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Krise – welche Krise?

Wer kann heute schon mit Bestimmtheit


voraussagen, wie sich die Ökonomie der
One-World entwickeln wird?
IG -Rote Fabrik / Zürich (Hg.)
Bietet der Neomarxismus Analyseansätze,
mit denen sich der scheinbar eigendyna-
mische Lauf der Dinge beeinflussen läßt?
Fünf bekannte KapitalismuskritikerInnen
stellen ihre Theorien zur Diskussion.

Krise – welche Krise?


Res Stehle
Ernest Mandel

IG Rote Fabrik / Zürich (Hg.)


Robert Kurz
Maria Mies
Karl Heinz Roth
ISBN: 3-89408-045-0

Edition ID-Archiv
Edition ID-Archiv
Krise – welche Krise?

Edition ID-Archiv
Berlin – Amsterdam
IG Rote Fabrik/Zürich (Hg.)
Krise – welche Krise?
Res Strehle, Ernest Mandel, Robert Kurz,
Maria Mies, Karl Heinz Roth

Edition ID-Archiv
Berlin – Amsterdam
Inhalt

Vorwort 7
IG Rote Fabrik/Zürich (Hg.)
Krise – welche Krise? Res Strehle 11
Res Strehle, Ernest Mandel, Robert Kurz, Marktwirtschaft auf freier Wildbahn
Maria Mies, Karl Heinz Roth Achtzehn Thesen zur Krise

Ernest Mandel 23
Edition ID-Archiv
Postfach 360205
Nichts gegen junge Bankangestellte ...
10972 Berlin Die »langen Wellen« der kapitalistischen Entwicklung
ISBN: 3-89408-045-0
Robert Kurz 37
1. Auflage Mai 1995 Mit Volldampf in den Kollaps

Titel Maria Mies 65


Eva Meier unter Verwendung eines Die Krise als Chance
Fotos von R. Maro Zum Ausstieg aus der Akkumulationslogik
Layout
Karl Heinz Roth 97
seb, Hamburg
Auf dem Glatteis des neuen Zeitalters
Druck Die Krise, das Proletariat und die Linke
Winddruck, Siegen

Buchhandelsauslieferungen
BRD: Rotation Vertrieb
Schweiz: Pinkus Genossenschaft
Österreich: Herder Auslieferung
Niederlande: Papieren Tijger
7

Vorwort

»Der Aufschwung beginnt im Kopf« betitelten 1994 einige


Topwerbeleute eine Plakatkampagne. Sie versuchten damit
zu suggerieren, daß die von der Krise Betroffenen in einer
Art Delirium vor sich hinsiechen und deshalb nicht auf den
Gedanken kämen, ihre persönliche Situation selbst in die
Hände zu nehmen und sich ganz einfach an den eigenen
Haaren aus dem Sumpf zu ziehen. Die Botschaft war klar:
Die Schuldigen an der Krise sind die von ihr Betroffenen.
Damit wäre das Thema Krise endlich so positioniert, daß
sich die Deregulierenden nicht mehr mit ihren Opfern aus-
einandersetzen müssen. Wer zum Beispiel keiner Erwerbs-
arbeit nachgeht, ist selber schuld und hat nicht automatisch
Anrecht auf Arbeitslosengeld; dieser Logik folgend werden
nun die betreffenden Gesetze verändert.
Das Kulturzentrum Rote Fabrik in Zürich hat im Herbst
1994 mit dem ersten Teil der Veranstaltungsreihe »Krise –
welche Krise?« einige in Europa wichtige Krisentheoretiker
und eine Krisentheoretikerin zu Wort kommen lassen. Die-
se Referate liegen hier in zum Teil überarbeiteter Fassung
vor. Die fünf Referate sollen der Auftakt zu einer längeren,
kontinuierlicheren Auseinandersetzung zum Thema Arbeit
und Krise sein.
Uns ist klar, daß eine Diskussion über Krise und Wider-
stand auch konkrete Praxis beinhalten müßte. Davon ist zu-
mindest im deutschsprachigen Raum wenig zu spüren. Die
versprengte Restlinke ist notwendigerweise mit dem Thema
Rassismus beschäftigt – sie vergißt dabei jedoch manchmal,
daß der tägliche Rassismus gegen MigrantInnen sehr viel
mit deren Ausbeutung als billige, schnell abschiebbare Ar-
8 Vorwort Vorwort 9

beitskräfte zu tun hat. Bezeichnend ist, daß sich auch mal gegenwärtigen ökonomischen Situation in der Schweiz. Er-
Unternehmerverbände gegen die Abschiebung spezifischer nest Mandel, der unermüdliche Aktivist der vierten Interna-
Gruppen von AsylbewerberInnen wehren (jüngst in der tionalen, schickt seinem Referat ein erheiterndes »dieses
Schweiz z.B. der konservative Wirteverband gegen die Aus- Mal irre ich mich nicht« voraus und erklärt ein weiteres Mal
schaffung von TamilInnen). Das Gegeneinander-ausspielen in aktualisierter Form sein Modell der »langen Wellen« der
von MigrantInnen und Eingesessenen mit mehr oder weni- kapitalistischen Entwicklung. Das entscheidende Problem
ger klaren rassistischen Untertönen funktioniert bestens. der derzeitigen Wirtschaftspolitik sei, daß eine staatliche
Vor zehn Jahren war die Behauptung, Wohnungsnot oder Kontrolle über den ungeheuren Umfang freischwebender
Arbeitslosigkeit sei den vielen »AusländerInnen« anzula- Gelder praktisch unmöglich sei und eine Sanierung des Sy-
sten, noch vornehmlich in Programmen der rechtsextremen stems einen sehr hohen Preis verlange, so daß die »lange
Parteien zu finden. Heute bedienen sich mehr und mehr ar- Welle« der kapitalistischen Depression anhalten werde. Ma-
rivierte PolitikerInnen dieser Argumentationsweise. Dane- ria Mies sieht die gegenwärtige Krise als Chance zum Aus-
ben läuft der Sozialabbau schon fast reibungslos, werden stieg aus der Akkumulationslogik, da sie nicht nur eine öko-
einstige Tabus wie Lohnabbau und Rentenaltererhöhung nomische, sondern auch eine politische, soziale und ethische
mit bestürzender Leichtigkeit geknackt und mit der Er- sei. Den freien Markt bezeichnet Maria Mies als »Euphe-
klärung verpackt, daß »wir« »uns« gegen den Rest der Welt mismus für Gewalt, Armut, Macho-Gehabe, Ausbeutung
zu behaupten hätten und daher »unsere« Wirtschaft ab- und Hunger«, neue Konzepte für Wirtschaft und Gesell-
specken müsse – Identitätsbildung noch beim Abzocken. schaft sollten auf lokale und regionale Produktion sowie
Die von uns eingeladenen ReferentInnen sind keine Subsistenzwirtschaft aufgebaut sein. Die Ausführungen von
Wunderbringer. Was sie auslösen können, sind Diskussio- Robert Kurz über den unvermeidlichen Kollaps des kapitali-
nen zur besseren Einschätzung aktueller Entwicklungen und stischen Systems und der Finanzmärkte hinterließen beim
Möglichkeiten von Organisierung der Ausgebeuteten. Zu Publikum einige offene Fragen über die postkapitalistische
hoffen ist, daß ihre unterschiedlichen Herangehensweisen Zeit und was eigentlich zu tun sei, um sich darauf vorzube-
und Schwerpunkte enge Blickwinkel ausweiten und inner- reiten. Karl Heinz Roth versucht in seinem Beitrag die am
linke Widersprüche offenlegen. Eher uninteressant wäre da- Konkret-Kongreß 1993 und in seinem Buch »Die Wieder-
bei, wenn alles beim alten linken Spiel bliebe, sich gegensei- kehr der Proletarität« entwickelten Szenarien weiter auszu-
tig Fehleinschätzungen vorzuhalten und Wortklauberei zu bauen und setzt mit seinem Votum für den Aufbau und die
betreiben. Jede linke Krisenanalyse, die nicht der aktuellen Vernetzung der bestehenden oder neu entstehenden Bewe-
Entwicklung hinterherhinken will, müßte sich eigentlich als gungen die Sache des Widerstandes gegen die kapitalistische
Werkzeug zur Findung neuer Handlungsmöglichkeiten für Entwicklung wieder in den Vordergrund.
einzelne und Gruppen, zum Widerstand gegen postfordisti- Wir hoffen, mit dem Abdruck der Referate die Diskussi-
sche Konzepte und deren eigendynamische Ausbeutungs- on etwas weiter voranzutreiben.
gier bewähren, sich an der Praxis messen.
Res Strehle hat die Veranstaltungsreihe in der Roten Fa- Konzeptgruppe Rote Fabrik, Zürich
brik eröffnet. Sein Referat gibt einen Überblick über die
neueren Krisentheorien in der Linken und seine Sicht der
11

Res Strehle
Marktwirtschaft auf freier Wildbahn
Achtzehn Thesen zur Krise

1. Jede ökonomische Analyse muß sich vorgängig ihrer be-


schränkten Reichweite bewußt sein: Sie ist ein kleiner Aus-
schnitt von Theorie, vorläufiger Stand des Irrtums und nur
begrenzt mobilisierend. Versuche, sie zwecks Mobilisierung
zu forcieren und mit endzeitlichen Begriffen wie »Spätkapi-
talismus« zu unterlegen (Ernest Mandel, 1972), erscheinen
gut zwanzig Jahre später als gutgemeinte Aufbruchshoffnun-
gen – am untauglichen Objekt. Das Verhältnis zur politi-
schen Ökonomie darf andererseits aber auch kein Konsum-
verhältnis sein. Minimalziel muß eine aktive Beteiligung aller
von Verwertung Betroffenen an der kollektiven Analyse un-
ter gleichzeitiger Abkehr von gesamtgesellschaftlichen »Wir-
alle-Perspektiven« sein. Zu vermeiden sind vorab die gängig-
sten Fragestellungen: Was will die BRD? Droht der Schweiz
die Isolation? Liebt Liechtenstein sein Fürstenhaus? Auch
vor allzu platten, unversöhnlichen Wir-sie-Gegensätzen ist
zu warnen, etwa jenem zwischen Kapitalisten und lohnab-
hängigem Proletariat. Maximalziel ist eine differenzierte
Klassenanalyse in der weltwirtschaftlichen Dimension. Wer
sind die Jäger? Wie haben sie sich mit den Löwen arrangiert?
Wie sind die Reviere aufgeteilt? Welche Rolle spielt der
ken(es)yanische Staat? Der Internationale Währungsfonds
(IWF)? Und wie steht’s mit dem Mut der Antilopen? Müssen
Vegetarier zeitlebens Opfer bleiben? Marktwirtschaft auf
freier Wildbahn ist keine Sonntagsschule.
12 Res Strehle Marktwirtschaft auf freier Wildbahn 13

2. Der Begriff Krise ist so, wie er im folgenden verwendet hängige, eigene Subjektivität und Handlungsfähigkeit. Ob
wird, nicht moralische, sondern ökonomische Kategorie. Er Krise oder nicht, geölte oder harzige Kapitalverwertung
bezeichnet damit weder Hunger, Elend noch Umweltkata- hängt entscheidend auch von unserem Verhalten ab zwi-
strophen, noch Sinn- oder Staatskrisen, sondern einzig und schen den Polen Komplizenschaft/Anpassung bzw. Verwei-
allein eine tiefgreifende, langandauernde Infragestellung von gerung/Widerstand – je kollektiver wir uns verhalten, um so
rentabler Kapitalverwertung. Er bezeichnet mehr als einen spürbarer.
kurzfristigen, vorübergehenden Einbruch der Wirtschaft
5. Die Krisentendenz ist keine Folge ungeschickter staat-
(»Rezession«) und deutet in letzter Konsequenz den mögli-
licher Eingriffe, sondern mit Marktwirtschaft untrennbar
chen Zusammenbruch von Kapitalismus an. Ausgangspunkt
verbunden und hängt mit dem Widerspruch zwischen dem
der Verwertungskrise ist nach wie vor die produktive Sphäre
Rationalisierungswettlauf der Kapitalisten und dessen ge-
(Wertschöpfung und -aneignung, Akkumulation), abgeleitet
samtgesellschaftlichen Folgen zusammen. Je freier der
davon betroffen und ihrerseits neue Ursache die Zirkulati-
Markt in den Metropolen, um so kapitalintensiver die Pro-
onssphäre (Überakkumulation). Mathematisch läßt sich die
duktion, um so größer auch das Mißverhältnis zwischen der
Frage der Krise auf die Höhe des Strichs in der alten Marx-
stark wachsenden Nachfrage nach Investitionsgütern und
schen Formel G (ursprüngliches Geldkapital) – W (damit
der vergleichsweise zurückbleibenden Nachfrage nach Kon-
produziertes Warenkapital) – G‹ (neues Geldkapital nach
sumgütern. Je mehr Markt also, um so mehr Effizienz kom-
Verkauf des produzierten Warenkapitals am Markt) reduzie-
petitiver Unternehmer, um so mehr aber auch gesamtwirt-
ren.
schaftliches Ungleichgewicht.
3. Krise ist aber nicht nur einfach ökonomisch-techni-
6. Krise hat aus Sicht der Kapitalverwertung ein Doppel-
sches oder gar mathematisches Ergebnis stockender Kapi-
gesicht: ständig drohender Betriebsunfall bis zur langfristi-
talverwertung, sondern Ergebnis eines tendenziell ge-
gen Zusammenbruchsperspektive einerseits, Krisenangriff
gensätzlichen Verhältnisses zwischen den Subjekten (Träge-
im Sinne der Nutzung oder gar Provokation des Ab-
rInnen) und den Objekten (Betroffenen) von Kapitalverwer-
schwungs als Voraussetzung zur Wiederherstellung neuer
tung. Ob sich ein Phänomen wie etwa der im großen Stil ge-
Verwertungsbedingungen andererseits (sogenannte »entge-
plante Massentourismus in der Südtürkei durchsetzt, ent-
genwirkende Tendenzen«). Kapital geht damit ähnlich halb-
scheiden letztlich weniger die Preisstruktur des Weltmarkts
freiwillig und mit demselben behaglichen Schaudern in die
und die Konsumkraft von MetropolentouristInnen (wie
Krise wie Kinder auf eine Geisterbahn. Denkbar genauso,
etwa Robert Kurz meint) als die praktische Ausdrucksweise
daß es am Ende gestärkt herausfährt, wie daß es eines Tages
des Einverständnisses bzw. der Verweigerung mit dieser Art
nicht mehr herausfährt.
von Verwertung hier und dort – und zwar weit gefaßt (mit
inbegriffen jeder Widerstand nationaler, sozialer und ökolo- 7. Seit der Weltwirtschaftskrise von 1857/59 hat der Kri-
gischer Bewegungen dort wie auch die moralischen Skrupel senangriff seinerseits das Doppelgesicht von Neuordnung
möglicher KonsumentInnen hier). der Art und Weise, wie die Werte angeeignet werden (Akku-
mulation) sowie der Art und Weise, wie diese Wertaneignung
4. Wir haben, wie alle lebendigen Objekte von Kapital-
reguliert wird (Regulation). So wichtig es ist, diese beiden
verwertung, zusätzlich eine von der Kapitalbewegung unab-
14 Res Strehle Marktwirtschaft auf freier Wildbahn 15

Bereiche gedanklich zu trennen, so kurz greift es, ein politi- ria Mies, Claudia v. Werlhof). Gerade die Dialektik von
sches Programm als Programm anderer (sozialer oder ökolo- Mehrwertaneignung aus Lohnarbeit und Wertraub aus un-
gischer) Regulation zu formulieren (wie es etwa Ernest Man- freier Arbeit hat historisch zur Durchsetzung neuer kapitali-
del schon 1972 macht). Ohne fundamentale Änderung der stischer Gesellschaftsformen geführt (siehe dazu etwa die
zugrundeliegenden Akkumulationsweise sowie der Geldor- Kriegsaktualität im Aufschwung nach dem Kriseneinbruch
ganisation sind solche politischen Programme weder sonder- von 1857/59, den Zusammenhang zwischen Fordismus,
lich aussichtsreich noch konkretutopisch, eben höchstens Prohibition und 1. Weltkrieg in den USA, Nationalsozialis-
»solare« statt »soziale« Revolutionen (Elmar Altvater). mus, 2. Weltkrieg und nachholender Fordisierung Europas
oder auch zwischen Stalinismus und Staatsfordismus in der
8. Jede Krisenanalyse, die den Blick nur auf Markt,
Sowjetunion).
Lohnarbeit, formelle Ökonomie, formellen Rechtsstaat
richtet, sieht nur die helle Seite des Mondes und wird in 9. Im Unterschied zu früheren Kriseneinbrüchen (und
ihrem »Verständnis« des Mondes zwischen Sichel und belehrt durch sie) hat sich Kapital mittels einer »Gloca-
Scheibe stehenbleiben. Sie wird die Spitze des Eisbergs für lism«-Strategie (global denken und planen, lokal handeln)
den Eisberg halten und böse Überraschungen erleben, wenn unempfindlicher gemacht gegen regionale Kriseneinbrüche,
sie die kleine Scholle nur mal rasch beiseite schieben will. gleichzeitig beweglicher in der Ausnützung regionaler
Sie wird insbesondere das »Geheimnis der ursprünglichen Booms und in der Rentenabschöpfung auf »aufstrebenden
Akkumulation« nicht oder (wie Karl Marx) nur historisch Märkten« (»emerging markets«). 140 Jahre Krisenerfah-
verstehen, bemerkt wohl die erlöschenden »Lichter des rung und Bestrafung von Dinosaurier-Verhalten haben Be-
Marktes« (Robert Kurz), nicht aber das schon immer feh- weglichkeit und Flexibilität gefördert und damit jenes Kapi-
lende Licht in der Rumpelkammer. Das ist nicht bloß histo- tal laufend gestärkt, das schon der Form nach die höchste
rische Lücke, sondern verstellt den Blick auf einen Bereich Beweglichkeit hat: weder branchenmäßig noch regional ab-
mit ökonomisch weitreichender Bedeutung (Oligarchie, Re- hängiges, noch stoffwertgebundenes Finanzkapital. Wichti-
ligion, Mafia, externe Kosten usw.). Gäbe es nur Markt (also ger und damit höher belohnt wird die richtige Erwartung
etwa für die Arbeitskraft nur Arbeitsmarkt), wäre Kapitalis- des zukünftigen Ertrags (Boom der Finanzmärkte) sowie der
mus längst in der Krise »kollabiert« oder zerbrochen. Nun zu erwartenden Differentialrente von Boden (»Immobilien-
gab es aber neben der Akkumulation aus Lohnarbeit (»Mehr- spekulation«).
wertaneignung«, äquivalenter Tausch) stets eine Parallelak- Dem Rationalisierungswettlauf der in der produktiven
kumulation aus Zwangsarbeit, gebundener Arbeit, Abhän- Verwertung tätigen Realkapitalisten entspricht der Wettlauf
gigkeits- und Zuneigungsarbeit wie auch aus anderen For- der Finanzkapitalisten um die möglichst frühzeitige Ab-
men von Wertraub (Parallelakkumulation, nicht-äquivalen- schöpfung der Erträge aus der realen Verwertung – in Form
ter Tausch). Rosa Luxemburg hat dazu schon 1912 in ihrer von den die Erträge so frühzeitig wie möglich vorwegneh-
Schrift »Die Akkumulation des Kapitals« die theoretische menden Kursgewinnen auf Finanztiteln und abgeleiteten Fi-
Grundlage gelegt, die Bielefelderinnen haben daraus ihre nanzinstrumenten (Derivativen). Die Dividende (eigentli-
Theorie des »blinden Flecks« der orthodoxen politischen cher Beteiligungsertrag der Eigentümer) wird so zum wenig
Ökonomie entwickelt (Veronika Bennholdt Thomsen, Ma- interessanten, letzten Beutezug des Kleinaktionariats auf das
16 Res Strehle Marktwirtschaft auf freier Wildbahn 17

leere Bärenfell. Der frühzeitigen Beteiligung am Verwer- mics), beschäftigungsstützender Keynesianismus (siehe Clin-
tungsertrag eines einzelnen kapitalistischen Betriebes ent- tonomics, Japan, EU-Gipfelbeschlüsse 1993).
spricht die frühzeitige Abschöpfung veränderter Verwer-
12. Die Umstrukturierung in der Schweiz erfolgt ver-
tungserträge in ganzen Währungsregionen (Devisenspeku-
gleichsweise zögerlich, da hier bezüglich komparativer Ko-
lation).
stenvorteile des Finanz- und Dienstleistungsplatzes lange
10. Das Anti-Krisen-Instrumentarium von Staat, Ver- eine komfortable Monopolsituation bestand, vergleichbar
bänden und Konzernen läßt sich auf der Ebene der Regula- etwa mit jener des Informatikkonzerns IBM auf dessen
tionsweise im Spannungsfeld zwischen Regulierung (Ein- Märkten. Abgestuft in den drei konjunkturellen Einbrüchen
griffe in den Markt, nachfragestützend) und Deregulierung seit Mitte der siebziger Jahre, waren folgende Strategien
(Marktschub, angebotsstützend) fassen. Regulierende und und Angriffspunkte erkennbar:
deregulierende Anti-Krisen-Strategie haben sich historisch – Die »Produktionsauslagerung« von Mitte der siebziger
abgewechselt. Beide Strategien können Krisen entschärfen Jahre (»Ab in die Dritte Welt«, »neue internationale Arbeit-
und aufschieben, beide können sie langfristig aber auch ver- steilung«) mit einem Abbau von insgesamt 240 000 Arbeits-
schärfen. Wie lange und in welchem Maß staatliche Regulie- plätzen wird mittels Abschiebung ungarantierter ausländi-
rung möglich ist, ist letztlich ein Problem ihrer Finanzie- scher Arbeitskräfte kaschiert. Die Schwerpunkte des Arbeits-
rung: Sie scheint in den EG-Metropolen etwa auf halbem platzabbaus liegen in der Uhrenindustrie (- 40 000), der Tex-
Weg ausgereizt (durchschnittlich 70 Prozent Staatsverschul- til- und Bekleidungsindustrie (- 60 000), der Maschinen- und
dung im Verhältnis zum Bruttoinlandprodukt). Ab 100 Pro- Metallindustrie (- 30 000) sowie im Bau- und Holzgewerbe
zent Staatsverschuldung in Höhe des Bruttoinlandprodukts (- 40 000). Rund 60 Prozent der innerorts abgebauten Ar-
muß rund eine Stunde eines achtstündigen Arbeitstages zur beitsplätze werden in Billiglohnregionen neu aufgebaut.
Finanzierung der Schuld (Zinsen, Amortisationen) aufge- – Zu Beginn der achtziger Jahre erfolgt eine »Rationali-
wendet werden, nach eineinhalb Stunden dürfte eine sierungswelle« mit hohem Kapitalbedarf (»Swatchisie-
»Schmerzgrenze« für rentable Kapitalverwertung über- rung«). Auffällig ist in der Folge die Teilenteignung der am
schritten sein. Weltmarkt orientierten »Familiengesellschaft«, die trotz
hohem persönlichen Reichtum nicht über ausreichende Fi-
11. Die aktuelle Situation in den Metropolen, z.B. in den
nanzkraft für die aufwendige Rationalisierung und den Auf-
USA, Japan, Großbritannien, der BRD oder der Schweiz,
bau von Monopolstellungen verfügt (typisch dafür ist die
läßt sich kennzeichnen durch die Überlagerung der seit Mit-
Entmachtung der Rüstungsindustriellenfamilie Bührle in
te der siebziger Jahre virulent gewordenen Weltwirtschafts-
der zweiten Generation, aber auch der Machtverlust zahlrei-
krise mit verschiedenen konjunkturellen Aufschwüngen und
cher Textildynastien in der vierten und fünften Generation).
Einbrüchen seither. Der Krise wurde weltweit vorrangig mit
Nebenwirkung der Rationalisierung bei gleichzeitiger Be-
angebotsorientierten Deregulierungsmaßnahmen begegnet
kräftigung der Auslagerungsdrohung ist die Schwächung der
(IWF, Reganonomics, Thatcherismus, Europäischer Wirt-
Gewerkschaften, exemplarisch in Italien (Niederlage im
schaftsraum, Europäisches Währungssystem), in den Metro-
Fiat-Streik 1981), im Kleinen aber auch in der Schweiz
polen sekundär regulierend nachfrageorientiert mit einem
(Druckerstreik 1980).
begleitenden Rüstungskeynesianismus (siehe etwa Reagono-
18 Res Strehle Marktwirtschaft auf freier Wildbahn 19

– Ab 1989 wird von Unternehmerseite die »Light«- und verband SMUV in der Schweiz mit neu geschaffenen Pro-
»Lean«-Welle propagiert gegen den »zu hohen Choleste- jektgruppen für Beratung und Information der Betroffenen).
ringehalt« (Stephan Schmidheiny) des Schweizer Volkes mit
13. In der Schweiz liegt das Hautgewicht der staatlichen
den nach wie vor (zu) hohen Garantien von Staat, Landwirt-
Wirtschaftspolitik seit 1989 ebenfalls auf den angebotsori-
schaft, Industrie, Dienstleistungsbereich. Anvisiert wird »in-
entierten Deregulierungsmaßnahmen. Dieses Schwerge-
ternationale Wettbewerbsfähigkeit«, Stimmung gemacht
wicht kommt im internationalen Vergleich relativ spät
mit einem drohenden Abstieg des Finanz- und Werkplatzes
(»nachholend«), außerdem unmittelbar vor dem Konjunk-
Schweiz in den weltweit geführten Investitions- und Rating-
tureinbruch ab 1991. Es sollte via »external binding« durch
statistiken. Stephan Schmidheiny, ein Schumpeterscher In-
Anschluß an den EWR (in der Schweiz nachvollzogen mit-
dustrieller in der vierten Generation, macht sich gleichzeitig
tels eines »Eurolex«-Gesetzespakets) durchgesetzt werden.
für nachhaltigen, »intelligenten« und ökologisch verträgli-
Nach der ablehnenden Volksabstimmung vom 1. Dezember
chen Kapitalismus stark (siehe dazu etwa die Position des
1992 wird die Deregulierung verlangsamt und mittels Aus-
von ihm präsidierten Business Council am Erdgipfel von Rio
nahmen in sensitiven Bereichen (Arbeitsmarkt, Bodenmarkt,
1991).
Verkehrspolitik) durchgesetzt. Instrumente sind der vorder-
Er gruppiert die von ihm geerbten Beteiligungen laufend
gründig freiwillige »autonome Nachvollzug« (»Swisslex«)
neu, stößt ab, was nicht zum Kerngeschäft gehört, macht
und die unfreiwillige Krötenschluckerei aufgrund der Er-
»schlank« (»lean production«), was ihm bleibt, und formt
gebnisse bilateraler Verhandlungen mit der EU. Von Wirt-
die einstigen Maschinenindustriebeteiligungen zu einem
schaftsseite wird der Konjunktureinbruch ab 1991 weitge-
Technologiekonzern (ABB, Leica, Landis & Gyr). Ähnlich
hend zum autonomen Vorvollzug benützt und bringt der
wie die Schmidheiny-Beteiligungen – wenn auch nicht mit
Schweiz eine offene und verdeckte Arbeitslosenrate von eu-
derselben Dynamik – werden Staat und Gesellschaft
ropäischem Durchschnitt (um 10 Prozent), national immer-
»schlank« gemacht. Es entstehen »neue Selbständige« im
hin Jahrhundertrekord.
informellen Sektor, ein »Rassismus der Wohlanständigkeit«
(Nora Räthzel), das Appenzeller Patriarchat wird marktför- 14. Die dreistufige Anti-Krisen-Strategie ist in dem Sin-
mig modernisiert (notfalls mit Zwangseinführung des ne Krisenangriff, als damit ein Umbau der Gesellschaft in
Stimmrechts für Frauen via Bundesgericht). Ähnlich wie die Richtung auf eine neue Gesellschaftsformation (Akkumula-
Apartheid in Südafrika wird die Geschlechterdiskriminie- tion und Regulationsweise) vorangetrieben wird: Schlag-
rung aus Verfassung und Gesetzen entfernt (neues Eherecht, worte sind in diesem Zusammenhang die »Zweidrittelge-
Abschaffung des Nachtarbeitverbots), bleibt indessen durch sellschaft«, der »Postfordismus« (ein Begriff des kleinsten
den Markt abgesichert (unterschiedliche Kaufkraft, Löhne, gemeinsamen Nenners) oder »Toyotismus« – eine Gesell-
Garantien, Inwertsetzung spezifischer Eigenschaften ent- schaftsformation, die einen Teil der Gesellschaft (eben das
lang den ethnischen und geschlechtsspezifischen Grenzen). untere »Drittel«) ausgrenzt, indem sie ihn durch die Ma-
Die geschwächten Gewerkschaften erhalten für den Fall ih- schen des staatlichen Netzes und der positiv-moralischen öf-
rer Kooperationsbereitschaft beim technischen und sozialen fentlichen Wahrnehmung fallen läßt. Am Ende dieses Pro-
Umbau der Betriebe eine Assistenzrolle (siehe etwa IG Me- zesses steht eine neue Identität des postfordistischen Subjek-
tall in der BRD oder der Metall- und Uhrenarbeitnehmer- tes oder genauer: neue aufgefächerte Identitäten der post-
20 Res Strehle Marktwirtschaft auf freier Wildbahn 21

fordistischen Subjekte, nachdem das Grundprinzip die Dif- einer konsensfähigen Basis in den oberen zwei gesellschaftli-
ferenzierung ist, das Grundmuster die Ab- und Ausgren- chen Dritteln, halbwegs stabiler (weil sozial regulierter) statt
zung. abenteuerlicher Wildwestkapitalismus.
15. Postfordismus nach Schweizer Art unterscheidet sich 16. Die eingegrenzten zwei Drittel sind ihrerseits nicht
aufgrund der weltwirtschaftlichen Position von anderen homogen, sondern unterscheiden sich wiederum in ein obe-
Formen dieses Umbaus sowohl bezüglich Härte und Tempo res Drittel (gut gesichert, gut verdienend, interessante Ar-
der Ausgrenzung wie auch bezüglich des Ziels: Die soziale beit) und ein mittleres Drittel, das flexibel sein muß (mittle-
(Ultra-)Stabilität ist für den Liechtenstein-Fleck Schweiz im re Sicherheit und Einkommen). Das mittlere Drittel ist bei
weltwirtschaftlichen Leopardenfell (Hochwertschöpfungs- Fehlverhalten abstiegsbedroht, gleichzeitig aber auch bei
region, Finanzplatz, Headquarter-Standort, Humanitätstra- besonders gut gelungener Anpassung aufstiegsberechtigt
dition) nach wie vor zu wichtig, als daß das Haus mit dem ei- (bildhaft deutlich in der Sandwichposition überangepaßter
sernen Besen gekehrt würde. Es wird mit dem Flaumer »in Zellenchefs in der »teilautonomen« industriellen Fertigung:
Ordnung gebracht«: Der konsenfähige Rassismus ist nicht faktisch Kleingewerbler auf nicht gesicherter Basis).
offen, blutig oder im ethnischen Anspruch »höherwertig«
17. Materialistisch richtet sich die Hoffnung auf Wider-
(»Herrenmensch« oder rassisch fundierte Weltherrschafts-
stand gegen diesen gesellschaftlichen Umbau vorab auf das
ansprüche), sondern abwägend und pseudo-intellektuell dif-
untere Drittel, das von Ausgrenzung bedroht ist. Wenn es
ferenzierend, versteckt sich in Kriminalitäts- und Zahlungs-
richtig ist, daß die Wahrheit über die Ausbeutung im Lohn-
bilanzstatistiken, ist überwiegend »rechtsstaatlich« abgesi-
arbeitsbereich beim lohnabhängigen Proletariat liegt (Karl
chert und macht angebliche ethnische Unterschiede an Ei-
Marx), dann liegt die Wahrheit über die Ausgrenzung beim
genschaften und Verhaltensweisen fest. Marktförmig kann
ausgegrenzten Menschen und kollektiv in den ausgegrenzten
er ethnisch zugeordnete Eigenschaften und Verhaltenswei-
Sektoren der Unterklasse. Das heißt keineswegs, daß dieser
sen in Wert setzen (»Multikulturalität« von Gastronomie
Sektor »automatisch« widerständig ist, sondern an sich am
und Kulturbetrieb). Typisch für den »weichen« Schweizer
ehesten das Bewußtsein über die Ungerechtigkeit einer Aus-
Weg in den Postfordismus sind die Synthese von Repression
grenzung und die Notwendigkeit einer fundamentalen Ver-
und Aufweichung der Prohibition im Bereich illegaler Dro-
änderung entwickeln wird. Ob daraus auch ein Bewußtsein
gen durch das Innenministerium (unter »weicher« Füh-
für sich entsteht, ist eine Frage des historischen Prozesses.
rung), die zögerliche Sanierung der Staatsfinanzen, die nicht
Außerdem darf im mittleren und oberen Drittel auf Solida-
über Leichen geht (»Stichonomics«), sowie die im interna-
rität gehofft werden, materialistisch werden sich solche
tionalen Vergleich »sanfte« Renovation von Kranken- und
Hoffnungen indessen nur in Ausnahmefällen erfüllen.
Altersversicherung. Noch das oberste Gremium der Schwei-
zerischen Bankgesellschaft beruft sich in einem Konflikt mit 18. Hauptproblem des Widerstands ist seinerseits seine
einem am US-Standard orientierten Raider auf seine »sozia- Auffächerung als Übernahme des organisatorischen Prinzips
le Verantwortung« gegenüber ihren Beschäftigten, Kunden, von Postfordismus. Als postfordistische Subjekte sind wir
vorab im Klein- und Mittelgewerbe als Publikums- und gegen die Differenzierung als organisatorisches Prinzip und
Volksbank. Dies ist mehr als Ideologie: Es ist die Suche nach gegen die Abgrenzung als Verhaltensmuster a priori so we-
22 Res Strehle 23

nig gefeit wie gegen Fast food, Wohnwand und TV-Sams- Ernest Mandel
tagabend im Fordismus. Die Differenzierungs- und Abgren- Nichts gegen junge Bankangestellte ...
zungsmuster sind zwischen Metropole und Peripherie rie-
Die »langen Wellen« der kapitalistischen
senhoch aufgebaut, zwischen Vollanspruchberechtigten,
Minderanspruchsberechtigten und Nicht-Anspruchsberech-
Entwicklung
tigten staatlicher Leistungen, Lohnarbeit und Nicht-Lohn-
arbeit (letztere nach wie vor hauptsächlich Frauenarbeit). Die
Lohnarbeit selber hat sich aufgefächert in solche für
Schwarzarbeitende, flexibel Beschäftigte, Beschäftigte in der
Zulieferpyramide, Stammarbeiter im Kernbetrieb, interme-
diäre Zellenchefs und Inselleiter usw. Die gesellschaftliche
Analyse vagabundiert zwischen Neuauflagen aller historisch Seit 1973 befindet sich die kapitalistische Weltwirtschaft in
bekannter Formen von Idealismus und Materialismus, die einer langen Depression, die das, was man im Englischen
politischen Strategien auf der Linken zwischen allen Formen »soft landing« nennt, in absehbarer Zeit ausschließt. Inner-
von Reformismus und revolutionärem Weg. Die Eingren- halb der langen Depression, der langen Wellen, wie das in
zung führt zu Anpassung in allen Formen zwischen Karriere meinem Jargon heißt, gibt es den normalen Konjunkturzy-
und Resignation, die Ausgrenzung zur Nicht-Anpassung in klus, also die Auf- und Abbewegungen der Produktion und
ebenso vielen verschiedenen Formen zwischen Selbstzer- des Profits. Aber, und das ist das Kennzeichen dieser langen
störung, Flucht in Esoterik, Selbstaufgabe in mafiöser Hier- Welle, es kommt beim Konjunkturaufschwung nicht zu ei-
archie bis zu hoffnungsvollen Formen von Selbstorganisati- nem Abbau der Erwerbslosigkeit. Diese steigt ununterbro-
on. Wenn schon, ist der Leopardenfleck »Liechtenstein« na- chen, nicht nur in der Dritten Welt, wo sie horrende For-
mens Schweiz vor dem Hintergrund der gesamten Weltwirt- men angenommen hat, nicht nur in den nachstalinistischen
schaft die negative Bestätigung einer weltweiten Angleichung Gesellschaften im Ostblock und der ehemaligen UdSSR. Sie
der Proletarität, wie sie etwa Karl Heinz Roth vermutet. Auf- steigt auch im Westen.
fächerung in der Angleichung vielleicht, Angleichung in der Um es auf einen einfachen Punkt zu bringen: Die offizi-
Auffächerung womöglich, Auffächerung zur Ungleichheit ellen Zahlen sind gefälscht. Viele der tatsächlichen Erwerbs-
sicher. losen – Frauen, Jugendliche und nichtqualifizierte männli-
che Arbeiter – kommen in der Statistik nicht vor, weil, wie es
in der zynischen Sprache der bürgerlichen ÖkonomInnen so
schön heißt, diese Leute vom Arbeitsmarkt verschwunden
sind, sie davon ausgeschlossen wurden. Die Hauptursache
dieser Massenerwerbslosigkeit ist einfach zu erklären, beina-
he schon eine arithmethische Frage. Die dritte technologi-
sche Revolution mit der Halbautomatisierung, Miniaturisie-
rung und der Steigerung der materiellen Produktivkräfte
wirkt weiter. Ein Beispiel aus Belgien: Einer der klassischen
24 Ernest Mandel Nichts gegen junge Bankangestellte ... 25

belgischen Industriezweige war die Papierherstellung und walten von einem Tag auf den anderen Milliarden von
alles, was damit zusammenhing. Heute gibt es in Belgien Dollar und haben sich dabei offensichtlich mehrere Male
eine einzige Papierherstellungsmaschine, die täglich mehr ihre und die Finger ihrer Bank verbrannt. Das gilt für die
Papier produziert, als in ganz Belgien und Holland verkauft Schweiz genauso wie für die USA, Großbritannien und et-
werden kann. Dies nur als Beispiel, ich könnte eine ganze was abgeschwächter auch für Frankreich und Belgien, wo
Reihe von anderen Beispielen anführen, die in dieselbe die Bankenkontrolle paradoxerweise dank der größeren Ver-
Richtung gehen. staatlichung der Banken seriöser ist und es zu weniger Skan-
Welches ist die empirische Bestätigung der langen Wel- dalen kommt.
len – liegt sie allein in der Massenerwerbslosigkeit? An und Es gibt Versuche, im Namen der Rentabilität sogenann-
für sich ist das nicht unwesentlich, aber die Ursache liegt te kostensparende Eingriffe etwa bei den Unterrichtsausga-
nicht allein darin. Sie hat ihre Ursache vor allem in der Re- ben oder den Ausgaben für die soziale Sicherheit durchzu-
privatisierung des Geldes, oder, wie es die landläufige For- führen. Diese Logik ist brutal und zynisch. Je länger die De-
mel umschreibt, in der wachsenden Globalisierung der pression dauert und die Erwerbslosigkeit steigt, um so ge-
Weltwirtschaft, der wachsenden Internationalisierung des schwächter ist die organisierte ArbeiterInnenbewegung bzw.
Kapitals, welche letzten Endes durch die immer stärker her- -klasse.
vortretende Steigerung der Produktivkräfte begründet ist. Ich meine das im weitesten Sinn des Wortes, nach der
Die Spekulation auf den Devisenmärkten in der Welt Definition wie sie Plechanow und Lenin im ersten Pro-
wird von den Großbanken und von einem nicht unbedeu- gramm der russischen Sozialdemokratie formuliert haben.
tenden Teil der Großindustrie, d.h. vom Kern der kapitali- Die LohnarbeiterInnnenklasse besteht aus denjenigen, die
stischen Klasse, getragen. unter dem ökonomischen Zwang stehen, ihre Arbeitskraft
An diesem Tatbestand läßt sich wenig ändern. Das hat zu verkaufen. Es sind also nicht nur Industriearbeiter und
etwas zu tun mit der Globalisierung der Weltwirtschaft, aber vor allem nicht nur männliche Industriearbeiter. Dazu
auch mit der technologischen Revolution im Geldhandel gehören auch die Lohnabhängigen im öffentlichen Dienst,
(das ist nicht genau der richtige Ausdruck dafür, aber das ist im Dienstleistungssektor, in allen Bereichen.
hier nicht das Thema). Durch die Anwendung der elektroni- Hinter dieser Offensive des Kapitals, einer neokonserva-
schen Verfahren auf den Devisenmärkten kann man in Se- tiven Offensive im Weltmaßstab, liegt eine für das Kapital
kunden Milliarden von Dollar von einem Land ins andere, selbst gefährliche, ich würde beinahe sagen schwachsinnige
von einem Kontinent in den anderen transferieren. Und die- Illusion: daß die Folgen des Sozialstaatabbaus keine negative
ser Prozeß entzieht sich jeglicher Kontrolle, auch derjenigen Auswirkung auf die bürgerliche Klasse selbst hätte. Das ist
der Nationalbanken. Eine der Folgen dieses riesigen Wachs- grob gesagt Unsinn. Es gibt dafür einen historischen Präze-
tums der Bankenaktivität ist, daß das durchschnittliche Ni- denzfall. Der Anfang der modernen, öffentlichen Hygiene
veau der Qualifizierung der Bankangestellten katastrophal (so simple Sachen wie die Kanalisation) lag in der Tatsache
gesunken ist. Es gibt Großbanken, welche die Verwaltung begründet, daß in der Mitte des 19. Jahrhunderts armutsbe-
von Milliarden von Dollar in die Hände von einzelnen jun- dingte Seuchen, ich denke in erster Linie an die Cholera,
gen Bankangestellten (ich habe nichts gegen junge Bankan- auch in den reichen Vierteln der kapitalistischen Großstädte
gestellte) legen, die ohne jegliche Erfahrung sind. Sie ver- ausbrachen. Das Bürgertum fing an, sich darum zu sorgen,
26 Ernest Mandel Nichts gegen junge Bankangestellte ... 27

nicht aus sozialem Gewissen, das war nur die nachträgliche sache, daß sich die heutigen Atomkraftwerke mit der soge-
Rationalisierung, sondern aus Angst. Und heute ist das nannten friedlichen Nutzung der Kernenergie, durch den
Großbürgertum im Weltmaßstab, einschließlich der reich- Gebrauch von klassischen Waffen nicht nur zu einem, son-
sten Länder des Westens, mit einer ähnlichen Problematik dern zu Hunderten von Hiroshimas entwickeln könnten.
konfrontiert, ohne sich darüber jedoch Rechenschaft abzule- Wenn man diese Atomkraftwerke mit klassischen Waffen
gen. Armutsbedingte Seuchen wie Tuberkolose und Cholera beschießt, werden sie zu Atombomben mit all den verhee-
greifen unvermeidlich von der Dritten Welt in die reichsten renden, menschenvernichtenden Folgen. Und wir haben er-
Länder des Westens über, und die Illusion, daß die reichen lebt, daß sich diese Folgen keineswegs auf die in unmittelba-
Viertel davon verschont werden, ist Irrsinn. Wie im 19. rer Nachbarschaft lebende Bevölkerung beschränken. Nach
Jahrhundert wird es schon wegen des Selbsterhaltungstriebs dem Reaktorunfall in Tschernobyl war nicht nur die Ukrai-
zu einer Reaktion kommen, mit Verspätung, aber mit ver- ne verstrahlt, betroffen waren auch Lappland und weit öst-
heerenden Folgen für die gesamte Bevölkerung der reiche- lich und westlich der Ukraine liegende Länder.
ren westlichen Länder. Der Kampf für die Abschaffung der Atomkraftwerke ist
Was die neokonservative Ideologie kennzeichnet, ist eine ein realistisches Ziel, viel realistischer als all die beschränk-
wiederum beinahe schwachsinnige Unterschätzung der Ge- ten Maßnahmen, die von internationalen Instanzen vorge-
fahren, welche die ganze Weltbevölkerung bedrohen. Die schlagen werden. Wenn dieser Unfug nicht verschwindet,
vier Reiter der Apokalypse sind bereits unterwegs, und wir droht die Menschheit zu verschwinden.
spüren ihren Atem bereits im Nacken. Kernenergie, Krieg Die Masse der Lohnabhängigen, so wie ich sie vorher
und Hunger in der Dritten Welt werden politische Folgen geschildert habe, reagiert, und sie reagiert viel stärker, als
haben, welche die Demokratie bedrohen werden. man das noch vor fünf Jahren geglaubt hat. Der Umfang
Dazu ein fürchterliches Beispiel. Jedes Jahr sterben in dieser Reaktion kann sehr breit sein. Er wird von einer be-
der Dritten Welt 26 Millionen Kinder aus Hunger und auf- wußtseinsmäßigen Frechheit, auf französisch sagt man »in-
grund von leicht heilbaren Seuchen. Das ist die schreckliche solence«, getragen, die alles übersteigt, was aus der Vergan-
Realität des Weltkapitalismus heute. Wer das nicht sieht, genheit bekannt ist.
wer davon die Augen verschließt und glaubt, das sei unver- Als der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten
meidlich und normal, ist ein Mensch, der nicht mit den über ein beinahe totales Abtreibungsverbot abstimmte, sind
Füßen in der Wirklichkeit steht. Es gibt ein altes berühmtes eine Million amerikanische Frauen auf die Straße gegangen
Wort von Rosa Luxenburg: Die Menschheit hat die Wahl: und haben gesagt: Wir scheren uns einen Dreck um die Ge-
Sozialismus oder Barbarei. Heute können wir mit voller richte, wir bestimmen unser Schicksal selbst. Als vor einigen
Verantwortung und aus Kenntnis der Weltwirklichkeit mehr Wochen das italienische Parlament unter dem ziemlich in-
Realismus als die Neokonservativen an den Tag legen und kompetenten neuen Premierminister Berlusconi einen An-
sagen, die Menschheit hat die Wahl: Sozialismus oder physi- griff auf die Altersrenten und einige andere Sozialeinrich-
sche Vernichtung. Nicht nur die der Menschheit, sondern tungen verkündete, sind drei Millionen italienische Lohnab-
wahrscheinlich jeglichen Lebens auf dieser Erde. Zu dieser hängige auf die Straße gegangen und haben ebenfalls gesagt:
These folgendes Beispiel: Jedermann kennt die Folgen des Wir scheren uns einen Dreck, was dieses Parlament, was
Atomkriegs. Woran man nicht oder kaum denkt, ist die Tat- dieser Premierminister, beschließen – wir bestimmen unser
28 Ernest Mandel Nichts gegen junge Bankangestellte ... 29

Schicksal selbst. Es fehlt also nicht an Massenreaktion, in ei- der Praxis lösen. Es muß etwas Ähnliches (ich sage das jetzt
nem Land mehr, in einem anderen weniger. ganz verkürzt, historische Analogien sind nie richtig, immer
Ein drittes Beispiel, worauf ich besonders stolz bin, weil hypothetisch) geschehen wie die Russische, Deutsche oder
da die GenossInnen meiner Kapelle doch eine entscheiden- Spanische Revolution, welche die Menschen durch ihren In-
de Rolle gespielt haben: Als der ehemalige brasilianische halt und ihre praktische Wirkung überzeugt. Wann das ge-
Staatspräsident, eine total korrupte Figur, sich an die Macht schehen wird, weiß kein Mensch, vielleicht wird es zehn Jah-
klammerte, sind über eine Million Menschen, geführt durch re dauern, vielleicht zwanzig, vielleicht dreißig. Aber eines
die PT (die ArbeiterInnenpartei), auf die Straße gegangen kann ich mit großer Selbstsicherheit sagen: Was noch vor
und haben gefordert, dieses korrupte Schwein muß weg, und fünf Jahren als unvermeidlich erschien, der weltweite Tri-
sie erreichten seinen Rücktritt. Es ist also nicht das Problem, umph des Neokonservativismus, das wird in den kommen-
daß es keine Massenreaktionen gibt, aber diese Massenreak- den Jahren als völlig illusorisch erscheinen. Die Welt wird in
tionen spielen sich in einem weltweiten Klima der tiefen fünf Jahren ganz anders aussehen als heute. Ich möchte zwei
Glaubwürdigkeitskrise des Sozialismus ab. In den Augen der Gründe für diesen vorsichtigen Optimismus angeben. Den
Mehrheit der Lohnabhängigen, männlicher und weiblicher, einen Grund hat der große englische Revolutionär Shelley
haben der Stalinismus und der Nachstalinismus total ver- in einem kurzen Satz zusammengefaßt: we are many, they
sagt, ebenso die Sozialdemokratie. Für sie gibt es keine are few. Wir haben die Macht der großen Zahlen hinter uns.
glaubwürdige Alternative links von diesen zwei traditionel- Ich möchte das mit einer Zahl, die Sie wahrscheinlich er-
len Strömungen der ArbeiterInnenbewegung und -klasse. schrecken wird, bestätigen: Im Weltmaßtab ist die Klasse
Wir, ich meine damit sämtliche Kräfte links vom Neostali- der Lohnabhängigen auf mindestens eine Milliarde Men-
nismus und der Sozialdemokratie, werden nicht als eine auf schen gestiegen, und sie steigt ununterbrochen.
absehbare Zeit relevante, fähige Alternative angesehen. Man Ich möchte zwei Zahlen nennen: In Indien gibt es über
sympathisiert mit uns, findet uns ehrliche Leute, wir sind 100 Millionen LohnarbeiterInnnen, ohne das, was man im
keine korrupten SchwindlerInnen, aber man traut uns nicht Marxschen Sinne als Halbproletariat bezeichnet, mitzurech-
zu, daß wir uns im Rahmen der von uns befürworteten de- nen, das heißt die armen Bauern und Bäuerinnen, die einem
mokratischen Verfassung durchsetzen werden. Unser Sozia- Teil des Jahres gezwungen sind, als LohnarbeiterInnen zu
lismusprojekt muß von der Selbstverwaltung getragen wer- arbeiten, weil sie sonst nicht genug zu essen haben. In China
den, das heißt von der aktiven Beteiligung der großen Mehr- gibt es über 300 Millionen LohnarbeiterInnen, das Halb-
heit der Bevölkerung – das kann nicht geschehen, wenn man proletariat aus den Dörfern nicht mitgezählt. Sie können je-
nicht daran glaubt. Das führt zu einem grundlegenden Wi- den Tag in nicht-marxistischen, seriösen Tageszeitungen le-
derspruch. Die großen Massenbewegungen, die ich aufge- sen, daß durch eine Reihe von Wirtschaftsprozessen, die ich
zählt habe, sind fragmentiert und diskontinuierlich und kön- jetzt hier nicht im einzelnen beschreiben will, Dutzende
nen deshalb in unmittelbarer Zukunft noch von der beste- Millionen armer Bauern und Bäuerinnen in die Städte wan-
henden Ordnung, in erster Linie von den staatstragenden dern, um zu versuchen, sich als Arbeitskraft zu verdingen,
Parteien inklusive der Sozialdemokratie und den neosozial- weil sie auf dem Dorf verhungern, und daß die Regierung
demokratischen EurokomunistInnen, rekuperiert werden. eine riesige Angst vor den politischen Folgen dieser Massen-
Dieses Problem kann man nicht theoretisch, sondern nur in flucht hat. Das ist eine der großen historischen Voraussagen
30 Ernest Mandel Nichts gegen junge Bankangestellte ... 31

von Karl Marx, die Wirklichkeit geworden ist, und die ihn mit der Formel Solidarität umschreiben – Kooperation in
nicht zu einem Kapitalismuskritiker des 19. Jahrhunderts weltweitem Ausmaß, ohne Differenzierung, ohne Segregati-
macht, sondern zu einem genialen Propheten des 21. Jahr- on, ohne Zersplitterung, ohne die Unterordnung eines Teils
hunderts. der Ausgebeuteten und Unterdrückten unter irgendein
Zu der Zeit, als Marx diese These aufstellte, widersetzten höheres Ziel – es gibt kein höheres Ziel als die Emanzipati-
sich die LohnarbeiterInnen gegen die unmittelbaren Folgen on, im weitesten Sinne des Wortes.
der kapitalistischen Ausbeutung und Unterdrückung. Meist Und hier kommt eine nicht zu unterschätzende Gefahr
endeten diese Kämpfe mit Niederlagen. Aber eines lernten auf uns zu: Worauf spekuliert das Großkapital? Es spekuliert
die lohnabhängigen Klassen aus diesen Niederlagen: die darauf, daß die Ideologie der Zersplitterung, der Individuali-
Notwendigkeit, sich zu organisieren. Als Marx das schrieb, sierung, der Entsolidarisierung auf die Klasse der Lohnab-
gab es in der ganzen Welt wahrscheinlich nicht mehr als hun- hängigen selbst übergreift. Wir müssen uns klar sein, daß es
dert – oder hundertfünfzigtausend organisierte Lohnabhän- sich um einen realen und selbstmörderischen Trend handelt
gige. Heute gibt es kein Land, keine Insel, keine auch so ab- und daß dieser verheerende Folgen haben kann, wenn es zu
gelegene Gesellschaft, wo es nicht eine organisierte Lohnar- einer neuen, höheren Welle der Wirtschaftsdepression und
beiterInnenschaft gibt. Dieser Trend wird sich verstärken. der Erwerbslosigkeit kommt. Schon Albert Einstein, kein
Es gibt einen zweiten Grund für meinen vorsichtigen Marxist, ein religiöser Sozialist und ein kluger Mann, hat in
Optimismus. Diesen Grund möchte ich mit einer Anekdote den 30er Jahren die lapidare Formel aufgestellt: Man kann
umschreiben – die Geschichte der drei Frösche: Drei Frö- den Faschismus nicht bekämpfen, wenn man nicht die Er-
sche sind in ein Milchfaß gefallen. Der erste Frosch, der werbslosigkeit radikal ausschaltet. Das ist heute genauso
neokonservative Frosch, sagte: »Wir sind ja sowieso verlo- wahr wie damals. Und die große Gefahr ist, daß, wenn es an-
ren, das ist nichts anderes als die Erbsünde, Frösche sind statt des heutigen Umfangs der Erwerbslosigkeit zu zwei-
schlecht, bleiben schlecht, sind zum Untergang verurteilt«. oder dreimal mehr Erwerbslosen kommt, bei der nächsten
Er blieb untätig und ertrank. Der zweite, sozialdemokrati- Welle der Depression, der Rezession im Rahmen dieser De-
sche Frosch, ohne Zweifel etwas sympathischer als der erste, pression, daß dann die Gefährdung der politischen Demo-
meinte: »Och, das ist alles halb so wild, wir werden schon kratie, die Gefährdung der Menschenrechte auf die Tages-
eine Lösung finden, es wird schon noch«. Er tat nichts und ordnung gesetzt wird. Dann verbreitet sich Rassenhaß, Ju-
ertrank ebenfalls. Der dritte Frosch, sagen wir mal der sozia- denhaß, Haß gegen die Schwarzen, die AsiatInnen, engstir-
listische, kommunistische Frosch, man kann ihn nennen wie niger Nationalismus weltweit in absolut irrationaler Weise.
man will, (nicht nur auf meine Kapelle bezogen), sagte: In Japan, wo es praktisch nie Juden oder Jüdinnen gegeben
»Was haben wir denn zu verlieren, wir sehen, die beiden an- hat, wird das klassische Fälschungsprodukt, die Protokolle
deren Frösche sind ertrunken, laßt uns so viel zappeln wie der Weisen von Zion, das Hitler in einem großen Maße ani-
wir können, es kann doch nur besser sein, als nichts zu tun.« miert und inspiriert hat, massenweise verbreitet und findet
Und er zappelte wie wild, und siehe da, die Milch ward zu Anklang.
Butter, der linke Frosch konnte herausspringen und ward Eine Umfrage hat erwiesen, daß 35 Prozent der japani-
gerettet. Das ist ein Plädoyer für Aktion, für Aktivität, für schen Bevölkerung, welche nie einen Juden oder eine Jüdin
Tätigkeit, für Widerstand, für Rebellion, für das, was wir gesehen haben, glauben, daß es eine Weltverschwörung des
32 Ernest Mandel Nichts gegen junge Bankangestellte ... 33

internationalen Judentums gibt, wogegen man sich wider- kommen heute und sagen mit drohendem Zeigefinger:
setzen muß. In der ehemaligen Sowjetunion, heute das Land »Wenn man uns keine Zugeständnisse macht, dann verla-
mit dem größten Antisemitismus, gibt es Irrsinnige, man gern wir den Arbeitsplatz nach einem Billiglohnland.« Das
kann sie ja nicht anders nennen, die mit Hitler-Bildern auf können sie machen, es gibt immer Länder mit niedrigerem
ihren T-Shirts herumspazieren und behaupten, Hitler hat Lohn. Die einzige mögliche und realistische Antwort auf
nur einen Fehler begangen, er hat zuwenig Juden umge- diese Strategie ist eine weltweite Solidarität und Kooperati-
bracht, sie würden es das nächste Mal besser tun. Und das in on aller Lohnabhängiger untereinander. Das ist nicht leicht
einem Land, wo die Nazis mindestens 30 Millionen Men- durchzusetzen, da mache ich mir keine Illusion, das kann
schen umgebracht haben. Das ist völliger Irrsinn, aber man Jahre dauern. Ich habe einmal das Wort geprägt, es mag ein
kann von diesen Leuten nicht rationale Argumente erwar- bißchen seltsam klingen: Heute ist die größte Waffe in den
ten, man kann sie nur in der Praxis besiegen, und das bedeu- Händen von kämpferischen GewerkschaftlerInnen das
tet, wie bereits gesagt, die Erwerbslosigkeit mit einer sofor- Adreßbuch, oder etwas moderner: das Fax-Gerät. Und dann
tigen radikalen Verkürzung der Arbeitszeit auf maximal 30 der einfache Entschluß, sobald irgendeine Verlagerung von
Arbeitsstunden pro Woche zu bekämpfen. Das ist die einzi- Arbeitsplätzen in einem Betrieb stattfindet, die Kolleginnen
ge Möglichkeit, diese fürchterliche Gefahr, die da auf uns und Kollegen aller Betriebe, die in diesem Arbeitszweig ar-
zukommt, im Weltmaßtab zu besiegen. beiten, auf der ganzen Welt zu informieren und zu fragen:
Hier muß man eines unterstreichen. Es gibt keine be- Was machen wir dagegen? Anfangs werden sie nicht viel ma-
schränkte Solidarität, das ist unmöglich. Wenn der Wille zur chen, dann mehr und mehr, und dann werden sie dafür sor-
Solidarisierung und zur Kooperation bei einem entschei- gen, daß gemeinsam weltweit gehandelt wird. Das wird
denden Teil der Lohnabhängigen verschwindet, dann fängt Wirklichkeit werden. Wie lange es dauern wird, weiß ich
es mit dem engstirnigen Nationalismus, Land gegen Land, nicht, aber der Zeitpunkt wird kommen.
an. Ein klassisches Beispiel sind die USA. Die Lohnabhängi- Natürlich ist es nicht einfach. Menschen agieren nicht
gen in der Automobilindustrie sagen: Die Japaner sind für etwas, woran sie nicht glauben. Ich betone nochmals:
schuld an unserer wirtschaftlichen Krise. Zusammen mit Die weltweite Glaubwürdigkeitskrise des Sozialismus hat
den Unternehmern setzen sie sich für eine protektionisti- ohne Zweifel zu Tendenzen der Differenzierung und Entpo-
sche Politik gegen den Import von japanischen Autos ein. litisierung innerhalb der LohnarbeiterInnenschaft geführt.
Das ist ökonomisch total sinnlos. Zudem gibt es verschiedene Niveaus des Arbeitsplatz-
Aber so fängt es an: Nach Land gegen Land wird es zu schutzes. Es gibt die im großen und ganzen noch immer voll
Provinz gegen Provinz, Stadt gegen Stadt, Stadtteil gegen geschützten Lohnabhängigen, es gibt die nur teilweise ge-
Stadtteil kommen, so weit ist es schon in einer ganzen Reihe schützten, entqualifizierten, und es gibt die überhaupt nicht
von Ländern. Solidarität kommt entweder generell unbe- mehr geschützten.
schränkt und im Weltmaßstab, ohne jegliche Form der Dis- Als trauriges und symbolisches Beispiel möchte ich die
krimination zum Tragen, oder sie wirkt nicht und ist irrele- Situation im Pariser Faubourg Saint-Antoine anführen, wo
vant. Davon können wir ausgehen, und ich hege einen mil- fünf Revolutionen angefangen haben. Dort gibt es einen
den, gemäßigten Optimismus. Die größten Erzieher zur Platz, wo jeden Morgen illegale ImmigrantInnen, welche
grenzenlosen Solidarität sind ja die Multis selbst. Die Multis von den UnternehmerInnen nach Gutdünken erpreßt wer-
34 Ernest Mandel Nichts gegen junge Bankangestellte ... 35

den können, herumstehen und sich zu Hungerlöhnen ver- arbeiterInnen, aber immerhin. Wir haben hier eine prakti-
dingen. Die Löhne sind noch immer etwas höher als die sche Anwendung von dem, was ich in meinem Referat her-
Hungerlöhne, die sie in ihrer Heimat erhalten. Die Unter- vorheben will, nämlich daß der Begriff LohnarbeiterIn, die
nehmerInnen können mit ihnen anfangen, was sie wollen, Klasse der Lohnabhängigen, ein gesamtgesellschaftlicher
sie erpressen und sie benutzen, um den Durchschnittslohn Begriff ist. Wenn man ihn auf männliche Arbeiter in der
zu drücken, was sie selbstredend auch tun. Aber jetzt möch- klassischen Großindustrie beschränkt, dann geht diese Zahl
te ich die Gegenseite der Medaille zeigen. Gleichzeitig hat zurück, nicht in allen Ländern, sie verlagert sich, geht aber
diese wachsende Spaltung der Lohnabhängigenklasse zu ei- im Weltmaßstab zurück. Das ist aber eine falsche Definition,
nem von der Unternehmerschaft gänzlich unerwarteten Er- nicht allein aus theoretischen, sondern aus praktischen Er-
gebnis geführt. Die entqualifizierten LohnarbeiterInnen wägungen. Ein Beispiel: Bergarbeiter, Stahlarbeiter oder Ar-
sind zu einem aktiven, selbstbewußten Widerstand unfähig, beiter in der Maschinenbauindustrie konnten auch in der
aber gleichzeitig findet ein wachsendes Selbstbewußtsein besten Zeit die kapitalistische Wirtschaft nicht völlig lahm-
unter den hochqualifizierten Lohnabhängigen statt. Es gibt legen. Das haben sie nie gemacht und nie gekonnt. Aber
ein geflügeltes Wort, das am ersten Kongreß der polnischen Bankangestellte können das mit viel größerer Wirksamkeit.
Solidarnosc von einem Genossen (der jetzt Mitglied der ArbeiterInnen des Telekommunikationssektors können heu-
4. Internationalen geworden ist) geprägt wurde: »die da te mit viel größerer Wirksamkeit die kapitalistische Wirt-
oben, korrupt und inkompentent«. Das »korrupt« ist nichts schaft komplett lahmlegen. Nirgends kann eine kapitalisti-
Neues, aber das »inkompetent«, das ist eine riesige Ände- sche Wirtschaft ohne Banken funktionieren, das ist unmög-
rung in der Mentalität eines Teils der ArbeiterInnenklasse. lich. Nach einer Woche würde die Wirtschaft zusammen-
Ich habe Arbeiterschulungskurse und Gewerkschaftsschu- brechen. Ich stelle fest, daß in mehreren Ländern in der
lungskurse durchgeführt, in den letzten zwanzig, fünfund- Welt, ich könnte mehrere aufzählen, inklusive Belgien, bei
zwanzig Jahren wahrscheinlich vor mehr als 100 000 Ge- den Bankangestellten der Grad des Selbstbewußtseins und
werkschaftlerInnen gesprochen. Die allgemeine Reaktion des Willens zur Durchsetzung ihrer potentiellen gesell-
der ArbeiterInnen und GewerkschaftlerInnen, die an diesen schaftlichen Macht steigt. Das sind keine rosigen Aussichten
Kursen teilnahmen, war: Naja, was du da sagst, ist alles sehr für die bürgerliche Klasse, und sie macht sich darüber zu
schön, wir können froh sein, wenn sich das in die Tat um- Recht große Sorgen.
setzt, aber wie können wir denn ohne Techniker, Ingenieure, Die Schlußfolgerung lautet also: Widerstand, Rebellion,
Fabrikdirektore auskommen, dazu haben wir die Fähigkeit unbegrenzte Solidarität. Die unbegrenzte Überzeugung,
doch gar nicht. Das hat sich jetzt geändert, und es heißt: Wir daß letzten Endes die lohnabhängigen Menschen, die 99
können es besser als die Ingenieure, die können es nur theo- Prozent der Weltbevölkerung ausmachen, ihr Schicksal
retisch, wir haben die tägliche Praxis im Betrieb. Sie werden selbst in die Hände nehmen und bestimmen können.
ihnen auf die Schulter klopfen, ohne Gewalt, die ist gar
nicht notwendig, und sagen: Geht weg, ihr seid unnötig, wir (Mündliches Referat. Schriftliche Überarbeitung unter Einbezie-
brauchen euch nicht, wir können es besser als ihr. hung von Antworten auf Fragen aus dem Publikum: Daniel
Das ist eine große Änderung in der Mentalität. Ich gebe Stern/Kari-Anne Mey)
gerne zu, es handelt sich nur um einen Bruchteil der Lohn-
37

Robert Kurz
Mit Volldampf in den Kollaps

Wir leben heute in einer sehr seltsamen Situation; noch nie


in der Geschichte der Modernisierung – also in den letzten
zwei- bis dreihundert Jahren – hat es eine Situation gegeben,
die von einer weltweiten sozialen Krise geprägt wurde, in
der ein derartiges ökologisches Zerstörungspotential aufge-
baut worden ist und in der so viel kulturelle Zerstörung und
Verwahrlosung um sich gegriffen hat, bis hin zu Tendenzen
in Richtung einer neuen Barbarei.
Und das Seltsame und Paradoxe dabei ist gleichzeitig,
daß in den letzten dreihundert Jahren die Gesellschaftskritik
noch nie so stark abgerüstet hat wie heute. Diese Paradoxie
gilt es zu erklären, denn die Welt war noch nie so kritikwür-
dig wie heute. Oberflächlich ist der Grund für diesen Wi-
derspruch leicht auszumachen, er läßt sich in den Kontext
des Zusammenbruchs des Staatssozialismus im Osten stel-
len. In den letzten Jahrzehnten war jene Theorie, welche das
Zentrum der Gesellschaftskritik der letzten hundert Jahre
gebildet hat, nämlich der Marxismus, stark vom Bezug auf
diesen Staatssozialismus eingefärbt. Selbst jene KritikerIn-
nen im Westen, welche ein kritisches Verhältnis zur Sowjet-
union oder zu China hatten, nahmen, wenn auch untergrün-
dig, in ihrer Basisargumentation Bezug auf diesen Staatsso-
zialismus. Die Folge ist, daß es uns in gewisser Weise allen
die Sprache verschlagen hat.
Das Problem, das hier drinsteckt, läßt sich wohl nur lö-
sen, wenn man den Bezugsrahmen erweitert und nicht nur
38 Robert Kurz Mit Volldampf in den Kollaps 39

die Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg und den soge- lismus mit dem Begriff der »nachholenden Industrialisie-
nannten Systemkonflikt als Bezugsrahmen nimmt. Den Sy- rung« verbunden. Aber diese Reduktion bedeutet, das Pro-
stemkonflikt hat der Westen gewonnen. Wenn man aber blem bloß auf der quasi technischen Ebene der Industriali-
den zeitlichen Rahmen erweitert und sich statt dessen auf sierung und ihrer Kosten zu suchen und nicht von den ge-
jene letzten zwei- oder dreihundert Jahre bezieht, könnte sellschaftlichen Formbestimmungen auszugehen. Nachho-
man ironisch feststellen, daß der Staatssozialismus beinahe lende Industrialisierung, das konnte nur ein Problem der –
pünktlich zum zweihundertjährigen Jubiläum der Französi- vom modern-kapitalistischen Standpunkt aus – relativ rück-
schen Revolution zusammengebrochen ist. ständigen Regionen der Welt sein: Rußland, China, der spä-
Für den kurzen Zeitraum nach dem Zweiten Weltkrieg ter sogenannten Dritten Welt, der postkolonialen Regionen.
erscheint es hingegen selbstverständlich, daß mit dem östli- Überall dort stand nicht das Problem an, die westlich-kapi-
chen Staatssozialismus auch jegliche postkapitalistische Al- talistische Gesellschaft zu überwinden – was nicht da ist,
ternative am Ende ist. Und so soll es bis in alle Zukunft sein, kann logischerweise auch nicht überwunden werden –, im
will man der schönen Rede vom Ende der Geschichte des Gegenteil: Es wurden auf eine spezifische Art und Weise
Herrn Fukujama und anderen Glauben schenken. Aus dieser Formen wiederholt, wie wir sie im Westen vor hundertfünf-
Perspektive kann sich alles, was an Kritik formuliert wird, zig oder zweihundert Jahren auch gekannt haben. Ich erin-
nur noch in den Bezugsrahmen der westlichen marktwirt- nere nur an die staatsökonomischen Systeme des Merkanti-
schaftsdemokratischen Ordnung stellen. lismus im 17. und 18. Jahrhundert, da fand sich vieles, was es
Der weitere Bezugsrahmen bringt einen jedoch auf ganz auch im Staatssozialismus gab: Außenhandelsmonopol,
andere Gedanken: Was jetzt in die Krise gekommen ist, sind staatliche Preisfestsetzung, staatliches Eigentum an den
die gemeinsamen Grundlagen jener zweihundert oder mehr fortgeschrittensten Produktionsmitteln (das waren damals
Jahre Modernisierungsgeschichte. Hier handelt es sich um die Manufakturen). Das ist alles nichts völlig Neues, nur hat
eine gemeinsame Krise von Ost und West, welche nicht im das im Westen schon viel früher stattgefunden und ist längst
Systemkonflikt und dessen Kriterien aufgeht, sondern viel mehr oder weniger in Vergessenheit geraten. In diesem Sinn
tiefer reicht. Es mag einerseits für eineN gestandeneN Ge- hat sich die westliche Entwicklung wiederholt, inklusive der
sellschafts- und KapitalismuskritikerIn trostreich sein, daß, revolutionären Formen.
obwohl der Kapitalismus zwar übriggeblieben ist, er als Von diesem Standpunkt aus gesehen, wäre die berühmte
nächstes auch in die Krise kommt. Andererseits ist es gleich- Oktoberrevolution eine Nachholung der Französischen Re-
zeitig schmerzhaft, heißt es doch, daß die bisherige Gesell- volution im Osten, und auch die späteren nationalen Befrei-
schaftskritik, der Marxismus – zumindest so, wie wir ihn ver- ungsbewegungen, die Revolution in China und ähnliche Re-
stehen und wie er im theoretischen und öffentlichen Be- volutionen wären jeweils sozusagen das Imitat oder die
wußtsein existiert –, daß dieser Marxismus und die mit ihm nachholende Einlösung dessen, wofür im Westen die Fran-
verbundenen Gesellschaftsformationen selber Teil dieser zösische Revolution steht, inklusive der Fahnen, der Barri-
Modernisierungsgeschichte waren und somit Teil dessen, kaden, des bewaffneten Kampfes und allem, was da an My-
was jetzt insgesamt in die Krise kommt. thologie mitschwingt. Das bedeutet natürlich für die westli-
Ich möchte nun versuchen, dieses Problem neu zu defi- che Linke die bittere Erkenntnis, daß man hier gewisser-
nieren. Meistens wurde das Problematische am Staatssozia- maßen einer optischen Täuschung erlegen ist. Nicht, daß
40 Robert Kurz Mit Volldampf in den Kollaps 41

die Geschehnisse unsinnig waren – es ist sowieso ein frag- großen Teilen der Dritten Welt ganze Nationalökonomien
würdiger Ansatz, geschichtliche Abläufe und Entwicklungen zusammengebrochen. Die Misere Afrikas fing damals an, in
nach Gesichtspunkten wie richtig oder falsch oder gar gut Lateinamerika begann die Epoche der Hyperinflation und
und böse beurteilen zu wollen -, es sind epochale Formatio- der Deindustrialisierung. Das verlorene Jahrzehnt, wie es
nen, in denen unter bestimmten Bedingungen Akteure auf- dann Ende der achtziger Jahre genannt wurde. Man hat es
getreten sind, die nicht über ihren Schatten springen konn- also erst mal verdrängt und den Zusammenbruch des ver-
ten, genauso wie wir heute nicht über unseren Schatten meintlichen Gegensystems zum Anlaß genommen, sich et-
springen können. Doch ist dies ein anderer Schatten, weil was in die Tasche zu lügen.
wir achtzig oder hundert Jahre weiter sind und von heute aus Damit verknüpft wurde die Erwartung, daß sich mit der
auf diese Geschichte wie auf eine riesige Trümmerlandschaft Öffnung des Ostens wunderbare neue Märkte auftun wür-
zurückblicken können. So ist es eigentlich die gemeinsame den, ein neuer Akkumulationsschub des Kapitals wie nach
Modernisierungsgeschichte, welche diese sogenannten Sy- dem Zweiten Weltkrieg zu erwarten sei und der Westen sei-
stemkonflikte hervorgebracht hat, viel mehr durch die histo- ne Krise gerade mit dem Zusammenbruch des Ostens lösen
rische Ungleichzeitigkeit in den verschiedenen Weltregio- könne. Mittlerweile sind wir nahezu eine halbe Dekade wei-
nen als durch andere, postkapitalistische Inhalte bedingt. ter, und es zeigt sich immer deutlicher, daß diese Hoffnun-
Das ist keine Verurteilung der Geschichte, ich möchte gen Trugbilder sind, die man sich aus dem Kopf schlagen
vielmehr den Charakter der heutigen Krise aufzeigen, wel- kann. Im Gegenteil: Nicht nur kehrt die Krise in den We-
che eine gemeinsame Krise des jetzigen einheitlichen Welt- sten zurück (streng genommen war sie ja nie weg), sie wird
systems ist. auch in ihrem Ausmaß immer deutlicher erkennbar. Die
Daß auch der Westen in der Krise ist, war schon vor dem Rückkoppelungsprozesse aus den Zusammenbrüchen im
Zusammenbruch des Staatssozialismus nicht gänzlich aus Osten ereilen auch uns allmählich, es kommt also eher Ne-
der Welt. Seit Anfang der achtziger Jahre ist das Stichwort gatives aus diesen Zusammenbruchsregionen auf die westli-
von der Krise der Arbeitsgesellschaft auch im Westen aufge- che Ordnung zu. Das läßt sich in verschiedene Richtungen
taucht. Ich kann mich genau erinnern, wie besorgniserre- ausleuchten.
gend es war, als in Deutschland Anfang der achtziger Jahre Ein Aspekt dabei ist sicherlich, daß die Krise im Osten
die Arbeitslosigkeit erstmals die Millionengrenze über- »Flüchtlingsströme«, Arbeitsimmigration, neue Formen
schritt. Heute wäre das schon wieder eine Erfolgsmeldung; von Massenkriminalität hervorbringt – früher hatten wir die
damals hat man sich gefürchtet, es wurden sogar Stimmen Mafia nur im Süden, jetzt haben wir sie auch im Osten –, die
laut, ob der Osten vielleicht doch die bessere Systemalterna- unter anderem Anlaß für rassistische Reaktionen in der
tive sei. Sogar das gab es damals noch. Und dann kam dieser westlichen und gerade auch in der deutschen Bevölkerung
große Zusammenbruch. Das ganze System im Osten hat sind. Das sind Erscheinungen dieser Krise, die sich mit
sich wie eine Mumie in Staub aufgelöst, und in der Folge hat ihrem Andauern fortsetzen werden. Wesentlich ist, daß sich
man die eigene Krise erst mal ein bißchen verdrängt und die Hoffnung auf die neuen Märkte nicht erfüllt hat und
vergessen, obwohl ja die sozialen Prozesse, die damit ver- daß, so paradox es vom Standpunkt der alten Kapitalismus-
bunden waren, die Massenarbeitslosigkeit und neue Armut, kritik auch klingen mag, diese riesigen Massen im Osten für
immer noch da waren. Schon zehn Jahre vorher sind in das westliche Kapital größtenteils nicht ausbeutungsfähig
42 Robert Kurz Mit Volldampf in den Kollaps 43

sind. Auf jeden Fall haben die großen Investitionsströme klisches Phänomen dar, das mit dem ebenfalls zyklischen
nach Osten bis jetzt nicht stattgefunden. Es gibt auch keine konjunkturellen Aufschwung immer wieder abgebaut wur-
erkennbaren Tendenzen oder Absichten, diese geöffneten de. Marx nannte das die »industrielle Reservearmee«. Die
und sozusagen wehrlosen riesigen Regionen in einer ande- Arbeitslosen wurden nur als Reservearmee für den nächsten
ren Weise zu annektieren, sie sich anzueignen, unter den Aufschwung betrachtet und damit für die Reabsorption ih-
Nagel zu reißen – sie stellen die verbrannte Erde der Markt- rer Arbeitskraft in die Verwertungsbewegung des Kapitals
wirtschaft oder der Modernisierung dar, und der Westen bereit gehalten. Das scheint nun vorbei zu sein. Denn von
weiß eigentlich gar nicht, was er damit anfangen soll. Der Zyklus zu Zyklus, ganz unabhängig von dessen Auf und Ab,
Osten jagt ihm wieder Angst ein, vielleicht sogar stärker als hat sich die sogenannte Sockelarbeitslosigkeit erhöht. Ich
zu Zeiten der alten Sowjetunion, denn jetzt könnte es ja sein, habe vorhin erwähnt, für die Bundesrepublik Deutschland
daß diese riesige, waffenstarrende, mit Atombomben vollge- wäre es heute eine Erfolgsmeldung, »nur« eine Million Ar-
stopfte Region plötzlich völlig unkontrollierbare Gestalten beitslose zu haben, mittlerweile sind es ca. vier Millionen.
hervorbringt, die wesentlich weniger berechenbar sind, als Und dabei ist das gar nicht die reale Zahl, denn in Wirklich-
es der gute alte Breschnjew war. keit ist die Massenarbeitslosigkeit viel größer, würde man
Was nun die gemeinsame Krise angeht, geisterte bei uns die ganzen Auffangmaßnahmen – Vorruhestand, ABM (so-
ein schönes Stichwort im Hinblick auf die deutsche Vereini- genannte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen ) – und die stati-
gung durch die Zeitungen: statt Aufschwung Ost Ab- stischen Tricks einbeziehen. Dieses Wegretouchieren eines
schwung West. Das bezog sich eher auf die Konjunktur und Teils der Massenarbeitslosigkeit durch statistische Tricks ist
die Rezession der letzten beiden Jahre. Jetzt macht man sich in fast allen Ländern heute üblich, welche überhaupt noch
wieder Hoffnungen auf Konjunkturbelebungen, aber es ist eine Arbeitslosenstatistik führen. Für die Bundesrepublik
selbst in den offiziellen Kommentaren spürbar, daß dieser heißt das, daß man sich bis vor ein paar Jahren noch auf die
Aufschwung wohl auf sich warten lassen wird – zumindest ist Gesamtzahl der ArbeitnehmerInnen bzw. die Lohnabhängi-
ein säkularer Boom, der die jetzige Krise beheben könnte, gen bezogen hat. Inwischen bezieht man sich auf die Ge-
nicht absehbar. samtzahl der sogenannten Erwerbspersonen, inklusive sämt-
Das hat etwas damit zu tun, daß wir es nicht mehr mit ei- licher Selbständiger und mithelfender Familienangehöriger,
ner rein zyklischen Bewegung zu tun haben. Der sozusagen und wie die statistischen Bezeichnungen lauten, um damit
normale Zyklus der kapitalistischen Bewegung wird überla- die Statistik zu schönen. Dies nur als Beispiel; diese Tricks
gert von einem anderen Problem, oft strukturelle Krise ge- sind von Land zu Land verschieden, werden aber ange-
nannt. Deswegen spricht man mittlerweile von struktureller wandt.
Massenarbeitslosigkeit und nicht mehr bloß von zyklischer. Steigende Sockelarbeitslosigkeit ist also unabhängig von
Das bedeutet, daß die Arbeitslosigkeit im sogenannten zykli- Zyklen, das ist nicht nur ein deutsches oder mitteleuropäi-
schen Aufschwung der Konjunktur nicht mehr zurückgeht, sches, sondern ein globales Phänomen. Im Frühjahr 1994
sich statt dessen sogar eher noch ausdehnt. hat die Internationale Arbeitsorganisation in Genf eine Ana-
Das hat es in der Geschichte der Modernisierung noch lyse herausgebracht, wonach heute im Weltmaßstab real
nie gegeben. Die Massenarbeitslosigkeit (sofern es sie gab, dreißig Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung arbeitslos
vor allem während der Weltwirtschaftskrise) stellte ein zy- sind, de facto arbeitslos. In dieser kritischen Analyse wurden
44 Robert Kurz Mit Volldampf in den Kollaps 45

einige der erwähnten Tricks durchleuchtet; diese Zahl ist ja anscheinend überhaupt nicht in der Krise, nur die Ar-
kommt der Wahrheit näher als die offiziellen Statistiken, sie beit. Das ist insofern paradox, als diese beiden Momente
übersteigt die Arbeitslosenrate der Weltwirtschaftskrise von Pole ein- und desselben Verhältnisses sind. So wie es un-
1929/33. Vor allem hatte die damalige Weltwirtschaftskrise, möglich ist, daß sich dieses Abstraktum der Moderne, die
trotz ihres Namens, nicht so globale Auswirkungen wie die Arbeit, vom Kapital emanzipieren und für sich alleine wei-
heutige strukturelle Massenarbeitslosigkeit. Man kann also terarbeiten kann, wie das die Staatsreligion im Osten war
in der Tat von einer veritablen Krise der Arbeitsgesellschaft oder auch die Grundauffassung des Marxismus darstellt,
sprechen. Dabei gibt es zwei Merkwürdigkeiten: Die eine ebensowenig ist es möglich, daß die Arbeit für sich alleine in
ist, daß sämtliche Modernisierungsideologien, Marxismus die Krise kommt und das Kapital munter weiterakkumuliert
und Liberalismus eingeschlossen, Arbeit als eine ontologi- – dann würde ich eher an die katholische Transsubstantiati-
sche oder anthropologische Grundgegebenheit verstehen. onslehre oder an die unbefleckte Empfängnis glauben als
Man geht davon aus, daß die Menschen, seit es sie gibt, »ge- daran, daß ein Kapital sich ohne eine entsprechende Höhe
arbeitet« haben, und Arbeit erscheint als etwas, das außer- an Vernutzung von abstrakter Arbeitskraft, rein als Geldver-
halb der Geschichte liegt. Wenn man nun von der Krise der mehrung, weiterverwerten kann. Hier scheint etwas nicht zu
Arbeitsgesellschaft redet, widerspricht man der eigenen Ba- stimmen. Und darauf will ich jetzt näher eingehen. Ich
sisideologie, wonach die Arbeit etwas sei, was den Menschen möchte die Analyse dieser gemeinsamen Krise mit vier
vom Tier unterscheide. Und dann kann natürlich die Arbeit Stichworten kurz umreißen: 1. Rationalisierung, 2. Globali-
als solche nie in die Krise kommen. sierung, 3. Tertiarisierung, 4. Fiktionalisierung.
Der Widerspruch zeigt sich darin, daß hier ein Zusam-
menhang in die Krise kommt, der bisher nicht als histori- 1. Rationalisierung
scher, das heißt als gewordener und wieder vergehender, be- Was die Krise im Kern auszumachen scheint, ist im weitesten
trachtet worden ist, sondern als menschlicher Grundsach- Sinne die Rationalisierung. Dazu gehört die Automatisierung
verhalt schlechthin. Es handelt sich nicht um das, was Marx von Produktionsprozessen, die Ausdünnung von organisato-
als Stoffwechselprozeß mit der Natur bezeichnet hat, der ist rischen Linien, jene organisatorische Rationalisierung also,
unaufhebbar, solange es Menschen gibt. Heute scheint viel- durch welche Arbeitskraft im flächendeckenden Maßstab so
mehr der Begriff des Verwandlungsprozesses von Arbeit in stark wegrationalisiert wird, daß sie ein Ansteigen der Pro-
Geld in die Krise zu kommen, was Marx die abstrakte Arbeit duktivität in einem Maße bewirkt, das über die Absorptions-
nennt, nämlich die Verausgabung von Nerv, Muskel und fähigkeit des Kapitals hinausgeht, lebendige Arbeit in be-
Hirn in die gesellschaftliche Geldform und damit die Repro- triebswirtschaftlichen Produktionsprozessen zu verwerten.
duktion des Menschen im Kontext von Arbeit, Geld und Diese Aussage stößt bei den ÖkonomInnen aller Schattie-
Warenkonsum – diese Verknüpfung von Arbeit mit Geld ist rungen auf Kritik. Steigerung der Produktivität, das heiße
historisch und keineswegs überhistorisch. doch Erweiterung der Märkte und damit früher oder später
Das zweite, was paradox erscheint, ist, daß wenn man die Überwindung der Krise, folglich neue Prosperität und ir-
früher von der möglichen Krise oder zukünftigen Krise des gendwann auch wieder Abbau der Massenarbeitslosigkeit.
Kapitalismus sprach, meinte man die Krise der Geldverwer- Nun, ich denke, daß auch diese Argumentation auf einer
tung, und das scheint heute mega-out zu sein. Das Kapital optischen Täuschung beruht. Sie hat nur die Rationalisie-
46 Robert Kurz Mit Volldampf in den Kollaps 47

rung bis an die Schwelle der mikroelektronischen Revoluti- wendet, wie es Charlie Chaplin in seinem Film »Modern Ti-
on im Auge und nimmt an, daß alles in der alten Weise wei- mes« so wunderschön karikiert.
tergehen wird. Für die Epoche, die man als die fordistische Was hat Henry Ford damit erreicht? Man kann es in ei-
bezeichnet hat, das heißt ungefähr vom Ersten Weltkrieg bis ner simplen Zahl ausdrücken. Bis kurz vor dem Ersten Welt-
zum Ende der siebziger Jahre, war es in der Tat so, daß Ra- krieg hat eine Automobilfabrik im Durchschnitt sechs- bis
tionalisierung – und das ist erst in dieser Zeit überhaupt ein zehntausend Autos im Jahr hergestellt. Das ging zwar schon
Stichwort geworden – tatsächlich zumindest mittel- bis län- in großen Fabrikhallen vor sich, aber noch auf eine sehr
gerfristig zur Erweiterung der Märkte und zur Absorption handwerkliche, nicht rationalisierte Art und Weise. Was war
der Arbeitsmärkte geführt hat. Warum? Man kann es sehr Fords Rationalisierungsgewinn mit seinen neuen Metho-
einfach an der Person von Mister Henry Ford selbst darstel- den? Diese Zahl ist nun wirklich ein Hammer, es war damals
len. Ford hat bekanntlich die Rationalisierungsmethoden ein Hammer und ist es auch heute noch. Er hat im Ge-
der neuen Arbeitswissenschaft angewandt, welche in diesem schäftsjahr 1914 – die USA waren damals noch nicht in den
Zeitraum von dem Ingenieur Frederic Taylor erfunden wur- Krieg eingetreten – sage und schreibe 248 000 Automobile
den. Diese sind übrigens inzwischen weiter verfeinert und produziert. Und das schlug ein wie eine Bombe – ein Er-
entwickelt worden, etwa unter der Bezeichnung REFA, es schrecken ging um die ganze Welt, die Figur Henry Ford
gibt in Deutschland seit den zwanziger Jahren ein Rationali- wurde deswegen so berühmt, und überall sprachen verschie-
sierungskuratorium der deutschen Wirtschaft, das sich mit dene TheoretikerInnen und AnalytikerInnen innert Kürze
diesen Prozessen befaßt. Ford hat als erster Unternehmer vom Fordismus. Das war die neue Welle, nicht bloß eine
Taylors Rationalisierungsmethoden übernommen und somit Modeerscheinung, sondern die Zukunft des Kapitalismus,
etwas angefangen, was das kapitalistische Management bis der Marktwirtschaft und der industriellen Produktion über-
dahin außer acht gelassen hatte. Die UnternehmerInnen haupt.
entdeckten, daß es in ihren Fabriken einen Rationalisie- Kein Geringerer als Lenin interessierte sich brennend
rungsspielraum gibt, daß man mit wissenschaftlichen Me- für die fordistischen Methoden und ließ verlauten: Diesen
thoden die Leerläufe ausschalten und somit Zeit und Geld letzten Schrei der westlichen Wissenschaft, Technologie
sparen kann – time is money. und Rationalisierung müssen wir übernehmen. Warum hat
Anstatt die Gestaltung des Arbeitsprozesses wie bisher nun diese Rationalisierung als solche nicht in die Krise, son-
den Meistern und Vorarbeitern zu überlassen, griff man zur dern langfristig (wenn wir den Boom nach dem Zweiten
berühmten Stoppuhr und analysierte jeden Ablauf bis ins Weltkrieg miteinbeziehen) zum Gegenteil geführt? Für die
Detail wissenschaftlich. Produktion des einzelnen Automobils bedeutete sie eine
Das war die eine Innovation, die andere war bekanntlich massive Zeitersparnis. Trotzdem wurde die menschliche Ar-
das Fließband. Diese Erfindung stammt allerdings nicht von beitskraft auf diese Weise nicht wegrationalisiert, vielmehr
Ford, sondern wurde bezeichnenderweise aus den Schlacht- wurde sie sozusagen in ihrem Vollzug selbst rationalisiert.
höfen von Chicago übernommen. Nach dem Schlachten Charlie Chaplin hat diese roboterhaften Handbewegungen
wurden die Teile der Rinder und Schweine auf die Fließbän- des Fließbandarbeiters auf den bildlichen Begriff gebracht.
der verteilt, und dieser Ablauf (das Fließband, nicht das Und der riesige Produktivitätssprung, den die Rationalisie-
Schlachten) wurde auf die menschliche Arbeitskraft ange- rung ermöglichte, brachte eine so starke Ausweitung der
48 Robert Kurz Mit Volldampf in den Kollaps 49

Produktion, daß man nicht weniger, sondern insgesamt so- preiswerten und robusten Traktor entwickelt, der fast so er-
gar mehr ArbeiterInnen brauchte. Das wäre nicht möglich folgreich war wie seine Automobile.
gewesen, wenn das Automobil auf diese Weise nicht gleich- All das brachte eine tiefgreifende Umwälzung mit sich.
zeitig viel billiger geworden wäre. Das war Henry Fords Nicht nur die fordistische Lebensweise fand allgemeine Ver-
stärkster Trumpf – er ermöglichte seinen ArbeiterInnen, ein breitung, sondern erstmals wurden riesige Massen menschli-
Auto zu besitzen; zu dieser Zeit erschien das als geradezu re- cher Arbeitskraft überhaupt in das Rentabilitätskalkül dieser
volutionär, denn bis dahin stellte das Automobil quasi einen marktwirtschaftlichen Verwertungsprozesse hineingezogen.
Luxusgegenstand für Playboys dar. Mit Henry Fords Her- Es gerät oft in Vergessenheit, daß bis zur Mitte des 20. Jahr-
stellungsmethode wurde es durch diese extreme Verbilli- hunderts das kapitalistische System noch durchsetzt war von
gung zu einem Artikel des Massenkonsums. zahlreichen hauswirtschaftlichen, landwirtschaftlichen,
Damals war das sensationell, heute wissen wir, daß das nichtkapitalistischen kleinen warenproduzierenden Sekto-
Prinzip von abstrakter Arbeit und Marktwirtschaft in seiner ren. Erst mit der Rationalisierung wurde diese Logik der
fordistischen Form auch zu katastrophalen Entwicklungen Betriebswirtschaft mit der abstrakten Vernutzung von
geführt hat, mit den entsprechenden Folgeerscheinungen Mensch und Natur überhaupt flächendeckend und hatte
von destruktivem Massenkonsum und Massentourismus. diese gewaltige Absorptionsfähigkeit zur Folge. Der
Dieser gewaltige Schub, den die Rationalisierung der Münchner Soziologe Burkart Lutz hat ausgerechnet, daß
menschlichen Arbeitskraft in ihrem Vollzug und mit der un- dies allein in der alten Bundesrepublik Deutschland einen
geheuren Ausdehnung der Produktion und Verbilligung der zusätzlichen Arbeitsplatzgewinn von acht bis zehn Millionen
Produkte bewirkte, fand in verschiedenen Wellen statt, bedeutet hat. Damit konnten nicht nur die Flüchtlingsströ-
konnte aber die Weltwirtschaftskrise noch nicht verhindern, me aus dem Osten nach dem Zweiten Weltkrieg mehr oder
dazu waren die meisten Länder noch nicht weit genug. weniger reibungslos in den Arbeitsprozeß integriert werden,
Doch er war Ausgangspunkt einer neuen Ära, die in den man war in den sechziger Jahren auch auf die sogenannten
USA bereits vor dem Zweiten Weltkrieg begann. Man Gastarbeiter aus dem Süden angewiesen.
sprach von einer neuen Lebensweise, Ford nannte es eine – Warum ist die heutige Rationalisierung das genaue Ge-
heute klingt das zynisch – rationalisierte Lebensweise. genteil? Das läßt sich ganz einfach erklären. Mit Hilfe der
Das betraf nicht nur die Automobilindustrie, innert Kür- neuen mikroelektronischen Technologie wird die Lücke,
ze machten sich auch andere Industrien diese neuen Metho- welche der oder die menschliche ArbeiterIn im hochrationa-
den zu eigen, die Haushaltsgeräte- und Unterhaltungselek- lisierten System des Fordismus noch ausfüllte, in der er oder
tronikindustrie, die Nahrungsmittelindustrie und die Nah- sie gewissermaßen die Aufgabe eines chaplinesken Roboters
rungsmittel- und Bedarfsgegenstandsdistribution, was die übernahm, diese Lücke wird ausgefüllt mit neuen Steue-
Verdrängung der Tante-Emma-Läden durch die heute über- rungs- und Automatisierungspotentialen. Nicht nur das: Be-
all bekannten Supermärkte zur Folge hatte. Auch die Me- kanntlich hat unter dem Stichwort lean production (schlan-
chanisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft ke Produktion) eine neue Stufe der organisatorischen Ratio-
wurde auf diese Weise rasant vorangetrieben: Nicht nur die nalisierung stattgefunden. Bei der lean production werden
Autos wurden viel billiger, sondern auch mechanische Gerä- computergestützt, also indirekt auch mit Hilfe der Mikro-
te wie der Traktor. Henry Ford hat übrigens auch einen elektronik, sehr viele Ebenen wegrationalisiert. Der ganze
50 Robert Kurz Mit Volldampf in den Kollaps 51

Ablauf wird als einheitlicher Gesamtkomplex gesehen – bei wenn sich diese Entwicklung fortsetzt, bedeutet das, daß
der Konstruktion wird schon der Vertrieb mitgeplant, das diese strukturelle Massenarbeitslosigkeit nie mehr durch ei-
ergibt einen Durchlauf, bei dem sich viele bis dahin unbesei- nen neuen Boom à la Fordismus abgelöst werden kann, son-
tigbare Reibungsflächen eliminieren lassen. Das bedeutet dern sich unaufhaltsam weiter ausdehnen wird. Hier über-
unter anderem auch, daß Teile des Managements selber schreitet man irgendwann eine kritische Grenze, die sozia-
wegrationalisiert werden. Allein in der deutschen Automo- len Netze werden reißen. Womit sollen sie denn noch finan-
bilindustrie sind aus den mittleren Führungsebenen in den ziert werden, wenn die Abschöpfungsmöglichkeiten, die der
letzten zwei Jahren ca. 40 000 Leute auf die Straße gesetzt Staat jetzt noch hat, nicht mehr vorhanden sind? Und dann
worden. wird dieser Zusammenhang Arbeit-Geldeinkommen-Wa-
Es tut sich hier eine absolute Grenze auf. Denn dieser renkonsum schlicht fragwürdig. Ganz abgesehen davon, daß
Prozeß geht weiter, und wir stehen heute erst am Anfang. er auch aus anderen Gründen, zum Beispiel ökologischen,
Nachdem also fünf Millionen wegrationalisiert wurden, gelinde gesagt fragwürdig geworden ist.
startet man alle paar Jahre wieder eine dieser Kampagnen
»der Mensch im Mittelpunkt«, schafft wieder 30 000 neue 2. Globalisierung
Arbeitsplätze und behauptet, die seien hochqualifiziert und Dieses Stichwort steht für die Globalisierung der Märkte
besonders menschlich. Dann kommt die nächste Rationali- und die Herstellung eines unmittelbaren Weltkapitals. Diese
sierungswelle. Die ist übrigens jetzt schon vor der Tür – Entwicklung ist ebenfalls neu, sie beruht auf den neuen Pro-
man braucht nur aufmerksam die Wirtschaftspresse und die duktivkräften der Mikroelektronik, welche es ermöglichen,
entsprechenden Analysen zu verfolgen. Schon jetzt gibt es sich per Satellitenkommunikation und neuen Steuerungs-
neue Potentiale der Miniaturisierung, welche bisher nicht und Kommunikationspotentialen weltweit die Märkte zu su-
für möglich gehaltene Rationalisierungsmöglichkeiten bein- chen. Das sind nicht nur Märkte im Sinne bisheriger Außen-
halten. Bei den KybernetikerInnen oder InformatikerInnen beziehungen, von Import-Export zwischen den in sich
wird es z.B. »der Griff in die Kiste« genannt. Man muß dem kohärenten Nationalökonomien. Diese neuen Potentiale er-
Roboter nicht mehr die Arbeitsgeräte fein säuberlich hinle- möglichen es, den kapitalistischen Produktionsprozeß quer
gen, er kann so programmiert werden, daß er idealerweise in zu den bisherigen Nationalökonomien verlaufen zu lassen;
eine Kiste mit wild angehäuften Teilen greift und das richti- die bisherige nationalökonomische Kohärenz wird aufge-
ge rausholt. Diese Entwicklung beschränkt sich nicht nur sprengt. Ich möchte das anhand eines einfachen kleinen Bei-
auf die Industrie, sondern weitet sich auf die anderen Sekto- spiels erläutern, welches man für die zentralen industriellen
ren aus: auf die Dienstleistungssektoren zum Beispiel, auf und Dienstleistungssektoren hochrechnen kann. Ein Schrift-
das Geld- und Versicherungsgewerbe. Das hat unter ande- steller aus Ost-Berlin hat mir von einer kleinen Kultur- oder
rem zur Folge, daß sich die Kundschaft zunehmend selbst Theaterzeitschrift erzählt, welche von der Treuhandanstalt
bedienen muß. Bei unserer Sparkasse zum Beispiel erhält wie üblich abgewickelt werden sollte, weil sie, mit einem
man die Kontoauszüge nicht mehr zugeschickt, statt dessen AbonnentInnenstamm von ein paar tausend Leuten, nicht
muß man den Kontostand per Karte an einem Automaten rentabel zu sein schien. Nun fand sich ein englischer Verle-
selber erfragen. Das alles war vor ein paar Jahren noch nicht ger dafür, und zwar für denselben AbonnentInnenstamm.
möglich, da mußten es noch Menschen bearbeiten. Aber Sein Rentabilitätsrezept sah folgendermaßen aus: Er ließ die
52 Robert Kurz Mit Volldampf in den Kollaps 53

Zeitschrift in Singapur drucken und über die Karibik auslie- ment, die politische Klasse oder jedenfalls die Führungs-
fern, weil dort die Postgebühren so billig sind. Das heißt, es mannschaften noch eine gemeinsame Strategie hätten à la
ist nach wie vor eine deutsche Kulturzeitschrift für einen Erster Weltkrieg, ist auf dem Holzweg. Das ist ein Anachro-
kleinen ostdeutschen AbonnentInnenstamm, wird aber von nismus geworden, jedoch auf eine ungute Weise: Der kapi-
einem englischen Verleger in Singapur gedruckt und über talistische Prozeß selber wächst blind über die nationalöko-
die Karibik ausgeliefert, und das lohnt sich auch noch. nomischen Grenzen hinaus. So verschärft sich mit der Inter-
Jetzt kann man sich vorstellen, wie sich das erst bei den nationalisierung der Arbeitsmärkte die Krise der Arbeitsge-
Automobil- und den Elektronikteilezulieferern usw. lohnt. sellschaft. Die Internationalisierung ist aber nur dem Kapital
Und genau das findet statt. In den letzten zehn bis fünfzehn möglich: Das kann dorthin gehen, wo die Arbeitskraft am
Jahren hat sich der Welthandel stärker ausgedehnt, als die billigsten ist, und kann seine Zelte auch sehr schnell wieder
Produktion angestiegen ist. Ein auf den ersten Bick verblüf- abbrechen – wie es zum Beispiel bei der deutschen Textilin-
fendes Phänomen, das sich genau durch diese Globalisie- dustrie der Fall ist. Die produktiven Arbeitsplätze wurden
rung erklären läßt. Denn sehr vieles, was rein formal als Ex- alle nach Südostasien oder nach Südeuropa ausgelagert, und
port und Import irgendwelcher Nationen erscheint, ist in jetzt hat man die Rationalisierungsstufe erreicht, bei der es
Wirklichkeit längst Teil einer internationalen Arbeitsteilung sich lohnt, die Produktion wieder zurückzuverlagern. Jetzt
in der Produktion selber. Das bedeutet, daß diese internatio- kommen aber nicht die Arbeitsplätze zurück, sondern die in-
nalisierte Produktion über den nationalökonomischen Rah- zwischen hochautomatisierte Produktion.
men hinauswächst. Das zeigt sich auch auf dem Sektor der Diese Prozesse gehen ständig weiter, es gibt hier keine
Finanzmärkte, die Nationalbanken haben schon längst keine Sicherheit mehr. Das Management versucht, mittels »global
Kontrolle über ihr eigenes Geld mehr, welches in bank- outsourcing« alles dorthin zu verlagern, wo es von den
mäßig exterritorialen Zonen der Welt herumvagabundiert. Märkten, den Krediten, der Arbeitskraft, den Steuern und
So werden zum Beispiel D-Mark-, Dollar-, Franken-, Yen- was es alles an Rentabilitätsgesichtspunkten noch gibt, wo es
Kredite vergeben, die überhaupt nicht unter Kontrolle der in der Welt am günstigsten ist. So wird die nationalökono-
jeweiligen Notenbanken stehen, also Geldschöpfungspro- mische Loyalität, auch gegenüber den sozialen Prozessen,
zesse außerhalb der bisherigen Kontrollmechanismen dar- aufgekündigt.
stellen. Das läßt sich auch noch weiter illustrieren: Ende Es gibt Leute, die versuchen das mit dem Begriff der
1994 hat zum Beispiel das Paradeunternehmen der deut- Einebnung zu erklären, welche die bisherige nationalökono-
schen Geldinstitute, die Deutsche Bank, ihren Investment- mische Aufteilung in reiche und arme Länder aufhebt. Die
bankingsektor ostentativ nach London verlegt. Es gab ein Erste, Zweite und Dritte Welt existieren zwar noch als eine
großes Geschrei, sogar die Deutsche Bundesbank hat von ei- Art Schattenriß, im großen und ganzen wird diese Auftei-
ner illoyalen Haltung gesprochen. Hier stellt sich die Frage, lung aber allmählich eingeebnet, die Erste und die Dritte
worauf sich dieser Loyalitätsbegriff eigentlich bezieht, er be- Welt schließlich ist überall. In Gelsenkirchen liegt die Drit-
zieht sich wohl oder übel auf die alte Nationalökonomie. te Welt gleich neben der Ersten Welt, Bulgarien und Indien
Der Teil der Linken, der immer noch in alten Imperialis- verfügen über konkurrenzfähige Softwareproduzenten, Bra-
muskategorien denkt und davon ausgeht, daß hier noch eine silien exportiert erfolgreich Düsenjäger und chemische Pro-
nationale Kohärenz besteht, daß das Weltmarktmanage- dukte – ganz zu schweigen von Südostasien –, gleich neben-
54 Robert Kurz Mit Volldampf in den Kollaps 55

an jedoch fängt der Slum an. Also eine Welt nach dem Prin- durch verursacht werden, andererseits dadurch, daß die
zip der »Selbstähnlichkeit«, wie man es schon fast ironisch Leute schon aufs Eingemachte zurückgreifen, um sich den
mit dem Prinzip der Chaostheorie definieren könnte. Die Urlaubsstandard noch leisten zu können. Das wird krachen
Mikrostrukturen entsprechen der Makrostruktur, es gibt in in den nächsten Jahren, wenn nicht ein neuer industrieller
jeder Stadt, jedem Stadtteil, jedem Land, bald in jeder Welt- Boom kommt, der aber nicht zu erwarten ist.
region sogenannte Produktivitätsinseln, die immer noch für Erst recht Essig ist es mit dem Gros der staatlichen
den Weltmarkt produzieren können, und daneben die Ver- Dienstleistungen, mit denen die sogenannte Infrastruktur
slumung. Das ist natürlich eine Momentaufnahme, der Kri- betrieben wird, von der Kanalisation bis zu den Universitä-
senprozeß geht auch dann noch weiter. ten. Das ist von Haus aus alles keine Warenproduktion für
den Markt, sondern es handelt sich um gesamtgesellschaftli-
3. Tertiarisierung che Rahmenbedingungen für diese Produktion, die gar nicht
Damit ist die Hoffnung gemeint, daß die strukturelle Krise nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage funktionieren
bloß den Industriekapitalismus betrifft und daß die Beschäf- können. Diese Sektoren sind angewachsen durch den kapi-
tigung in den tertiären Sektor der Dienstleistungen umge- talistischen Prozeß der Verwissenschaftlichung, aber damit
schichtet werden kann, der dann auch die Kapitalakkumula- tut sich nur ein neuer Systemwiderspruch auf. Vom Stand-
tion tragen soll. Zu den Hoffnungen auf diesen Sektor nur punkt des Systems aus ist das keine Produktion, sondern
so viel: Er scheint mir auch keine Lösung des Problems an- Konsum, und deswegen hat der Staat das übernehmen müs-
zubieten. Das hängt mit dem Charakter dieser Sektoren zu- sen, es ist Staatskonsum. Damit tun sich auf Dauer unbewäl-
sammen. Die kommerziellen Dienstleistungen stellen teil- tigbare Finanzierungsprobleme auf, darauf werde ich gleich
weise gar keinen eigenständigen Sektor der Kapitalakkumu- zurückkommen.
lation dar, sie sind von Haus aus trotz formeller Selbständig- Die Infrastrukturbereiche sind fast alle chronisch defi-
keit kapitalistisch unproduktiv und müssen aus dem indu- zitär, aber das liegt eben an ihrem Charakter, nicht daran,
striellen Mehrwert gespeist werden. Marx hat das für den daß sie der Staat betreibt. Die Neoliberalen sind so blöd, daß
Handel-und-Banken-Sektor gezeigt. sie das nicht erkennen und sich einbilden, das wäre ein ideo-
Die Freizeit- und Tourismusindustrie wiederum ist eine logischer Fehler gewesen, daß der Staat das macht, und
reine Luxusangelegenheit der Noch-Gewinner auf dem durch Privatisierung könnten diese Bereiche in Felder der
Weltmarkt. Die Mehrzahl der Menschheit, vor allem natür- Kapitalakkumulation verwandelt werden. Aber das private
lich in den Billiglohnländern und in den bereits abgekoppel- Betreiben der Infrastruktur akkumuliert kein Kapital, son-
ten Regionen, macht keinen Tourismus. Als Massenphäno- dern zehrt ebenfalls vom industriellen Mehrwert, es ist nur
men ist er abhängig von den industriellen Masseneinkom- eine Umverteilung innerhalb des Gesamtkapitals. Und vor
men der wenigen Kernländer. Wenn diese Einkommen rapi- allem: Wenn diese Sektoren als private profitabel betrieben
de zurückgehen, bricht auch der Massentourismus zusam- werden sollen, gesamtkapitalistisch unproduktiv, aber be-
men – und damit übrigens die darüber laufende Umvertei- triebswirtschaftlich profitabel, dann muß alles abgestoßen
lung von Nord nach Süd sowohl in Europa als auch auf glo- und stillgelegt werden, was bloß defizitär funktioniert; und
baler Ebene. Schon jetzt haben wir eine Art Krisentouris- das heißt dann letzten Endes, daß die Infrastruktur ihren Be-
mus, einerseits durch die kostenintensiven Schäden, die da- ruf nicht mehr erfüllt und als solche zusammenbricht.
56 Robert Kurz Mit Volldampf in den Kollaps 57

Der tertiäre Sektor ist also keine Ausweichmöglichkeit, tal, das sich wirklich in betriebswirtschaftlichen Produk-
sondern immer eine Kostenbelastung für die reelle Kapital- tionsprozessen verwertet, und daneben, wie man es am Akti-
akkumulation, und soweit hier überhaupt eine Wertschöp- enkapital mit schöner Deutlichkeit feststellen kann, eine so-
fung stattfindet, ist sie so gering, daß das insgesamt eher auf zusagen eigene Bewegung, eine scheinbare Verwertungsbe-
die Profitrate drückt. Nicht auf der Ebene der Kapitalstruk- wegung des bloßen Namens dieses Geldkapitals.
tur selbst findet eine Umschichtung der Beschäftigung in Das klingt jetzt etwas komplizierter, als es ist: wenn die
den tertiären Sektor statt, das ist wieder eine optische Täu- Kursbewegung der Aktien wesentlich mehr an Gewinn ab-
schung, sondern nur durch die industriellen Weltmarktge- wirft als die reale Rendite der Produktionsprozesse, welche
winne eines Landes. Natürlich können sich die Weltmarkt- hinter diesem Kapital stehen, wenn also die Dividende, wel-
gewinner bei industriellen Produkten noch eine Zeitlang die che eine Aktie von Siemens ausschüttet, etwas völlig Ne-
staatlichen Dienstleistungen leisten, z.B. eine flächen- bensächliches wird. Denn das würde ja den eigentlich reel-
deckende Infrastruktur. Aber überall dort, wo der Prozeß len kapitalistischen Prozeß ausmachen – daß man Geld in ei-
der Krise weiter fortgeschritten ist, der sich nach Einsetzen nen realen betriebswirtschaftlichen Produktionsprozeß in-
des Selbstähnlichkeitsprinzips herstellt, bricht die flächen- vestiert, der am Markt erfolgreich ist, und dann eine Divi-
deckende Infrastruktur zusammen. Und die entsprechenden dende ausbezahlt kriegt. Das sind heute jedoch Peanuts. Die
Teile der Arbeitskraft, die bisher dort absorbiert waren, wer- Dividende ist völlig uninteressant, interessant ist allein die
den ebenfalls in die Arbeitslosigkeit entlassen. Kursbewegung der Aktie. Wenn eine Nominalaktie von 50
Mark auf 800 oder 1 000 oder 2 000 Mark gestiegen ist, ist
4. Fiktionalisierung das phantastisch.
Ich möchte zum letzten Punkt kommen, der klingt ein Ähnlich verhält es sich mit der Immobilienspekulation.
bißchen seltsam: Fiktionalisierung. Er bezieht sich auf den Die berühmte Geschichte vom Parkplatz in Tokio, der
Begriff des fiktiven Kapitals und stammt wieder einmal vom durch die Immobilienspekulation so viel «wert» ist wie eine
guten alten Karl Marx, und zwar aus dem berühmten »Kapi- ganze Großregion in Kalifornien, zeigt die verschobenen
tal« – allerdings weit hinten im dritten Band, wohin sich lei- Relationen, dahinter steht kein wirklicher kapitalistisch pro-
der die wenigsten MarxistInnen vorgearbeitet haben, ob- duktiver Prozeß mehr, bloß heiße Luft. Und wenn man sich
wohl diese Teile heute fast die interessantesten sind. jetzt vorstellt (nachrechnen kann man das gar nicht mehr,
Was heißt fiktives Kapital? Ich habe vorher kurz das Pro- das weiß niemand), welche Dimension dieses spekulative fik-
blem der Kapitalakkumulation angeschnitten, oder anders tive Kapital seit den achtziger Jahren erreicht hat, ist das
ausgedrückt: Wie kann sich Geld verwerten, wenn es gar heute gigantisch. Da stellt sich die Situation vor der Welt-
nicht mehr in ausreichendem Maße lebendige Arbeitskraft wirtschaftskrise mit der damaligen Bankenkrise und der
vernutzen kann? Wenn also Arbeit immer mehr wegrationa- Entwertung von spekulativem Kapital als ein kleiner Ver-
lisiert wird, wo kommt dann das scheinbar gelingende kapi- kehrsunfall dar. Um es in einen bildhaften Vergleich zu brin-
talistische Prozessieren her? Hier kann nun der Begriff des gen: Wenn diese Blase platzt, entspricht der Unterschied zur
fiktiven Kapitals von Marx Auskunft geben. Dieser bezieht Weltwirtschaftkrise etwa dem, ob man aus dem Erdgeschoß
sich auf zwei Sektoren. Der eine ist die kommerzielle Speku- oder aus dem 50. Stock ’runterfällt.
lation, das heißt ein Nebeneinandertreten von realem Kapi- Und deswegen versuchen die internationalen Finanzin-
58 Robert Kurz Mit Volldampf in den Kollaps 59

stitutionen und das Bankensystem mit allen Mitteln, diese nur auf der Finanz- und Kreditebene sieht und irrational auf
Blase am Platzen zu hindern. Sie versuchen eine logische, eine Weltverschwörung des angeblich »jüdischen« Finanz-
und ich denke, letztlich praktische Unmöglichkeit, nämlich kapitals zurückführt. Es kommt also darauf an, die Krise als
dieses fiktive Kapital entweder bis in alle Ewigkeit weiterwu- Krise der realen Kapitalakkumulation selbst zu erklären und
chern zu lassen, sozusagen als unproduktive, aber gültige die Kapitalismuskritik gegen die abstrakte Arbeit, gegen den
Geldschöpfung, oder eben diese Blase sanft platzen zu las- Arbeitswahn des modernen »Produktivismus« selbst zu
sen. Ein sanftes Platzen kann ich mir, ehrlich gesagt, nicht richten.
vorstellen. Ich kann jetzt nicht auf die Manipulationsmecha- Das war jetzt der eine Sektor der Kreation von fiktivem
nismen eingehen, die es da gibt. In Japan sind sie am phanta- Kapital, die kommerzielle Spekulation, welche diese schein-
stischsten, da gibt es Auffanggesellschaften, die nichts weiter bare Unmöglichkeit zumindest zeitweilig möglich macht,
zu tun haben, als die faulen Kredite, die da mittlerweile an- daß das Kapital ohne Arbeit oder ohne einen entsprechenden
gefallen sind, für die Zeit der Bilanzierung temporär zu Standard von Arbeitskraftvernutzung akkumulieren kann.
übernehmen, damit die Unternehmen sauber bleiben. Man Der zweite Sektor ist der Staatskredit. Auch das hat Marx
kann also mit Bilanzierungstricks arbeiten, ich frage mich im dritten Band des «Kapitals» sehr ausführlich und klar ge-
einfach, wie lange das hält. zeigt, nur konnte er sich natürlich nicht vorstellen, welche
Jetzt kommt der Clou: Ein Teil dieses fiktiven Kapitals Dimension dies im 20. Jahrhundert annehmen würde. Der
verbleibt nicht in diesem Spekulationsüberbau, wie es Marx Staatskredit ist eigentlich eine Paradoxie vom marktwirt-
genannt hätte, sondern wird wieder in den scheinbar reellen schaftlichen, kapitalistischen, reellen «Standpunkt» aus.
Konjunkturzyklus eingespeist. Ein ganz simples Beispiel: Denn die einzige reelle, systemisch gesehen reelle Einnah-
Wenn ein Spekulant Gewinn gemacht hat, kauft er sich ei- mequelle, die der Staat hat, sind die Steuern. Er muß also am
nen dicken Benz, und dann heißt das auch reale Produktion. Markt reell erzielte Gewinn- oder Arbeitseinkommen be-
Nur, wenn die Blase platzt, hat irgend jemand den Schwar- steuern. Staatsaufgaben wie Infrastruktur, Sozialstaat oder
zen Peter in der Hand, ein Entwertungsschock wird irgend- auch Rüstung usw. haben aber längst eine Dimension er-
wann stattfinden. reicht, welche unmöglich nur mit den Steuereinnahmen ge-
Für eine kritische Reflexion wichtig ist dabei, daß es sich deckt werden kann. Diese Entwicklung hat schon im Ersten
um einen objektiven Systemwiderspruch handelt, daß es die Weltkrieg eingesetzt. Schon nach ein paar Kriegswochen
objektive Schranke der reellen Kapitalakkumulation ist, die merkte man, daß man mit den reellen Einnahmen diesen
das kommerzielle fiktive Kapital hervorgebracht hat. Man erstmals industrialisierten Krieg überhaupt nicht führen
kann nicht die Gilde der Spekulanten subjektiv verantwort- kann. Dann kamen die großen Spendenkampagnen wie
lich dafür machen, womöglich als Sündenböcke. Der marxi- »Gold für Eisen«, bei der die Leute ihre Eheringe hergaben.
stische »Produktivismus«, der manchmal in einen solchen Alle kriegführenden Länder merkten aber schnell, wie
Zungenschlag verfällt, zeigt hier seine eigene Fixiertheit auf lächerlich sich das ausnahm – Peanuts, Tropfen auf den
eine fordistische Warenproduktion. Wenn das Ganze nicht heißen Stein, so konnten sie den Krieg nicht durchhalten.
als Systemwiderspruch hergeleitet wird, sondern als subjek- Also ging man über zu massiven Staatskrediten in bis dahin
tive Bosheit und Gier der Spekulanten, dann ist übrigens ungekannten Größenordnungen. Das führte sogar dazu, daß
auch der Antisemitismus nicht mehr weit, der die Krise auch sich der Staat Geld von seiner Notenbank drucken läßt oder
60 Robert Kurz Mit Volldampf in den Kollaps 61

inzwischen per Elektronik überweisen läßt und auf seinen momentan nicht als produktives Kapital verwendet werden
Konten Geld aufweist, hinter dem nichts mehr steht außer kann, im Bankensystem zu konzentrieren und an fungieren-
dem Ukas an die Nationalbank. Und schon steht die Hyper- des Kapital auszuleihen, um damit reale betriebswirtschaftli-
inflation vor der Tür, d.h. die Entwertung dieses Geldes. che, produktive Prozesse in Gang zu bringen. Darin liegt
Diese Hyperinflation, wie sie am Ende des Ersten Welt- der Sinn des Kreditsystems im Modernisierungsprozeß.
kriegs stand, ist inzwischen bereits Teil eines inflationären Was aber macht der Staat, wenn er Kredit nimmt? Neu-
oder hyperinflationären Zyklus einer Vielzahl von Staaten tral formuliert, betreibt er vom Standpunkt des Systems aus
der heutigen Welt. Das betrifft Lateinamerika, Afrika, in Konsum, denn all seine Tätigkeiten sind vom marktwirt-
Asien vor allem die mittelasiatischen Republiken, Rußland schaftlichen Standpunkt aus Konsum. Diese zinspflichtigen
und teilweise Osteuropa. Für die meisten Menschen ist heu- Gelder sind längst im Orkus des Staatskonsums verschwun-
te die auf dem Geld beruhende Wirtschafts- und Lebens- den, werden aber so behandelt, als wären sie Teil eines fun-
weise bereits am Ende, sie erfahren das täglich am hyperin- gierenden kapitalistischen Produktionsprozesses. Die Ver-
flationären Zyklus. zinsung der Staatskredite macht mittlerweile selbst in den
Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges hat diese Ent- entwickeltsten Ländern bereits zwischen zehn und zwanzig
wicklung angefangen, hat sich über den Keynesianismus Prozent des Staatshaushalts aus, so kann das nicht in alle
fortgesetzt und ist in den achtziger Jahren endgültig ausge- Ewigkeit weitergehen.
ufert. Es gibt zwar die monetaristische Gegenkampagne – es So weit Marx’ dritter Band, in dem er diesen Vorgang als
zeigt sich jedoch in Ländern wie Großbritannien und den fiktives Kapital beschreibt. Ich rechne damit, daß die beiden
USA, die versuchen, den Staatskredit wieder zurückzu- Säulen des fiktiven Kapitals, inklusive des Staatskredits,
führen, daß das nicht funktioniert. Man müßte nicht nur ei- früher oder später einstürzen werden.
nen Großteil der Rüstungsindustrie, des Sozialstaats oder Wenn ich das einem linken Publikum erzähle, sind die
der Infrastruktur stillegen, sondern noch viel mehr, denn Leute meistens skeptisch. Ich habe inzwischen aber auch
vierzig bis fünfzig Prozent der Bevölkerung in allen moder- Gelegenheit gehabt, mit Bankern, Sparkassendirektoren
nen Staaten hängen direkt oder indirekt bereits von diesem und anderen Leuten zu sprechen, die sich da ein bißchen
Staatskredit ab. Und wenn der Staat seine Einnahmen nicht besser auskennen. Ihre Reaktion war: »Bloß nicht laut sa-
aus der hyperinflationären Kreation von Geld direkt durch gen.« Wenn das an die große Öffentlichkeit kommt, dann
Befehl an seine Notenbanken beziehen will, wie es in vielen gibt es kein Halten mehr, dann bricht alles unkontrolliert
Ländern als letzte Notmaßnahme schon üblich ist, kann er zusammen. Bei sämtlichen Regierungen (vor allem der der
eben nur noch bei den Geldbesitzern, jenem Geld, das im USA, die mit dem Dollar immer noch eine Art »Weltgeld«
Bankensystem konzentriert ist, Kredit aufnehmen. Der Staat kontrollieren) gibt es angeblich Blaupausen, wie man »kon-
ist dann plötzlich nicht mehr der forsche uniformierte Sou- trolliert« auf den irgendwann anstehenden Entwertungs-
verän, sondern ein ganz normaler Kreditnehmer, der sich an schock reagieren will. Ein Banker, der sich wirklich gut aus-
das Zinsgefüge halten und Zinsen zahlen muß. kennt, hat mir gesagt: Wenn das passiert, werden vom Sozi-
Wofür ist der Kredit in einem kapitalistischen System alrentner bis zum Großspekulanten alle enteignet. Denn
da? Seine Aufgabe besteht vom kapitalistischen Standpunkt das, worauf unsere Reproduktion heute beruht, was sich be-
aus darin, brachliegende Gelder, Spargelder, Cash, alles was zeichnenderweise im Gleichklang mit Rationalisierung und
62 Robert Kurz Mit Volldampf in den Kollaps 63

Globalisierung in den letzten fünfzehn Jahren systematisch ohne Lohnausgleich – so verläuft die Diskussion in
aufgebaut hat, ist zu einem erheblichen Teil heiße Luft. Das Deutschland zumindest sehr stark. Das wirft natürlich sofort
muß man einfach sagen. die Frage auf: Was machen wir dann mit der gewonnenen
Dieses Krisenpanorama zielt auf etwas ab. Jetzt stellt sich disponiblen Zeit, die nicht mehr in Arbeit und Geld im bis-
nämlich die Frage: Wie soll man denn damit umgehen? Mit herigen Sinn aufgehen kann? Konsumierend in der bisheri-
den alten Begriffen marxistischer Gesellschaftskritik kommt gen Weise, inklusive der destruktiven Seite dieser Massen-
man offensichtlich nicht mehr weiter. Nicht nur, weil die konsumtion des Kapitalismus, das geht nicht mehr, aber was
nachholende Modernisierung gescheitert ist und das marxi- dann? Kann man zum Beispiel jetzt in dieser neuen Situati-
stische begriffliche Denken der letzten Jahrzehnte durch das on, unter neuen, bisher nie dagewesenen Bedingungen, viel-
Problem nachholender Modernisierung gefiltert und nicht leicht doch zurückkommen auf Formen wie Genossenschaft,
durch eine Situation bestimmt wurde, in der dieser schein- Kibbuz, auf altbekannte Formen wie selbstverwaltete,
bar endlose Modernisierungsprozeß an ein definitives Ende selbstversorgende gesellschaftliche Gruppierungen? Es gab
kommt. Zum andern ist es so, daß gerade der Marxismus, schon sehr viele Ansätze – von der Alternativbewegung über
das läßt sich bis zu Marx selber zurückführen, ganz stark im verschiedene Formen von Selbstverwaltungsversuchen, von
Paradigma der Arbeit verankert war, in einem Mythos des Selbstorganisation, von Selbsthilfegruppen, von Wohnge-
abstrakten »Produktivismus«. Der Begriff Arbeit wurde nur meinschaften, von Stadtteilgruppen, Bürgerinitiativen usw.
schemenhaft umrissen: einerseits überhistorisch als ontolo- Es gibt ja sehr viele Ansätze, nur waren alle bisher immer
gische menschliche Grundtatsache, andererseits aber schon noch in irgendeiner Weise auf das Bezugssystem Arbeit-
klammheimlich in der Form, die ihn als kapitalistisch aus- Geld-Ware bezogen, bis hin zum Einbezug von Staatsknete.
weist, nämlich als eben dieser scheinbar kohärente Zusam- Soweit ich weiß, ist auch dieses Haus hier [das Kultur-
menhang Arbeit-Geldeinkommen-Warenkonsum. Und zentrum Rote Fabrik, Anm. d. Red.] von Staatsknete abhän-
wenn bei einer wirklichen Krise der Arbeitsgesellschaft die- gig. Da spricht nichts dagegen, im Gegenteil, warum soll
ser Vermittlungszusammenhang Arbeit-Geld-Konsum jetzt man die nicht nehmen. Ich meine nur, das stößt an Grenzen,
zerreißt, dann steht natürlich auch, und damit schließt sich wir sollten nicht mit Haut und Haar davon abhängig sein.
jetzt der Kreis, die bisherige marxistische Gesellschaftskritik Und zwar nicht nur an die Grenzen des subjektiven Bewußt-
mit leeren Händen da. Denn die bisherigen Formen der seins oder der Politik irgendeiner Rechten, sondern an ob-
Kritik, auch die bisherigen Vorstellungen der Emanzipation, jektivierte Systemschranken. Also müßte man sich überle-
die brechen sich insgesamt an dieser Schranke der Moderne. gen, was kann man, um das aufzufangen, selbstorganisiert
Und zurück in die Vormoderne können wir auch nicht. Es machen, und neue Formen von Leben und Sichreproduzie-
ist quasi eine paralytische Situation. ren ausprobieren, ohne gleich ins Utopische oder in sekten-
hafte Positionen abzudriften. Wie kann man in diesem Kon-
Ich denke, daß es möglich sein muß, ein Denken zu ent-
text auch neue Forderungen, durchaus auch Kampflosun-
wickeln, das eine Bewältigungskraft dieser Krise hervor-
gen, entwickeln, denn das geht natürlich nicht konfliktfrei
bringt. Es muß möglich sein, sich Formen nicht nur vorzu-
ab. Das ist auch eine Frage von Ressourcen; es darf ja nicht
stellen, sondern auch praktisch zu entwickeln, welche an ak-
um Armutsniveaus und Selbstausbeutung gehen. Wenn die-
tuelle Debatten anknüpfen wie Arbeitszeitverkürzung auch
ses marktwirtschaftliche System als Weltsystem gar nicht
64 Robert Kurz 65

mehr in der Lage ist, einen Großteil der Ressourcen über- Maria Mies
haupt zu besetzen, wenn es mangels Rentabilität immer Die Krise als Chance:
mehr Sektoren der Produktivkräfte stillegen und die ent-
Zum Ausstieg aus der Akkumulationslogik
sprechende Bevölkerung außer Kurs setzen muß, dann stellt
sich doch ganz klar die Frage: Können diese Ressourcen in
anderer Weise mobilisiert werden, oder müssen sie brach
liegenbleiben? Das fängt mit Grund und Boden an, die Pa-
rolen für Landbesetzung, Hausbesetzung sind ja nicht unbe-
kannt, sie haben schon in der Vergangenheit eine Rolle ge-
spielt. Und wie gesagt, vielleicht könnten all diese Ansätze,
diese Begriffe in diesem neuen, bisher nicht dagewesenen Der Titel meiner Veranstaltung suggeriert, daß ich zu denen
Kontext der absoluten Schranke des warenproduzierenden gehöre, die auf den Zusammenbruch des derzeitigen Sy-
modernen Systems eine neue Bedeutung bekommen und stems warten, damit sich dann aus dem Chaos etwas Neues
nicht mehr so einfach von einem neuen Schub der Kapital- entwickeln kann. Angesichts der Opfer, die diese Krise be-
akkumulation aufgesaugt werden wie in der Vergangenheit. reits gefordert hat, wäre eine solche Haltung jedoch zynisch.
Und das ist etwas, das nicht mehr aus der Theorie heraus Andererseits können wir aber auch jetzt schon feststellen,
präjudiziert werden kann, das ist eine Frage an alle, die sich daß das Umdenken gerade denen am schwersten fällt, die
damit praktisch auseinandersetzen. sich noch relativ gesichert wähnen in den Zentren der kapi-
talistischen Industriegesellschaft, und daß kreatives, neues
(Mündliches Referat; schriftliche Überarbeitung: Kari-Anne Mey) Denken bei manchen von der Krise am stärksten Betroffe-
nen zu finden ist. Diese sind nach meiner Beobachtung vor
allem die Armen aus der »Dritten Welt«, vor allem die ar-
men Frauen. Meine Formulierung, daß die Krise eine Chan-
ce sein kann, aus der Kapitallogik auszusteigen, macht sich
an den Erfahrungen der Überlebenskämpfe solcher Grup-
pen fest. Da die Krise eine globale ist, finden solche Überle-
benskämpfe inzwischen aber auch schon in den Zentren des
reichen Nordens statt. Ich denke, daß es höchste Zeit ist,
hier von den Beispielen aus den sogenannten Drittweltlän-
dern zu lernen.

Was ist das für eine Krise?


Ehe ich mich den – hoffnungsvollen – Alternativen zuwen-
de, ist es notwendig, über den Charakter der derzeitigen
Krise nachzudenken. Worin besteht sie, welche Dimensio-
nen unseres Lebens betrifft sie, wie weit reicht sie?
66 Maria Mies Die Krise als Chance 67

Zunächst ist festzustellen, daß es sich bei dem, was hier der »Dritten Welt« ins Unermeßliche gestiegen: 1992 wur-
und heute Krise genannt wird, um eine ökonomische Krise de sie auf 134, 3 Milliarden US-Dollar beziffert. In der Sub-
handelt, allerdings nicht nur um eine jener zyklischen wirt- sahara war die Verschuldung viermal so hoch wie das Brut-
schaftlichen Talfahrten, die nach der Lehre der neoklassi- tosozialprodukt aller Drittweltländer zusammen.
schen Wirtschaftstheorie wieder durch einen Aufschwung Natürlich sind Frauen von Erwerbslosigkeit und dieser
abgelöst wird. So wie uns die Ökonomen – rechtzeitig vor »neuen« Armut in den Industrieländern stärker betroffen als
der Bundestagswahl – versicherten, es ginge wieder aufwärts Männer, und ältere stärker als junge. Vor allem viele alleinle-
mit der Weltwirtschaft. Die Krise, von der hier die Rede ist, bende Mütter leben bereits unter der Armutsgrenze, d.h.
geht tiefer und reicht weiter. sind Sozialhilfeempfängerinnen – und wir werden daran ge-
Sie ist auch nicht erst jetzt hier aufgetaucht, sondern ist wöhnt, daß dies »normal« sei. Die Prognosen für die Zu-
im Grunde genommen schon eine Dauerkrise, seit es den kunft, wie sie beispielsweise das Prognos-Institut bis zum
Kapitalismus gibt. Sie ist natürlich zunächst eine ökonomi- Jahr 2000 errechnet hat, sehen zwar ein Wirtschaftswachs-
sche Krise, die sich trotz wieder steigenden Bruttosozialpro- tum vor, aber auch die Fortdauer der Erwerbslosigkeit und
dukts im Zusammenbruch von Firmen manifestiert, in der Unterbeschäftigung. Es entsteht das, was die Ökonomen
wachsenden oder stagnierenden Erwerbslosigkeit, schrump- »jobless growth« nennen. Doch selbst diese Erwartungen
fenden Märkten für langlebige Wirtschaftsgüter und einer bezeichnen Hickel und Priewe noch als zu optimistisch, da
wahnsinnig gestiegenen Konkurrenz auf allen Märkten. Ob- sie von einer erfolgreichen Reindustrialisierung Ostdeutsch-
wohl die Politiker und Ökonomen das Volk zu beruhigen lands ausgehen, die ihrer Meinung nach nicht stattfinden
versuchen, die Krise sei eine vorübergehende und werde wird.1 Sie erwarten vielmehr eine weitere Spaltung der Ge-
durch Investitionen in »Zukunftstechnologien« wie die Bio- sellschaft nach dem Muster der Zweidrittelgesellschaft mit
technologie überwunden, glauben die Menschen das nicht etwa 6 Millionen Erwerbslosen.2 Die Rückkehr der Armut
mehr. Es wird immer deutlicher, daß das Paradigma des un- in die Industrieländer hat noch drastischere Formen im
begrenzten Wachstums nicht nur ökologisch eine Katastro- reichsten Land der Welt angenommen, nämlich in den
phe ist, sondern auch ökonomisch nicht »nachhaltig« ist, USA. Hier spricht man schon von einer »Drittweltisierung«
weder im Süden noch im Norden. des Landes.
Die Armut ist allzu sichtbar in die Zentren des reichen Erstaunlicher als diese Tatsache ist jedoch, daß den
Nordens zurückgekehrt. In Deutschland beispielsweise ist »Verantwortlichen« in Wirtschaft und Politik auch keine
die Zahl der Obdachlosen auf eine Million Menschen gestie- anderen Strategien einfallen als die, die sie bisher – auch
gen. Im Winter 1992/93 sind in Deutschland 30 Menschen ohne Erfolg – der »Dritten Welt« vorgeschlagen haben. Da
erfroren, und es gibt immer mehr Bettler. In London über- nämlich der Keynesianismus und die Vollbeschäftigung end-
nachten Menschen in Pappkartons. Die Zahl der Erwerbslo- gültig am Ende zu sein scheinen, soll die »informelle Öko-
sen ist in den letzten Jahren – besonders in Ostdeutschland – nomie« ausgeweitet werden. Der deutsche Wirtschaftsmini-
enorm angestiegen und stagniert mehr oder weniger trotz ster Rexrodt hat vor einiger Zeit die Bildung eines Bil-
angeblichen Konjunkturanstiegs. Das neue Phänomen die- liglohnsektors innerhalb Deutschlands vorgeschlagen, wo
ser Krise ist das Andauern des wirtschaftlichen Wachstums die Löhne niedriger, die Arbeitszeiten länger, der Arbeits-
in den Industrieländern; gleichzeitig ist die Verschuldung schutz geringer sei als das, was die Gewerkschaften für den
68 Maria Mies Die Krise als Chance 69

formellen Sektor durchgesetzt haben. Dies entspricht dem usw. den Wohlfahrtstaat nicht zu viel kosten. Allerdings ist
sogenannten Deregulierungsmodell, das wir seit langem zu erwarten, daß mit dem Andauern der Krise in Zukunft
schon in der »Dritten Welt« beobachten können. Wie dort auch mehr Männer hausfrauisiert werden.
empfiehlt der Minister, daß vor allem Frauen in diesem Bil- Claudia von Werlhof schrieb schon Anfang der achtziger
liglohnsektor arbeiten sollen. Denn gleichzeitig erfolgen die Jahre in ihrem Aufsatz »Der Proletarier ist tot, es lebe die
Kürzungen der staatlichen Ausgaben vor allem im Sozialbe- Hausfrau«, daß »nicht die Verallgemeinerung der Hausar-
reich, in dem nicht nur viele Frauen tätig sind, sondern von beit der Traum aller Kapitalisten« sei. »Es gibt keine billige-
dem sie auch abhängig sind: Gestrichen werden Gelder für re, produktivere, fruchtbarere menschliche Arbeit, und man
Kindergärten, Frauenhäuser, Wohngeld u.a. Wie in den kann sie auch ohne Peitsche erzwingen. Die Umstrukturie-
verschuldeten Ländern des Südens, die unter dem Regime rung der Ökonomie wird ein Versuch sein, das weibliche Ar-
der Strukturanpassungsprogramme des Internationalen beitsvermögen auch den Männern anzuerziehen ... Denn
Währungsfonds leiden, sind die Betroffenen dieser Strategie der Lohnarbeiter macht zu wenig und kann zu wenig. Er
hauptsächlich ärmere Frauen. kann nur tun, was bezahlt wird und was vertraglich verein-
Rexrodt schlägt nicht nur einen Billiglohnsektor in bart wurde. Er tut nichts darüber hinaus, und er hat keine
Deutschland vor, um so der Konkurrenz aus den Billiglohn- Ahnung von Menschenproduktion. Er funktioniert als Ro-
ländern des Südens – und jetzt des Ostens – und der Abwan- boter, als Anhängsel der Maschine, entemotionalisiert ... Er
derung des deutschen Kapitals in andere Billiglohnländer arbeitet zu kurz und ist zu schnell erschöpft. Er hat keinen
entgegenzuwirken, er progagiert nicht nur eine duale Öko- Grund, innovativ zu werden, und kein Motiv für die Arbeit,
nomie mit einem formellen und einem informellen Sektor, er ist nicht rundherum, als ganze Person, als ganzer Mensch
sondern er schlägt – wie in der »Dritten Welt« auch – den mobilisierbar. Das männliche Arbeitsvermögen ist viel zu
privaten Haushalt als Standort für die neuen Jobs vor, die unflexibel und ›unfruchtbar‹«.5
vor allem im Dienstleistungsbereich angesiedelt werden sol- Was uns auf der Grundlage der Nicht-Lohnarbeit der
len. Natürlich denkt er auch nicht an Männer als Arbeiter in Hausfrau und damals der SubsistenzproduzentInnen der
diesem Bereich, sondern an Frauen, Hausfrauen. Der priva- »Dritten Welt« klar wurde, trifft heute voll auch für die rei-
te Haushalt sei, so Rexrodt, »ein attraktiver Arbeitsplatz, be- chen Länder des Nordens zu: die Hausfrauisierung der Ar-
sonders für Frauen mit kleinen Kindern, wo sie ihre Erfah- beit.
rung voll nutzen können«.3 Die heutige Krise ist jedoch nicht nur eine ökonomische.
Dieses Statement zeigt, daß Politik und Wirtschaft heute Sie ist vielmehr verknüpft mit einer Reihe weiterer Krisen;
in den reichen Ländern keine andere Strategie verfolgen als oder anders ausgedrückt, die derzeitige Krise hat verschie-
die, die wir (Veronika Bennhold-Thomsen, Claudia von dene, miteinander verbundene Dimensionen: neben der
Werlhof und ich) bereits 1982 in unserer Ansalyse der Kapi- ökonomischen die ökologische, die soziale, die politische,
talakkumulation, vor allem in der »Dritten Welt«, die die ethische und die psychologische Dimension. Nicht zu-
»Hausfrauisierung der Frauen« genannt haben.4 letzt sind wir mit einer enormen Krise des Denkens, einer
Frauen werden durch diese Strategie nicht nur aus dem Erosion des gesunden Menschenverstandes, einer Konfusi-
formellen Sektor verdrängt, es wird auch sichergestellt, daß on des Erkennens und mit einem Mangel an Orientierung
die notwendigen Sozialen Dienste für Kinder, Kranke, Alte und Perspektiven konfrontiert.
70 Maria Mies Die Krise als Chance 71

Die ökologische Krise wurde in den letzten Jahren in lität, der Gewalt, der Selbstmordraten, des Drogenkonsums
den Vordergrund gerückt, und es wurde genug über ihre u.a. belegt. Die sogenannte »civil society« ist heute der Ort
Ursachen geschrieben. Inzwischen wird weltweit auch zuge- einer enormen Brutalisierung des Alltagslebens, einer zu-
geben, daß diese Krise durch das wachstums- und fort- nehmenden »Ramboisierung« der Männer, die vor allem
schrittsorientierte Industriesystem, verbunden mit Ressour- Frauen und Mädchen betrifft, und einer Abstumpfung ge-
cenverbrauch, der Ausbeutung der »Dritten Welt« und ei- genüber grundlegenden menschlichen Werten und Empfin-
nem verschwenderischen Lebensstil im Norden, verursacht dungen. Die zwei Jungen, die in Liverpool ein zweijähriges
wird. Doch anstatt das Dogma des permanenten Wachstums Kind töteten, ahmten nach, was sie in Gewalt- und Horror-
abzuschaffen und den Konsumstil drastisch zu ändern, set- videos gesehen hatten. Die Unterhaltungselektronikindu-
zen Wirtschaft und Politik unter dem Schlagwort »sustaina- strie hat in ihrer Konkurrenz um Märkte keine Bedenken,
ble growth« auf weiteres Wachstum, auf mehr »quantitati- die Phantasie der Erwachsenen und Kinder zu vergiften und
ves« Wachstum im Süden und mehr »qualitatives« Wachs- so ein Klima des Sozialdarwinismus zu schaffen, in welchem
tum im Norden. Das ist natürlich die Quadratur des Kreises nur die Brutalsten überleben. Die Philosophie von Hobbes,
innerhalb eines begrenzten Planeten. Auch der Club of Darwin und Adam Smith wird am Ende dieses Jahrhunderts
Rome vertritt dieses Wachstumsmodell in seinen aktuellen nicht nur »draußen« in den Kolonien, sondern mitten in der
Positionen. Der Begriff »sustainable growth« wurde zudem »Zivilgesellschaft« praktiziert. Werte wie Solidarität, Ach-
von den multinationalen Konzernen sofort vereinnahmt, um tung, Verantwortung, Mitgefühl oder Sorge um andere ver-
den Anschein einer Lösung der ökologischen Krise zu ver- schwinden aus dem Alltagsleben. Übrig bleibt der Kampf al-
mitteln. Der deutsche Multi Hoechst hat beispielsweise ler gegen alle – die Hobbessche Grundannahme.
kürzlich in der »Frankfurter Rundschau« ein ganzseitiges Dieser Kampf muß nun zunehmend von atomisierten
Inserat publizieren lassen mit dem Titel: »Sustainable Einzelnen geführt werden, denn die bisher noch funktionie-
growth – damit unsere Kinder noch eine Zukunft haben.« renden Gemeinschaften – Familie, Nachbarschaft, Ver-
Dieser »grüne Kapitalismus«, der auf umweltfreundliche wandtschaft, Gemeinde – sind zum großen Teil zerfallen.
Technologie setzt, soll der Wirtschaft neues Wachstum und Das heißt, dem harten Konkurrenzkampf im Arbeitsleben
den Erwerbslosen neue Arbeitsplätze bescheren. An den steht nicht einmal mehr ein mehr oder weniger intaktes
ausbeuterischen Verhältnissen zwischen Männern und Frau- Rückzugsgebiet zur psychischen Reproduktion der Men-
en, Klassen, reichen und armen Ländern soll nichts geändert schen zur Verfügung, wie es z.B. die traditionelle Familie
werden: eine typische Strategie des weißen Mannes zur Lö- mit der Hausfrau für die Reproduktion der männlichen Ar-
sung der Krise. Die ökonomische Krise verführt zudem beitskraft darstellte.
dazu, die bescheidenen Anfänge einer ökologischen Umkehr Die politische Dimension der Krise ist engstens ver-
vom traditionellen Wachstumsmodell wieder zu blockieren knüpft mit der ökonomischen und ökologischen. Sie ist viel-
oder sogar rückgängig zu machen. fältig und vielschichtig. Besonders in den Industrieländern
Die soziale und psychologische Dimension der Krise wird mehr und mehr deutlich, daß das »Volk«, die Wähler-
kann vor allem im Zusammenbruch des sozialen Friedens in schaft, immer weniger Macht hat, das politische Geschehen
den Metropolen der Industrieländer beobachtet werden. mitzugestalten. Nicht nur wegen einer immer undurch-
Dies wird meist mit Stichworten wie Zunahme der Krimina- schaubareren Bürokratie, sondern auch wegen der neuen
72 Maria Mies Die Krise als Chance 73

ökonomisch-politischen Blockbildungen wie EU, NAFTA, des Südens, nichts geändert. Unsere These ist, daß dieses
APEC, welche die nationalen Demokratien quasi außer Wirtschaftssystem nicht ohne fortgesetzte ursprüngliche
Kraft setzen. Hinzu kommen die neue mafiaartige Politik Akkumulation existieren könnte, d.h. praktisch nicht ohne
und die Korruption in den Parteiendemokratien, wie es vor Kolonien, interne und externe, wo nicht vor allem die freie
allem in Italien der Fall ist. Die Machtspiele derer »da Lohnarbeit ausgebeutet wird, sondern die Nicht-Lohnar-
oben« werden für viele immer undurchschaubarer, und sie beit, und wo nicht nur Vertrags- sondern auch Gewaltver-
wenden sich angeekelt gänzlich von der Politik ab mit der hältnisse den Mehrwert erpressen, abgesehen von den billi-
Haltung: »Da kann man sowieso nichts ändern.« gen Rohstoffen, die diesen Ländern häufig geraubt werden.
Diese Ohnmachtsgefühle werden noch deutlicher im Diese Gebiete befinden sich also schon seit langem in einem
Zusammenhang mit den sogenannten neuen Zukunftstech- Zustand der Krise.
nologien wie z.B. der Gentechnologie. Dennoch: Wenn wir jetzt von der Krise im Zusammen-
hang mit der Globalisierung der Wirtschaft reden, dann ist
Die Krise und die Globalisierung der Wirtschaft damit eine weitere Phase in diesem historischen Prozeß der
Wenn von der Krise die Rede ist, dann denken die Leute Kapitalakkumulation gemeint, nämlich die Verlagerung
meist nur an eine temporär begrenzte ökonomische Flaute ganzer arbeitsintensiver Produktionsbereiche wie z.B. die
in den Industrieländern des Nordens. Es ist nicht in ihrem Herstellung von Textilien und Kleidung, Elektronik, Spiel-
Bewußtsein, daß die kapitalistische Wirtschaft seit ihren An- waren, Schuhe u.a. in Billiglohnländer des Südens, vor allem
fängen dauernd irgendwelche Gebiete der Welt in solche nach Südostasien und nach Mexiko. Dort wurden sogenann-
Krisen stürzte, daß die Krise und die damit verbundenen te freie Produktionszonen oder Weltmarktfabriken errich-
Prozesse der Verarmung den »Untergrund« des kapitalisti- tet, in welchen meist junge, unverheiratete Frauen oft unter
schen Akkumulationsmodells darstellen. Zwangsverhältnissen Waren für den Weltmarkt herstellen.
Unser System benötigt dauernd Kolonien, um zu funk- Diese Phase begann Anfang der siebziger Jahre und wurde
tionieren: die fremden Völker, die Frauen und die Natur – auch als Neue Internationale Arbeitsteilung (NIAT) be-
das, was nicht offiziell zur Wirtschaft zählt, bildet den »Un- zeichnet.7
tergrund« des gesellschaftlichen Systems, in dem Gewalt Diese NIAT war eine Strategie der Multinationalen
und nicht ein Vertragsverhältnis herrscht. Konzerne (MNKs) zur Senkung der Lohnkosten und der
Die Krisen sind lediglich exportiert und externalisiert Bekämpfung der Krise in der Wirtschaft, die teils durch den
worden, und zwar in die Kolonien. Diese gehören genauso Ölschock, teils durch hohe Lohnforderungen der Gewerk-
zum Kapitalismus wie die Lohnarbeit in den reichen Zen- schaften verursacht wurde.
tren, in denen akkumuliert wird. Das bedeutet auch, daß Die Lösung war eine Restrukturierung der Weltwirt-
dieses Wirtschaftssystem, das heute beschönigend Markt- schaft durch die Schaffung von exportorientierten Industrie-
wirtschaft genannt wird, immer schon ein Weltsystem war enklaven in den Billiglohnländern, in denen westliche und
und ist.6 Ohne die Ausbeutung der Kolonien wäre der Kapi- japanische Firmen produzieren und die Löhne um ein Viel-
talismus nicht entstanden und hätte sich nicht erhalten. Dar- faches niedriger waren als in den Industrieländern. Das Ka-
an hat auch die sogenannte Entkolonisierung, die Errei- pital entdeckte die Frauen in Südkorea, auf den Philippinen,
chung der politischen Unabhängigkeit der meisten Länder in Mexiko, Tunesien – später in Sri Lanka, Bangladesh, Indi-
74 Maria Mies Die Krise als Chance 75

en und Malaysia als optimale Arbeitskräfte. Vor allem junge, • Polen $ 1,40
unverheiratete Frauen wurden rekrutiert. Bis zu 80 Prozent • Mexiko $ 2,40
der Arbeitskräfte in diesen Weltmarktfabriken waren und • Indien $ 0,50
sind Frauen. Sie brachten alle Hausfrauenfähigkeiten mit, • China $ 0,50
die für die Textil- und Elektronikindustrie gebraucht wur- • Indonesien $ 0,50
den, waren »docile« (gefügig), hatten »nimble fingers« (ge-
Kein Wunder, daß Minister Rexrodt einen Billiglohn-
schickte Finger)8 und konnten gefeuert werden, wenn sie
sektor nach dem Muster der »Dritten Welt« in Deutschland
heirateten. Sie sahen als Hausfrauen ihre Lohnarbeit nur als
errichten will.
eine temporäre an. Außerdem verlangen die MNKs von den
Die Integration der Drittweltländer in den Weltmarkt
Regierungen dieser Länder bestimmte Konzessionen wie
beschränkte sich jedoch in dieser Phase der Restrukturie-
die Lockerung von Arbeitsgesetzen, in vielen Fällen das Ver-
rung nicht nur auf die Industrie, sondern erfaßte auch die
bot von Gewerkschaften, Steuererlaß bis zu 15 Jahren, eine
Landwirtschaft. Es war die Hochkonjunktur der »Grünen
Lockerung der Umweltauflagen, kostenlose Lieferung der
Revolution«, die vor allem durch die Chemie-, Saatgut- und
nötigen Infrastruktur, Verbot von Streiks usw.
Lebensmittelmultis gefördert wurde.
Das war das Erfolgsrezept solcher Länder wie beispiels-
Millionen von Menschen wurden von ihrem Land ver-
weise Südkorea. Heute hat sich dieses Produktionsmodell
trieben, der Boden ausgelaugt und versalzen, die Wasser-
auf den ganzen Raum der eingangs aufgeführten Billiglohn-
vorräte aufgebraucht und die Artenvielfalt vernichtet. Viele
länder ausgedehnt.
Kleinbauern verloren ihre Existenzgrundlage und fanden
Die Konzerne waren vor allem an einer Senkung ihrer
auch keine Arbeit in den Städten. Die »Grüne Revolution«,
Lohnkosten interessiert. 1987 waren die durchschnittlichen
die mit der Versprechung propagiert wurde, den Hunger zu
Lohnkosten pro Stunde im herstellenden Gewerbe in ver-
beseitigen, entpuppte sich als permanente Krise, als Gewalt
schiedenen Ländern wie folgt:9
gegen die Natur und die Menschen.11
• Mexiko $ 0,97 Den verarmten und verelendeten Menschen, die in die
• Brasilien $ 1,10 Städte flohen, blieb nichts als die Arbeit im informellen Sek-
• Südkorea $ 1,43 tor, in dem wiederum vor allem Frauen, in Heimarbeit oder
• Japan $ 9,92 sogenannten Sweatshops, für einen Hungerlohn Waren für
• Schweden $ 10,57 den internationalen Markt herstellten: Handarbeiten, Krims-
• USA $ 10,82 krams, Lebensmittelkonserven, Kleidung. Viele Frauen wa-
• Deutschland $ 13,16 ren gezwungen, sich zu prostituieren, um zu überleben.12
Die deutschen Arbeiter waren bisher die teuersten der Für die meisten Länder der »Dritten Welt«, die sich auf
Welt. Das hat sich auch bis heute nicht geändert. Nach einer die Strategie der exportorientierten und kreditgesteuerten
Studie von Woodall waren 1994 die durchschnittlichen Industrialisierung/Modernisierung eingelassen hatten, en-
Lohnkosten pro Stunde in:10 dete dies mit einer Dauerkrise, mit Verschuldung und dem
Diktat des Internationalen Währungsfonds (IWF) und sei-
• Deutschland $ 25,00 nen Strukturanpassungsprogrammen.
• USA $ 16,00
76 Maria Mies Die Krise als Chance 77

Globalisierung ohne »menschliches Gesicht« der Telekommunikation. Die Hälfte der MNKs befindet
Die heutige Phase der globalen Umstrukturierung begann sich in den USA, die andere Hälfte in Europa und Japan.
mit der Rezession um 1990. Sie ist einerseits gekennzeichnet Die »Dritte Welt« ist von dieser Konzentration von Geld
durch die Fortsetzung und Expansion der schon vorher und Macht ausgeschlossen und wird von diesem Machtblock
praktizierten Politik der exportorientierten Produktion in ausgebeutet.
Industrie, Landwirtschaft und informellem Sektor, anderer- Diese neokoloniale Struktur der globalen Ökonomie
seits gibt es aber auch quantitative und qualitative Unter- wird ideologisch und politisch von einigen globalen Institu-
schiede zu den vorangegangenen Restrukturierungsphasen. tionen wie der Weltbank, dem IWF und seit 1993 vom Ge-
Die Verlagerung der Produktionsstätten in Billiglohnländer neral Agreement on Trade and Tariffs (GATT) – heute der
bezieht sich heute nicht nur auf die »Dritte Welt«, sondern WTO (World Trade Organisation) – aufrechterhalten. Die
auch auf die deindustrialisierten Länder des Ostens und auf jetzige Phase der Umstrukturierung der Weltwirtschaft wird
China. Während die erste Phase der Verlagerung sich vor al- vor allem von diesen Institutionen bestimmt. Darüber hin-
lem in den arbeitsintensiven Bereichen der Leichtindustrie aus sind es die großen neuen Wirtschaftsblöcke wie EU,
vollzog, wird heute auch die Schwerindustrie in den Berei- NAFTA und APEC, die die günstigen Rahmenbedingungen
chen Kohle-, Stahl-, Autoindustrie und Schiffsbau ausgela- für die MNKs herstellen. Diese Blöcke werden mit dem
gert. Schlagwort der Beseitigung der Arbeitslosigkeit propagiert,
Heute sind vor allem Männer in Europa und in den USA und viele Menschen fallen auf diese Propaganda herein, wie
von Firmenschließungen betroffen. Es sind außerdem nicht z.B. Schweden und Österreich.
nur die hohen Lohnkosten, die die MNKs in die Billiglohn- Vor allem das GATT ist erfunden worden, um die Frei-
länder treiben, sondern vor allem auch deren laxe Umwelt- handelsphilosophie des 19. Jahrhunderts noch einmal aufle-
gesetze. Darum sprechen die Gewerkschaften in den nördli- ben zu lassen. Das heißt zunächst, daß alle Handelsschran-
chen Industrieländern von einem »social and environmental ken, die die Staaten errichtet hatten (Zölle, Einfuhrbe-
dumping«. Wie schon in der ersten Phase wird der heutige schränkungen etc.), um bestimmte Sektoren ihrer Wirt-
Prozeß der Umstrukturierung der Weltwirtschaft zu immer schaft zu schützen, beseitigt werden, daß sie ihre Märkte für
mehr exportorientierter Warenproduktion, auch im soge- den Import der Güter aus der ganzen Welt öffnen müssen
nannten Süden und Osten, von den großen MNKs vorange- und daß die Multis überall ihre Standorte einnehmen kön-
trieben. Immer mehr Kapital konzentriert sich in ihren nen. Während sie sich in der ersten Phase noch auf Enkla-
Händen. Die 15 großen MNKs, einschließlich General Mo- ven beschränken mußten, gehört ihnen praktisch nun die
tors, Exxon, IBM, Royal Dutch Shell, haben ein Bruttoein- ganze Welt. Der letzte Überrest von nationaler Souveränität
kommen, das größer ist als das BSP von über 120 Ländern der einzelnen Staaten ist ans Ende gekommen.
zusammen, einschließlich aller Drittweltländer.13 Die Die Freihandelspolitik geht davon aus, daß
MNKs kontrollieren den Weltmarkt für Konsumgüter wie 1. der Handel die Grundlage des Lebens ist,
Computer, Autos, Haushaltgeräte, Textilien usw., aber auch 2. alle Handelspartner gleich sind,
denjenigen für Nahrungsmittel. Cargill, einer der größten 3. durch das Prinzip der sog. »comparative advantages«
MNKs, besitzt 60 Prozent des Welthandels von Getreide. alle am meisten von diesem »freien« Handel profitieren
Eine ähnliche Kapitalkonzentration gibt es auch im Bereich würden.
78 Maria Mies Die Krise als Chance 79

In der Praxis werden jedoch die schwächeren Partner, stört ist wie im entwickelten Norden. Das heißt, daß z.B. die
z.B. die Länder der »Dritten Welt«, gezwungen, Bestim- Bauern in Indien ihres traditionellen Wissens über die
mungen zu akzeptieren, die nicht nur ihre Souveränität ero- Pflanzenzucht durch die Patentinhaber beraubt und von
dieren, sondern auch ihre Landwirtschaft den Multis öffnen multinationalen Saatgutfirmen abhängig gemacht werden.
und ihre Politik der Selbstversorgung, vor allem im Nah- Jeder Bauer, der so patentiertes Saatgut benutzt und weiter-
rungsmittelsektor, aufzugeben und zuzulassen, daß toxischer verwendet, muß dann Lizenzgebühren an die Patentinhaber
Industrieabfall aus dem Norden in ihrem Territorium »ent- zahlen. Was also für Tausende von Jahren kollektives kultu-
sorgt« wird und daß »schmutzige« Industrien aus dem Nor- relles Eigentum des Volkes war, vor allem von Frauen, näm-
den in ihre Länder verlagert werden. Außerdem müssen sie lich das Wissen um die Regenerierung und Züchtung von
zulassen, daß Banken und Versicherungen des Nordens sich Pflanzen, wird nun wie zur Zeit des Frühkolonialismus ge-
in ihrem Territorium breitmachen. Am gefährlichsten am raubt, patentiert, privatisiert, kommerzialisiert. Die Multis
Paket des Freihandels sind jedoch die »Trade Related In- drängen darauf, daß alle Patentgesetze »harmonisiert«, d.h.
tellectual Property Rights« (TRIPs), die ausländischen Fir- dem amerikanischen Patentrecht angeglichen werden.14
men und Wissenschaftlern erlauben, die biologische Vielfalt Auch im Norden hat die Biotechnologie, die von den
und das kulturelle Erbe der Länder der »Dritten Welt« zu Politikern und vor allem von den Chemiemultis (wie
patentieren, zu monopolisieren und zu kommerzialisieren. Hoechst) als die Zukunftstechnologie progagiert wird – z.B.
Das GATT und die TRIPs sind natürlich auch tödlich als Arbeitsplatzbeschaffer –, verheerende Konsequenzen, die
für die Kleinbauern und die KonsumentInnen im Norden, allerdings erst von wenigen wahrgenommen werden. In
aber hier scheinen sich die Menschen dieser Gefahren, die Kombination mit der EU, wo jetzt eine »Novel Food«-Be-
die Liberalisierung vor allem des Agrarmarktes bedeutet, stimmung verhandelt wird, wird jetzt zentral von der Brüs-
kaum bewußt zu sein. Wen kümmert z.B. schon das Bauern- seler EU-Kommission die Tür geöffnet für alle möglichen
sterben, daß schließlich nur noch drei Prozent der Bevölke- biotechnisch oder gentechnisch manipulierten Nahrungs-
rung in der Landwirtschaft arbeiten und unsere Nahrung mittel. Da die meisten Menschen in den Industrieländern
von den Multis gentechnisch zusammengebraut wird. Das bereits total vom Kauf der Waren aus dem Supermarkt ab-
ist jedoch anders in der »Dritten Welt«, wo GATT, TRIPs hängen, werden sie praktisch zu ZwangskonsumentInnen
und SAPs (Structural Adjustment Programms) die unmittel- von Gen-Tech-Food gemacht. Sie verlieren die Freiheit zu
baren Lebensgrundlagen der Menschen zerstören. Vandana wählen, was sie essen wollen.
Shiva hat die Konsequenzen von GATT und TRIPs für die Was für den Nahrungsmittel- und Gesundheitssektor
indische Landwirtschaft, vor allem im Zusammenhang mit gilt, trifft im selben Maß für den Bereich der Reproduktion
der Biotechnik, aufgezeigt. Chemie- und Nahrungsmittel- zu. Die neuen Reproduktionstechnologien – propagiert als
multis wie Cargill, Monsanto, W. R. Grace u.a. sind in Hilfsmittel für einzelne Frauen, ein Kind zu bekommen
großem Stil in die Biotechnologie eingestiegen und versu- oder nicht zu bekommen und durch pränatale Diagnostik,
chen mit Hilfe von TRIPs und dem Patentrecht die Kon- Gentherapie an Föten, Sex-Selektion auch ein behindertes
trolle über alle Lebensformen, Pflanzen, Tiere und schließ- Kind zu verhindern.
lich die Menschen und ihre Gene zu erreichen, besonders Diese Technologien eröffnen nicht nur Tür und Tor für
im tropischen Süden, wo die Artenvielfalt noch nicht so zer- rassistische, eugenische, sexistische Selektion, sondern ver-
80 Maria Mies Die Krise als Chance 81

hindern auch das Verhalten aller Frauen zu etwas Normalem Weltwirtschaft ist die Tatsache, daß diejenigen, die für nied-
wie Schwangerschaft und Geburt. Alle diese Lebensprozesse rige Löhne in den Billiglohnländern produzieren sollen,
werden medikalisiert und damit industrialisiert15. Darüber nicht gleichzeitig die Käuferschaft für diese Produkte sein
hinaus werden Frauen weltweit zunehmend nur noch als können. Vor allem Frauen sind von dieser Entwicklung be-
Produzentinnen von biologischem Rohmaterial instrumen- troffen. Wenn sie überleben wollen, müssen sie neue/alte
talisiert, z.B. von »fötalem Material« für Forschungszwecke Wege der Subsistenz finden. Für das Kapital sind sie über-
und Organtransplantationen.16 flüssig, sowohl als ProduzentInnen wie als KonsumentIn-
Dem Zugriff der Multis auf die ganze Welt zum Zweck nen. Das ist der Grund dafür, daß sie zur Zielscheibe für die
der Kapitalakkumulation steht der Zugriff auf alles Lebendi- Bevölkerungskontrolleure geworden sind. Das ist z.B. in
ge gegenüber. Beides entspricht dem totalitären Anspruch großem Ausmaß in Afrika der Fall; von diesem Kontinent ist
dieser kapitalistischen Wirtschaftsweise, die alles, was da ist, kaum noch die Rede.
in Ware verwandeln will. Die Kairoer Bevölkerungskonferenz im September 1994
Eines der größten Probleme dieser Wirtschaftsweise ist hat die notwendige ideologische Akzeptanz geschaffen, diese
das Dilemma, daß diejenigen, die entsprechend dem Gesetz Armen, speziell die Frauen, als Hauptschuldige für Armut
der fortgesetzten ursprünglichen Akkumulation ausgebeu- und Umweltzerstörung hinzustellen. Die »überflüssigen
tet, hausfrauisiert, marginalisiert und pauperisiert werden, Menschen« sollen zum Verschwinden gebracht und dezi-
eben keine potenten KäuferInnen für all diese Waren sind, miert werden.
die global produziert werden. Die Märkte in den reichen Die jetzige Globalisierung führt aber nicht nur zur be-
Ländern expandieren nicht so sehr, wenigstens nicht mehr denkenlosen Eliminierung derer, die für den Markt uninter-
für die konventionellen Waren. Der IWF hat für diese aus- essant geworden sind, und trotz der Rhetorik über »eine
gelaugten, verschuldeten Gebiete das Disziplinierungspro- Welt« oder »one global village« zu einer weiteren Polarisie-
gramm der Strucutural Adjustment Programmes (SAPs) ge- rung zwischen reichen und armen Ländern, sondern auch zu
schaffen. Diese SAPs sollen die verschuldeten Länder wie- einer größeren Kluft zwischen Reich und Arm innerhalb
der unter das Regime des »freien Marktes« bringen, und dieser Länder, sowohl im Norden wie auch im Süden. Der
zwar durch den Abbau aller Maßnahmen, die noch an Ver- Lebensstil der Eliten im Süden hat sich mehr und mehr dem
teilungsgerechtigkeit und Keynesianismus erinnern. Alle der Eliten im Norden angeglichen.17 Diese stellen zusam-
staatlichen Subventionen für die Bauern, Frauen, für Ge- mengenommen einen riesigen Markt für Konsumgüter dar.
sundheit, Bildung, Soziales, Nahrung für Arme werden ge- In der Tat: Die Ökonomen erwarten von diesen Eliten oder
strichen. Herrschen soll der Sozialdarwinismus, »the survi- Mittelklassen in Südkorea, Thailand, Indonesien und vor al-
val of the most brutal«. Während der zweiten Periode der lem in China und Indien die notwendigen Wachstumsim-
Globalisierung konnten die Armen sich noch an der Illusion pulse für eine weitere Runde der Kapitalakkumulation. Sie
wärmen, daß ihr Staat sich in Richtung Schwedens, sollen, wie Pam Woods im »Economist« schreibt, »die rei-
Deutschlands oder anderer Wohlfahrtsstaaten entwickeln che Welt aus der Rezession der frühen neunziger Jahre zie-
würde. Diese Illusion ist nach den SAPs, kombiniert mit hen«. Nach einer Schätzung der OECD wird es in Indien,
GATT, TRIPs und den neuen Wirtschaftsblöcken endgültig China und Indonesien im Jahre 2010 700 Millionen Konsu-
vorbei. Eines der Probleme der Umstrukturierung der mentInnen für moderne Konsumgüter geben. Dieser
82 Maria Mies Die Krise als Chance 83

»nachholende Konsum« wird allerdings nicht für die Mehr- Tatsache ihrer Armut: vor allem in ihrer billigen Arbeitskraft
heit der Bevölkerung dieser Länder gelten. Diese wird wei- und ihrer größeren Toleranz gegenüber Umweltverschmut-
ter verarmen und lediglich im informellen Sektor als »haus- zung.« 18
frauisierte« ArbeiterInnen und BäuerInnen dafür sorgen,
daß die Waren für den täglichen Bedarf wie Nahrung und Was bedeutet diese Analyse für die von der
Kleidung nicht zu teuer werden. Krise Betroffenen?
Diese Polarisierung zwischen Reich und Arm wird aber 1. Das Ende der Illusion der Vollbeschäftigung im Nor-
auch im Norden zunehmen. Nicht nur, weil die Verlagerung den – im Süden gab es sie sowieso nie.
ganzer Industriebereiche in die Billiglohnländer die Arbeits- 2. Den Abbau des Sozialstaates im Norden. Im Süden
losigkeit weiter steigern und die Reallöhne senken wird, wurde er nie geschaffen.
sondern auch, weil, wie anfangs ausgeführt wurde, die Stra- 3. Der »Traum« von der Entwicklung für alle in der
tegien der Krisenbekämpfung dieselben sind wie die in der »Dritten Welt« ist zu Ende.
»Dritten Welt«, nämlich Deregulierung, Hausfrauisierung, 4. Der »freie Lohnarbeiter«, die » freie Lohnarbeiterin«
Informalisierung von Arbeitsverhältnissen, die Schaffung werden zu einer Randerscheinung, die weltweit in Konkur-
von Billiglohnsektoren à la Rexrodt inmitten der reichen renz zu den nichtfreien NichlohnarbeiterInnen stehen
Länder, in welchen hauptsächlich Frauen arbeiten, ein gra- (These Claudia von Werlhof).
dueller Abbau des Sozialstaates, die Eliminierung der Bau- 5. Das bedeutet auch das Ende einer an bloßem Selbstin-
ern und die Industrialisierung der Landwirtschaft und des teresse festgemachten internationalen Solidarität des Prole-
Lebens. tariats. Die ArbeiterInnen des Nordens stehen faktisch in ei-
Die »Drittweltisierung« der »Ersten Welt« zeigt, daß nem antagonistischen Verhältnis zu den ArbeiterInnen des
die Globalisierung der Wirtschaft die Krise für das Kapital Südens – auch des »Südens« in ihrem eigenen Land.
zeitweilig zu lösen scheint, aber daß sie keineswegs Wohl- 6. Die Hoffnung auf »nachholende Entwicklung« er-
stand für alle bringt. Denn die fortgesetzte Kapitalakkumu- weist sich für die Mehrzahl der Menschen im Süden als Illu-
lation ist nur möglich, solange es externe und interne Kolo- sion. Gleichheit für alle ist im Rahmen des kapitalistischen
nien gibt, Gebiete und Menschen, die als Nichtgleiche be- Patriarchats nicht möglich.
handelt und ausgeraubt werden können. Pam Woodall hat 7. Ökologisch gesehen wäre eine »Gleichheit« der Kon-
dies unmißverständlich ausgedrückt, daß der komparative summuster von Nord und Süd außerdem eine Katastrophe.
Kostenvorteil der armen Länder eben ihre billigen Arbeits- Das Industriemodell ist nicht verallgemeinerbar für alle.
kräfte und ihre laxe Umweltgesetzgebung sind und daß die 8. Die weitere kapitalistische Industrialisierung ist auch
Wirtschaft kein Interesse an Gleichheit hat: nicht wünschenswert für den Norden (siehe die verschiede-
»Die Vorteile des internationalen Handels bestehen dar- nen Dimensionen der Krise). Dieses Modell zerstört nicht
in, daß man den Ländern (des Südens, M.M.) erlaubt, ihre nur die Grundlagen des Lebens auf diesem Planeten, son-
komparativen Kostenvorteile auszubeuten, nicht aber darin, dern auch die Grundlage der Demokratie und ihrer Werte:
daß man verlangt, daß sie (den reichen Ländern, M.M.) Selbstbestimmung, Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Das be-
gleich werden. Und vieles der komparativen Vorteile der trifft auch die sogenannten Gewinner dieses Systems.
Dritten Welt liegt, in der einen oder anderen Weise, in der 9. Es geht ums Überleben. Das Kapital kann kein Leben
84 Maria Mies Die Krise als Chance 85

schaffen, es kann nur Leben in Geld und Kapital verwan- »Das kann doch nicht alles gewesen sein – das bißchen
deln. Es ist heute notwendigerweise totalitär. Die von der Auto und Führerschein, da muß doch noch Leben ins Le-
Krise am meisten Betroffenen müssen ihr Überleben selbst ben« (Biermann).
organisieren, es gibt für sie kein »soziales Netz« (mehr). Da- 5. Die Erfahrung und die Erkenntnis des gigantischen
bei sind sie quasi gezwungen, sich wieder auf die eigentli- Betrugs und der Beraubung (der Natur, der Menschen, des
chen Grundlagen des Lebens zu beziehen: auf die unmittel- Lebens, der Zukunft), die mit der Globalisierung der kapita-
bare Subsistenzproduktion. listischen Wirtschaft einhergehen, ist eine Chance, wieder
lokale und regionale Wirtschaftsräume und -strukturen auf-
Warum sind diese Erkenntnisse »Chancen«? zubauen. Denn nur innerhalb solcher »Wirtschaften von
1. Sie zerstören Illusionen und falsche Analysen über das, unten« kann sichergestellt werden, daß die Natur nicht ver-
was Kapitalismus oder Marktwirtschaft genannt wird, nutzt, die Versorgung von allen mit dem Lebensnotwendi-
einschließlich des Glaubens an die »Produktivitätsfort- gen gewährleistet, die Menschen nicht ausgebeutet und der
schritte«, die angeblich alle Probleme lösen sollen. Militarismus eingedämmt wird. Erst innerhalb solcher über-
2. Sie führen zurück zu der Erkenntnis, daß wir die Defi- schaubarer Öko-Regionen ist auch Gleichheit wieder mög-
nition des »guten Lebens« nicht den Multis, dem Kapital lich, allerdings nicht auf dem Niveau des Luxus- und Ver-
und der Warenproduktion überlassen dürfen, daß das »gute schwendungskonsums, sondern auf dem der wirklichen
Leben« vielmehr in der Interaktion miteinander und mit der Grundbedürfnisbefriedigung. Innerhalb solcher begrenzter
Natur besteht. Kein Glück, keine Freiheit wird durch die Lokal- und Regionalökonomien werden die Menschen nicht
Überwindung des »Reiches der Notwendigkeit« erreicht, nur sorgfältig und respektvoll mit der Natur, sondern auch
wie die Aufklärer und auch Marx glaubten, sondern nur in- miteinander umgehen müssen, wenn sie überleben wollen.
nerhalb dieses Reiches. Das nennen wir die Subsistenzper- 6. Das heißt auch, daß diese Situation die Chance in sich
spektive. birgt, daß die uralten Ausbeutungs- und Unterdrückungs-
3. Diese Perspektive, die die Akkumulationslogik über- verhältnisse – die zwischen Männern und Frauen, zwischen
schreitet, wurde zuerst von denen entdeckt und praktiziert, Stadt und Land, zwischen den Klassen, zwischen Kopf- und
die bisher immer nur die Kosten für das Fortschritts- und Handarbeit – aufgehoben werden, zumindest, daß um ihre
Akkumulationsmodell tragen mußten, vor allem Frauen und Aufhebung gerungen werden muß.
anderen Menschen in der »Dritten Welt«. Sie wissen, daß Keine solche »Wirtschaft von unten« kann sich auf Dau-
sie nie zur Gewinnerseite gehören werden, und sie wollen er patriarchale, feudale oder kapitalistische Verhältnisse er-
das auch nicht. Sie wollen die Kontrolle über ihre Subsi- lauben, denn – und das ist neu – inzwischen ist das Bewußt-
stenzbasis behalten. sein über diese Ausbeutungsformen ein anderes als vor dem
4. Auch in den reichen Ländern wächst die Erkenntnis, Kapitalismus.
daß der real existierende Kapitalismus nicht die beste aller Allerdings sind dies nur CHANCEN. Ob sie genutzt wer-
Welten ist, nicht nur, weil die Herrschenden nicht mehr den, wird von uns allen abhängen, die diese Epoche durchle-
weiterwissen, sondern weil sich die Lebensqualität von Tag ben. Es gibt keine Garantie, daß sie genutzt werden, denn es
zu Tag verschlechtert. Innerhalb der Warenfülle des globa- gibt keinen Automatismus der Geschichte, der die Dinge
len Supermarkts leiden wir Mangel am Lebensnotwendigen. notwendigerweise in eine bestimmte Richtung bewegt. Wir
86 Maria Mies Die Krise als Chance 87

selbst bewegen uns und damit die Dinge, oder wir bewegen 2. Die Neem-Kampagne und der Saatgut-Krieg in Indien
uns nicht. Alles ist offen. In Südindien entstand 1992 eine breite Bauernopposition,
die etwa eine Million Menschen umfaßt, die gegen die Frei-
... und sie hat schon angefangen
handelspolitik des GATT, die Durchsetzung der Exportori-
nämlich die Besinnung auf die Subsistenzperspektive und entierung und vor allem der »Trade Related Intellectual
die Selbstorganisation. Die folgenden Beispiele sollen zei- Property Rights« (TRIPs) kämpft. Durch die GATT und
gen, daß die Kritik am globalen Supermarkt und die Suche TRIPs wird nicht nur der indische Agrarmarkt – und vor al-
nach Alternativen keineswegs nur eine Sache von linken lem der Saatgutsektor – für die großen Agrar- und Saatgut-
und/oder feministischen AkademikerInnen ist, sondern von Multis geöffnet, sondern mehr noch: Im Zuge der Expansi-
verschiedenen Gruppen, Initiativen, Massenbewegungen on der Biotechnologie wird es nun möglich, Patente auf
geteilt wird. Pflanzen, Pflanzen- und Tiergene, Pflanzeneigenschaften
und auf Saatgut zu erteilen und so das Wissen der Bauern,
1. Die Frauen von Rio 19
das seit Jahrtausenden existiert, zu privatisieren, zu monopo-
1992 organisierten Frauen in Rio einen Workshop im Zu- lisieren und zu kommerzialisieren. Bekanntestes Beispiel
sammenhang der UNCED, auf dem sie das kapitalistisch- dieser neuen Bio-Piraterie ist das Patent, das dem Amerika-
patriarchale Weltwirtschaftssystem und sein Entwicklungs- ner Larson und der Firma W. R. Grace auf Neem erteilt
modell zurückwiesen. Die Früchte dieser Entwicklung seien wurde. Dieser Baum ist seit uralter Zeit wegen seiner schäd-
Armut, Hunger, Entwicklungsflüchtlinge, Gewalt, Müllber- lingsbekämpfenden Eigenschaften – in Blättern, Zweigen,
ge, zerstörte Natur. Sie forderten: »Ein Basta dem Wirt- Samen usw. – genutzt worden. Nun wird er industriell ver-
schaftsmodell!« wertet, und das Wissen um seine Wirkung gehört nun den
Statt weiterer »Entwicklung« verlangten sie eine echte Patentinhabern. Gegen diesen Raub indigenen Wissens, das
Landreform, ein Durchbrechen der Isolation von verschie- Allgemeingut war, und gegen einen ähnlichen Versuch, alles
denen Frauen zum Beispiel in der Stadt und auf dem Land Saatgut in die Hand multinationaler Konzerne, z.B. von
und den Aufbau direkter Tauschbeziehungen zwischen ver- Cargill, zu überführen, wehrt sich die Karnataka Rajya Ryo-
schiedenen ProduzentInnen statt der Produktion für einen ta Sangha (KRRS) und vergleicht Cargill Seeds (India) mit
anonymen Weltmarkt. Sie stellten fest, daß sie das meiste, der alten kolonialen East India Company. Die Bewegung
was sie brauchten, bereits selbst herstellten. Warum diese fordert, daß Cargill und andere Multis das Land verlassen,
Dinge exportieren? das Recht, ihr Saatgut selbst herzustellen und zu verkaufen,
»Es lebe die Fülle« war einer ihrer Slogans, und sie das Recht auf Selbstversorgung des Landes, bessere Preise
schlugen vor, daß die Gewerkschaften dabei mitmachten, für Agrarprodukte und eine wirksame Landreform.
Verbindungen zwischen den Kleinbäuerinnen, Gummizap- Die Bauern haben sich verpflichtet, hauptsächlich für
ferinnen, Fischerinnen, Kokosnuß-Sammlerinnen, Klein- den indischen Markt und nicht für den Weltmarkt zu produ-
produzentinnen in den Städten – die alle auf diesem Work- zieren.
shop zusammen waren – herzustellen und so eine wirkliche
»sustainable economy« zu schaffen. 3. Der Seikatsu-Club in Japan 20
Die indische Bauernbewegung gegen GATT, TRIPs und
88 Maria Mies Die Krise als Chance 89

Freihandel wurde u.a. unterstützt von dem Seikatsu-Club in Die Konsumenten weigern sich einfach, ausländischen
Japan, der ebenfalls für Selbstversorgung, Self-Reliance und Reis zu kaufen. Sie bestehen auf Nahrungssicherheit. 1989
Nahrungssicherheit kämpft. Dieser Seikatsu-Club stellt eine hatten diese Kollektive ungefähr eine Viertelmillion Mit-
Erzeuger-Verbraucher-Kooperative dar, die u.a. nach der glieder.
Minamata-Katastrophe – der Verseuchung von Fischen
durch Quecksilber – und durch eine Milchgenossenschaft 4. Deutschland: Die SSK (Sozialistische Selbsthilfe Köln)21
entstand. Sie war vor allem von Hausfrauen gegründet wor- Diese Bewegung entstand während der Studentenbewe-
den, die sicher sein wollten, daß sie wußten, was sie ihren gung. Sie hatte ursprünglich Kommunen für entlaufene Ju-
Familien als Nahrung auftischten. Je acht Haushalte taten gendliche und Psychiatriepatienten aufgebaut. Zu ihrem
sich zu einem Han zusammen, der den Kontakt zu den Bau- Konzept gehörte es, kein Geld vom Staat zu nehmen, son-
ern direkt organisierte. Dem Seikatsu-Club geht es nicht dern von eigener Gelegenheitsarbeit zu leben.
nur um angemessene Preise, sondern vor allem um Nah- Nach Tschernobyl konzentrierten sich die Gruppen stär-
rungssicherheit, die Veränderung des Konsumverhaltens, ker auf die Ökologiefrage und entwickelten ein neues Behäl-
um eine andere Beziehung zwischen Produzenten und Kon- terkompostierungsverfahren. Es gelang einigen der Grup-
sumenten und nicht zuletzt um ein Aufbrechen der Kapital- pen, Verträge für die Kompostierung von Hausmüll mit
logik dadurch, daß die Bauern und andere Produzenten nur Kommunen im Bergischen Land abzuschließen. Danach er-
das und nur so viel produzieren, wie gebraucht wird. Es gibt warben sie Land und begannen eine neue Subsistenzland-
also keine Überproduktion für einen anonymen Markt. wirtschaft mit dem Ziel der Selbstversorgung. Dieses Ziel
Weil der Seikatsu-Club ursprünglich von Hausfrauen hat die Gruppe weitgehend erreicht. Sie hat aber diesen
gegründet wurde, ist es logisch, daß die Frage der Hausar- Kampf um die Subsistenz und den Müll stets als politischen
beit thematisiert wurde. Diese Diskussion führte dazu, daß Kampf verstanden und verlangt heute beispielsweise, daß die
ein anderer Arbeitsbegriff durchgesetzt wurde als der im Ka- Verträge mit dem größten Müllkonzern der Region aufge-
pitalismus übliche, der sich nur auf Lohnarbeit bezieht. Ne- kündigt werden und aller Haushaltsabfall nach ihrer Metho-
ben den Hans wurden »Workers’ collectives« gegründet, in de kompostiert wird. Eine Frau aus der SSK ist inzwischen
denen alle notwendigen anfallenden bezahlten und unbe- im Stadtrat Berg-Neustadt.
zahlten Arbeiten gleichmäßig verteilt wurden. Zu diesen Ar- Ähnlich wie die SSK gibt es zahlreiche Kommunen, die
beiten gehörten neben der eigentlichen Hausarbeit auch die sich in der einen oder anderen Weise an einer Subsistenz-
Pflege von Alten, Kranken und die Betreuung von Kindern. perspektive als Strategie der Überwindung der Akkumulati-
Inzwischen sind die Hans und »Workers’ collectives« zu onslogik orientieren und dabei sowohl ökologische, kom-
größeren Einheiten zusammengeschlossen, die in Gemein- munitäre und feministische Ziele verfolgen.
deräten, in Provinz- und Landesparlamenten vertreten sind.
Der Seikatsu-Club, der seine Strategie als antikapitalistisch
versteht, hat eine Politisierung der Konsumsphäre erreicht,
die u.a. dazu geführt hat, daß sich Japan bis heute nur halb-
herzig dem Druck der USA gebeugt hat, amerikanischen
und thailändischen Reis zu importieren.
90 Maria Mies Die Krise als Chance 91

Diskussion Swissair ihre Abrechnung in Indien machen läßt und da-


durch gute Arbeitsplätze schafft?
1. Wenn ich dich richtig verstanden habe, sind es also kleine
Konsumenten – respektive Basisorganisationen, welche sol- M.M.: Die Auslagerung von Arbeitsplätzen folgt der Lo-
che Produzentinnen-Konsumentinnen-Kooperativen aufge- gik der Kapitalakkumulation. Darum wird auch eine Sozial-
baut haben, wie sie von dir beschrieben wurden? und Umweltklausel der WTO nicht durchgesetzt werden,
sollte sie überhaupt kommen. Aber die Solidarität der Arbei-
M.M.: In Indien sind es immerhin mindestens eine Mil- ter wird dabei zerstört; Arbeiter werden gegen Arbeiter ge-
lion Menschen, welche die Produktionsweise der Subsi- setzt, die dadurch in zwei antagonistische Lager gespalten
stenzwirtschaft verteidigen. Das würde ich nicht als kleine werden.
Gruppe bezeichnen. Wenn die einen Arbeitsplätze haben, haben die anderen
In Europa ist eine Mehrheit der Leute an ökologisch keine – mal so platt ausgedrückt. Am meisten Sturm gelau-
sauberen Nahrungsmitteln interessiert; wie diese aber pro- fen sind die französischen Gewerkschaften gegen diese neue
duziert werden, interessiert nicht viele. Eine Beteiligung am internationale Arbeitsteilung. Die Folge dieser Entwicklung
Produktionsprozeß wie beispielsweise bei Ernten – wie es ist, daß die traditionelle Gewerkschaftspolitik, die sich nur
die Seikatsu-Clubs in Japan tun – wäre bei uns zur Zeit un- auf die Lohnarbeiter im eigenen Land bezog, nicht mehr
denkbar. In Japan haben sich die Leute auch mit Erfolg ge- adäquat ist, um dieser Globalisierungsstrategie zu begegnen.
gen einen verstärkten Nahrungsmittelimport, vor allem aus
den USA, gewehrt und z.B. darauf gepocht, daß der Export 3. Dieser Antagonismus zwischen Arbeiterschaft in der
der Computer und Autos zugunsten der Nahrungsmittelsi- »Dritten Welt« und der in den Industrieländern besteht
cherheit für das eigene Land gedrosselt wird. aber schon seit langem.
Das sollte man einmal im »Industriestandort Deutsch-
land« fordern – das wäre die reinste Blasphemie! Außerdem M.M.: Bisher wurden die Ereignisse in den Kolonien je-
ist es zunächst nicht eine Frage der Zahl, ob in der Krise, die doch aus der gewerkschaftlichen Diskussion völlig ausge-
das Kapital schafft, eine Chance gesehen wird. Es kommt blendet. Die Gewerkschaften in England und Japan waren
vielmehr darauf an, ob in diesen Bewegungen und Initiati- sogar gegen die Entkolonialisierung. Sie fürchteten, daß die
ven die Grundstruktur des Kapitalismus ansatzweise über- Unabhängigkeit Indiens oder Koreas ihre Situation ver-
schritten wird. schlechtern würde. Die Frage einer materiellen Basis für die
internationale Solidarität ist bis dahin in der Linken generell
2. Fortschrittliche Kreise wie das »Third-World-Network« vernachlässigt worden und sollte endlich in die politische
meinen, daß der Anteil der in Billiglohnländern ausgelager- Auseinandersetzung miteinbezogen werden.
ten Arbeitsplätze nur etwa ein Prozent aller Arbeitsplätze
ausmacht. Zudem fordern die USA und Frankreich als Mit- 4. Welche Chancen haben solche Formen der Selbstorgani-
gliedländer der World Trade Organisation eine Sozialklau- sation wie die der brasilianischen Frauen oder der Bauern
sel, welche spezielle Schutzbestimmungen für solche ausge- und Bäuerinnen in Südindien? Werden sie nicht nur so lan-
lagerten Arbeitsplätze enthalten soll. Nun die provokative ge geduldet, wie sie keinen ernsthaften Störfaktor für die In-
Frage: Was ist daran eigentlich so schlimm, wenn z. B. teressen der Multis darstellen, um sie andernfalls problemlos
92 Maria Mies Die Krise als Chance 93

zu eliminieren? Ich sehe keinen Ausweg aus diesem Wirt- diese – per Geld – ihre Existenzgrundlage sichern, die sie
schaftssystem. andererseits doch selbst schaffen.
M.M.: Ich erzähle diese »Erfolgsstories«, weil ich an die
5. Ist die Forderung nach einer Umverteilung von bezahlter
Möglichkeit einer Veränderung glaube. Die Frauenbewe-
und unbezahlter Arbeit nicht nur eine seltsame Illusion von
gung hat einiges erkämpft, wie spezifische Frauenräume, um
einer Existenzgrundlage?
nur ein Beispiel zu nennen. Innerhalb der Kooperativen in
Japan wurde die Hausarbeit in die öffentliche Diskussion der M.M.: So wie ich es sehe, wird das Geld auch hier sicher
Arbeitsverteilung miteinbezogen. Die Bauernbewegung in nicht Existenzgrundlage bleiben. Alles kann nicht bezahlt
Südindien stellt durchaus einen ernst zu nehmenden Stör- werden, auch vom Staat nicht. Außerdem wäre zu klären, was
faktor für die Multis dar. Die Karnataka Rajya Ryota Sangha wir unter Existenzgrundlage verstehen. Das ist, darüber ist
(KRRS) hat das Büro des Saatgut- und Lebensmittelmultis man sich einig, die Befriedigung der Grundbedürfnisse nach
Cargill in Bangalore gestürmt, die Papiere auf die Straße ge- Nahrung, Kleidung, Wohnung, Schutz, Wissen, Anerken-
worfen und verbrannt. Sie fordert, daß Cargill und andere nung, Liebe usw. (vgl. Mies/Shiva 1993). Diese sind bei allen
Multis Indien verlassen, weil sie, wie die alte East India Gesellschaften und zu allen Zeiten gleich. Sie werden durch
Company der Engländer, Indien wie eine Neo-Kolonie be- menschliche Arbeit in Kooperation mit der Natur und den
handeln. Die indische Regierung kann nichts gegen eine so anderen Menschen befriedigt. Im Kapitalismus werden sie
große Bauernbewegung unternehmen, selbst, nachdem sie aber zunehmend, jedenfalls in den Metropolen, durch die
den GATT-Vertrag unterschrieben hat und die Freihandels- Produktion und den Konsum von Waren befriedigt. Und
politik unterstützt. Immerhin hat u.a. diese Bewegung gegen dazu brauchen die Menschen Geld. Das Geld ist daher hier –
die GATT und die Wirtschaftsliberalisierung in Indien im nicht überall in der Welt – zur Existenzgrundlage geworden
letzten Dezember zu einer Niederlage der Kongreßpartei in – wie bekannt, auf der Basis von Ausbeutung und Raub.
den zwei indischen Staaten Karnataka und Andhara Pradesh Darum wird auch die Forderung »Lohn für Hausarbeit«
beigetragen, und die Regierung von Narasimha Rao muß nicht erfüllt werden. Als Alternative bleibt dann meines Er-
heute um ihr Überleben fürchten. achtens nur eine andere geschlechtliche Arbeitsverteilung,
Ich habe noch keine weiteren Rückmeldungen über die nämlich die, daß die unbezahlte und unbezahlbare, aber ge-
Selbstorganisation der armen Frauen in Brasilien bekom- sellschaftlich notwendige Arbeit (wie z.B. Kinder versorgen,
men. Aber ich finde es bemerkenswert, daß die von der Kri- Alte und Kranke pflegen, ökologische Aufräumarbeit tun
se am meisten Betroffenen eben keine Hoffnungen mehr in usw.) von Männern genauso getan wird wie von Frauen.
die Fortsetzung dieses Weltwirtschaftssystems investieren, Wenn eine solche Umverteilung nicht erfolgt, die Frau-
sondern wieder unmittelbar nach den tatsächlichen Grund- en hier aber die Bezahlung aller ihrer Arbeit fordern, ein-
lagen ihrer und unserer Existenz fragen und anfangen, diese schließlich der Hausarbeit, und auf dem gleichen Wohl-
selbst zu organisieren. standsniveau bleiben wollen, dann geht das nur, wenn die
Bei uns sind die von der Krise Betroffenen, z. B. die Er- Natur und die »Dritte Welt« weiter ausgebeutet und kolo-
werbslosen, noch meilenweit von einer solchen Erkenntnis nisiert werden.
entfernt. Sie fordern immer noch von Kapital und Staat, daß
94 Maria Mies Die Krise als Chance 95

6. Als Frauen werden wir, auch hier in Mitteleuropa, am Erwerbsarbeit zum Großteil nicht mehr zu einem bezahlten
stärksten durch das Weltwirtschaftssystem ausgebeutet. Ich Job gekommen, trotz Weiterbildungsangeboten. Das alles ist
finde es problematisch, wenn wiederum wir es sein sollen, ein Bluff, klingt ganz schön, funktioniert aber nicht.
welche die Arbeit leisten müssen, »aus dem Kapital auszu- Es kann auch nicht das Ziel sein, dem Kapital und neue-
steigen«. Zudem kommt das dem Interesse der Unterneh- sten technologischen Entwicklungen dauernd hinterherzu-
mer entgegen, wenn sich Leute selber von der bezahlten Ar- rennen und uns permanent an die neuesten Erfindungen an-
beit ausschließen. zupassen. Wir kommen gar nicht dazu, die Produktion von
dem, was wir brauchen, selber zu bestimmen. In einem
M.M.: Frauen sind bereits jetzt mehrheitlich – typischer-
Weltmarkt, in dem die Produkte von dort geholt werden, wo
weise – in ungeschützten Lohnverhältnissen und werden es
sie am billigsten hergestellt werden, und dort verkauft wer-
weiterhin auch bleiben. Honorarverträge, ein bißchen Tip-
den, wo am meisten Geld ist, entsteht eben der universale
pen hier, ein bißchen Heimarbeit da: Das ist bereits der Bil-
Supermarkt mit den totalen KonsumentInnnen. Dies er-
liglohnsektor. Die duale Wirtschaftsform, formeller und in-
zeugt unter anderem die Perspektivelosigkeit bei den Ju-
formeller Sektor, mit vielen Beschäftigen in prekären Ar-
gendlichen – es ist ja alles schon vorhanden, sie brauchen
beitsverhältnissen wird bestehen bleiben.
nur Geld zu haben. Aber es wird nie genug Geld für alle da
Und es ist richtig, daß das im Interesse der Unternehmer
sein, um das zu kaufen, was weltweit für den globalen Super-
ist. Wenn wir »aus dem Kapital aussteigen« – und zwar
markt produziert wird. Da werden auch die Umgeschulten,
Frauen und Männer (s.o.) –, dann bedeutet das allerdings
die sich jedem neuen Technologietrend anpassen müssen, zu
mehr als nur in der Dualwirtschaft zu funktionieren. Es be-
wenig Geld haben. Außerdem sind Kapital und Technik
deutet z.B. nicht nur, wieder mehr Selbstversorgung und
dann die einzigen Subjekte der Geschichte, und wir Men-
Selbstorganisation (Subsistenz) zu praktizieren, sondern
schen, auch wir Frauen, reagieren nur auf sie.
auch dadurch dem Kapital einen Markt zu entziehen. Es
Es ist unser Recht, etwas Vernünftiges und Sinnvolles
geht auch nicht um einen moralischen Aufruf an Frauen,
mit unseren Körpern und unserem Intellekt anzufangen und
wieder einmal die Drecksarbeit bei der gesellschaftlichen
nicht nur auf diese Verwertungszwänge des Kapitals zu rea-
Umgestaltung zu tun, sondern es geht darum zu erkennen,
gieren. Aber dazu müßten wir eben das ganze System um-
daß das, was wir ja sowieso schon tun, nämlich das Leben
krempeln.
produzieren und erhalten, einen höheren Wert als die Pro-
duktion von Mehrwert hat.
Fußnoten:
7. Es heißt, die Erwerbsbiographien der Geschlechter sollen 1 Hickel, Rudolf, Priewe, Jan: »Der gespaltene Arbeitsmarkt der Zwei-
einander »angeglichen« werden, d.h. auch Männer weisen drittelgesellschaft«, in: Frankfurter Rundschau, 18. August 1994.
zunehmend unterbrochene Erwerbsbiographien – vor allem 2 ibidem
wegen Weiterbildung und nicht wegen Familienarbeit – auf. 3 Wirtschaftsminister Rexrodt in: Frankfurter Rundschau, vom 29. No-
Liegt hier eine Chance für Frauen auf dem Erwerbsmarkt? vember 1993.
4 Bennhold-Thomsen, Veronika, Mies, Maria, v. Werlhof, Claudia:
M.M.: In Deutschland, vor allem in Ostdeutschland, sind »Frauen, die letzte Kolonie«, heute bei: Rotpunkt, Zürich.
die Frauen nach einer familienbedingten Unterbrechung der 5 v. Werlhof, Claudia 1983/1988: 129.
96 Maria Mies 97

6 Wallerstein, Immanuel: »The Modern World System: Capitalist Karl Heinz Roth
Agriculture and the Origin of the European World Economy in the
Sixteenth Century«, Academic Press, New York 1974. Auf dem Glatteis des neuen Zeitalters
7 Fröbel, F., Kreye, J. & O. Heinrichs: »The New International Divi- Die Krise, das Proletariat und die Linke
sion of Labour«, Cambridge University Press, Cambridge 1980.
8 Grossmann, Rachael: »Women’s Place in the Integrated Circuit«,
in: South East Asian Chronicle no. 66, 1979.
9 Labour Research Review, zit. in Kamel, Rachael: »The Global Fac-
tory«, published by the American Friends Service Committee, 1990.
10 Woodall, Pam: »The Glolobal Economy«. The Economist, 1. Okto-
ber 1994.
11 Shiva, Vandana: »The Violence of the Green Revolution«, Zed
Books, London 1991.
12 Mies, Maria: »Patriarchat und Kapital. Frauen in der Internationa-
1. Zur Theorie des gegenwärtigen Zeitalters
len Arbeitsteilung«, Rotpunktverlag, Zürich 1992. Eine Gegenwart muß immer von der Vergangenheit abge-
v. Werlhof, Claudia: »Was haben die Hühner mit dem Dollar zu trennt werden. Die vergangene Epoche war die Epoche von
tun?«, Frauenoffensive, München 1993.
Ford und Keynes. Eine Epoche, in der die Beziehung zwi-
13 Lang, Tim & Colin Hines: »The New Protectionism: Protecting
schen Massenproduktion, Massenarbeit und Einkommens-
the future against free trade«, Earthscan, London 1994.
14 Shiva, Vandana: »Monocultures of the Mind: Biodiversity, Biotech-
garantie mit dem Anspruch auf Vollbeschäftigung gekoppelt
nology and the Third World«, Third World Network, Penang, 1993. war. Eine Epoche, in der es einen konstanten Ausgleich der
15 Mies, Maria: »Wider die Industrialisierung des Lebens«, Centaurus inneren Instabilität der Kapitalakkumulation durch staatli-
Verlag, Pfaffenweiler 1990. che Nachfragemobilisierung gegeben hat. Diese Epoche
16 Vgl. das Symposium über Neurotransplantation zur Therapie der wurde Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre in die
Parkinsonschen Krankheit, 28./29. Januar 1995 in Hannover. Bei Krise gestürzt. Einmal von unten, durch die Sozialrevolte,
der Neurotransplantation wird Patienten fötales Material von bis zu
die damals internationale Dimensionen angenommen hatte.
zehn Embryonen ins Gehirn gespritzt.
17 Mies, Maria & Vandana Shiva: »Ecofeminism«, ZED Books, Lon-
Und danach, 1971–73 – ausgehend von den USA und den
don. Kali for Women, Delhi. Spinifax, Melbourne. 1993. (Erscheint internationalen Wirtschafts- und Finanzeliten –, wurde die-
1995 im Rotpunktverlag) se Krise von oben vertieft. Die ökonomischen Folgen sind
Sklair, Leslie: »Capitalism and Development in Global Capitalism«, bekannt. Wichtig scheint mir der Hinweis, daß diese Krise –
in: Sklair, L. (ed): »Capitalism and Development«. Routledge, Lon- wie meiner Meinung nach alle Krisen – gemacht wurde, und
don 1994.
zwar von unten, und danach – im Gegenzug – von oben.
18 Fernandez-Kelly, Maria Patricia: »For we are Sold, I and my People:
Women and Industry on Mexico’s Frontier«, State University of Seit den siebziger Jahren konturiert sich nun allmählich
New York Press, Albany, NY 1983. das Ufer des gegenwärtigen Zeitalters. Es ist einmal geprägt
19 Vgl. Viezzer, Moema u.a. (Hg.): »Com Garra e Qualidade: Mulhe- durch die Internationalisierung des Krisenangriffs durch das
res em Economias Sustentávais: agricultura e extrativismo«, Rede Finanzkapital, das über neue Geld- und Bondmärkte die
Mulher, Rio de Janeiro 1992. Emanzipation der Zinssätze von den fallenden Profitraten
20 Mies & Shiva: »Ecofeminism«, a.a.O. erzwungen hat. Und es ist zweitens charakterisiert durch
21 ibidem eine »monetaristische Konterrevolution« (Milton Fried-
98 Karl Heinz Roth Auf dem Glatteis des neuen Zeitalters 99

man), die zuerst in den Volkswirtschaften der damaligen Wie sieht dieses neue Zeitalter aus der Sicht von unten
Schwellenländer begann, dann in die Metropolen USA und aus? Aus der Sicht von unten dominiert die endgültige Zer-
England übertragen wurde und zuletzt im Implosionsprozeß störung der agrarischen Subsistenzproduktion [Produktion
des osteuropäischen Staatskapitalismus geendet hat. Die zum Lebensunterhalt] in der Peripherie und Semiperipherie
Hauptcharakteristika dieser Konterrevolution sind bekannt: des Kapitalismus. Die Expropriierten werden zu Millionen in
Budgetrestriktionen, Sozialabbau, Kreditsperren gegen latente Bestandteile der industriellen Reserverarmee umge-
überakkumulierte Schlüsselsektoren, Liberalisierung des wandelt. Nur ein Bruchteil von ihnen wird im internationa-
Außenhandels, Kapitalexporte in Niedriglohngebiete, Priva- len Agrobusiness absorbiert. Der größere Teil ist zur Abwan-
tisierung des staatlichen Kapitalbudgets (Transportsektor, derung in städtische Agglomerationen gezwungen worden.
Telekommunikation usw.) und nicht zuletzt Zerschlagung Wir haben seit Mitte der Siebziger und vor allem in den
der tarifpolitisch regulierten Arbeitsmärkte, das heißt der in- achtziger Jahren in diesen Agglomerationen die Entstehung
tegrierten Arbeiterbewegung zusammen mit und nach den neuer Schwitzbudensektoren erlebt, die höflich als informel-
aufbegehrenden Fraktionen der neuen Linken. ler Sektor bezeichnet werden. Der zunehmende Stadt-Land-
Die Folgen sind seit den achtziger Jahren absehbar. Die Gegensatz in der Pauperisierung [Verarmung] wurde teilwei-
sozialstaatliche Regulation, der Klassenkompromiß, wurde se gegenläufig aufgehoben durch zirkulierende Migrations-
von der kapitalistischen Investitionspolitik entkoppelt. Ko- bewegungen. Sie stellten gleichzeitig eine Verbindung zum
stenfaktoren der Einzelunternehmen werden seither immer schrumpfenden formellen Sektor der Krisenbranchen her.
mehr auf gesamtwirtschaftliche Strukturen abgewälzt. Es Dieser allgemeine Mobilisierungsprozeß des neuen Proleta-
kam in der Folge zur Umwandlung der Sozialstaaten. Nach riats wurde in den Metropolen ergänzt durch die Einschrän-
dem Verlust ihrer Währungs-, Zins- und zunehmend auch kung der Sozialbudgets zur Absicherung proletarischer Exi-
ihrer Steuersouveränität erlebten wir ihre Umwandlung in stenzrisiken (Alter, Krankheit, Invalidität und vor allem Ar-
konkurrierende Staubecken totalisierter Kapitalmärkte. Der beitslosigkeit). Die mehr und mehr dem Hire-and-Fire-Prin-
Transportsektor und damit – in keynesscher Terminologie – zip ausgelieferte aktive Arbeiterarmee wird parzelliert, seg-
das gesamte Kapitalbudget des Staatssektors wurde Teil der mentiert, verkleinert und immer häufiger flexibel ausgewech-
inneren Kapitalakkumulation. Das Ergebnis war weltweit selt. Hinzu kommen besondere Ausgrenzungsformen, bei-
die Herausbildung einer neuen industriellen Reservearmee, spielsweise gegenüber Ausländern, denen in den Metropolen
ein Trend zur Massenverelendung bei allgemeiner Polarisie- zunehmend eine Sündenbockfunktion zugewiesen wird. Da-
rung der Gesellschaften in Arm und Reich auf der Vertei- mit soll von den eigenen Ängsten und Erfahrungen im per-
lungsebene. Wir haben also die Wiederkehr von Proletarität manenten Entsolidarisierungsprozeß abgelenkt werden.
im Rahmen eines normalisierten, quasi vorkeynesianischen Die Quantitäten dieser neuen, angebotsorientierten Ar-
Krisen- und Akkumulationszyklus zu konstatieren. Trotz al- beitsmarktstrukturen sind bekannt. 150 Millionen Men-
ler Phasenverschiebung handelt es sich dabei um eine Wie- schen befinden sich heute auf Wanderschaft innerhalb und
derkehr im Weltmaßstab. Nach der Niederlage der Sozialre- außerhalb ihrer Länder und Kontinente. 120 Millionen sind
volten und dem Untergang des Realsozialismus ist dieser offiziell arbeitslos, davon 38 Millionen in den OECD-Län-
vorkeynesianische und zugleich neue Kapitalismus zur Ta- dern. 500 Millionen – etwa 100 Millionen Familien – vege-
gesordnung übergegangen. tieren als enteignete kleinstbäuerliche und Squatterfamilien
100 Karl Heinz Roth Auf dem Glatteis des neuen Zeitalters 101

im neuen pauperistischen Sektor als Bondlabour [Leihar- cherungssucht werden von ihnen als Kernelemente einer
beit], als selbständige Arbeiter, als Saisonarbeiter und Job- neuen kulturellen Hegemonie beansprucht.
ber. In den Metropolen erleben wir den Übergang von Wel- Das zweite wesentliche Charakteristikum sehe ich im
fare zu Workfare [Welfare: Wohlfahrt]. Gleichzeitig werden Prozeß der Unternehmensrationalisierung: Vom Postfordis-
bis zu 30 Prozent der Arbeitsverhältnisse – in einigen Län- mus und Toyotismus zum Akkumulationstyp à la Hol-
dern sind es noch mehr – entgarantiert. Es entstehen Nied- lywood. Unter dem Hochzinsdiktat und der Liquiditätsprä-
riglohnsektoren. Prekäre Arbeitsverhältnisse setzen sich ferenz »lieber sparen statt investieren« wurden vielfältige
durch. Weltweit sehen sich die Proletarierinnen und Prole- Initiativen zur Wiederherstellung des produktiven Unter-
tarier mit einer neuen Qualität des Verwertungsanspruchs nehmergewinns gestartet. Zu Beginn der achtziger Jahre
konfrontiert, mit – überspitzt formuliert – einer Vollbe- wurde eine Konzeption der flexiblen Automatisierung ver-
schäftigungsstrategie auf pauperistischer Basis. Denn welt- sucht. Das computerintegrierte Manufacturing wurde pro-
weit geht nicht die Arbeit aus, sondern die Einkommen sin- klamiert. Es scheiterte an der Rigidität der Arbeiter. Mitte
ken. In den Beziehungen zwischen deregulierten Arbeits- der achtziger Jahre wurde weltweit das »3. Italien« mit sei-
märkten und Mehrwertketten kann deshalb nicht mehr zwi- nen innovativen Klein- und Mittelunternehmen und den an-
schen Ausbeutung für normale und parallele Kapitalakku- geschlossenen Subunternehmen und selbständigen Arbeite-
mulation unterschieden werden, wie dies Rosa Luxemburg rinnen und Arbeitern entdeckt. »Small is beautiful«, tönte es
noch für die Verhältnisse zu Beginn des Jahrhunderts wahr- durch die Lande, der Postfordismus assoziierte sich mit
nahm. In gewisser Weise wird heute die Eroberung der grünalternativen Denkstrukturen. Währenddessen akkumu-
nichtkapitalistischen Sphären und ihre Umwandlung in Be- lierte ein neues System der Benettonschen Netzwerkunter-
standteile des Akkumulations- und Krisenzyklus abgeschlos- nehmen. Es kam zu einer Zentralisation des Kapitals ohne
sen, und zwar als Massenerfahrung. eine Konzentration der Produktionsstrukturen.
Mir scheint es wichtig, diese Fakten, die auf den ersten In der 2. Hälfte der achtziger Jahre wandten sich dage-
Blick sehr banal wirken, doch einmal zu resümieren, weil ich gen die internationalen Konzernkonglomerate vor allem der
glaube, daß wir die internationalen Dimensionen der heuti- Autoindustrie dem sogenannten Toyotismus zu, einem japa-
gen Gesellschaftsprozesse ins Auge fassen müssen. nischen Produktionsmodell, das nach der blutigen Zerschla-
Wie sieht das neue Zeitalter aus der Sicht von oben aus? gung der japanischen Arbeiterklasse Mitte der sechziger Jah-
Es ist charakterisiert durch eine wiederhergestellte interna- re dort entwickelt worden war. Es wurde nur partiell über-
tionale Despotie des Kasino-Finanzkapitals. Die Einkünfte nommen. Die Einfriedungsstrukturen, beispielsweise die
aus Geldvermögen überflügeln weltweit die produktiven »company unions« und die »company worlds« [Betriebsge-
Unternehmergewinne. Die Rentierschichten haben sich in werkschaften und Betriebswelten], die Beherrschung ganzer
den letzten zwei Jahren weltweit verdoppelt bis verdreifacht. Regionen durch die Familienkonzerne (Zaibatsu) waren
Diese Rentierschichten mobilisieren die Bodenmärkte und natürlich nicht transferierbar. Man paßte sich der Produkti-
die entnationalisierten Transportsphären – vor allem Trans- onsstruktur an. »Lean Production« wurde zum Schlagwort.
port- und Geldmärkte sowie Dienstleistungen. Sie plündern Die Verbindung von Arbeitsprozeß und Produktkontrolle,
als Rentiers der Staatsverschuldung die Staatshaushalte. Just-in-time (Kanban), die Ausbildung von Zulieferketten
Spekulation, antisozialer Egoismus und allgemeine Berei- nach einem Supermarktmodell, der kontinuierlich verbes-
102 Karl Heinz Roth Auf dem Glatteis des neuen Zeitalters 103

serte Produktionsprozeß, das Teamwork, die Qualitätszirkel: an: Vom Supermarkt Toyotas und von den Netzwerkunter-
Diese Schlagworte waren in der 2. Hälfte der achtziger Jah- nehmen Benettons zur Hollywoodpremiere unmittelbar ne-
re noch neu – heute haben sie sich weitgehend durchgesetzt. ben dem Spielsaal des internationalen Finanzkapitals. Auf
Das Produktionsmodell selbst hat sich aber nicht durchge- diese Weise werden mikroökonomische Kostenfaktoren op-
setzt, denn seine begrenzte Übernahme als »management by timal auf die Gesamtgesellschaft übertragen, die gleichzeitig
stress« brachte keinen Druchbruch der Profitabilität. Die immer mehr Instrumente zur wirtschaftspolitischen Ge-
Transplants [z.B in den USA aufgebaute Fabriken japani- samtsteuerung verliert. Die Profitraten der Einzelunterneh-
scher Autokonzerne] und die Großkonzerne, die das japani- men steigen wieder. Aber die ausgelagerten Kostenfaktoren
sche Modell übernahmen, wurden mehr und mehr zum drohen im Prozeß des Ausgleichs der Durchschnittsprofitra-
»concession bargaining« [gewerkschaftliches Feilschen um ten und der Mehrwertrealisierung zurückzukehren. Deshalb
Zugeständnisse] gezwungen, das heißt, sie mußten die feh- forcierter Sozialabbau, deshalb mehr Armut, deshalb aber
lende Einfriedung und Atomisierung der Arbeiterklasse auch Anstieg der behördlichen Armuttransfers bei immer
durch die Drohung und Realisierung von Produktions- und geringer werdenden Leistungen und so eine Spirale der De-
Abteilungsauslagerungen im Falle von Restriktionen von regulierung, die nach unten geht. Das ist die Vision des ge-
seiten der Arbeiterklasse ersetzen. genwärtigen Zeitalters aus der Sicht von oben.
Den letzten Schritt und das neueste Modell erleben wir Zweifellos wird diese Optik in den jeweiligen territoria-
seit Anfang der 90er Jahre von den USA aus: Das Konzept len Konstellationen recht unterschiedlich durchgesetzt.
des »industrial engineering« [Analyse und Umgestaltung Nehmen wir den Fall Osteuropa. Die postsozialistischen
ganzer Unternehmen oder Teilbereiche davon]. Ein neuer Eliten verzichteten 1989-90 auf gemischtwirtschaftliche In-
Mischtyp von Benetton und Toyota wird versucht. Es ent- terventionsschritte beim Übergang vom Staatskapitalismus
stehen Netzwerkkonglomerate, in denen sich die Beziehun- zur Marktökonomie. Interne Deregulierung und schlagarti-
gen zwischen Kern- und Randbelegschaften zunehmend ge Konfrontation mit der internationalen Konkurrenz be-
verwischen und traditionelle mittlere Managementhierar- wirkten die rapide Zerstörung der rohen staatskapitalisti-
chien zunehmend abgebaut werden. An die Spitze dieser schen Variante der Massenproduktion, ohne daß bisher Zy-
Konglomerate treten Manager mit despotischer Herr- klen von Neuinvestitionen – von einigen Ländern abgese-
schaftsfunktion. Sie setzen geschäftsführende Einheiten, hen – nachfolgten. Von der Depression geht es weiter zur
Generalisten ein, die Projekte in Gang bringen. Nur noch Deindustrialisierung. In Rußland leben inzwischen offiziell
für jeweilige Aufträge werden befristet Entwicklungsspezia- zwei Drittel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.
listen, Konstrukteure, Programmierer, Fertigungsarbeiter Im krassen Gegensatz dazu erleben wir im Indopazifik
usw. gemietet. Selbst so traditionsreiche Konzerne wie bei- einen neuen Boom auf der Grundlage eines blutigen, infor-
spielsweise Siemens haben sich in der jüngsten Zeit in solche matisierten Taylorismus und Toyotismus. Benachbart sind in
geschäftsführenden Einheiten aufgesplittert. Das ist die China neue Entwicklungszentren mit einem Akkumulati-
Hollywoodmethode: Man produziert, wie man einen Film onsschub in der massenhafte Pauperisierung entstanden.
plant und erstellt. In den Metropolen stagniert die wirtschaftliche Ent-
Diese Produktionsweise, und das halte ich für entschei- wicklung. In den USA ist ein sehr merkwürdiges Nied-
dend, nähert sich der Mobilität der Geldvermögen maximal riglohnwunder bei riesiger Massenverelendung zu beobach-
104 Karl Heinz Roth Auf dem Glatteis des neuen Zeitalters 105

ten. England steckt in einer Depression: Dort steht trotz des decouvriert wurden. Hier begann vor wenigen Monaten die
Fiaskos des Thatcherismus – Sozialabbau und Steuerentla- Ära Berlusconi. Er band die politisch-ökonomische Variante
stung haben zu einer größeren Staatsverschuldung statt zur B – prekäre, selbständige Arbeiter und Kleinunternehmer
Verschlankung des Staatsapparats geführt, und das Land der Lega Nord – in den politischen Machtblock ein und ver-
wird mitnichten mit neuen Investitionszyklen belohnt – kein suchte, neue autoritäre mediale Voraussetzungen für die erst
Kurswechsel ins Haus. In Schweden hingegen hat dieser noch bevorstehende, entscheidende Deregulierungsoffensi-
Kurswechsel stattgefunden. In West- und Mitteleuropa gibt ve (Deregulierung des Staatssektors, Zerstörung der Sozial-
es Regionen mit unternormalem Wachstum. Auf sie werde renten, völlige Liberalisierung des Arbeitsmarktes, Budget-
ich im zweiten Teil zu sprechen kommen. restriktionen) zu schaffen. Bevor er damit durch war, zwang
Insgesamt ist also eine zunehmende geografische Diffe- ihn das Finanzkapital vorfristig zu diesem Angriff. Das war,
renzierung bei uniformer globaler Strategie erkennbar. Die wie die neu aufgeflammten Massenkämpfe zeigen, zu früh.
Zukunft wird zeigen, wie weit es den internationalen Wirt- Die Wiederherstellung des sozialen Friedens als Gradmes-
schafts- und Finanzeliten gelingt, die Kompensation der ser jeder effizienten Aufspaltung des Widerstands und als
Krisenspirale durch innerimperialistische Blockbildungen Vorbedingung der endgültigen Durchsetzung des Deregu-
und Konfrontationen aufzuhalten. lierungsmodells wird jetzt nur noch gelingen, wenn der öko-
nomisch verschlankte Staat ihn politisch-diktatorisch er-
2. Metropolitane Varianten des neuen Akkumulations- zwingt. Andernfalls muß die Sozialrevolte in einer neuen
und Deregulierungsmodells Reregulierung aufgefangen werden.
In Italien folgte seit Beginn der Niederschlagung der Arbei- Dagegen Deutschland. Die Umstrukturierung erfolgte
terkämpfe in den achtziger Jahren ein wirtschaftspolitisches eher zögerlich. Ein Durchbruch zu schlanker Produktion,
Regime, das in vielem den Konzepten der Reaganomics und Produktionsauslagerung und schlankem Staat setzte erst ab
Thatcheristen verwandt war, allerdings unter »sozialisti- 1990/91 ein, wobei sich der Anschluß der DDR im Zug
schen« Vorzeichen. Dabei entstand eine Polarisierung der schlagartiger monetärer Substanzvernichtung als entschei-
Gesellschaft in zwei Machtblöcke: Big Business, die großen dender Hebel erwies. Seither ist der sozialstaatliche Nach-
Gewerkschaften, die politischen Machtstrukturen und die kriegskompromiß nicht nur konzeptionell, sondern auch
Staatsunternehmen auf der einen Seite, neoliberale Unter- praktisch-politisch erfahrbar zu Ende. In den letzten Jahren
nehmensstrukturen und Strukturen prekärer und selbständi- begann nicht nur eine breite Privatisierungswelle der öffent-
ger Arbeitsverhältnisse, die aus dem Regulationssystem zu- lichen Unternehmen im Transportsektor, gleichzeitig wur-
nehmend ausgegrenzt wurden, auf der anderen Seite. Die den auch die Tarifautonomie offen zur Disposition gestellt
nach wie vor dominante Variante A, die eine durchaus ver- und die Sozialversicherung als Instrumentarium zur Abfede-
langsamte Transformation kennzeichnete, schien zu zerbre- rung der Risiken eigentumslos lohnabhängiger Existenzwei-
chen, als seit 1992 Übergangsregimes an die Kernbestände sen in vielen kleinen Einzelschritten ausgehöhlt (vor allem
des sozialen Nachkriegskompromisses – Scala Mobile, Cassa die Bereiche Arbeitslosenversicherung und Krankenversi-
Integrazione [automat. Teuerungsausgleich über eine glei- cherung, noch nicht das Rentensystem). Das Recht auf So-
tende Lohnskala und umfassende Lohnausgleichskasse] usw. zialhilfe ohne Gegenleistung ist beseitigt. In Riesenschritten
– herangingen und die Eliten als korrupte Machtsymbiose beginnt auch in der BRD der Übergang von Welfare zu
106 Karl Heinz Roth Auf dem Glatteis des neuen Zeitalters 107

Workfare. Damit ging 1992/93 die erste Ausgrenzungsope- Deutschland geraten. Die Schweiz ist eine Art letzter Domi-
ration als Angriff auf das Existenzrecht einher: Zwangsinter- nostein, an dem sich ablesen lassen wird, inwieweit es den
nierung von Flüchtlingen und radikalisierte Abschiebepraxis Utopisten des neoliberalen Irrsinns tatsächlich gelingt, den
wurden durchgesetzt. Globus nach ihren Visionen umzugestalten. Vielleicht be-
Nach der Bundestagswahl vom 16. Oktober haben die steht also gerade hier noch die Möglichkeit, die Erfahrun-
Financiers und Unternehmenslobbyisten ganz große Keulen gen aus den schon weiter transformierten Nachbarländern
geschwungen. Die Drohungen mit Vermögens- und Kapi- in die Widerstandsperspektive dieses Landes einzubeziehen.
talflucht gehen einher mit Forderungen zu einem Sozialab- Aber auch für die Linken der Schweiz dürfte die Zeit drän-
bau, wie sie seit Beginn der dreißiger Jahre nicht mehr gen. Die weitere Deregulierung der Finanzmärkte wird den
gehört wurden. Falls sie durchgesetzt werden, was durchaus globalen Standort Schweiz bald um seine Privilegien brin-
noch offen ist, würde die bundesrepublikanische Gesell- gen, und dann steht recht schnell eine Massenarbeitslosig-
schaft in einen Strukturbruch hineingetrieben, wie wir ihn keit der Bankangestellten ins Haus.
bisher nur aus England, den USA und teilweise Frankreich
kennen. 3. Neoliberalismus und politische Macht
Der Fall Schweiz. Sie scheint mir, aus dem Blickwinkel Im Gegensatz zu den Wirtschafts- und Finanzeliten sind die
des Nordens, noch eindeutiger als Nachzügler. Auch die politischen Führungsschichten dort, wo sie wirkliche Macht
Schweiz hat in den achtziger Jahren Produktivitätssprünge ausüben, nur national und nur in marginalen Ansätzen su-
durch Auslagerungen, Rationalisierungswellen und Ver- pranational organisiert. Die gesamtgesellschaftlichen Regu-
schlankung des sozialen Status quo hinter sich gebracht. Der lierungs- und Umverteilungsfunktionen sind oder waren im
Schwerpunkt liegt inzwischen offensichtlich ebenfalls auf Gegensatz zur Kapitalakkumulation an den Staat gebunden.
angebotsorientierten Deregulierungen. In einigen Agglo- Sie aber kommen den politischen Eliten zunehmend abhan-
merationen erreicht die Arbeitslosigkeit das Niveau der den. Ihre Macht verfällt, je mehr sie zu subalternen Verwal-
dreißiger Jahre. Das alternative Grundmuster zur sozial- tern von Staubecken für die Geld- und Kapitalströme dege-
staatlichen Integration heißt jetzt offensichtlich auch in der nerieren. Oberflächlich kommt dieser Prozeß in den vielfäl-
Schweiz Ab- und Ausgrenzung. Die ersten sozialen Stigma- tigen Korruptionsaffären zum Ausdruck, mit denen sich die
tisierungen der Ausländerinnen und Ausländer stehen bevor, politischen Herrschaftsgrenzträger inzwischen herumschla-
wahrscheinlich der erste Akt eines breiteren Angriffs auf den gen müssen.
sozialstaatlichen Status quo, der die Lohnabhängigen ver- Was sich aber wirklich hinter »tangentopoli« usw. ver-
ängstigt. Aber gerade auch im Vergleich zur BRD verläuft birgt, ist weitaus wichtiger. Unter dem Diktat von flexibili-
der Umbau offensichtlich weniger hart und schnell. Dies sierten Währungen, Zinsregimes und allgemeiner Bereiche-
liegt, wie Res Strehle mehrfach ausgeführt hat, vor allem an rungssucht sind politische Ideologien zusammengebrochen,
der weltwirtschaftlichen Sondersituation. Die Schweiz ist deren Bandbreite von der Rechten bis tief in die sozialisti-
internationaler Finanzplatz, Zentrum vieler transnational schen und grünen Bewegungen hineinreicht. Diese Anpas-
operierender Konzerne und ein Standort für Qualitätsar- sung und Unterwerfung haben nicht nur den späten eu-
beit. Wenn, dann wird sie in die neue soziale Unfriedlichkeit ropäischen Arbeiterreformismus, sondern auch große Teile
erst nach Italien, Frankreich und wahrscheinlich auch der linken Intelligenz, beispielsweise in Lateinamerika, be-
108 Karl Heinz Roth Auf dem Glatteis des neuen Zeitalters 109

troffen und von innen heraus zerstört. In vielen Fällen sind schwindet. Die Fassaden der Telekratie bröckeln, sobald die
»sidepayments« der neoliberalen Weltwirtschaftsinstitutio- »common people« am eigenen Leib erfahren, wie hinterhäl-
nen auf den Mythos der Guerilla gefolgt. In den Metropolen tig sie um ihre existentiellen Sicherheiten gebracht werden.
entspricht diesem Prozeß am ehesten die Involution [Ein- Die Revolution der Erwartungen ist durch diese neue kultu-
wicklung] der grünen Bewegungen, die nun vor den interna- relle Hegemonie des »enrichissez-vous« aber keineswegs
tionalen Sachzwängen der Deregulierung genauso kapitulie- gedämpft worden. Die politische Destabilisierung der Ver-
ren wie vor ihnen die Sozialdemokratie und die mit ihr ver- hältnisse ist die notwendige Konsequenz des Neoliberalis-
bündete Gewerkschaftsbewegung. mus. Das Band zwischen sozialstaatlichem Status quo und
Besonders grausam ist es den osteuropäischen Oppositi- repräsentativ-parlamentarischer Massendemokratie beginnt
onsbewegungen ergangen. Seit Ende der sechziger Jahre ha- tatsächlich zu reißen. Autoritäre politische Lösungen wer-
ben wir beispielsweise viele Hoffnungen auf die Kader der den zu einer zwingenden Option der Wirtschafts- und Fi-
späteren Solidarnosc gesetzt – Kuron, Geremeck, Modzele- nanzeliten, ihrer Expertokratie und ihrer wachsenden Klien-
wski. Wir haben von der Arbeiteropposition als Massenbe- tel von Spekulanten, Unternehmensrationalisierern und
wegung gegen den versteinerten Tonnenindustrialismus ge- Couponschneidern. Entwicklungen zu mehr als nur for-
träumt. Wir haben gesehen, wie diese Perspektive im Aus- mierten Demokratien müssen wir gerade auch dann ins
nahmezustand zu isolierten antikommunistischen Kadern Auge fassen, wenn wir davon ausgehen, daß die ethnisch na-
transformiert wurde, wie sich diese überlebenden Kader tionalistischen Anbiederungen einiger ost- und südosteu-
1989/90 umstandslos und ohne jedes Nachdenken dem ropäischer postsozialistischer Eliten an die internationalen
»dernier cri« des Neoliberalismus und dessen Beratern ver- Finanzmärkte in ihrer Resonanz wohl eher marginal geblie-
schrieben haben. Das Fiasko der thatcheristischen Transfor- ben sind. Es wäre jedoch falsch, vorschnell eine Wiederho-
mation vom Staatskapitalismus zur Utopie selbstregulierter lung des Umschlags von der Deflationspolitik zur faschisti-
Märkte ist riesig. Solidarnosc ist als populistische Randszene schen Arbeitsschlacht mit rüstungsparasitärer Nachfrage-
der neokonservativen Rechten geendet. Karol Modzelewski mobilisierung anzunehmen, wie sie in Mittel- und Südeuro-
hat inzwischen Bilanz gezogen (»Le monde diplomatique«, pa die frühen dreißiger Jahre geprägt hat. Ich glaube, es
November 1994). Er gehört zusammen mit der alten intel- kommt etwas ganz anderes als das, was wir unter dem Fa-
lektuellen Riege von Solidarnosc heute zu denen, die die schismus analysiert haben. Das macht die Faschismusanalyse
präsidialdiktatorische Fortsetzung einer Wirtschaftspolitik aber keineswegs überflüssig. Im Gegenteil: Die Herausar-
bekämpfen, die die Hälfte der Bevölkerung pauperisiert. Die beitung der Unterschiede wird uns helfen, politische Alter-
Niederlagen meiner Generation der »new left« – auch diese nativen zu finden.
Solidarnosc-Kader sind in unserem Alter – haben viele Fa-
cetten. 4. Neue Proletarität
All diese Beispiele, vor allem aber Italien und Polen zei- Auffächerung in der Homogenisierung oder Homogenisie-
gen, daß der deregulierte Kapitalismus im Kampf um das rung in der Auffächerung?
rettende Ufer nicht einfach nur auf eine immer größere öko- In globaler Perspektive öffnen sich die Klassenverhält-
nomische Depressionsspirale zutreibt, sondern inzwischen nisse. Wenn die analytischen Voraussetzungen zutreffen,
auch politisch extrem destruktiv wird. Der Massenkonsens dann lassen sich für den proletarisierten und pauperisierten
110 Karl Heinz Roth Auf dem Glatteis des neuen Zeitalters 111

Teil des neuen Panoramas von Klassengesellschaft unzwei- arbeit – werden als Durchbruchspunkte der prekären Ar-
deutige Homogenisierungsprozesse ausmachen. Ich spreche beitsverhältnisse überhaupt sichtbar. Frauen sind am stärk-
erstens von einer strukturellen Homogenisierung. Bedingt sten betroffen. Sie haben oft nur als prekäre Arbeiterinnen
durch eine weltweite Freisetzung von relativer Übervölke- die Möglichkeit, unbezahlte Reproduktionsarbeit zu finan-
rung [nicht beschäftigte Teile des Proletariats, vgl. Karl zieren. Zusätzlich nehmen völlig unsichtbare, weil nicht
Marx, Kapital, MEW 23, S. 657] entstehen strukturell glei- mehr oder nicht entlohnte Arbeitsformen zu. Ein Beispiel ist
che Wechselbeziehungen von industrieller Reservearmee, die Katastrophe der Frauen in der Ex-DDR, die in die unbe-
aktiver Arbeiter- und Arbeiterinnenarmee und Unterbe- zahlte Hausarbeit zurückgetrieben werden.
schäftigten. Ich spreche zweitens von einer ökonomischen Als weiteren Fächer der Ausdifferenzierung erleben wir
Homogenisierung. Tendenziell werden überall gleichartige eine Ausweitung unfreier Arbeitsverhältnisse: »Forced com-
Neuzusammensetzungsstrukturen sichtbar: moderne Grup- merce« [erzwungener Handel], Arbeitsleistung für Mieten,
penarbeiter, prekäre Schwitzbudenproletarier und Proleta- Arbeitsleistung für Pachtschulden, eine zunehmende »de-
rierinnen, self-employed des informellen Sektors. Sie alle commodification« der Arbeitsmärkte, obwohl sie voll in den
werden arbeitsteilig in die reorganisierten Ausbeutungsket- Wertschöpfungsprozeß mit unbezahlten Arbeitsanteilen in-
ten hineingezwungen. Und drittens behaupte ich, daß wir tegriert bleiben. Wir erleben eine Auffächerung in verdeckte
eine Tendenz zur geografischen Homogenisierung zu beob- Lohnbeziehungen der »Subcontractors« [Zulieferer], Werk-
achten haben. Dem transnationalisierten Kapital stehen auf vertragsarbeiterinnen und -arbeiter, der selbständigen Arbei-
allen Stufen der Mehrwertkette die erforderlichen Arbeits- terInnen. Diese Differenzierungen werden konzernintern
kräftepotentiale tendenziell weltweit, standortunabhängig reproduziert. Und wir erleben – vielleicht die dramatischste
zur Verfügung. Swissair kann eben Computerzentralen in- Form der Auffächerung – Ausgrenzungen bis zur völligen
zwischen nach Indien auslagern. Beseitigung des Existenzrechts bei den Flüchtlingen.
Das alles kann natürlich, je nach Entwicklungsstadien, Diese beiden Momente – Homogenisierung und Diffe-
mit ungeheuer verschärften Einkommensdifferenzierungen renzierung – müssen wir gegeneinander stellen. Unabhängig
unterschiedlichsten Ausmaßes von Prekarisierung, Ausgren- von der Frage, wie in der Beziehung Homogenisierung und
zung, Ghettoisierung und Überlebenschancen einhergehen. Differenzierung tendenziell überwiegende Momente zu fin-
Aber das alles ist zunächst einmal nur von quantitativer Be- den sind, gibt es aber eine Möglichkeit der Synopse beider
deutung. Beziehungen, und das selbst in solchen metropolitanen Re-
Ich gebe zu, daß diese analytische Dimension völlig an- servaten, in denen sich erstens Krisengewinnler und Aufstei-
ders wahrzunehmen ist, wenn wir einen lokalen Blickwinkel ger, zweitens flexibilisierte und abstiegsbedrohte Arbeiterin-
einnehmen, wenn wir den jeweiligen Bezugspunkt an der nen und Arbeiter sowie drittens prekarisierte und ausge-
bestimmten, definierten Ausbeutungskette als Ausgangs- grenzte Drittel in etwa die Waage halten. Homogenisierung
punkt formulieren und vor allem natürlich im aktuellen po- heißt auch »making«, Solidarisierung, gegenseitige Hilfe,
litischen Tageskampf. Die Zerklüftung des neuen Proleta- Assoziation. Differenzierung heißt »unmaking«, Entsolida-
riats schreitet voran in eine generationen- und geschlechts- risierung, Entassoziation, Individualisierung. Ich glaube, es
hierarchische Neuzusammensetzung. Die wichtigsten Fak- sind beides untrennbare Teile des heutigen Sozialprozesses
toren der Auffächerung – Kinderarbeit und Frauenteilzeit- in der globalen Krise.
112 Karl Heinz Roth Auf dem Glatteis des neuen Zeitalters 113

Das »unmaking« geschieht nicht von selbst, sondern sie eingebundene politische Praxis bedürfen. Wir sollten die
durch systematische Deformation der Fähigkeiten zur Dialektik von Homogenisierung und Dissoziation des neuen
Wahrnehmung der realen Grundlagen postfordistischer Ell- Proletariats in dieser Sichtweise angehen und nicht voreilig
bogenideologie: Telekratie als politische Artikulation ver- beantworten.
doppelter und zugleich deformierter Wirklichkeitswahrneh-
mung. Die Auffächerung der neuen Klassenverhältnisse 5. Die Krise der Linken
wird letztlich erst durch die kulturelle Hegemonie des neoli- Das neue Zeitalter zeichnet sich dadurch aus, daß es aus ei-
beralen Regimes befestigt, das sich gleichzeitig mit den indi- ner fundamentalen Krise ein neues Akkumulations- und Re-
vidualisierten und flexibilisierten Arbeitsverhältnissen auf gulationssystem hervorbringt, dessen endgültige Perspekti-
die allgemeine Flucht aus der Arbeit einstellt. ve freilich noch keineswegs auszumachen ist. Vor allem ist es
Aber auch das »making« von unten kommt keineswegs aber auch ein Zeitalter der Krise der Linken. Mit »der Lin-
automatisch. Es gibt keinen Automatismus, der von der ken« meine ich jene gesellschaftlichen Kräfte, die sozialre-
Wahrnehmung der realen Lage zu kollektiven Verhaltens- formerische Prozesse allein ablehnen und nach einem völlig
weisen – Solidarisierung usw. – führt. Wir sollten die Debat- andersgearteten Modell gesellschaftlicher und politischer
te über Homogenisierung und Auffächerung mit einem Ver- Egalität streben. Je größer und je tiefer diese Krise – unsere
weis auf den großen britischen Historiker E. P. Thompson Krise – wurde, desto stärker war die Tendenz, die Beziehung
versehen, der in seinem »Making of the english working zur eigenen Geschichte – unserer Geschichte seit den sech-
class« dazu eine ganze Menge gesagt hat. Er wies nach, daß ziger Jahren – zu verlieren. Ich glaube, daß wir von einem
das »making«, die Homogenisierung eines außerordentlich Verlust des kollektiven Gedächtnisses bedroht sind. Ge-
differenzierten Proletariats, zwischen 1780 und 1830 ein schichtslosigkeit ist aber mehr als bloße Resignation oder
breit angelegter Lernprozeß war, der im übrigen die Homo- Unachtsamkeit. Es ist vor allem auch ein Akt des Verdrän-
genisierungshoffnungen der nachfolgenden marxistischen gens. Ich will nur ein paar Stichworte nennen, über die in
Utopie, das große industrielle Fabrikarbeiterproletariat als vielen Zusammenhängen ein stillschweigender Konsens des
Kern des Umsturzes, sozusagen ex ante (und aus der Sicht Schweigens besteht:
des Exkommunisten Thompson ex post) widerlegt hat. Viele unserer politischen Zusammenhänge waren im In-
Auch wir selbst sind Teil dieser Prozesse und müssen zu- nern autoritär strukturiert. Sie hatten sehr starke Tendenzen
erst einmal davon ausgehen, daß wir uns zwar in der klassen- zur Ausgrenzung oft besonders naher Nachbarströmungen.
analytischen Annäherung nicht grundsätzlich irren sollten, Und das hat intern entsolidarisiert. Das bezieht sich keines-
wenn wir von sozialempirischen Evidenzen und Massener- wegs nur auf die neoleninistischen Gruppierungen.
fahrungen – Selbstuntersuchung auf breiter Ebene – ausge- Wir haben ziemlich intensiv versucht, die materialisti-
hen. Der reale Prozeß der kollektiven Neuzusammenset- sche Kritik unserer eigenen Geschichte zu vermeiden. Wir
zung kann aber trotzdem ganz anders verlaufen, als wir ihn wollen uns damit nicht konfrontieren. Wir wollen die ver-
theoretisch vorwegnehmen. Zwischen gesellschaftspoliti- gangenen Optionen und Niederlagen nicht dahingehend
scher Analyse – militanter Untersuchung – und emanzipato- untersuchen, inwieweit diese Niederlagen notwendig waren,
rischem Handeln gibt es immer nur Annäherungen, die lau- nicht vermieden werden konnten und inwieweit sie ver-
fend der Korrektur durch die Massenerfahrung und die in meidbar waren.
114 Karl Heinz Roth Auf dem Glatteis des neuen Zeitalters 115

Es gab und gibt auch eine große Unfähigkeit zu Kurs- Das sind unsystematische Beispiele. Ich möchte zeigen,
korrekturen. Ich möchte hier nur das Beispiel des bewaffne- daß der Kampf gegen die Krise als ein Weg zu solidarischem
ten Kampfs andeuten. Das Syndrom der Pentiti [pentiti: und egalitärem Handeln immer innere Solidarität voraus-
Reumütige, unter Kronzeugenregelungen aussagende Rot- setzt. Das ist ein unverzichtbarer Teil des kollektiven Ge-
brigadisten] ist auch eine Rache am Prinzip, daß Grenzüber- dächtnisses, denn ohne innere Solidarität kann nicht kollek-
schreitungen in der Militanz nur in eine einseitige Richtung tiv-historisch agiert werden. Solange wir hier stagnieren, so-
vorzunehmen waren. Wenn Illegalität immer zur Ablösung lange wir uns gegenseitig ausgrenzen und nicht aufeinander
vom Massenkonsens und zu einer elitären Selbstkonstitution zugehen, werden wir nicht in der Lage sein, neu in das
führt, und wenn sie notwendigerweise immer dazu führen Wechselspiel von proletarischer Homogenisierung und Dis-
würde, dann müßten wir sie vielleicht doch prinzipiell ver- soziierung einzugreifen und wieder geschichtsmächtig zu
werfen. Auch hier, glaube ich, muß viel aufgearbeitet und werden.
nachgedacht werden, um die zweifellos vorhandenen positi-
ven Erfahrungen der Illegalität für die Zukunft zu bewahren. 6. Perspektiven einer neuen Klassenorientierung
Die eigene soziale und materielle Selbstwahrnehmung Genau ein solches Eingreifen halte ich für nötig und mög-
war und ist in unseren politischen Zusammenhängen oft lich. Nur mit Klassenorientierung bleibt die Option auf eine
ausgegrenzt. Dabei sollte sie nach meiner These Kern unse- sozialistische Alternative als einer offenen Lebens- und Ge-
res politischen Engagements sein. Wir sollten gerade als sellschaftsformation, die sich durch gesellschaftliches Eigen-
Linke von unseren eigenen materiellen Lebensbedingungen tum an den Produktionsmitteln und durch die ausschließli-
ausgehen und nicht als Prekarisierte auf politischen Ersatz- che Produktion und Reproduktion zur Befriedigung basis-
ebenen agieren. Gerade im Prozeß und in der Erfahrung der demokratisch ermittelter gesellschaftlicher Bedürfnisse aus-
sozialen Marginalisierung gibt es sehr starke Individualisie- zeichnet, belanglose Utopie. Wie soll das geschehen?
rungserfahrungen und Rückzugstendenzen. Das ist eine an Strategisch. Ich schlage vor, die altbekannte Suche nach
sich paradoxe Verhaltensweise, die aber aus dieser Ausgren- besonders avantgardistischen Fraktionen des neuen Klassen-
zung der eigenen materiellen Konstitution herrührt und ge- subjekts aufzugeben und die neuen Möglichkeiten aus der
genwärtig viele Restprojekte gefährdet. Konstitution des neuen Proletariats in ihrer ganzen Vielfalt
Ich meine aber auch, daß wir in vielen Fällen unfähig ge- zum Ausgangspunkt unseres Nachdenkens und Handelns zu
wesen sind, Teilsiege wahrzunehmen und erkämpfte Positio- machen. Wir brauchen also eine offene Struktur des Klas-
nen auszubauen. Ich erinnere an die Frauenbewegung, die senantagonismus von unten, für alle, die ihre Arbeits- und
wohl von allen Sozialbewegungen am weitesten egalisierend Lebenskraft hergeben müssen, um leben zu können, unab-
in die Gesellschaft gewirkt hat und die – so meine ich – auch hängig davon, ob sie entlohnt, auf Werkvertragsbasis hono-
uns linke Männer ein Stück weit verändert hat. Es sollte ei- riert, für Arbeitsmärkte zur Verfügung gehalten, zu nicht
gentlich möglich sein, jetzt über einen neuen politischen entlohnter Arbeit gezwungen oder patriarchalisch im infor-
Schulterschluß zu reden und über Bedingungen eines ge- mellen Sektor geknechtet werden. Das, meine ich, ist an je-
meinsamen Widerstands gegen die Deregulierung und ge- dem Widerstandspunkt des Globus möglich, da bei allen
gen die mit ihr einhergehende »Wiederentdeckung« der quantitativen Unterschieden grundsätzlich gleichartige
unbezahlten Hausarbeit nachzudenken. strukturelle ökonomische Bedingungen vorliegen und zu je-
116 Karl Heinz Roth Auf dem Glatteis des neuen Zeitalters 117

dem anderen Widerstandspunkt vermittelt werden können. ungeheuer angehäuften Privatvermögen reorganisiert und
Die Homogenisierung ist also strukturell bedingt, zugleich in Selbstverwaltung übernommen werden.
aber auch eine Vorwegnahme. Genau hier liegt die Aufgabe Ich halte es also strategisch für möglich, einen solchen
der Linken. Zusammenschluß in politisch-wirtschaftlich homogenisier-
Es geht also nicht darum, ein neues Primat des Agrarso- ten Assoziationen von Gegenmacht in Gang zu bringen, und
zialismus zu postulieren; es geht nicht darum, ausschließlich zwar im Rahmen einer internationalen Vernetzung.
eine neue Kampagne der Prekären und Jobber in Gang zu Die taktischen Aspekte, wie diese Perspektive anzugehen
bringen; es geht nicht darum, das sozialistische Heil allein wäre, sehe ich einmal darin, daß auf dieser strategischen Ba-
von den aus der Arbeitslosigkeit entlassenen selbständigen sis in die bevorstehenden oder schon stattfindenden Kämpfe
Arbeiterinnen und Arbeitern zu erwarten, auch nicht von gegen den sozialen Generalangriff einzugreifen wäre; daß
den Gruppenarbeitern, sondern wir brauchen eine offene wir von hier aus aber auch an die Seite derer treten, die vom
Synthese der jeweils unterschiedlich gewichteten Kommu- Populismus der Deregulierungsexperten am stärksten aus-
nikationsweisen und Kampfformen am Ort. Dafür sind, im- gegrenzt werden: Ausländer, chronisch Kranke usw.
mer noch strategisch gedacht, Strukturen nötig. Ich votiere Ich bin mir bewußt: Derartiges kann vielleicht noch ge-
für eine internationale Vernetzung der lokalen Widerstands- dacht, aber angesichts der Krise der Linken und der realen
punkte im Sinne einer internationalen Assoziation durch er- Kräfteverhältnisse nur noch mit Mühe und Anstrengung
ste politische Initiativen: Gegeninformation, Analyse, kon- vorgeschlagen werden. Trotzdem bin ich vorsichtig optimi-
krete Hilfeaktionen. stisch. Was beispielsweise seit einigen Wochen in Italien
Ich plädiere zweitens dafür, die lokalen Konfrontations- passiert, haben bis vor wenigen Wochen die meisten für un-
punkte mit unterschiedlichen Schwerpunkten, aber dem möglich gehalten. Ich glaube also, daß ein soziales Beben,
Ziel der Synthese aller möglichen Teilbewegungen zur auch in den Metropolen, zu spüren ist und daß wir dieses so-
Durchsetzung einer moralischen Ökonomie des Existenz- ziale Beben wahrnehmen, uns darauf einrichten sollten.
werts zu assoziieren: Recht auf Boden und Wohnung, politi- Wenn in die aktuellen Basisinitiativen bewußte Handlungs-
scher Lohn, Recht auf soziale Reproduktion. Diese neue fähigkeit hineinkommt, dann werden ihre Militanten sich
moralische Ökonomie wäre zu realisieren durch die soziale bald als Teil einer neuen emanzipatorischen Massenbewe-
Aneignung und kommunale Selbstverwaltung von Boden gung wiederfinden. Vielleicht. Ich hoffe es.
und Wohnen. Sie wäre im Kampf in und gegen die lokalen
Arbeitsmärkte zu realisieren durch einen neuen »social-mo- (Der Text ist das von Karl Heinz Roth durchgesehene und leicht
vement unionism« [auf sozialen Bewegungen basierende ergänzte Transkript seines Referats. Die Anmerkungen in eckigen
Gewerkschaftspolitik] gegen flexibilisierte Arbeitsverhält- Klammern stammen von der Zürcher Redaktion »Vorwärts«,
nisse, durch den Kampf für einen politischen Lohn in den welche Roths Referat bearbeitete und zuerst veröffentlichte.)
Basiskomitees der Netzwerkunternehmen. Das Recht auf
soziale Reproduktion wäre in kommunaler Selbstorganisati-
on anzugehen, als Rückeroberung selbstbestimmter sozialer
Reproduktionsgarantien. Die sozialstaatlichen Transferrui-
nen sollten bei gleichzeitiger kommunaler Aneignung der
118 Die AutorInnen

Die AutorInnen

Robert Kurz lebt als freier Publizist in Nürnberg. Er ist


Mitherausgeber der Theoriezeitschrift »Krisis« und veröf-
fentlichte zuletzt die Bücher »Honeckers Rache« (1991),
»Der Kollaps der Modernisierung« (1991), »Potemkins
Rückkehr« (1993) und »Der Letzte macht das Licht aus«
(1993).
Ernest Mandel, geb. 1912, lebt in Brüssel. Langjähriger
Aktivist der 4. Internationalen, zahlreiche Buchveröffentli-
chungen, u.a. »Die langen Wellen im Kapitalismus«, »Der
Spätkapitalismus« und »Börsenkrach und Weltwirtschafts-
krise«.
Maria Mies, Professorin für Soziologie, lehrte bis zu ih-
rer Pensionierung an der Fachhochschule Köln. Zu ihren
wichtigsten Büchern gehören »Frauen, die letzte Kolonie«
(1983 zusammen mit Claudia von Werlhof und Veronika
Bennoldt-Thomsen) und »Patriarchat und Kapital« (1986).
Im Frühjahr 1995 erscheint bei Rotpunkt »Ecofeminismus«
(zusammen mit Vandana Shiva).
Karl Heinz Roth, Arzt und Historiker, lebt in Hamburg.
Mitarbeit an der »Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte
des 20. Jahrhunderts« und deren Zeitschrift »1999«. Autor
u.a. von »Die andere Arbeiterbewegung« (1974), »Die Wie-
derkehr der Proletarität« (1994). Ein Teil seiner politischen
Texte ist zusammengestellt in dem Band »und es begann die
Zeit der Autonomie« (Verlag Libertäre Assoziation, 1994).
Res Strehle ist Ökonom und Wirtschaftsjournalist in
Zürich. Er schreibt u.a. für die »WoZ«, das »Magazin« und
die »Weltwoche«. Buchpublikationen: »Die Bührle-Saga«
(1981, m.a.), »Damengambit« (1985), »Ganz oben. 125 Jah-
re Schweizerische Bankgesellschaft« (1987, m.a.), »Kapital
und Krise« (1991) und »Wenn die Netze reissen« (1994).

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