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Aus der Praxis – für die Praxis
Abbildung 1.
Der Zappelphilipp. Aus «Der Struwwelpeter»
von Dr. Heinrich Hoffmann, 1844.
Vom Struwwelpeter zum ADHS In der Folge wurde für die gleiche Symptomatik je
nach Schule eine Vielzahl verschiedener Begriffe
Ob der Autor des berühmten «Struwwelpeters», der (frühkindlicher Hirnschaden, minimale zerebrale
Nervenarzt Dr. Heinrich Hoffmann, realisiert hat, Dysfunktion, infantiles POS usw.) verwendet, die
dass er mit der Beschreibung seiner Figuren die 1980 in der amerikanischen DSM III von der jetzt
Hauptsymptome der ADHS, nämlich Aufmerksam- zunehmend weltweit übernommenen Bezeichnung
keitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität, be- der «Attention Deficit (Hyperactivity) Disorder»,
reits treffend charakterisiert hat, wissen wir nicht. d.h. Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung
Es ist aber anzunehmen, dass Hoffmann dies so klar (= ADHS), abgelöst wurde. 1994 ist in der DSM IV
darstellen konnte, weil er selbst und wahrscheinlich [10] aufgrund ausführlicher Feldstudien die vorerst
ein Grossteil seiner Familie an dieser häufig ein letzte, bis heute gültige klinische Beschreibung und
Leben lang persistierenden und familiär gehäuften Definition formuliert worden (Tabelle 1). Von gros-
Störung gelitten hat [8]. Die medizinische Erstbe- ser Bedeutung ist, dass die Kriterien von Unaufmerk-
schreibung erfolgte dann 1902 durch den englischen samkeit und/oder Hyperaktivität und Impulsivität
Kinderarzt G. Still [9], der bereits damals zu Recht situationsübergreifend auftreten, über mindestens
ausführte, dass nicht vorwiegend Umweltfaktoren 6 Monate andauern, im frühen Kindesalter beginnen
oder eine falsche Erziehung, sondern eine «krank- und zu schwerwiegenden Problemen (Leidensdruck
hafte Veranlagung» zum Bild der so auffälligen Ver- des Betroffenen!) im Alltag führen müssen.
haltens- und Lernschwierigkeiten betroffener Kin-
der führen müsse.
Die ADHS kommt sowohl bei Kindern und
Jugendlichen wie auch bei Erwachsenen vor.
Voraussetzung für die Diagnose ist vor allem
eine umfassende, sorgfältige Anamnese und
die Kenntnis der DSM-IV-Kriterien.
Nadel im Heustock. Im Vordergrund stehen Befunde sammengefasst. Auch hier gilt, dass das Ausmass, die
im Bereich der verschiedenen Dopaminrezeptoren Persistenz und die daraus erfolgende Problematik
und -transportenzyme. bzw. der Leidensdruck des Patienten für die Diagno-
Im Jahre 2000 haben die amerikanischen Kinder- stik entscheidend sind.
ärzte folgende Leitlinien zur Diagnostik einer ADHS
im Kindesalter formuliert:
Klinische Symptomatik
Tabelle 2. Leitlinien der amerikanischen Kinderärzte zur von ADHS-Betroffenen
Diagnostik der ADHS (American Academy of Pediatrics,
Committee on Quality Improvement; Pediatrics 2000;105:
1158). Pränatal
Intrauterin eventuell auffallend unruhig, vor allem
Alle Kinder, die unaufmerksam, hyperaktiv und impulsiv sind, im Vergleich zu anderen Schwangerschaften. Even-
in der Schule versagen oder stark verhaltensauffällig sind, soll-
tuell ist bei ADHS-Müttern die Frühgeburtlichkeit
ten auf ADHS abgeklärt werden.
häufiger! Vermehrt Nikotin und Alkohol während
Für die ADHS-Diagnose sind die DSM-IV-Kriterien massgebend.
Schwangerschaft, möglicherweise ein Zeichen der
Entscheidend sind die Beobachtungen von Eltern in verschie-
denen Situationen, Beginn und Dauer der Symptome und eine
Selbstmedikation einer «ADHS-Mutter»?
starke Beeinträchtigung durch diese.
Zusätzlich sind Beobachtungen von Lehrern/Schule und weite- Säuglingsalter
ren Bezugspersonen ebenfalls äusserst wichtig und immer zu Nicht selten auffallend brav, ruhig und pflegeleicht
berücksichtigen! bis zu Gehbeginn oder seit Geburt unruhiges
Zusätzlich zur ADHS-Diagnostik sollen Begleiterkrankungen ab- Schreibaby mit Koliken, Ess- und Schlafstörungen
geklärt werden: Lernstörungen, wie Legasthenie und Dyskalku- (hohes psychophysiologisches Aktivitätsniveau) und
lie; Störung des Sozialverhaltens; oppositionelles Trotzverhal-
gehäuft Infekte und Allergien. Entweder also extrem
ten; Angststörung; Depression.
«pflegeleicht» oder sehr aufwendig, kein Mittelmass.
Zusätzliche Testuntersuchungen sind in der Regel routinemäs-
sig nicht notwendig.
Kleinkindesalter
Häufig motorisch sehr früh und aktiv mit unzähli-
Diese Leitlinien zeigen deutlich, dass die Kenntnisse
gen Missgeschicken und Unfällen, plan-, ziel- und
der klinischen Symptomatik der ADHS für die Dia-
rastlose Aktivität ist die Regel. Dabei natürlich Pro-
gnose entscheidend sind, wobei das Auslassen ergän-
blematik der Abgrenzung zum lebhaften Kind. Ge-
zender Testuntersuchungen die Gefahr einer Über-
ringe Spielintensität und -ausdauer. Probleme in der
diagnostik beinhaltet und keine Differentialdia-
Gruppe, ausgeprägte und langdauernde Trotzreak-
gnose ermöglicht. Allerdings dürfen die in der Praxis
tionen, oppositionelles und aggressives Verhalten,
durchgeführten Untersuchungen auch nicht überbe-
z.T. deutliche auditorische und visuelle Wahrneh-
wertet werden und sich z.B. nicht nur auf eine neu-
mungsprobleme, evtl. Schwierigkeiten in der Fein-
romotorische Untersuchung beschränken, da diese
und Grobmotorik, Sprachentwicklungsstörungen.
allein für die ADHS-Diagnostik nicht ausreicht. Zu
Durch diese Primärsymptomatik zunehmend ge-
Recht sagen die amerikanischen Kollegen: «Real life
störte Interaktion Mutter–Kind, allgemein ist die Be-
is much tougher than any test», d.h., die Beobachtun-
ziehungsfähigkeit eingeschränkt, somit keine be-
gen und Erfahrungen der Eltern, weiterer Bezugs-
ständigen Freundschaften, zunehmend soziale In-
personen und der Selbstbetroffenen sollten von den
kompetenz und Gefahr der Ausgrenzung von Kind
Fachpersonen ernst genommen werden. Nicht sel-
und häufig auch der Eltern, zunehmende Überforde-
ten erscheint der Patient (vor allem das hyperaktive
rungssituation der Eltern, Gefahr von Kindesmiss-
Kind) in der neuen stimulierenden Umgebung der
handlung. Aber auch extrem brave und ruhige Klein-
Arztpraxis völlig unauffällig.
kinder, die in einer Gruppensituation rasch überfor-
dert sind.
Das Entscheidende für die Diagnostik
ist also vor allem das «richtige Zuhören- Kindergartenalter
können». Keine Ausdauer, grosse Schwierigkeiten, verbale
Aufforderungen umsetzen zu können, kann nicht im
Da also für die Diagnosestellung die klinische Sym- «Kreisli» bleiben, zieht sich zurück oder ist der
ptomatik mit einer über Jahre persistierenden und «Schrecken» aller Kinder, d.h. Quälgeist, spielt häu-
situationsübergreifenden Problematik ausschlagge- fig immer mit den gleichen Spielsachen, «emotio-
bend ist, haben wir die vielfältig zu beobachtenden nal» nicht schulreif, z.T. tolpatschig.
Symptome und Auffälligkeiten synoptisch unten zu-
Erwachsenenalter
Persistiert in ca. 50% bis ins Erwachsenenalter mit
anhaltenden, z.T. starken Beeinträchtigungen im be-
ruflichen, familiären und sozialen Umfeld und vie-
len sekundären Erscheinungen.
Paul Wender hat für Erwachsene folgende 7 Leit-
symptome als besonders charakteristisch bezeich-
net:
Aufmerksamkeitsstörung: Gekennzeichnet durch
das Unvermögen, Gesprächen aufmerksam zu fol-
gen, erhöhte Ablenkbarkeit (andere Stimuli können
nicht ausgefiltert werden), Schwierigkeiten, sich auf
Abbildung 3.
Hans Guck-in-die-Luft. Aus «Der Struwwelpeter» schriftliche Dinge oder Aufgaben zu konzentrieren,
von Dr. Heinrich Hoffmann, 1844. Vergesslichkeit, häufiges Verlieren oder Verlegen
von Gegenständen wie Autoschlüssel, Geldbeutel
oder der Brieftasche.
Schulkind Motorische Hyperaktivität (nicht obligat!): Cha-
Mangelnde Fähigkeit, sich an Regeln in Familie, rakterisiert durch das Gefühl innerer Unruhe, Unfä-
Schule und anderen Gemeinschaften zu halten, higkeit, sich zu entspannen, «Nervosität» (i.S. eines
keine Ausdauer und ausgesprochene Konzentra- Unvermögens, sich entspannen zu können), Unfä-
tionsschwierigkeiten, starke Vergesslichkeit, «Träu- higkeit, sitzende Tätigkeiten durchzuhalten, z.B. am
mer» und/oder zunehmender Störenfried, aggressives Tisch still zu sitzen, Spielfilme am Fernsehen anzu-
Verhalten und Ablehnung durch Gleichaltrige, kom- sehen, Zeitung zu lesen, «stets auf dem Sprung» zu
pensatorischer Klassenclown. Starke Ablenkbarkeit sein, dysphorische Stimmungslage bei Inaktivität.
und emotionale Instabilität, grosse Frustrationsinto- Affektlabilität: Diese charakteristische Stim-
leranz. Ungesteuertes Schriftbild, chaotisches Ord- mungsstörung wird nicht in der DSM IV beschrie-
nungsverhalten, z.T. ständiges und überhastetes ben. Sie hat gewöhnlicherweise schon vor der Ado-
Sprechen, Dazwischenreden und -rufen. Nicht bega- leszenz bestanden, gelegentlich so lange, wie sich
bungsentsprechende Schulleistungen mit zuneh- der Patient erinnern kann. Gekennzeichnet ist sie
mendem Schulversagen und Klassenrepetition. durch einen Wechsel zwischen normaler und nieder-
Schulverleider und -verweigerung, z.T. depressiver geschlagener Stimmung sowie leichtgradiger Erre-
Rückzug, Mühe mit dauerhaften sozialen Bindungen gung. Die niedergeschlagene Stimmungslage wird
und häufig Aussenseitertum, Mobbingopfer und vom Patienten häufig als Unzufriedenheit oder Lan-
niedriges Selbstwertgefühl. Grosse Probleme mit geweile beschrieben. Die Stimmungswechsel dauern
Hausaufgaben und den vielen «Selbstverständlich- Stunden bis maximal einige Tage, hat das Verhalten
keiten» im Alltag. bereits zu ernsthaften und anhaltenden Schwierig-
keiten geführt, können sie sich ausdehnen. Im
Jugendalter Gegensatz zur «major depression» (endogene De-
Unruhe und hyperaktives Verhalten wird zwar häu- pression) finden sich kein ausgeprägter Interessen-
fig besser, die Unaufmerksamkeit, Konzentrations- verlust oder körperliche Begleiterscheinungen. Die
problematik und Impulsivität bleiben jedoch beste- Stimmungswechsel sind stets reaktiver Art, deren
hen und führen bei höheren kognitiven Anforderun- auslösende Ereignisse zurückverfolgt werden kön-
gen zu steigenden Problemen mit Leistungsversa- nen. Gelegentlich treten sie aber auch spontan auf.
gen, kann nicht mehr kompensieren. Durch jahre- Desorganisiertes Verhalten: Aktivitäten werden