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Medientheorie VL

Prof. Holger H. Ebert / Fachhochschule Nürnberg / FB Gestaltung

MedienTheorie II

Katja Nicodemus1

Computerfilme

Die Fabrik am Ende der Träume


Hollywood wollte vom Computerfilm nur Dinosaurier, Raumschiffe und schö-
ne Leichen. Doch jetzt brauchen die Regisseure und Produzenten vor allem
eins: Fantasie

Man hätte meinen können, das digitale Kino habe sich mit dieser Produktion
das Epitaph eines Frühverstorbenen geschrieben. Robert Zemeckis’ Animati-
onsfilm Der Polarexpress, als hyperrealistisches Meisterwerk angekündigt, ent-
puppte sich auf der Leinwand als Danse macabre der Pixelwelt. Statt einer
vorweihnachtlich glitzernden Winterreise zog eine Versammlung seltsam de-
formierter Klone über die Leinwand, kalt, leblos und beängstigend. Mit dem
technischen Aufwand einer Weltraum-Mission und einem Budget von insgesamt
165 Millionen Dollar wurden Körperbewegungen und Mimik des Schauspielers
Tom Hanks vollständig in elektronische Daten umgewandelt und zu Computer-

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DIE ZEIT - Feuilleton
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figuren verrechnet. Das sollte sie nun also sein, die digitale Revolution, letzter
Schrei der neuesten Animationstechnik? Groteske Erwachsenenköpfe auf ecki-
gen Kinderkörperchen. Eine leichenblasse Zombieshow, zusammengebastelt
auf den Festplatten der Frankensteine unserer Zeit.

Aber vielleicht ist Der Polarexpress gar kein ästhetischer Unfall, sondern eine
unfreiwillige Bestandsaufnahme: Ausdruck der Stagnation einer hypertrophen
Technik, die dem Versprechen von frei schwebenden Ideen und unbegrenzten
Möglichkeiten inzwischen recht ratlos hinterherhinkt.

Mit dem schrittweisen Übergang von der abbildenden zur simulativen Darstel-
lung, vom Wahrheitsanspruch des fotografischen Bildes zur Selbstreferentiali-
tät der digitalen Zeichen, waren von Anfang an enorme Erwartungen verbun-
den. Seit der Star Wars - Erfinder George Lucas in den siebziger Jahren seine
Firma Industrial Light and Magic gründete, um mit bisher nie gesehenen Spezi-
aleffekten seinen Traum eines technisch perfekten Weltraummärchens zu ver-
wirklichen, ist die Geschichte des digitalen Kinos eine der permanenten
Überbietungsrhetorik. Allerdings machte sich dieses Kino entgegen den ü-
berschäumenden Ankündigungen seiner Regisseure und Produzenten nur sehr
selten daran, »über die Zukunft hinaus zu reisen« (James Cameron), »eine
neue Dimension des Kinos zu erfinden« (Steven Spielberg) oder das »Unmögli-
che zu ermöglichen und das Undenkbare zu denken« (George Lucas). Meis-
tens begnügte sich die digitale Technologie damit, das Denkbare und
Mögliche um einiges spektakulärer aussehen zu lassen.

Dabei schien die neue Technik endlich all jene Visionen wahr werden zu lassen,
von denen die Zauberlehrlinge bisher nur geträumt hatten. Vor allem die gro-
ßen Jungs unter den Hollywood-Regisseuren bekamen nun das ideale Spiel-
zeug für ihre Epen von der fantastischen Überwindung der Kindheitsgrenzen in
die Hand. Visionäre Garagenbastler wie Lucas, Spielberg und Cameron
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rückten das Kino wieder ein wenig näher an jene Welt heran, aus der
es einst gekommen war: der des Jahrmarktes, der Schauwerte und
Attraktionen.

Tatsächlich bestand der Charme der ersten digitalen Leinwandvisionen in je-


nem infantilen Prometheusgefühl, das seine Nähe zu unaufgeräumten Kinder-
zimmern, Zauberkästen und Elektrobastelsets nicht verleugnen kann. Wie ein
märchenhafter Schock wirkten Ende der siebziger Jahre die sich in der Tiefe
des Weltalls mit rasender Präzision überschlagenden Raumschiffschlachten von
Star Wars. Dank der computergesteuerten motion control-Technik war es nun
möglich, gleich mehrere Bildebenen innerhalb einer einzigen langen Kamera-
bewegung übereinander zu legen. Auf bis zu siebzig Ebenen gleichzeitig er-
zeugte Lucas das schier bodenlos wirkende Raumgefühl eines blitzschnell durch
die Unendlichkeit schießenden Zuschauers. Mit ihrem schwerelosen Aufbruch in
kosmische Weiten wurde seine Space Opera selbst zu einer Metapher der
Computer-Revolution.

Von nun an sorgten die morphologisch unbegrenzten digitalen Tricks in jedem


weiteren Film für neue, sich ständig überbietende Effektkaskaden. In Termina-
tor 2 verwandelte sich der Flüssigmetall-Android T 1000 je nach Bedarf in ein
speerartiges Mordinstrument oder in den karierten Linoleum-Fussboden eines
Krankenhauses. James Cameron ließ in The Abyss/Die Tiefe beliebig formbare
Wasserwürmer durch das Innere einer Meeresstation wogen, während Jim Ca-
rey in The Mask seinen Körper verzerren, zerstückeln und mit einem Dutzend
verschluckter Dynamitstangen verbeulen ließ. Spielerisch, neugierig, hem-
mungslos feierte eine von der Magie der Bits und Pixel schier besessene Unter-
haltungsindustrie die Dematerialisierung der Welt.

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Als täuschend echte Simulation des Kreatürlichen brach die digitale
Technik allerdings erst Anfang der neunziger Jahre in die Bilderzeu-
gung ein – gewissermaßen mit einem prähistorischen Knall.
In Gestalt der ganz und gar lebensecht über die Leinwand stampfenden Dino-
saurier aus Jurassic Park 1993 schien der Traum von der technisch perfektio-
nierten Mimesis wahr geworden. Steven Spielbergs bösartige Veloziraptoren,
sanftäugige Brontosaurier und der T-Rex, der ein Toilettenhäuschen zertram-
pelt, rückten auch die Vorstellung vom vollständig digitalisierten Lein-
wandmenschen und sogar den posthumen Einsatz von bearbeiteten
Bilddaten verstorbener Schauspieler in greifbare Nähe.

Natürlich formierte sich gegen die positivistische Euphorie der Algorithmen-


künstler sehr bald eine kulturkritische Phalanx aus alten Querulanten und neu-
en Zweiflern. Bis heute steht die digitale Kinotechnik unter stetigem Theorie-
beschuss, warnen Kulturwissenschaftler, Medienphilosophen und Film-
publizisten vor der »Technifizierung des Ästhetischen« (Paul Virilio) und
der geistlosen Kälte des digitalen Raumes.

Im Grunde liegt es nahe, dass eine Technologie, die über das Bilderinventar
der Welt herrscht, die sich in Lichtgeschwindigkeit verarbeiten und mit geball-
ter Marktdominanz in Konsumkreisläufe einspeisen lässt, technophobe Ent-
fremdungsängste weckt. Wer sich einmal Matrix 3 in der ersten Reihe eines
THX-Surround-Kinos gesehen hat, der mag dem Vorwurf der mit jedem Film
steigenden Effektdichte eine gewisse Plausibilität zugestehen. Verschwörungs-
theoretisch empfängliche Geister diskutieren im Netz gar die Gefahr einer
Kolonisierung der Psyche durch Bilderströme, die mit der Geschwin-
digkeit von menschlichen Assoziationsketten vorbeiziehen. Etwas weni-
ger hysterisch könnte man von Überreizungs- und Abstumpfungserschei-
nungen sprechen.

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In vielerlei Hinsicht erinnern die Vorbehalte gegen das Digitale an die medien-
kritischen Diskussionen in der Frühzeit des Kinos. Man denke nur an den Ver-
lust der Aura, den Walter Benjamin am Film als technisch reproduziertem
Bilderstrom diagnostizierte. Oder auch an Debatten angesichts der Einführung
des Ton- beziehungsweise Farbfilms – befürchtet wurde jeweils der Verlust von
Anspruch und Expressivität. 1929 warnte in deutschen Kinos ein Flugblatt vor
der Einführung des Tonfilms als wirtschaftlichem und geistigem Mord. Dass
sich die Linien der Medienkritik parallel zu den jeweils jüngsten technischen
Schritten verschieben, bedeutet aber nicht, dass man die Skeptiker weniger
ernst nehmen sollte. Nur weil man die unzerstörbare Brillanz des computera-
nimierten Bildes nicht ganz abgelöst von seiner fehlenden Authentizität sieht,
muss man kein Zelluloidpurist sein.

Das klassische Zelluloidbild ist, konkret betrachtet, ein Lichtabdruck: die


Spur einer vergangenen, unmittelbaren Präsenz, festgehalten von einer hauch-
dünnen, lichtempfindlichen Emulsionsschicht, die das von den Gegenständen
reflektierte Licht aufzeichnet. Wenn selbst Regisseure, die an der vordersten
Front des Digitalen experimentieren, vom »undurchschaubaren Zauber« (Jean-
Luc Godard) oder vom »inneren Leuchten« (Dominik Graf) des Zelluloids spre-
chen, dann beziehen sie sich auf die besondere Qualität dieser Lichtspeiche-
rung. Da die Halogen-Silber-Körner des Films nach dem Zufallsprinzip
in der Emulsion eingelagert sind, entsteht der Eindruck einer Leben-
digkeit, noch verstärkt vom Hell-Dunkel-Rhythmus des feinmechani-
schen Bildertransports.

Beim digitalen Bild sind die einzelnen Pixel hingegen nach einem mathemati-
schen Raster angeordnet. Wirkt das Bild bei der digitalen Fotografie durch die
stets gleich bleibende Tiefenschärfe ein wenig unplastisch, sind die Wahrneh-
mungsunterschiede beim computergenerierten Animationsfilm oder den artifi-
ziellen Panoramen des Fantasy- und Science-Fiction-Kinos wesentlich stärker.

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Hier wird das Pixelraster vom Auge als starr und opak (trüb, lichtundurchläs-
sig) oder auch als besonders brillant wahrgenommen. Interessanterweise
stellt gerade die rechnerische Perfektion des Digitalbildes die größte
technische Hürde bei der Simulation des menschlichen Körpers dar.
Haut und Haare oder auch der Faltenwurf eines Kleides reflektieren das Licht
so unregelmäßig, dass die computergrafische Imitation stets wächsern wirkt,
umweht von einem Hauch Madame Tussauds. Es hat eine gewisse Ironie, dass
sich unser unordentliches, im wahrsten Sinne unberechenbares kleines Dasein
immer noch störrisch der totalen Verpixelung entzieht.

Die mathematische Kälte des Computerbildes wird umso offensichtli-


cher, je routinierter es sich auf der Leinwand präsentiert. So vermitteln
die protzig digitalisierten Armeen und Flottillen in Wolfgang Petersens Troja
kaum einen Eindruck von Bedrohlichkeit einer antiken Riesenarmee. Wie viel
gigantischer wirkte das Statistenheer aus Stanley Kubricks Gladiatorenfilms
Spartacus, wenn es, laut stampfend, Mann für Mann, auf einem Bergrücken
Stellung bezieht. Gerade bei der Darstellung des Monumentalen fehlt
den Festplattenschöpfungen jene physische Materialität, die einem
Film dreidimensionale Verbindlichkeit verleiht. In einem Anfall von Häme
bezeichnete Jacques Derrida die digitalen Welten einmal als Erscheinungen
zweiter Ordnung, als visuelle Zusammenfassungen, die austauschbar
durch unsere Vorstellung flottieren. Wer vermag die Klonkrieger, Elefan-
tenheere, Zauberritter und Robotersoldaten, die ineinander wogenden Digi-
Glutamat-Suppen eines einzigen Kinojahres, im Rückblick noch ernsthaft zu
unterscheiden?

Es ist der computergenerierte Animationsfilm, der den digitalen Tech-


nologien noch eigene Universen und fantastische Biotope abtrotzt.
Wenn in Toy Story 1 + 2 ausrangiertes Spielzeug in einem hyperrealistischen
Kinderzimmer um seine Daseinsberechtigung kämpft, wenn in einem dekon-

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struktivistischen Märchen wie Shrek jedes Härchen des plappernden Esels ein-
zeln animiert wird, dann entsteht zumindest die Ahnung von den Möglichkeiten
einer Technik, die ganze Welten und ihre skurrilen Bewohner liebevoll ausges-
talten kann.

Und doch bleiben selbst die sympathischsten Schöpfungen der


Dreamworks- und Pixar-Studios hinter den Möglichkeiten der Technik,
deren sie sich mit hochgetunter Rechenlogistik bedienen, zurück. Von
den Fischvorstädten in Findet Nemo bis zur Midlife-Crisis des Superhelden in
Die Unglaublichen sind die neuen Animationswelten Abwandlungen einer Kino-
welt, die sich schon immer als leicht verwandelte Wirklichkeit verstand – anth-
ropomorph von der großen Moral bis zu den kleinen Abenteuern der Helden.
Statt das surreale Potenzial des Digitalen zu nutzen oder in die be-
fremdlichen Sphären eines de Chirico vorzustoßen, befassen sich Hun-
dertschaften von Programmierern und Technikern lieber mit dem Klo-
nen von Tom Hanks.

Tatsächlich ist das digitale Kino von den wahnhaften, halluzinativen


Bild-Dimensionen, den freudianischen Metamorphosen, die sich seine
kühnsten Pioniere einst erträumten, weiter entfernt denn je. Eher be-
findet es sich in einer Phase der Regression: Ermöglichte die Technik zu
Beginn die Umsetzung einer wild vorausgaloppierenden Fantasie, scheint nun
die Fantasie mehr schlecht als recht der Technik hinterherzutrotten. Könnte
es sein, dass das digitale Kino von Anfang an traditioneller war, als die
hochfliegende Rhetorik seiner Macher und Produzenten glauben ma-
chen wollte? Dass es nicht das ganz Andere, die Revolution ist, son-
dern zunächst einmal Kino? Kino auf den Spuren jener rührend dicklichen
Rakete, die der Filmzauberer Méliès zu Beginn des Jahrhunderts in seinem Film
Voyage dans la lune zum Mond geschickt hatte? Auf dem fremden Planeten
angelangt, spazieren die Herren Weltraumreisenden mit Zylinder und Gehrock

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herum – so viel zu der schon damals in vertraute Gefilde weisenden Fantasie
der allerersten Kinoreise ins All.

Zehn Jahre zuvor, im Jahr 1895, hatten die Gebrüder Lumière ihre berühmte
Lokomotive im Bahnhof von Ciotat einfahren lassen und damit den Beginn des
realistisch-dokumentarischen Kinos markiert. Vielleicht betreibt das digitale
Kino nur die Fortsetzung jener ursprünglichen Aufspaltung des Medi-
ums in realistische und fantastische Erzählweisen. Schließlich war es
auch die digitale Technologie mit ihren kleinen Kameras und Computerschnitt-
plätzen, die dem Kino eine Rückbesinnung auf die Wirklichkeit ermöglichte.
Das medienwirksam für einen neuen Realismus plädierende Manifest der däni-
schen Dogma-Bewegung ist im Grunde nur die thesenhafte Zusammenfassung
einer Hand voll rein technischer Parameter. Plötzlich ermöglichte die kleine,
lichtempfindliche digitale Handycam das Drehen ohne großes Team, ohne
Scheinwerfer, Studio, Logistik. Damit stand Dogma in bester Tradition von
Kinobewegungen wie Cinéma Vérité und Nouvelle Vague2, die eben-
falls an den großen Produktionsapparaten vorbei auf die Wirklichkeit
zugestürmt waren.

Seit etwa zehn Jahren kann sich jeder Hobbyregisseur und Filmstudent, jeder
filmbegeisterte Hanswurst eine digitale Kamera kaufen, um dann einen Film zu
drehen und am heimischen Computer zusammenzuschneiden. Wer also die
Technifizierung, die seelenlose Ästhetik und kommerzielle Dominanz von Hol-
lywoods Animationsfilm- und Special-Effects-Fabriken beklagt, der sollte be-
denken, dass die digitale Technik ihren eigenen Ablasshandel schon allein be-
werkstelligt hat. Der kalte Irrationalismus des Pixel-Bildes ist nicht ohne den
massiven Einbruch der Wirklichkeit ins Gegenwartskino zu haben, die auf-

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»Neue Welle«. Ende der 50er Jahre entstand in Frankreich eine Bewegung unter jungen Ci-
néasten, die sich gegen die eingefahrene Bildsprache und den vorhersagbaren Erzählfluss des
etablierten kommerziellen Kinos wandte.
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trumpfende Brillanz nicht ohne den grobkörnigen Realismus. Auf der einen Sei-
te steht der Hunderte-Millionen-Dollar-Aufwand der digitalen Blockbuster, auf
der anderen die Reduktionen und Vereinfachungen der filmischen Stadtgueril-
la-Technik. Hier die schwindelerregende Monopolisierung von Produktionsauf-
wand und Know-how, dort die totale Demokratisierung.

Méliès und Lumière waren einst die großen Antipoden. Heute heißen die Ge-
gensatzpaare Dreamworks und Dogma, I Robot und Blair Witch Project, Der
Herr der Ringe und Die fetten Jahre sind vorbei. Es hat etwas sehr Beruhi-
gendes, dass es immer noch das Kino selbst ist, das sich am wider-
ständigsten gegen seine eigenen Revolutionen erweist.

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