater ist nach Joh der Veranstal-
ter und Spender der Offenbarung, der Sohn ist der Offenbarende schlechthin. Wie Paulus
in seinen Hauptbriefen vertritt auch der vierte Evangelist die Präexistenz Christi. Schon
der Prolog nennt Jesus Christus den im Anfang bei Gott Weilenden, der dann Fleisch, das
heißt wirklicher Mensch geworden ist und unter uns gelebt hat. Der präexistente Sohn ist
also vom Himmel herabgestiegen (3,13). Jesus bezeichnet sich selbst als das vom Him-
mel herabgekommene Lebensbrot (6,33.35.48-51). Zu den Juden sagt er zu ihrer Empö-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 75 -

rung: „Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Ehe Abraham ward, bin ich.“ (8,58). In den
Abschiedsreden spricht er von der Herrlichkeit, die er vor seinem irdischen Dasein besaß
(17, 5.24). Das Menschwerden des Präexistenten hat einen Grund: der Wille des Vaters.
Das Gekommensein ist ein Gekommensein im Gehorsam (3,19; 9,39; 11,27); 8,42; 13,3)
gegenüber dem Vater, damit dieser von der Welt erkannt werde.
2. Das Erkennen des Vaters, der Heilsveranstaltung des Vaters, ist das Grundthema der
johanneischen Schriften: Der Sohn kennt den Vater, weil er von ihm her ist, was er ist
(Joh 7,29); er kennt ihn und bewahrt sein Wort (Joh 8,55); er verkündigt sein Wort, damit
die Menschen den Vater erkennen und den, den er gesandt ht, denn das ist ewiges Leben
(17,3). Im Sohn wird der Vater erkannt, denn wer den Sohn erkennt, der erkennt, dass in
ihm der Vater ist und er im Vater ist (10,38)
Im „hohenpriesterlichen Gebet“ bittet Jesus den Vater, die Glaubenden mögen unterein-
ander ein sein, so wie der Vater im Sohn und der Sohn im Vater ist (17,21). Die Liebe
zwischen Vater und Sohn, das ist auch die Wirklichkeit, in welche der Geist einführen
soll. Der Geist wird erkennen lassen, „dass ich in meinem Vater bin und ihr in mir und
ich in euch“ (14,20) Es gibt nach dem Zeugnis des Johannesevangeliums eindeutig eine
trinitarische Selbstunterscheidung Gottes, sie wird mit der Gottesdefinition in 1 Joh
4,8.16 in die Formel gebracht: „Gott ist die Liebe!“
3. Bei Joh gibt es also eine eindeutige „Aktionsrichtung“, sie verläuft vom Vater zum
Sohn und vom Sohn zu den Jüngern und hat den einen Zweck: dass im Sohn das Wesen
des Vaters kundgetan werde. Das geschieht in seiner Hingabe, in seinem Für-Sein. Dieses
Für-Sein ist sosehr Wesen des Sohnes und darin Wesen des Vaters, dass es bei Johannes
nicht weiter hinterfragt wird. Während bei den Synoptikern und bei Paulus oder im Heb-
räerbrief das Geheimnis des Kreuzes gleichsam aufgearbeitet wird als ein sühnendes,
stellvertretendes Sterben für uns, eine Genugtuung für unsere Sünden usw., so spekuliert
Joh nicht. In der Hingabe des Sohnes leuchtet die Liebe, und damit soll es gut sein. Wa-
rum Gott liebt, welche Gründe er dafür hat, das ist bei Johannes nicht reflektiert, wird im
Geheimnis gelassen. Die Liebe darf nicht befragt werden, warum sie liebt. Ihr Wesen ist
es grundlos zu sein. Diese Grundlosigkeit hebt im Vater an, der seinen Sohn hingibt, stei-
gert sich in der Hingabe des Sohnes zu einer welthaften heilsdramatischen Darstellung
dieser Liebe und wird im Heiligen Geist in den Herzen der Jünger erkannt und angebetet.
Satz 39: In der Theologie des Johannesevangeliums wird das Verhältnis zwi-
schen Jesus und Gott bereits als vertrauliches Verhältnis des präe-
xistenten Sohnes zu seinem ewigen Vater dargestellt.
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B. In welcher Weise ist Gott „unser Vater“?

a. Gott ist Vater im Sinn von Schöpfer


Im Apostolikum heißt es: „ich Glaube an Gott den Vater, den Pantokrator“.
Der ewige Vater des Sohnes und der fürsorgliche Vater der Kirche ist aber zugleich in
einem dritten Sinn der souveräne Vater und Schöpfer der Welt. Was die vorchristlichen
Philosophien schon ahnten, ist im Christentum durch Gott selbst offenbart worden: Gott
ist ein schöpferischer Vater. Dasselbe Motiv von Gott als dem Vater des Kosmos, das
bereits im Hellenismus begegnete, findet sich somit auch im Neuen Testament (vgl. Röm
1,7; Gal 1,1; Eph 4,5 usw.), wobei die Unähnlichkeit überwiegt, denn die schöpferische
Vaterschaft Gottes wird durch die Mittlerschaft des Logos in neuer Weise bestimmt.
Gott ist Vater auch im neutestamentlichen Sinn, insofern er Urheber und Ursprung aller
Menschen und Dinge ist, daher „hat von ihm jede Vaterschaft im Himmel und auf Erden
ihren Namen“. (Eph 3,15)

b. Gott ist Vater im Sinn von „fürsorgend wie ein Vater“


Im AT haben wir gesehen: Gott ist fürsorgend „wie ein Vater“ – Jesus hat das andauernd
in seinen Ansprachen. Es ist jener Vater der Gleichnisse und Parabeln Jesu, der sich wie
ein barmherziger Hausvater zu seinen Geschöpfen verhält, und an den sich die Kirche im
Gebet vertrauensvoll wenden darf: „Unser Vater im Himmel“ (Lk 11,2; Mt 6,9). Also:
Jesus mahnt uns, Vertrauen in den Fürsorge Gottes zu haben, so wie man einem Vater
vertraut.
Diese neue kindschaftliche Beziehung der Menschen zu Gott, ihrem fürsorgenden Vater,
verlangt nach Exklusivität. Daher das Herrengebot: „Auch sollt ihr niemand, unter euch
auf Erden Vater nennen, denn einer ist euer Vater, der im Himmel.“ (Mt 23,9). Dieses
Wort verbietet sicher nicht, den leiblichen Vater „Vater“ zu nennen; es wurde auch nie-
mals so verstanden. Auch kann schwer erwiesen werden, dass sich der Evangelist hier
bereits gegen den Gebrauch von Vatertiteln in der jungen Kirche wendet118. Der konkrete
Sitz im Leben liegt wohl am wahrscheinlichsten darin, dass sich das Herrengebot gegen
den Brauch der Rabbinen richtet, die sich damals üblicherweise mit Rabbi, Ab oder Ab-
bah anreden ließen119. Hier soll die Einzigartigkeit des göttlichen Vaters betont werden,

118 Diese Meinung vertreten u.a.: E. NEUHÄUSLER, Der Bischof als geistlicher Vater nach
den frühchristlichen Schriften, München 1964, 44; K. HEUSSI, Der Ursprung des
Mönchtums, Aalen 1981 (Neudruck der Ausgabe Tübingen 1936), 166, Anm. 1.
119 Vgl. Anm. 25. Die Anrede „Väter“ für die Schriftgelehrten ist uns sogar in der Schrift
überliefert Stephanus wendet sich in Apg 7,2 mit den Worten an den Hohen Rat: „Brüder
und Väter, hört mich an.“ (Vgl. Apg 22,1). Es sind zudem verschiedene Inschriften
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 77 -

die durch menschliche Vaterschaftsverhältnisse, wie sie sich in Titeln manifestieren,


nicht relativiert werden darf.

c. Gott ist unser Vater, weil er uns Christus als seine Söhne adoptiert hat
Jedoch steht auch diese Weise der Vaterschaft Gottes nicht einfach in reiner Kontinuität
zu der alttestamentlichen Väterlichkeit Jahwes. Schließlich haben die Jünger nur über den
Sohn Zugang zur Vaterschaft Gottes; nur als Miterben und Söhne dürfen sie teilhaben an
der Sohnschaft Christi und im Geist rufen: „Abba, Vater“ (Gal 4,6; Röm 8,15). Diese
beiden Stellen sind älter als die Abba-Stelle in Mk 14,36! Hier ist etwas Neues gesche-
hen: der betende Christ weiß sich Gott unmittelbarer als der betende Jude!
„Der jüdische Sprachgebrauch zeigt, wie das urchristliche Vater-Kindes-Verhältnis zu
Gott alle im Judentum gesetzten Möglichkeiten an Intimität weit übertrifft, vielmehr an
dessen Stelle etwas Neues setzt.“120

d. Konkrete Folgerungen
Die Sohnschaft Jesu Christi umfasst kraft seiner Menschwerdung alle Menschen. Sie
muss freilich im Glauben angenommen und im Leben bewährt werden.
Es geht darum, dass wir erkennen, dass wir Kinder Gottes sind. Jesus hat Gott, seinen
„Vater“ unendlich geliebt. Er wollte offenbaren, dass dieser Vater kein grausamer Des-
pot, verborgen hinter Blitzen und Donner ist, wie die Römer und Griechen das dachten;
er wollte offenbaren, dass Gott nicht bloß eine abstrakte mitleidslose Schicksalsmacht ist,
wie die Gnosis damals und New Age heute das lehren; er wollte offenbaren, dass Gott
den Sünder nicht verwirft, sondern ihn retten will, dass er wie ein barmherziger Vater
Ausschau hält nach der Rückkehr des verlorenen Sohnes. – Daher geschah es, als die
Jünger Jesus baten: „Herr, lehre uns beten!“, da antwortete er: So sollt ihr beten: Und er
lehrte die Jünger, Gott als „unseren Vater“ (Mt 6,9; Lk 11,2) anzureden. Er will, dass wir
erkennen, dass sein Vater auch unser Vater sein will. Anders gesagt: Er will, dass wir
Kinder Gottes werden.
Wie wird man zum Kind des Vaters? Indem man zum Christus wird, indem man in die
Gestalt Christi eintritt; das geschieht durch die Taufe. In der Taufe ziehen wir Christus
wie ein Gewand an (Taufkleid), er wird zu unserem inneren Licht (Taufkerze), wir wer-

überliefert, die den Synagogenvorsteher „pater synagogiae“ nennen: H. LECLERCQ, Art.


Pater, Pateressa, in: DACL 13, 2414-2415. Wie die zahlreichen Funde beweisen war
πατηρ συναγωγης ein feststehender Titel, ob es sich dabei jedoch um den geistlichen
Leiter der Synagoge oder bloß den „Patron“ des Gebäudes handelte, lässt sich nicht mit
Sicherheit sagen. Die Tatsache, dass es auch eine weibliche „pateressa“ gab, spricht eher
für Letzteres.
120 G. KITTEL, in: ThWNT 1,6.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 78 -

den gesalbt (Chrisam), weil Christus ja Gesalbter heißt, und düfen fortan den Namen
Christ tragen, was ja soviel heißt wie „Gesalbter“. Durch die Taufe sind wir Kinder Got-
tes, genauer: wir sind Söhn im Sohn. Und weil der Sohn den Heiligen Geist ausgießt,
schreibt Paulus: „ihr habt den Geist empfangen, der euch zu Söhnen macht, den Geist, in
dem wir rufen: Abba, Vater!“ (Röm 8,15; vgl. Gal 4,6)
„Söhne im Sohn“, „Adoptivsöhne“
Das ist eigentlich aufregend: Wir sterblichen Menschen haben durch den Sohn Gottes
eine solche Salbung durch den Geist empfangen, dass wir in genau derselben Zutraulich-
keit zu Gott beten dürfen, wie Jesus selbst. Wir dürfen zu Gott auch sagen: „Abba“, „Pa-
pa“. Unser guter lieber Vater.
Und keine Angst: Dadurch verharmlosen wir Gott nicht, weil er ja weiterhin der allmäch-
tige bleibt, der Schöpfer, der erhabene Herrscher aller Mächte und Gewalten. Wir haben
als Christen das Privileg, diesen Gott, den alle Religionen suchen, als unseren guten Va-
ter zu kennen und anzubeten. Wir können mit dem Epheserbrief beten: „Gepriesen sei der
Gott und Vater unseres Herrn Jesus Christus: Er hat uns mit allem Segen seines Geistes
gesegnet durch unsere Gemeinschaft mit Christus im Himmel.“ (Eph 1,3; vgl. 1 Petr 1,3;
2 Kor 1,3)
Satz 40: Das Bekenntnis zu Gott als Vater umfaßt 1. das Bekenntnis zu seiner
absoluten Schöpfermacht (Pantokrator), 2. das Bekenntnis zu seiner
väterlichen Fürsorge, und 3. im höchsten Sinne das Bekenntnis dazu,
dass Gott uns in Jesus Christus als seine Söhne angenommen hat.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 79 -

§ 5: „…den Schöpfer des Himmels und der Erde“

1. Der christliche Schöpfungsglaube

A. Zum Begriff „Schöpfung“

a. Schöpfung ohne Schöpfer?


1. Für den Christen beinhaltet der Begriff „Schöpfung“ eine grundlegende Aussage über
Gott. So lautet der 1. Artikel des Apostolicums: „Ich glaube an Gott, den allmächtigen
Vater, den Schöpfer des Himmels und der Erde! …creatorem caeli et terrae!“ Ebenso das
Nicänoconstantinopolitanum: Gott ist der factor! – Wenn wir von Schöpfung sprechen,
dann meinen wir Christen immer mit, dass Gott der Schöpfer ist, der Urheber und Ur-
sprung aller Dinge, der sichtbaren und der unsichtbaren.
2. Heute erlebt der Begriff „Schöpfung“ außerchristlich eine Rennaissance, er hat einen
positiven Klang und wird fast schon inflationär gebraucht. Man spricht von „Zerstörung
der Schöpfung“, „Erhaltung der Schöpfung“; sogar der Ökumenische Kirchenrat etwa hat
die „Bewahrung der Schöpfung“ zu einem Hauptthema der christlichen Konfessionen
gemacht. Im säkularen Denken scheint der Begriff der Schöpfung wieder heimisch ge-
worden zu sein.
Das ist deshalb auffällig, als man sich bis in die Moderne (wir leben ja in der Postmoder-
ne) bemühte, eben diesen Schöpfungsbegriff durch den Begriff der „Natur“ zu ersetzen.
Wobei auch das eine fatale Ent-kleidung des Naturbegriffes war, denn der Begriff
„natura“ stamm ja von lat. „nasci“, geboren werden, hervorgebracht werden. Also der
ursprüngliche Begriff „Natur“ impliziert eine Herkünftigkeit, die nicht in der „Natur“
– im Geboren-Seienden – selber liegt! Aber im 19. Jh. wurde der Naturbegriff völlig
„naturalisiert“, seiner theologischen Implikationen entkleidet.
Heute also: Wiederentdeckung des Begriffes „Schöpfung“ und inflationäre Verwendung
desselben. Romano Guardini etwa (Das Ende der Neuzeit, 36) klagt noch über den Ver-
lust des Schöpfungsbegriffes. Sollen wir uns also freuen, dass der Begriff der „Schöp-
fung“ wiederentdeckt worden ist???
3. Aber bei genauerem Hinsehen fällt auf: Der Begriff wird nicht schon im theologischen
Sinn verwendet. Scheffczyk stellt fest: „Der neu aufgekommene und verbreitete Wort-
gebrauch ist frei von jedem christlich-theologischen Inhalt!“ (Schöpfungslehre, 1997,
12). Vielmehr wird „Schöpfung“ in einem neutralen Sinn verwendet, aber immerhin so,
dass durch diesen Begriff das Positive der Welt betont werden soll. Sinnbedeutung meis-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 80 -

tens: das Unverfügliche, das, was der Mensch nicht zerstören soll, weil es ihm nicht zu-
steht.
Man darf also mit Scheffczyk vermuten, dass Schöpfung eben doch nichts anderes besagt
als „Natur“, dass die Vorstellung von einem Schöpfergott, dem man letzte Verantwortung
schuldet, doch heute keine Rolle spielt für die vielen ökologischen Bemühungen um die
„Bewahrung der Schöpfung“. Jedenfalls gibt es dort, wo man heute mit Interesse von
„Schöpfung“ redet zugleich ein ebensogroßes Desinteresse am „Schöpfer“ selbst. Dies
führt dann nicht selten dazu, dass man diese „Schöpfung ohne Schöpfer“ absolut setzt
und vergöttert (Öko-Sekten) oder doch in seinem grünen Weltbild zu eklatanten Wider-
sprüchen kommt (Katze ja, zugleich Kind nein; Müllvermeidung bis zum Exzesse,
zugleich Abtreibung [Vermüllung des Kindes]).
Wo „Schöpfung“ aber vergöttert wird, kann sie zum Götzen werden. Für den, der hinter
der Schöpfung den Schöpfer nicht mehr sieht, wird sie eine in sich selbst feststehende
Größe.

b. Gott ist Schöpfer der Schöpfung


Das christliche Reden von „Schöpfung“ ist deshalb zuerst das Bekenntnis zum „Schöp-
fer“, die Welt ist nur das Werk dieses Schöpfers und deshalb „Schöpfung“. Wenn wir
Christen von Schöpfung sprechen, dann bekennen wir uns primär zu einer Person und
einer Tat: zu Gott und seinem Werk. Petrus Lombardus (+ 1160), der erste Systematiker,
überschrieb deshalb den entsprechenden Traktat nicht einfach „De creatura“, sondern
„De creatore“. Auch der 1. Artikel des Nicänoconstantinopolitanums ist ja Bekenntnis zu
einer Person, nicht zu einem Sachverhalt: „Credo in Deum Creatorem!“
N. B.: Ohne Blick auf den Schöpfer, wenn wir immer nur auf die Schöpfung blicken,
werden wir unsere Welt nie wieder „ökologisch“ in den Griff bekommen. Denn wenn
Egoismus und Eigeninteresse nicht an eine Letztverantwortung gebunden sind, nämlich
an die Verantwortung gegenüber Gott.

B. Creatio actualis und Creatio continua

Wenn wir von Schöpfer und Schöpfung sprechen droht ein Missverständnis, das seit der
Aufklärung und dem seit damals vorherrschenden mechanistischen Denken zusammen-
hängt: das Missverständnis, Gott nur als punktuelle Ursache des geschaffenen Seins zu
sehen. // Also: Schöpfung nur als das, was Gott zum Beginn der Zeiten gemacht hat. Wie
er also alles konstruiert hat, so als hätte er nur den Ankick zum Fußballmatch gegeben,
sich dann aber auf die Zuschauertribüne gesetzt.
Das ist letztlich das Missverständnis des Deismus. Gott als erhabener Konstrukteur, als
Weltenplaner. Die klassische Theologie hat deshalb immer schon unterschieden in „Crea-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 81 -

tio actualis“ und „Creatio continua“. Vor allem dem hl. Thomas war das sehr wichtig,
dass Gott sich mit seiner Schöpfungsmacht nie aus dem endlichen Sein zurückzieht, so-
dass Gott als „ens a se“ stets eine aktive Beziehung zum „ens ab alio“ aufrecht erhält. Die
Scholastik nannte dies die „conservatio“ und den „concursus“ und die „providentia“.
Gott ist Schöpfer besagt also, dass er fortwährend wirkt, seine Schöpfungsbeziehung zur
Welt ruht nie. Heute liebt man in der Theologie den Begriff der Beziehung (Ratzinger, G.
L. Müller, Dogmatik 157): „Schöpfung“ als bleibende Beziehung Gottes zur Welt - und
umgekehrt: „Geschöpflichkeit“ als bleibende Bezogenheit auf einen letzten Ursprung und
tragenden Grund.
Satz 41: Der christliche Begriff „Schöpfung“ beinhaltet immer das Bekenntnis
zu einem transzendenten Schöpfergott, der 1. ursprünglich (creatio ac-
tualis) und 2. kontinuierlich (creatio continua) in Relation zum Endli-
chen steht.

C. Drei Ideologien im Widerspruch zum Schöpfungsglauben

Wir leben im 20. Jahrhundert, im Zeitalter nach Einstein, nach Hieroshima, im Zeitalter
komplexer physikalischer Theorien über Weltentstehung usw. Wir schauen einmal auf
die klassischen Gegner des Schöpfungsdogmas, wie sie im Laufe der 2000jährigen
Schöpfungsgeschichte aufgetaucht sind.
Wir müssen dazu sagen, dass diese Gegner ja nicht primär Gegner des Christentums wa-
ren, da der Glaube an einen Schöpfergott ja ein weit verbreitetes religiöses Gut ist. Auch
die beiden anderen großen monotheistischen Religionen glauben an einen Schöpfergott!
Die Gegnerschaft ereignet sich daher mehr auf philosophischer als auf offenbarungstheo-
logischer Ebene.
Schöpfung besagt nach theologischem Verständnis den freien Akt Gottes, durch das er
sich ein endliches Gegenüber setzt. Es gibt alte, klassische Gegnerschaften gegen diese
Auffassung (die übrigens ja nicht nur christlich ist, sondern auch von anderen Religionen
vertreten wird). Wir nennen sie kurz:

a. Der Materialismus
Der Materialismus in seiner absoluten Form leugnet die Existenz eines transzendenten
göttlichen Wesens. Folglich ist alles, was es gibt, die Materie. Man landet dann aber bei
dem Problem der Herkünftigkeit dieser Materie. Dass die Materie aus sich selbst kommt,
behauptet niemand ernsthaft. Man muss eine Art Urmaterie oder Urstoff annehmen, aber
das dahinter bleibt unbeantwortet (so auch in der modernen populistisch-heidnischen Ur-
knall-Theorie).
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 82 -

Den Materialismus gibt es bereits sehr früh, nämlich in der griechischen Antike. Dort
lehren bereits Demokrit (aus kosmologischem Interesse) und Epikur (aus hedonistischem
Interesse), dass es keine Götter und keinen Gott gibt, der über der Welt stünde. Im 19.
Jahrhundert: Ludwig Feuerbach, Karl Marx und Ernst Haeckel.
EXKURS: Ernst Haeckel: Zoologe und naturphilosophischer Schriftsteller (1834-
1919); hat wie kein anderer die christliche bzw. theologische Apologetik in Gang ge-
setzt. Warum? Haeckel ist der leidenschaftliche Popularisator des Darwinismus im
vorigen Jahrhundert auf deutschem Sprachgebiet. Durch 2 Werke vor allem (Die
Welträtsel 1899 und Die Lebenswunder 1904) hat er das atheistisch-naturalistische
Denken eines ganzen Jahrhunderts geprägt. Symptomatisch etwa ist, dass der chris-
tentumsfeindliche Nationalsozialismus ihn als „den“ Biologen schlechthin zelebrierte.
LThK 2. Aufl. 5,1303: Seine Ideologie, weil er alles Leben für mechanisch erklärbar
hielt, „fand als Religionsersatz bei der Menge der Halbgebildeten größten Anklang.“
1866 besucht er für einen Tag in England Charles Darwin, was er zu den glücklichs-
ten Ereignissen seines Lebens rechnet. Er betreibt dann naturwissenschaftliche Stu-
dien, wird 1865 Professor für Zoologie in Jena. Wird zum kämpferischen Verteidiger
der darwinistischen Lehren, die damals ja noch nicht anerkannt waren. Er wendet die
Abstammungslehre erstmals auf den Menschen an und möchte dessen Stammbaum
aus den Wirbeltieren rekonstruieren. Das Buch Haeckels „Abstammung des Men-
schen“ erscheint noch vor dem Darwins 1871, das den gleichen Titel trägt. Haeckel
greift das Christentum polemisch, ja Hasserfüllt an. (Übrigens war er bis zu seinem
30. Lebensjahr ein lauer Christ; seinen Hass gegen das Christentum hat er von einer
Italienreise mitgenommen.)
• Vertritt die Urzeugungshypothese: (Fehldeutung), dass sich alles aus einem Ur-
schleim entwickelt. • Haeckelsche Grundgesetz ist auch überholt, dass sich in der
Embriogenese die Biogenese wiederholt (heute ebenfalls widerlegt, spielt aber bei
Befürwortern der Abtreibung noch Rolle.)
Haeckel hat sich selbst nicht als „Materialist“ verstanden, sondern als Monist, denn
die Materie hat in sich ein „geistiges Prinzip“. In seinem Buch „Welträtsel“ schreibt
er: „Alles ist differenzlose Materie!“ - Ja gegen Ende seines Lebens neigt er zum
pantheistischen Spiritualismus!
Materialismus: Heute die selbstverständliche Versuchung. Auch Menschen, die sagen,
dass sie an Gott glauben, ehren ihn nicht als Schöpfer und geben sich so dem Materiellen
hin als wäre diese letzter Grund und Sinn des Lebens.

b. Der Pantheismus
Der „Materialismus“ ist eine monistische Weltsicht, weil es für ihn „monos“ die Materie
gibt. Dem Materialismus gegenüber steht der Pantheismus, der ja seit Baruch Spinoza in
die lateinische Formel gebracht werden kann: „Deus sive natura!“ Auch ein Monismus!
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 83 -

Dem Pantheismus ist die Materie selbst Gott. Wie der Materialismus ist auch der Pan-
theismus ein monistisches Denksystem, beide nehmen ja nur eine Substanz an.
Der pantheistische Gottesbegriff ist wegen seiner Gleichsetzung mit „dem Ganzen“ der
Welt kein personaler Gott. Gott ist dort zum Neutrum geworden, zum „Göttlichen“, zum
Divinum, zum Numen, zur „göttlichen Natur“ (Romantik des vorigen Jahrhunderts, z. B.
Ode an die Freude bei Beethoven).
EXKURS: Baruch Spinoza, (1632-1677)
latinisiert Benedict(us) de Spinoza
niederländischer Philosoph
einer der bedeutendsten Vertreter des Pantheismus
24. November 1632 Geburt als Kind spanisch-portugiesischer Juden in Amsterdam
klassische jüdische Ausbildung
-> jedoch bald Abweichen von der Lehre des traditionellen Judentums-> 1656 Aus-
schluss aus der jüdischen Gemeinde und Verbannung aus Amsterdam
Zeit der Verbannung: Arbeit als Linsenschleifer und Verfassen seines ersten philoso-
phischen Werkes: Tractatus de Deo et Homine Ejusque Felicitate (Kurzes Traktat von
Gott, dem Menschen und seinem Glück)
1661 Umzug nach Rijnsburg bei Leiden und drei Jahre später nach Voorburg bei Den
Haag
aufgrund der Beschränkungen, die der Philosophie durch die Theologie auferlegt wa-
ren und um die Unabhängigkeit seines Denkens zu wahren, Ablehnung eines Lehr-
stuhls für Philosophie an der Universität Heidelberg, den ihm der pfälzische Kurfürst
Karl Ludwig angeboten hatte
Tod 1677 Spinozas
Werke:
Tractatus theologico-politicus (1670, Theologisch-politisches Traktat)
-> anonym und unter irrführenden Angaben über seinen Ursprung im Jahr 1670 ver-
öffentlicht - Spinoza waren seine philosophischen und theologischen Ideen über die
Denkfreiheit und die Religion sowie seine staatstheoretischen Überlegungen selbst so
brisant, dass er es vorzog, den Druckort (Hamburg statt Amsterdam) und den Namen
des Druckers zu fälschen. 1674 wurde das Werk verboten. [-> ein Auszug aus Spino-
zas Vorrede als Quelle]
De Intellectus Emendatione (1677, Über den Fortschritt des Verstehens)
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 84 -

Ethica Ordine Geometrico Demonstrata (1674, Ethik, nach geometrischer Ordnung


dargestellt)
● Vertreten der Auffassung, dass das Universum mit Gott, der durch sich und aus
sich selbst geschaffenen Substanz aller Dinge, identisch ist
Substanzbegriff: es gibt nur 2 Aspekte dieser EINEN SUBSTANZ:
NATURA NATURANS (Substanz als schaffende Natur)
NATURANS NATURATA (Erscheinungsform der Substanz)
'Einzeldinge' gemäß Spinoza: -> universeller oder wesenhafter Charakter
Fazit dieses Pantheismus: Nur durch die Identifikation mit der Substanz oder Gott
lässt sich Unsterblichkeit – und damit Frieden – erreichen
Diesen Pantheismus vertraten nach Spinoza vor allem die deutschen Idealisten: ●
Fichte, Schelling und natürlich Hegel. ● Einfluss auf Philosophen wie G. W. Leibniz,
G. E. Lessing, J. G. Fichte, J. G. Herder, F. Schleiermacher und F. W. J. Schelling
sowie auf Dichter wie J. W. von Goethe, William Wordsworth und Percy Shelley
Der Pantheismus ist immerdar die Versuchung der Gescheiten, der Denkenden. Warum?
Weil der Denkende 1. erkennt, dass es ein Absolutes geben muss! Weil er 2. nicht das
Gegenüber von Absolutem und Relativem logisch erklären kann. Das dem Verstand so
anstößige ist das Gegenüber von Absolutem Gott und endlicher Welt! Und dann versucht
der Verstand zu versöhnen. Der Pantheismus ist der Versuch, Gott angesichts der End-
lichkeit der Welt, doch Gott sein zu lassen. Heute ist der Pantheismus eine Versuchung,
die uns aus dem östlichen Denken zukommt!
Andrerseits ist der Pantheismus aber auch – wie Premm (I,347) schreibt – eine ver-
kappte Form des Atheismus, „man könnte sagen die vornehmere Art des Atheismus
im Gegensatz zum platten, das feinere Empfinden beleidigenden Materialismus“. Es
ist nobler vom der Entwicklung des Geistes durch die Weltstadien zu sprechen, als
zuzugeben, dass dieser Geist nur die sich entwickelnde Materie ist. (z. B. Buddhis-
mus: Diskussion, ob das überhaupt eine Religion ist, weil es ja keinen Gottesbegriff
gibt; bzw. der Begriff von gott ist der, dass es keinen Begriff von Gott gibt wegen sei-
ner Umfassendheit. – sehr tief gedacht!)
Wir Christen werden durch die Offenbarung klar belehrt, dass die Welt nicht identisch ist
mit Gott, sondern dass sie ihre Freiheit zwar von Gott hat, aber doch „außer Gott“ ist.

c. Der Dualismus
In Gegnerschaft zum Glauben an die Weltschöpfung sind klassischerweise die Dualisten
(die es in dieser Form eh nicht mehr gibt). Nämlich jene Dualisten, die ein Gegenüber
von zwei gleichwertigen göttlichen Größen annahmen, aus deren Ringen miteinander
dann die Welt hervorgeht. Solche dualistische Vorstellungen prägten den Manichäismus,
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 85 -

sie finden sich aber auch in den diversen kosmogonischen Mythen des Orients oder des
germanischen Heidentums. Dualistische Auffassungen gibt es aber auch in verschiedens-
ten Sekten und gnostischen Strömungen (Markion im 2. Jh.; Priscillianer sind eine mani-
chäisch gnostische Sekte im 3.-6. Jh. usw.)
Der hier abgelehnte Dualismus entspringt im letzten auch dem Wunsch nach einer Erklä-
rung der Herkunft des Bösen. Unde malum, wenn Gott als Schöpfer doch gut ist? Und
man zieht dann als Erklärung einen bösen Gegengott heran, der auch an der Schöpfung
mitwirkt.
Für uns ist klar: Gott allein ist Schöpfer. Achtung, wenn wir Dualismus ablehnen, dann
meinen wir damit nicht die Ablehnung von Dualität! Denn genau das vertreten wir ja,
dass es eine Dualität zwischen Gott und Welt gibt, besser gesagt ein Gegenüber. Die
Schöpfung entspringt aber einem einzigen Gott, „unum universorum principium“, wie
das 4. Laterankonzil 1215 formuliert.
Satz 42: In klassischer Gegnerschaft zum christlichen Schöpfungsglauben ste-
hen die beiden monistischen Ideologien des Materialismus und des
Pantheismus, sowie der absolute Dualismus.

D. Die biblischen Schöpfungserzählungen

a. Zur Hermeneutik der Schöpfungserzählungen


Die grundlegenden Aussagen über den christlichen Schöpfungsglauben finden sich be-
reits auf den ersten Seiten des AT in den beiden Schöpfungsberichten: dem jüngeren Be-
richt der „Priesterschrift“ (Gen 1,1-2,4a) und dem älteren Bericht, der dem Jahwisten zu-
geschrieben wird und eher anthropomorphe Züge trägt (Gen 2,4b-3,24).
Insgesamt werden die ersten 11 Kapitel von Genesis 1-11 die „Ur-Geschichte“ genannt.
Es geht hier nicht um „Geschichte“ im Sinn von historischer Chronologie oder physikali-
scher Beschreibung! Das Präfixum „Ur“ deutet hier mehr das Typische an, die Gegeben-
heiten, die vom Hagiographen als fundamental und universal erkannt worden sind (also
das „Urtypische“, das „Ursprüngliche“…)
Wenn man also davon ausgeht, dass es sich bei den Schöpfungserzählungen und der Ur-
geschichte nicht um historisch-chronologische Berichte handelt, so ist zugleich das ande-
re Extrem zu vermeiden: dass man nämlich in ihnen bloß fabulierende Erzählungen oder
religiöse Dichtungen versteht, die keine Wahrheit und Wirklichkeit treffen wollen. Also
Mythos im reinsten Sinn. Mythos ist ja immer Deutung der menschlichen Wirklichkeit
mit Hilfe von religiösen Vorstellungen dessen, was sich hinter dem Bühnenvorhang der
Endlichkeit abspielt. Also produktive Fantasie über das Dahinter.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 86 -

Dei Verbum 12: „Um die Aussageabsicht der Hagiographen zu ermitteln, ist neben
anderem auf die literarische Gattung zu achten.“
Deshalb sind apriori für uns zwei Arten der Deutung auszuschließen: die verbale und die
rein mythische.
Müssen deutlich machen, dass es um keinen naturwf. Bericht geht. Wie sollen wir da
argumentieren:
1. Schon in der Schrift haben wir zwei ganz unterschiedliche Erzählungen über
die Schöpfung vor uns, die Diskrepanzen aufweisen (hat die Kirchenväter beschäftigt
bis herauf in die Bibelkommissionen des Pius X.): Die jahwistische Schrift und die
priesterliche weichen voneinander ab:
Beispiele:• Während in P der Mensch nach den Tieren erschaffen wird, ist die Rei-
henfolge in J umgekehrt. • Während in P Mann und Frau gleichzeitig erschaffen wer-
den, wird die Frau nach J erst nach dem Mann erschaffen. • Während Gott-Elohim in
P ohne irgendein Material schafft, nämlich nur durch sein Wort („wajomer“) formt er
in J den Menschen aus Erde. • Und: J kennt die Einteilung in 6 bzw. 7 Schöpfungsta-
ge nicht!
 2. Nicht einmal der Redaktor, der die beiden Erzählungen wohl um 400 v. Chr.
zusammengestellt hat, hat sich bemüht, diese „logischen“ Diskrepanzen zu harmoni-
sieren, sondern beide einfach nebeneinandergestellt. Schon daraus zeigt sich, dass es
ihm klar war, dass hier kein „Polizeibericht“ vorliegt.
 3. Das Problem ist schon, dass ja der Verfasser der beiden Berichte, nicht selber
dabeigewesen sein konnte. – Man meinte immer - welche Nothypothese - Mose sei
der Verfasser gewesen und habe Visionen gehabt, jedenfalls eine spezielle Schau, wo
er dann all die Schöpfungsereignisse gesehen hat. (So auch in einem Hollywood Film
über Mose)
Satz 43: Zwischen den biblischen Schöpfungserzählungen und den naturwissen-
schaftlichen Weltentstehungstheorien besteht nur zum Schein eine
Kontroverse, da die Schrift ja gar nicht das naturwissenschaftliche
„Wie“ von Schöpfung zum Gegenstand haben kann.

b. Zum Verständnis des Hexaemeron


Der erste Schöpfungsbericht ist der jüngere, er ist nach heutiger Ansicht in der Mitte des
6. Jh. im babylonischen Exil von israelitischen Priestern verfaßt worden. Der Grund:
Weil die von Nebukadnezar nach Babylon deportierte Oberschicht in Gefahr war, vom
Gott ihrer Väter abzufallen und die scheinbar erfolgreicheren babylonischen Gottheiten
anzubeten. So meint man, in P deutliche Polemik gegen die babylonischen Kulte zu ent-
decken. Für die Abfassung im babylonischen Exil spricht u. a., dass im Deuterojesaja (Jes
40-55) auch dieselbe Vorstellungswelt herrscht: ein Souveräner Gott, der Himmel und
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 87 -

Erde erschaffen (bara, bzw. asah) hat, vor dem die anderen Götter „Nichtse“ (41,29) sind
usw. Deuterosjesaja ist mit Sicherheit im Babylonischen Exil geschrieben.
Jedenfalls meint man folgende Ant-Mythischen Elemente in P zu entdecken:
1. Nach heutigem Forschungsstand ist das babylonische Enuma-Elisch-Epos dasjenige,
dessen Vorstellungswelt am ehesten dem von P entspricht, gegen das P aber eigentlich
scharf polemisiert. Ja, es wird gleichsam „entmythisiert“. Wir haben ja schon von den 4
Arten der Welterschaffung im Mythos gehört (Claus Westermann, s. oben): • Ur-Sprung
(Weltenei) bzw. Götterkampf; • Geschlechtsverkehr der Götter; • Handwerkliches For-
men von Stoff durch die Götter; • Zauberwort. – Die Priesterschrift scheidet die ersten 3
völlig aus. Der Verfasser entscheidet sich für die Schöpfung durch das WORT. Darunter
versteht er aber auch nicht ein gerauntes Zauberwort, sondern eine souveräne Willensäu-
ßerung des Schöpfers.
2. Während die Gestirne in Babylon und Ägypten als Götter verehrt werden, werden sie
im priesterlichen Text als bloße Lichter oder Beleuchtungskörper bezeichnet, die der Gott
Israels geschaffen hat (1,14-19).
3. Die Tiere, die in Babylon teils kultische Verehrung genossen, sind ebenfalls nur Ge-
schöpfe Elohims und dem Menschen untertan.
4. Der babylonischen Hauptgott Marduk wird so vorgestellt, dass er nach einem erbitter-
ten Kampf mit dem Meerungeheuer „Tiamat“ (ähnlich: tehom – Urflut) aus dessen zer-
rissenem Leib die einzelnen Schöpfungsdinge formt. Vor allem eine Festung, welche die
Urwasser, die über dem Himmelsgewölbe sind (Wasser ist hinter dem Firmamentum,
deshalb regnet es ja) zurückhält. - Hingegen hat der Gott Israels ohne theogonische Vor-
stellungen und ohne jede fremde Hilfe einer anderen Gottheit allein durch sein Wort ge-
schaffen.
5. Es ist den priesterlichen Verfassern ein Anliegen, ihre Glaubensbrüder im Exil gegen
den Zweifel an ihrem Gott zu immunisieren, ihnen zu sagen, dass ihr Gott kein Versager
ist: Deshalb wird er als mächtiger Gott beschrieben, der sorgfältig, behutsam und planend
vorgeht, und vor allem: der das Chaos ordnet. Der hymnische Aufbau mit den rhythmi-
schen Refrains: „Und Gott sprach… und es geschah also… und Gott sah, dass es gut
war… es wurde Abend und es wurde Morgen…“ verstärken diesen Eindruck eines ge-
waltigen Gottes noch mehr.
6. In Babylon war man in der Situation, den Tempel verloren zu haben. Bis dahin war das
Kriterium der Zugehörigkeit zum Glauben an den Gott Israels, ob man den Jerusalemer
Tempelkult mitvollzog oder nicht. Das fiel jetzt im Exil weg. Das Kriterium der Erkenn-
barkeit war jetzt geworden, ob jemand den Sabbat einhielt oder nicht. Deshalb gipfelt
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 88 -

alles in die Ätiologie des Sabbatgebotes: weil der mächtige Gott selbst ruhte, deshalb
auch sein Volk.
7. Das „Wie“ der Weltentstehung, das in den Mythen sosehr interessiert, steht gar nicht
zur Diskussion, das wird vielmehr aus der allgemein bekannten, als selbstverständlich
vorausgesetzten Vorstellungswelt des Alten Orients entlehnt (z. B. die Vorstellung, man
müsse über die Erde eine unsichtbare Feste [firmamentum] spannen, um die Urwasser
des Himmels zurückzuhalten.)
Satz 44: Dem Sitz im Leben nach entmythologisiert die Priesterschrift, die zur
Zeit des babylonischen Exils verfasst wurde, im Hexameneron (Gen
1,1-2,2a) babylonische Schöpfungsmythen, indem dort hymnisch die
absolute Macht des Gottes Israels dargestellt wird, der allein kraft sei-
nes Wortes alles schafft und souverän ordnet.

2. Die geschaffenen Geister (Engel) im Glauben der Kirche

A. Name und biblisches Zeugnis

1. Das deutsche Wort Engel ist Übersetzung bzw. Lautnachbildung des lateinischen ange-
lus, das wiederum auf das griechische αγγελο zurückgeht. Diese Fremdwörter heißen
soviel wie Bote, Gesandter, Gesendeter. Ursprünglich bezeichnete man damit nicht ein
Wesen, sondern die Funktion eines überirdischen Geistes (spiritus).
AUGUSTINUS: ,,Angelus enim officii nomen est, non naturae.“ (Sermo 8,3).
2. In der Vorstellungswelt des AT sind Engel selbstverständlich. Sie gehören zum Hofe
JHWH, zum Himmel, sie sind seine Mittler. Im Hebräisch der Bibel heißt Engel maleak,
in der LXX angelos, beides heißt Bote.
Manchmal werden sie auch einfach nach ihrer Erscheinungsgestalt ,,Männer“ genannt,
oder ,,Heer Jahwes“ beziehungsweise ,,Heer des Himmels“. Daher wird Gott ,,Jhwh Se-
baoth“ genannt, das heißt: Gott der Heere (Hos 12,6; Amos 3,13). Das Alte Testament
spricht auch von Kerubim, die den Eingang zum Paradies hüten (Gen 3,24) und Träger
der Bundeslade Gottes sind (2 Sam 22,10; Ps 18,11). Über der Bundeslade, in der inners-
ten Kammer des Allerheiligsten waren zwei große Kerubfiguren aufgestellt, die ihre Flü-
gel über die Lade ausbreitet (Ex 25,18-22). Ezechiel erblickt vier Kerubim als Feuerwe-
sen, die mit ihrem Menschen-, Löwen-, Stier- und Adlergesicht Vorbild für die Evange-
listensymbole sind (Ez 1 und 10).
Was der Name Kerubim bedeutet, ist unklar. Der ebenfalls gebräuchliche Name Sera-
phim heißt ,,Brennende“. In der Berufungsvision Jesajas werden sie als sechsflügelige
Wesen mit Gesicht, Händen und Füßen, die vor dem Thron Gottes stehen, geschaut. Ke-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 89 -

rubim und Seraphim werden in der Schrift nie Engel genannt und erst seit dem Spätju-
dentum unter dem ,,Gattungsbegriff“ Engel (angeloi) geführt.
3. Ihre Funktionen sind nach dem NT mannigfaltig [vgl. HThG 1, 273-274], ihr Auftritt
am Beginn der Christus-Erlösung (Gabriel - Zacharias, - Maria - Josef) und an dessen
eschatologischem Ende (Apokalypse) ist immerhin bemerkenswert!

B. Scheinbare Argumente Contra die Existenz und Verehrung der Engel

Videtur quod angeli non sunt! Es scheint, als ob der Engelglaube heute keine Bedeutung
mehr hat, als ob man die Engel problemlos aus dem Glaubensgut der Kirche streichen
kann, wie man sie schon seit Jahren aus der Spiritualität verbannt hat.
1. Die naturwissenschaftliche Weltsicht braucht keine kosmologischen Lückenbüßer
Der Glaube an die Existenz von Engeln als personale Geistwesen sei veraltet: Er sei frü-
her auch im außerbiblischen Raum allgemein verbreitet gewesen, da der Mensch solche
Zwischenwesen zur Erklärung gewisser kosmologischer, physikalischer und psychologi-
scher Phänomene bedurfte. Heute in einer rationalisierten Zeit sei ein solcher Hilfsglaube
aber weder lebbar noch verkündbar, er sei Aberglaube. Es sei nicht mehr Notwendig,
geistige Existenzen zur Deutung gewisser Phänomene heranzuziehen.
2. Engel als mythische Reste in der Bibel
In der Entwicklung zum Monotheismus half die Vorstellung von Engeln, die Götter der
umliegenden Völker in Form von „Engeln“ Jahwe unterzuordnen, ohne sie deshalb ganz
aufgeben zu müssen. In Wirklichkeit, seien die biblischen Engeldarstellungen stark
beeinflußt von der reichen Mythologie der persischen, griechischen und römischen Kul-
tur Auch von den Essenern (Qumran) wurde der Engelglaube stark beeinflußt. Heute
jedoch sei der mythische Engelglaube allerorts geschwunden, deshalb müsse man auch
im binnenchristlichen Bereich solcher neuer Vernünftigkeit Rechnung tragen.
3. Engel als Symbole für das Handeln Gottes
Als moderner Christ müsse man den Glauben an die Engel nicht völlig abtun. Man könne
die biblischen Engelberichte in einer vor der Vernunft verantwortbaren Weise als
,,zeitgebundene bildhafte Darstellung des geheimnisvollen Wirkens Gottes“ an der Welt
und für den Menschen verstehen. Die Engel seien jedenfalls nichts Personales und Selb-
ständiges, sondern ,,Bilder“ und phantasievolle ,,Symbole“ für die Wirkungen des einen
transzendenten Gottes innerhalb von Zeit und Raum. Die Engel seien Veranschaulichun-
gen der Eigenschaften Gottes.
4. Engel nur periphere Glaubenswahrheit
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 90 -

Die Engel seien in der Hierarchie der christlichen Glaubenswahrheiten nebensächlich und
können deshalb in der Verkündigung und in der spirituellen Praxis vernachläßigt werden,
insofern diesbezügliche Disputationen zu nichts als fruchtlosen Reibungen und unnötigen
Polarisierungen führen, überdies in einer Zeit, in der die Säkularisierung bereits wesentli-
che und wichtigste Bestandteile des christlichen Glaubens, etwa den Glauben an den Er-
löser Jesus Christus, verseichtet hat.
5. Der Glaube an Engel tut nichts zu meinem Christsein
So sagt man: Man könne auch ein ,,guter Christ“ sein, ohne an die Engel zu glauben. Der
Glaube an die Engel habe nicht wirklich etwas mit der Zugehörigkeit zu Christus zu tun.

C. Fünf Argumente für die Existenz und Verehrung der heiligen Engel
1. Die Existenz der Engel ist nicht nur dem AT, sondern auch dem NT eine absolute
Selbstverständlichkeit. Nicht nur den Synoptikern, sondern auch dem Paulus, den Hagio-
graphen der Deuteropaulinen, des Hebr und der Apokalypse.
Jesus selbst spricht oft von den Engeln: Er sagt, dass sie immerdar das Angesicht des Va-
ters schauen (Mt 18,10); dass sie beim Gericht die Auerwählten versammeln werden (Mt
26,53 – Christkönig!); dass sie über dem Menschensohn auf und absteigen werden (Joh
1,51).
2. Die Schrift bezeugt die Engel als Geschöpfe Gottes. Sie hat sogar eine reiche Sprach-
welt für das, was wir heute unter Engel zusammenfassen: Mächte Throne und Gewalten,
Fürsten und Heerscharen. So heißt es Kol 1,16: „In ihm (im Sohn) ist alles erschaffen,
was im Himmel und auf Erden ist, Sichtbares und Unsichtbares: sive throni sive domina-
tiones, sive principatus sive potestates: die Throne und Fürstentümer, die Herrschaften
und die Mächte“. (Kol 1,16)
3. Die frühesten Symbola bezeugen den Engelsglauben als Teil des Schöpfungsglaubens:
Gott als Schöpfer von „Himmel und Erde“! Was Himmel ist, wird ja im Nizänischen
Symbolum übersetzt „Unsichtbares“ (aooratoon). Übrigens ist die Schriftstelle dazu das
obige Kol 1,16!
Das Lehramt hat das auch ausdrücklich definiert: Gegen die Katharer und Albigenser
formuliert das 4. Laterankonil 1215: „Deus sua omnipotenti virtute simul ab initio
temporis utramque de nihilo condidit creaturam, spiritualem et corporalem, angeli-
cam videlicet et humanam“ (DH 800)
Dem biblischen und kirchlichen Glauben lag immer die Vorstellung einer kosmologi-
schen Dualität von Geist und Materie zugrunde: Schöpfung ist polar, ist beides zugleich:
Himmel und Erde, visibilia et invisibilia, geistige Welt und materielle Welt, geschaffene
Engel und geschaffene Materie. Damit ist auch die Vorstellung einer Stufenordnung ver-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 91 -

bunden, die sich zwischen Himmel und Erde entwirft: eine von unten nach oben aufstei-
gende materielle Welt. Das ist für die Sicht vom Menschen, für die Anthropologie sehr
wichtig, denn er ist gleichsam Bürger zweier Welten: durch seine Seele gehört er zu den
invisibilia, durch seinen Leib zu den visibilia.
Das Lateranense IV hat das auch ausdrücklich gesagt: Nach der Schöpfung der geistigen
und der körperlichen „schuf Gott die menschliche [Kreatur], die gewissermaßen zugleich
aus Geist und Körper besteht.“ (DH 800)
4. Das Argument, sie seien zeitgebundene Vorstellungen, wird durch die funktionale
Wichtigkeit der Engel im Erlösungswerk des Sohnes sowie durch deren quantitative Häu-
figkeit entkräftet. Wir haben es hier nicht mit phantasievollen Illustrationen zu einem
abstrakten Handeln Gottes zu tun. Im NT geht es ja um das Eingehen der 2. göttlichen
Person in die Geschichte. Wollte man hier von Vorstellungen sprechen, die nur damals
ihre Bedeutung hatten, so würde man auch dieses Eingehen in die Geschichte nicht ernst
nehmen, das ja ein „eph-hapax, ein,,Ein-für-alle-mal“ der Erlösung bedeutet. Wenn die
Engel, die hier mitwirken, bloß „zeitgebundene Vorstellungen“ sind, dann könnten ge-
nausogut auch anderes an dem in der Geschichte wirkenden Herrn - etwa sein Kreuzestod
- als zeitgebundene Vorstellungen interpretiert werden.
Eine solche Argumentation gegen den Engelsglauben landet dann meist schnell in einer
Argumentation gegen den Inkarnationsglauben. Da wird dann bald auch nicht mehr daran
geglaubt, dass sich in Jesus Christus Gottes Heil dem Menschen aller Zeiten (nicht nur
der damaligen) in einer endgültigen Weise ausgelegt hat. Zu dieser endgültigen Ausle-
gung Gottes gehört das Mitwirken der heiligen Engel.
5. Man gibt Gott nicht eine größere Ehre, wenn man die Engel nicht verehrt, sondern „di-
rekt“ Gott. – Gott will sich ja in der Größe der Engel ehren, und uns helfen, indem er sie
uns zur Seite stellt. Gott handelt immer vermittelt, und die Vermittlung ist etwas, das ihm
zur Ehre gereicht.
Verehrung der Engel u. Heiligen abzulehnen: Gleicht einem Mann, der von seiner Frau
zum Geburtstag eine Torte geschenkt bekommt. Nein mein Schatz, ich brauche das nicht,
denn ich liebe dich auch so. Und die Torte in den Mistkübel wirft! Pervers. – Das hätte er
sagen können, wenn die Frau ihm nicht eine Torte geschenkt hätte! Aber da sie ihm die-
ses konkrete Zeichen der Liebe gegeben hat, hat er die selbstverständliche Pflicht, es an-
zunehmen.
Zusammenfassung: Engel gibt es. Die Frage nach der Existenz der Engel müssen wir als
Gläubige positiv beantworten, denn das Dogma der Kirche – Schrift, Tradition und unge-
brochene Lehre - legt uns diese Antwort vor! Die positive Antwort auf die Frage nach der
Existenz von Engeln klärt auch zugleich das Wie ihrer Existenz: Engeln existieren in der
Weise, wie die Heilige Schrift sie beschreibt: Als von Gott abhängige, auf Gott total be-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 92 -

zogene, von Gott getrennte und damit in ihrer Erscheinungsform selbständige, geistige
und, übermaterielle Wesen, die ebenso wie die ,,sichtbare Welt“ zu Gott grundlegend in
der Beziehung der Geschöpflichkeit stehen. Sie handeln und agieren personal, wenn-
gleich sie nicht aus eigenem, sondern aus dem Willen Gottes handeln.
Satz 45: Der Glaube an Existenz von rein geistigen Kreaturen (Engel) gehört
aufgrund von Schrift, Tradition und Lehramt unverzichtbar zum ka-
tholischen Dogma.

D. Das überpersonale geistige Wesen und die Aufgaben der Engel

a. Die Überpersonalität der reinen Geistigkeit


Für die Personalität spricht die Namenhaftigkeit und Engelsgruppen: Dass Engel nicht
einfach nur bildhaft das Wirken Gottes in der Welt ausdrücken sollen, ergibt sich schon
daraus, dass sie in der Schrift teilweise
Einzelnamen (Michael, Gabriel, Raffael) und
Gruppennamen (Mächte - Röm 8,38; 1 Kor 15,24; Eph 1,21; Gewalten 1 Kor 15,24;
Eph 1,21; Kol 1,16; Fürstentümer - Röm 8,38; 1 Kor 15,24; Eph 1,21; Kol 1,16; Herr-
schaften - Eph 1,21; Kol 1,16; Throne - Kol 1,16). Nur personales Sein ist
,,namensfähig“; Uber Strukturen innerhalb der Engelswelt wissen wir aber nichts aus der
Offenbarung.

b. Der Schutzengel
Erst Dionysius Areopagita, ein Neuplatoniker aus dem späten 5. Jahrhundert hat in sei-
nen Spekulationen die Engel in 9 Chöre geteilt. Da er sich in der mittelalterlichen Scho-
lastik großen Ansehens erfreute, wurde diese Engelsystematik übernommen und in der
Frömmigkeit verbreitet. Auch über die Anzahl der Engel wissen wir aus der Offenbarung
nichts. Aus der Aussage Jesu, dass Kinder ,,ihre Engel im Himmel“ haben (Mt 18,10),
kann man schließen, dass jedem Menschen (nicht nur den Getauften) mindestens ein sol-
cher Engel zugeeignet ist. Die Funktionen solcher Schutzengel werden in der Schrift
zahlreich beschrieben: Gen 24,7; Ex 14,19; Ex 23,20-22; PS 33,8; PS 19,11f; Jdt 13,20;
Tob 5,27; Bar 5,5; Dan 3,49.. 6,22, Apg.12,15 usw.
Hebr 1,14 nennt die Engel ,,dienende Geister zum Dienst ausgesandt um deren willen, die
das Heil erben sollen.“

c. Die kreatürliche Geistigkeit der Engel


Ebenso wie die Existenz und Personalität stand immer fest, dass Engel ,,geistige Wesen“
sind, psychoi oder pneumata genannt, im lateinischen spiritus. Paulus schreibt: „Wir
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 93 -

haben nicht gegen Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern gegen die Mächte, gegen die
Gewalten, gegen die Heerscharen dieser finsteren Welt, gegen die bösen Geister unter
dem Himmel.“ (Eph 6,12). Lk 24,39: „Geister haben nicht Fleisch und Knochen“. – Frei-
lich erscheinen die Engel in der Schrift oft in körperlicher Gestalt, das aber sind Erschei-
nungsformen, wie sich auch an der raum- und zeitungebundenen Weise dieses Erschei-
nens zeigt: Sie kommen und gehen plötzlich, verschwinden, steigen hinauf und hinunter
(Jakobsleiter; Jünglinge im Feuerofen.)
In den Symbola der frühen Kirche wurden sie unter dem Begriff der ,,unsichtbaren Welt“
zusammengefaßt (Nizänokonstantinopolitanum) oder unter dem Begriff des ,,Himmels“
(Apostolicum). Unter Himmel versteht man im theologischen Sinn die Daseinsform der
rein geistigen Welt, also in unmittelbarer Nähe zum Ewigen Gott, der ja ,,im Himmel
ist“, das heißt in den Existenzakten dieser Geister von seiner Schöpfung adäquat umfan-
gen und angebetet wird.
Auch die menschliche Seele ist etwas Geistiges, ja sie kann sogar für sich allein existie-
ren, dennoch ist sie kein reiner Geist, sondern eine unvollständige Substanz: sie ist ihrer
Natur nach auf den Leib hingeordnet. (Deshalb ist der Zustand der Seele nach dem Tod
nicht deren Vollendung, sondern „präternatural“, das gilt selbst für die Heiligen, denen ja
in der Seligkeit die verklärte Leiblichkeit und Gesamtgeschichte noch fehlt!)
Das 4. Laterankonzil sagt, Gott habe geschaffen „creaturam spiritualem et corporalem,
angelicam videlicet et mundanam, ac deinde humanam, quasi communem ex spiritu et
corpore constitutam“ (DH 800) Der Mensch ist gleichsam das Zwischenwesen zwischen
rein geistiger und rein materieller Schöpfung. Er ist in seiner Leib-Seele-Konstitution die
Klammer zwischen den beiden Schöpfungsebenen.
Die Lehre der Kirche hat sich dafür entschieden, die Engel für reine Geister zu halten.
Einige frühe Kirchenväter hatten ihnen nämlich einen feinen, luftartigen Leib zuge-
schrieben. Das „rein“ bedeutet also, dass sie frei sind von jeder Form von geschaffener
Materialität.
Aus dieser reinen Geistigkeit folgen 2 wichtige Eigenschaften: ihre natürliche Unsterb-
lichkeit und ihre substantielle Unveränderlichkeit.
Jeder stoffliche Körper ist der Potentialität unterworfen, ist in seinem Dasein kontingent,
da er in die Koordinaten von Raum und Zeit ausgestreckt ist. Sein Medium ist es, nicht
notwendig zu sein. Alles Materielle ist also vergänglich, sprich sterblich. So auch etwa
bei den Stammeltern Adam und Eva: auch für sie war die Unsterblichkeit nichts „norma-
les“, da sie ja stofflich-geistige Wesen sind. (Der Glaube lehrt freilich, dass sie durch au-
ßernatürliche Gnade „unsterblich“ waren – aber eben nicht von Natur!)
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 94 -

Anders bei den Engeln, da sie nicht zusammengesetzt, nicht stofflich, den Koordinaten
der Kontingenz – Raum und Zeit – nicht unterworfen sind. Sie sind ein einfacher geisti-
ger Seinsakt. So sind sie von Natur aus weder sterblich noch veränderlich.

d. Überlegungen zur Über-Personalität der Engel


Die Personalität der Engel ist aber unserer Personalität nur analog. Sie befindet sich, da
es sich um reine Geister handelt, eher in einer größeren Nähe zur Personalität Gottes,
welcher sie an seinem Erlösungswirken beteiligt. Diese reine und doch geschöpfliche
Geistigkeit der Engel wurde in der Scholastik vielfach erörtert, und aus ihrer Verwandt-
heit zur menschlichen Geistseele vieles spekulativ abzuleiten versucht. Die Aussagen der
Scholastik lassen uns Heutige jedoch, die wir weniger nach dem Sein als nach dem Tun
denken, kalt: Demnach besitzen Engel keine Ausdehnung, da sie immateriell sind (Auf
einer ,,Nadelspitze“ haben unendliche viele Engel Platz). Sie haben keine Gebundenheit
an Raum und Zeit. Die Scholastiker sagen, dass ihre Existenzform nicht „zirkumskriptiv“
(Symbol: Flügel seit dem 4. Jh., Biblisch: Seraphim, die ihre Flügel über die Bundeslade
breiten), ergo auch keine Gebundenheit an Sinne (Sehen, Hören...), sie sind von Natur
aus unsterblich und unvergänglich.
Den Engeln eignet eine tiefe Kenntnis Gottes, den sie ohne Unterlaß anbeten. Ihre
Leiblosigkeit bedeutet nicht, dass sie ohne Beziehung zur Materie stünden. Im Gegenteil
scheint ihr Einfluß auf kosmische und naturhaft Vorgänge enorm (Apokalypse). Diese
Befähigung der Geister zur Einflußnahme auf die materielle Welt findet ihren Nieder-
schlag in der Verehrung der heiligen Schutzengel, und in der Befürchtung, dass in den
Naturkatastrophen bösgeistige Mächte mitwirken können.
Schließlich schreibt die Scholastik den Engeln ein konzentriertes Erkennen und Wollen
zu. Das Wollen der Engel ist so endgültig, dass es für immer gilt. So sei den Engeln auf-
grund ihres Wesens nach einer von Gott gewährten Phase der Entscheidung für oder ge-
gen ihn, keine Änderung ihres einmaligen Entschlusses mehr möglich. Diese angelo-
ontologischen Spekulationen haben aber den Nachteil, dass sie die Engel losgelöst von
ihrer Funktion betrachten. Eine solche Betrachtung liegt dem heutigen Menschen nicht!

e. Zeitpunkt der Engelerschaffung


Auch darüber wurde viel spekuliert. Zweifaches ist nur sicher: 1.) sie sind nicht von E-
wigkeit; 2.) sie existieren bereits zur zeit Adams (Gen 3,1; 3,24).
Diskutiert wurde also die Frage, ob sie vor der Erschaffung der Welt oder gleichzeitig mit
ihr erschaffen worden sind. Die meisten Theologen lehren eine gleichzeitige Erschaffung.
Das spiegel sicht auch in der Definition des 4. Lateranums wieder, wo es heißt: „Deus
simul ab initio temporis utramque de nihilo condidit creaturam“ (DH 800)
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 95 -

Die Kirche lehrt, dass die Engel nicht automatisch im Himmel waren! Auch sie mussten
sich alle die übernatürliche Seligkeit verdienen (S. th. I, 62,4; 63,5). Dazu hat Gott ihnen,
wie dem Menschen durch die Spanne des Lebens, eine Phase der Entscheidung gewährt
(Gott möchte ja nie Marionetten schaffen, das Geistige muss immer auch die geistige
Freiheit abspiegeln!). Diese Entscheidungsphase – „status viae“ – ist nicht zeitlich zu
verstehen, sondern als „Augenblick“, als Intensitätsphase der Entscheidung. Ein Teil von
ihnen blieb nun im Guten standhaft, andere sündigten und fielen von Gott ab. Sie heißen
böse Engel, oder die Schrift nennt sie „dämones“. Da sie als Geister ein einziger Akt der
Entschiedenheit sind, so ist ihre Entschiedenheit gegen Gott auch ewig. Das Wirken der
Dämonen ist ebenso wie das der guten Engel ein geistiges.
Der Engelssturz, also die Entscheidung einiger Geister gegen Gott, wird aus einigen
Schriftstellen geschlossen:
• 2 Petr 2,4: „Gott hat die sündigen Engel nicht geschont, sondern sie in die finsteren
Abgründe der Hölle gestürzt.“ • 1 Joh 3,8: „Wer sündigt, stammt vom Teufel, denn der
Teufel sündigt von Anfang an.“ • Die Zentralstelle dafür ist Offb 12 (Großes Zeichen,
Frau gebiert Kind, dann Engelskampf, Sturz Satans auf die Erde). • Mt 25,41: „Weichet
von mir, ihr Verfluchten, ins ewige Feuer, das dem Teufel und seinem Anhang bereitet
ist.“ • Joh 8,44: nennt Jesus den Teufel einen Menschenmörder von Anfang an, der in der
Wahrheit nicht feststand. (diaballo – durcheinanderwerfen, entzweien.)
Teufel: Nach Thomas (I, 63,7) war der Anführer der bösen Engel, den wir Teufel nennen,
vorher wohl der schönste, höchste aller Engel. Bei ihm war gerade die Sünde am schreck-
lichste, corruptio optimi pessima. Gerade seine hervorragende Stellung wurde ihm zum
Verderben, denn die Satanssünde ist die des Hochmutes: „non serviam“. Einige Kirchen-
väter meinen, Gott habe dem Satan den Logos in Gestalt des Menschsohnes gezeigt, und
das habe zur Verweigerung geführt: denn es bedeutete ja die Verpflichtung der Engel,
Gott in Menschengestalt anzubeten. (Man sieht, dass es den Vätern hier um die größe des
Inkarnationsmysteriums geht!) Die Hochmutsünde Satans geht aus dem hervor, was er
Adam und Eva einflüstert: „Ihr werdet sein wie Gott“ (Gen 2) – Der Anführer der guten
Engel heißt wie zur Bestätigung: „Michael“, wer ist wie Gott. – Es sind jedenfalls viele
Engel, die gesündigt haben: Mk 5,9 redet ein Dämon: „Legion ist mein Name, denn unser
sind viele.“ Nach Thomas und Augustinus sind aber weit mehr Engel auf der Seite Gottes
geblieben als von ihm abgefallen sind. – Die Verdammung Satans dauert ewig, weil seine
Entscheidung gegen Gott irreversibel ist (gegen Origenes). Siehe Offb 20,9f: „Der Teufel
wird in den Feuerpfuhl geworfen werden zu dem Tier. Dort werden sie gepeinigt werden
in alle Ewigkeit.“
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 96 -

E. Die Funktion der Engel gegenüber Gott

Gegenüber ihrem Schöpfer übernehmen die in die Übernatur erhobenen Engel die Funk-
tion der höchstmöglichen Anbetung. Ihr Lobruf ist das dreimalige Kadosch (Heilig: Jes
6). Diese. Anbetung bereitet Gott alle Ehre, da die Engel ja seine erhabensten Geschöpfe
sind. Sie sind die von ihm bestimmten Vermittler zum Menschen, und vermitteln ebenso
umgekehrt den Menschen zu Gott. Anbetung Gottes und Führung der Geschöpfe sind
somit die zwei Grundakte der Engel. Dabei sind diese Akte in jeder Richtung freiwillig,
keineswegs naturnotwendig. Denn auch Engel sind freie Wesen, damit sie in Freiheit lie-
ben können.
Bedarf Gott solcher selbständiger Vermittler, könnte er nicht selbst unmittelbar in die
Ursachengefüge der Welt eingreifen? Er bedarf solcher Vermittler nicht. Aber ebenso
wie der Sohn die Welt in freiwilliger Liebe erlöst und damit die Liebe zum Vater und die
Ehre des Vaters über die Maßen erhöht, ebenso erhöht die Existenz und der freiwillige
Dienst der Engel die Ehre Gottes.
Die Weigerung der materielosen Geister zu solchem Dienst stellt die höchste Unehre, die
größte Lüge gegen Gott dar (Satan).
Satz 46: Die Konstitution der Engel spiegelt die Geistigkeit des Schöpfergottes
wider, wobei die Schrift nur an ihrer Funktion gegenüber Gott und
nicht an ihrer Ontologie interessiert ist.

F. Engel in der Spiritualität der Kirche

Das Vertrauen zu den Engel spielt eine große Rolle in der subjektiven Frömmigkeit der
Gläubigen (Schutzengelumhänger, Kindergebete, Schutzengelgebete usw.), ebenso aber
in der objektiven Frömmigkeit der Kirche, also in der Liturgie:
Präfation, Engelsfest, Exorzismen, der vormals am Ende jeder Messe zu sprechende gro-
ße Exorzismus zum Erzengel Michael usw. Nirgends erscheinen sie als Konkurrenz zu
Christus, sondern als Interpreten und Lehrmeister, die die Gläubigen in sein Heilswerk
einführen wollen. So steht das Gebet - ,,mit allen Engeln und Heiligen“ - am Tor zum
eucharistischen Opfer, in dem sich die Gläubigen mit ChristusThem Vater darbringen
sollen. Die Engel erscheinen hier als Helfer und Lehrmeister einer inneren Haltung der
Anbetung. Zu beachten ist aber, dass die Anbetung des Menschen letztlich wertvoller ist,
da die Engel ja nur im Geist, wir Menschen aber im Geist und im Leib (Haltung!) anbe-
ten können.
Engelserscheinungen der jüngsten Zeit (z. B.: Fatima) gehören in den Bereich der Privat-
offenbarungen und fügen dem geoffenbarten, in der Bibel fundierten Glauben der Kirche
an die Engel kein Jota hinzu. Da Engel übermateriell und leiblos sind, ist ihre Erschei-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 97 -

nungsform nur ein für die Sinne des Sehers notwendigerweise angenommenes Bild jener
geistigen Überpersonalität, die wir uns keineswegs menschlich vorstellen dürfen (siehe
oben). Allzu naive Darstellungen von Engeln in Menschengestalt mit Flügeln oder gar in
Form von kleinen drolligen Puttos verstellen dem heutigen materialistisch- Menschen,
der das Geistige in der Hülle des Materiellen (Kunstdekadenz) nicht mehr zu erkennen
vermag, eher den Blick auf die den Engeln von Gott zugeteilten geistigen Funktionen
innerhalb der Welt und des Menschentums. Man beachte jedoch das hohe Niveau der
vergeistigten Engelsdarstellungen auf den mittelalterlichen (französischen) Kathedralen.
Vertrauen dürfen wir darauf, dass uns die Heiligen Engel nach dem Willen Gottes führen
wollen. Ihr Ziel ist ein Eschatologisches, dass wir zur Anschauung Gottes gelangen, den
sie schon unverhüllt schauen.

3. Der Mensch als Geschöpf Gottes

A. Grundzüge der theologischen Anthropologie


Wir bekennen von Gott dem Vater, dass er Schöpfer des Himmels und der Erde ist, der
„sichtbaren und der unsichtbaren Welt“. Der Mensch ist nun nach dem Glauben der Kir-
che jenes einzige Geschöpf, dass beide Schöpfungsberichte miteinander verbindet: die
Welt der geschaffenen Materie und die Welt des geschaffenen Geistes. Kurz: Der
Mensch besteht aus LEIB (Materie) und GEIST (Seele), er ist die Einheit von geschaffe-
nem Geist und geschaffener Materie, - und damit „ein Bürger zweier Welten“.

a. Besteht der Mensch aus Leib und Seele?


1. Grundsätzlich sind in der Anthropologie zwei Extrempositionen möglich:
• Die völlige Leugnung der Seele, das ergibt Materialismus pur. Der Mensch als zufälli-
ges Evolutionsprodukt, dessen Geistigkeit sich auch nahtlos aus der Materialität ableiten
lässt. Geist bloß als Phänomen der Materie. (Moral wird dann schwierig, da es dann auch
keine letzte Würde des Menschen gibt.)
• Die falsche Einschätzung der Geistseele, vor allem deren Überbewertung ist immer
wieder eine Versuchung. Schon im Platonismus: Allein das Geistige zählt. Ebenso im
Gnostizismus.
2. Durch Jahrhunderte war die dichotomische Auffassung vom Menschen, also dass er
aus Leib-und Seele besteht eine Selbstverständlichkeit in der Theologie. Von der Patristik
weg über die Scholastik bis in die jüngere Philosophie und Frömmigkeit hinein war die-
ses Modell akzeptiert (neuscholastische Philosophie: Mensch als „animal rationale“
selbstverständlich! neuscholastische Frömmigkeit: „Rette deine Seele!“ – „Wie viele See-
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 98 -

len hat ihre Pfarre?“). Verunsicherung kam durch die Bibelwissenschaften. Man entdeck-
te, dass in dieser anthropologischen Sicht vieles aus der griechischen Philosophie rezi-
piert worden war, dass das biblische Denken den Menschen nicht zweiteilt, dass die bib-
lische „nephesch“ nicht automatisch identisch ist mit der thomistischen „anima“.
3. Verunsicherung auch in der katholischen Theologie. Kirchliche Lehre von der Seele,
einst allgemein rezipiert gewesen. Heute gerade in der Theologie große Verunsicherung.
Man meint, dass die Auffassung, wonach der Mensch eine Leib-Seele-Einheit wäre, nicht
christlich, sondern griechisch-philosophisch sei. Symptom: Aus den Texten des Meßbu-
ches wurde der Begriff „Seele“ systematisch getilgt. Sogar in den Totenoffizien kommt
der Begriff „Seele“ nicht vor.
4. Außerkirchliche und außertheologisch gibt es heute freilich eine große Wende, die in-
nerkirchlich noch nicht wahrgenommen scheint: Der Glaube an die Existenz einer geisti-
gen Seele ist geradezu der Kern der neuen Religiosität! New Age lebt davon, den Men-
schen zu sagen: Du bist nicht nur ein biologisches Etwas, sondern ein geistiges, immate-
rielles Wesen, und dieses Immateriell-Göttliche in Dir musst du kultivieren.
Z. B. beziffern Umfragen in europäischen Ländern die Reinkarnationsgläubigen mit
bis zu dreißig Prozent der jeweiligen Bevölkerung. (Mitschuld daran auch: dass die
liberale Theologie, die die Seele getilgt hat, kein wirkliches Modell für die Auferste-
hung bieten kann. Die „Auferstehung im Tod“ von Greshake – Lohfink ist unlogisch
und zutiefst leibfeindlich!)
b. Die 5 Hauptpunkte der Lehre über die Leib-Seele-Konstitution des Menschen
Der katholische Glaube lehrt,
1. dass jeder Mensch eine individuelle geistige Seele besitzt. Verworfen wird auf dem 5.
Laterankonzil (DH 1440f.) die Auffassung, dass es in allen Menschen nur eine einzige
universale Welt-Seele gibt, und dass nur diese universale Weltseele unsterblich sei.
2. dass die Seele unmittelbar bei der Zeugung von Gott erschaffen worden ist (Kreatia-
nismus: DH 360f.) Das wurde gegen Plato und Origenes gesagt, die eine Präexistenz der
Seele annahmen und deshalb auch eine Art vorweltlichen Sündenfalls. Diese origenisti-
schen Thesen wurde 543 von Kaiser Justinian, der sich als großer Origenistenverfolger
hervortat, verworfen (DH 403). Abgelehnt wird der Generatianismus (Eltern produzie-
ren auch die Seele: DH 360f.) und der Emanatismus (Seelen gehen durch Ausfluß aus
der göttlichen Substanz hervor (DH 190 u.a.). Während Thomas eine Sukzessive Anima-
tion kannte, vertritt die neue christliche Philosophie die Auffassung, dass die Seele im
Augenblick der Empfängnis von Gott durch einen Schöpfungsakt (creatio) geschaffen
wird.
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 99 -

3. dass die Seele die einzige Form des Leibes ist: anima unica forma corporis. Nach der
hylemorphistischen Auffassung durchformt die Seele den Leib ganz und gar, ist dessen
Gestaltungsprinzip (DH 902 u. ö.). Gerade in Gaudium et Spes gibt es eine schöne For-
mulierung zur Leib-Seele-Einheit des Menschen (dort nachlesen: GS 14. DH 4314 – sie-
he unten)
4. dass die Seele unsterblich ist (DH 1440f., 5. Laterankonzil Bei den Vätern war die
Unsterblichkeit unbestritten. Es gab eine häretische Richtung, die den Namen „Thne-
topsychiten“ erhielten (thanatos + psyche), die den Tod der Seele lehrten.
5. dass die Seele nach dem Tod des Menschen in einer Zwischenzeit fortbesteht. Der
Ausdruck „Zwischenzeit“ ist sehr plump. Die Instruktion von 1979 spricht DH 4653 von
einem „interim“.
Satz 47: Der Glaube lehrt, dass der Mensch die Einheit von Leib und Seele ist.
Die menschliche Seele ist geistig, individuell, unsterblich und unmittel-
bar von Gott geschaffen, sie entfaltet ihre Natur nur in einer substanti-
alen Einheit mit dem Leib.

B. Konsequenzen aus der theologischen Anthropologie

Wir können es natürlich akzeptieren, dass die dichotomische Auffassung vom Menschen
den Charakter eines „Modells“ hat. Es ist eine Form des Denkens über den Menschen,
die zu besserem Verständnis hilft. Das soll heißen, dass wir „naive“ Vorstellungen von
der „Seele“ besser beiseite lassen. (Etwa im Mittelalter, wo man dann – obwohl Thomas
so spekulativ und hochtheoretisch dachte – gefragt hat, ob denn etwas von der Seele ver-
loren geht, wenn man ein Körperglied verliert…)
Warum ist für die Theologie die dogmatische Lehre – also wir halten sie für von Gott
geoffenbart – vom Menschen als Leib-Seele-Einheit so unverzichtbar?
1. Seele begründet Gleichheit und Würde des Menschen. Von der unsterblichen Seele,
die der Mensch durch einen Schöpfungsakt von Gott hat, wird kaum gesprochen, oder gar
nicht. Diese Seele aber ist nach katholischer Auffassung der Wesenskern des Menschen,
sie ist einmalig und wurde beim Beginn der einzelnen menschlichen Existenz von Gott
für jeden persönlich geschaffen. Und zwar in dem Augenblick der Verschmelzung der
väterlichen Samenzelle mit der mütterlichen Eizelle. Gott bindet gewissermaßen die zur
Einheit verschmolzenen Zellen in die Seele ein und zeichnet damit das entstandene
menschliche Lebewesen als unsterbliche Persönlichkeit aus. – Das ist ganz wichtig für
die Fragen nach der Würde des Menschen. Die unsterbliche Geistseele konstituiert den
Menschen in seiner letzten Würde, in seiner letzten Gleichheit, in seiner letzten Sinnhaf-
tigkeit. Wird diese in der Seele begründete Würde nicht gesehen, öffnet sich Tür und Tor
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 100 -

für Abtreibung, Euthanasie, aber auch jede Form von Ächtung und Verachtung, Schä-
dung und Ausbeutung des Mitmenschen.
2. Wir sind als Christen auf eine ganzmenschliche Kultur verwiesen, die auch eine
Kultur der Seele ist. Auf den alten Missionskreuzen stand: „Rette deine Seele!“ (Einer-
seits durchaus problematisch, da heilsegoistisch deutbar. Andrerseits aber auch ein groß-
artiges Zeugnis für eine Kultur der Seele. – Bei uns: Kultur des Leibes (fit for fun) oder
Kultur der Sozialität (Geschwisterlichkeit). Aber auf den Geistkern des Menschen vergißt
man. Klöster waren und sind immer Zentren einer solchen geistigen Kultur!
Die Seele macht das Ich des Menschen aus, philosophisch gesprochen: den Ort seiner
Identität, den Ort auch, von wo aus er mit Gott und der Welt in Kommunion zu stehen
vermag. Scholastik: Anima est quodammodo omnia! – Die Seele macht das Sein des
Menschen aus: „Cogito, ergo sum!“  Ergo: Kultur der Seele ist Kultur des positiven
Ich. Wir brauchen das: Gebet, Stille, Meditation… Wenn die Kirche keine Kultur der
Seele mehr bietet, dann suchen sich die Leute das woanders. Ein Wort Jesu abgewandelt:
„Was nützte es der Kirche, wenn sie die ganze Welt gewinnt, ein positives Image hätte
usw., aber die Seelen der Menschen schaden nehmen?“
3. Der Begriff der „Seele“ bezeichnet die Verantwortung des Menschen vor Gott.
Und das ist heute wichtiger denn je, dies zu begreifen, dass wir unser Leben allein Gott
verantworten müssen. Jesus sagt z. B.: „Fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib tö-
ten, die Seele aber nicht töten können“ (Mt 10,28). Mit „Seele, die nicht getötet werden
kann“, ist eindeutig die unsterbliche Seele gemeint. (Franz Jägerstetter in OÖ, der den
Kriegsdienst im 2. Weltkrieg unter Hitler verweigerte berief sich immer auf seine Seele,
der er es schuldig sei, sie nicht durch den Dienst in der Hitler-Armee zu entehren.) Nach
Gerhard Ludwig Müller bezeichnet „Seele“ die grundsätzliche „Gottverwiesenheit“ des
Menschen!
Die Seele ist also eine Art „Speicher“ der Verantwortung des Menschen gegenüber Gott,
all dessen, was er aus freier Entscheidung in diesem Dasein vollzogen hat und noch voll-
zieht. Im Leben, im Sterben und nach dem Tod trägt sie die Lebensverantwortung in sich
und mit sich vor Gott. Ohne dieses Bewusstsein kann es keine Märtyrer geben! Ohne
Pflege der Seele – Verantwortunglosigkeit und Unmoral!
4. Seele bezeichnet die Unmittelbarkeit zu Gott, ist deshalb Zentrale des Gebetes.
Die Seele ist nicht irgendein Teil des Körpers wie etwa das Herz, das Gehirn oder ir-
gendein nicht näher definierbarer tiefenpsychischer Komplex. Seele ist das Einfallstor
Gottes, sie macht uns „capax infiniti“. Sie ist deshalb Träger des Gebetes, Zentrale Ver-
bindungsstelle mit Gott (z. B. auch alle Sakramente sind sinnliche Zeichen, zielen aber
durch die sinnliche Vermittlung auf die Heiligung der Seele ab.). GEBET: Wer mit Gott
Verbindung aufnimmt, „erhebt seine Seele zu Gott“. In Psalm 146 heißt es: „Lobe den
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Herrn, meine Seele! Ich will den Herrn loben, solange ich lebe.“ Hier wird übrigens deut-
lich, dass die Schrift „Seele“ mit „Ich“ verbindet.
5. Garant der Identität zwischen Individuum und Eschaton. Ohne „Seele“ ist das Ge-
heimnis des ewigen Lebens nicht denkbar. Zunächst: Die Seele ist das „Mehr-als-mein-
Körper“. Offensichtlich: Körper wird im Tod vernichtet, ja schon durch das Altern hin-
weggerafft! Seele = das „Andere Etwas“. Sie ist das im Tod Unzerstörbare. Sie ist Träger
der Identität und Kern der Persönlichkeit. Weil sie jedem von uns geschenkt wurde, ist
jeder von uns auch nach dem Tod weiterhin ein Ich. Die Seele existiert weiter, freilich in
einer veränderten Daseinsdimension. Und somit lebt jeder in und aus seiner Seele weiter,
d. h. das „Ich“ des Menschen bleibt bestehen.
Anders: Zeugen Jehovas, Evangelische: GANZTODTHEORIE, Lohfink/Greshake:
Auferstehung im Tod. – Heute: Unsterblichkeit der Seele ist in der Reinkarnations-
lehre sehr populär!
6. Ein weiterer Grund, warum wir das Modell der Leib-Seele-Einheit brauchen, liegt
nicht in der Anthropologie, sondern in der Christologie. Die Christologie hatte sich im
4. Jahrhundert für das dichotomische Modell entschieden und so auch Christus eine gan-
ze Menschlichkeit zugesprochen: Er ist seiner Menschennatur eben auch Leib-Seele-
Einheit. (Gegen Appollinaris, der die Seele durch den Logos ersetzen wollte.)
Satz 48: Es ist eine unverzichtbare Offenbarungswahrheit, dass jeder Mensch
schöpfungsgemäß aus würdevollem Leib und unsterblicher Seele kon-
stituiert ist, die zugleich universalen katholischen Humanismus be-
gründet.
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3. Teil: WS 2005/06 (1 Sws)

„Jesus Christus, der ewige Sohn des Vaters, zu unserem Heil


Mensch geworden aus der Jungfrau Maria“

§ 6: … und an Jesus Christus…“

1. Wer ist Jesus Christus?

A. „Jesus Christus“ als Name und Bekenntnis

a. Jesus
1. Der Name JESUS ist die griech.-lat. Form des hebräischen Jeschua, einer späteren Bil-
dung aus Jehoschua oder Joschua. Jesus bedeutet demnach: „Der Herr ist Heil / Rettung“.
Die Bibel kennt mehrere Träger dieses Namens:
• Jesus steht im griech. Text in Apg7,45; Hebr 4,8 und bezeichnet dort „Joschua“, den
Sohn Nuns, den Schüler des Moses. Im Dt. übersetzt mit Josua, um Mißverständnisse zu
vermeiden.
• ein Judenchrist mit dem Beinamen Justus, von dem Paulus die Gemeinde in Kolossä
grüßt (Kol 4,11).
• Das Buch Jesus Sirach
2. Für uns: Jesus ist der Name, der nach dem Gottes Willen seinem einzigen Sohn gege-
ben wurde (Mt1,21; Lk1,31; 2,21). Die Ehrfurcht vor dem Namen Jesus: Seitdem ist die-
ser Name, „der über alle Namen ist“ und vor dem sich jedes Knie beugt (Phil2,9), der
einzige Name, „durch den wir sollen selig werden“ (Apg4,12).
N. B.: Daher gibt es eine eigene Votivmesse vom Namen Jesus und seit dem neuen Mis-
sale Romanum 2004 auch einen eigenen „Gedenktag des Namens Jesu“ am 3. Jänner.
3. Frühchristliche Abkürzung: IHS

b. Christus
1. CHRISTUS ist der Titel, die Amtsbezeichnung Jesu. Das griech. christos ist die Über-
setzung des aram. meschicha bzw. des hebr. maschiach und bedeutet „der Gesalbte“
(Messias).
Karl J. Wallner, EH – auf 4 Semester verteilt – ab WS 2004/05 - 103 -

2. Zum Messias-Christus-Titel: Priester und Könige wurden in Israel durch eine Salbung
mit Öl feierlich in ihr Amt eingesetzt (Ex 29,7; 1 Sam 10,1 u. ö.). Die Bezeichnung „der
Gesalbte“ wurde zunächst vom König gebraucht (vgl. 1 Sam 24,7). Darüber hinaus
schauen die Propheten einen kommenden König aus Davids Geschlecht, einen „Gesalb-
ten“, der - Priester und König in einem - alles das erfüllen wird, was Israel von einem
wahren Friedenskönig erwartet. Von dieser Erwartung zeugen die messianischen Weis-
sagungen (vgl. Ps 110; 132; Jes 9,5f; 11,1f; Jer 23,5f; Mi 5,1; Sach 9,9-11).
3. Frühchristliche Abkürzung: Chi-Rho XP

c. Der Name Jesus Christus als Bekenntnis


1. Das Neue Testament kennt für den irdischen und den auferstandenen Christus etwa
fünfzig verschiedene Namen und Bezeichnungen. Der Christus-Titel kommt mit etwa
500 Stellen am häufigsten vor;
der Ehrenname Kyrios begegnet gegen 350 mal;
des weiteren nennt man Jesus: Menschensohn 80,
Sohn-Gottes etwa 75,
und Sohn Davids 20 mal121.
Diese Würdenamen sind zusammenfassendes Bekenntnis und Deutung von Weg und Per-
son Jesu als des Heilsboten Gottes und seines Anspruchs gegenüber den Menschen. Sie
zeigen uns, wie die älteste Predigt und Bekenntnisbildung an Vorstellung und Sprache
des Alten Testamentes anknüpft und sie zugleich übersteigt122
2. Der Doppelname Jesus Christus ist das kürzeste Bekenntnis der Christenheit: Jesus von
Nazareth ist in seiner Person der verheißene Christus (Messias). So hat es die Frühkirche
begriffen. Von den über 50 Titeln, die das NT Jesus gibt, ist der „C