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Leibniz-Gymnasium

Altdorf

Kollegstufe 2008/10 Abiturjahrgang 2010

Facharbeit
aus dem Fach Deutsch:

Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis


Eine vergleichende Studie von „Eine Hand voller Sterne“ und „Die dunkle
Seite der Liebe“

von Simon Reuter

Leistungskurs D2
Kursleitung: OStR Bernhard Mittenzwei

Erzielte Punkte:
(einfache Wertung)

....................................................
(Unterschrift der Kursleitung)
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 2 VORWORT

Vorwort
Ich lernte Rafik Schami, vielmehr sein Werk, schon in frühester Kindheit kennen. Das
Märchen vom WUNDERKASTEN zählt in meinen Augen noch heute zu den schönsten Kinderbü-
chern. Als ich Anfang 2009 DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE zum ersten (und wahrlich nicht zum letz-
ten Mal) lesen durfte, war ich nicht weniger überrascht wie wohl viele derjenigen Kritiker, die
in dem Exilsyrer Rafik Schami zuvor nichts weiter als einen Märchenerzähler und Kinderbuch-
autor sahen. So groß und gewaltig ist dieser Roman, der die Misere der modernen arabischen
Gesellschaft in ebenso poetischer wie bedrückender Weise offenlegt: die Macht der Sippe.
Und so erkannte ich, nachdem ich meinen Entschluss, die folgende Arbeit über das Werk
im Vergleich mit einem früheren Werk des Autors zu schreiben, auch schnell die zwei großen
Probleme, die sich mir bis zuletzt stellten: Zum einen findet sich kaum wissenschaftlich fun-
dierte Literatur über den Gegenwartsautor und sein Werk, was das Verfassen einer wissen-
schaftlichen Arbeit freilich enorm erschwert. Zum anderen ist DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE ein so
vielschichtiges, umfangreiches, aus unzähligen ineinander verschlungenen Einzelschicksalen
aufgebautes Mammutwerk, dass eine vollständige Betrachtung gerade im Rahmen einer ver-
gleichenden Studie schier unmöglich scheint.
Dem Problem der dünnen Quellenlage glaube ich dank des ausgezeichneten Rafik-Scha-
mi-Portraits von Bettina Wild (München 2006), der eindrucksvollen Ausführungen in Gerhard
Schweizers SYRIEN. RELIGION UND POLITIK IM NAHEN OSTEN (Stuttgart, 1998) und des ebenso aus-
führlichen wie informativen Nachworts des Autor zu DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE recht gut beige-
kommen zu sein. Auch zwei hochinteressante Interviews mit dem Autor, die mir in vielerlei
Hinsicht weiterhalfen und von denen eines in der folgenden Arbeit auch ausführlich zitiert wird
(6.1 „Machtstrukturen in der beschriebenen Gesellschaft Syriens“), tragen dazu bei, dass ich
denke, nun durchaus von einer wissenschaftlichen Fundiertheit der Arbeit sprechen zu können.
Für das Herangehen an die zweite Problematik war vor allem die Erkenntnis entscheidend,
dass der Roman in der Tradition der großen arabischen Erzählkultur zu sehen ist und daher
nicht in jedweder Hinsicht in die sezierende Zange klassisch mitteleuropäischer Literaturbe-
trachtung geklemmt werden darf. Zwischen all den Anekdoten, Nebenhandlungen und schein-
bar unwichtigen Ausführungen findet sich eine zentrale Handlung, auf die es sich bei einer
Analyse, die einen mehr oder weniger festen Rahmen nicht sprengen soll, zu konzentrieren
gilt.
Und so folgt auf die biographische Betrachtung des Autors, dessen Jugendzeit uns eben-
falls bei einem Verständnis der gezeichneten Gesellschaft helfen sollte, eine inhaltliche Analy-
se der beiden Werke, die besonders im Fall von DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE weder einen An-
spruch auf Vollständigkeit erheben kann noch darf. Dass aufgrund der spezifischen Betrach-
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 3 VORWORT

tung der Themen Macht und Liebe eine Vielzahl von ebenfalls interessanten Aspekten beider
Werke keine Beachtung findet, ist leider unvermeidlich. Doch die weitgehende Beschränkung
der Untersuchung der Werke auf die beschriebenen Machtstrukturen und die Rolle von (verbo-
tenen) Liebesbeziehungen besonders in dem auf die inhaltliche Analyse folgenden Vergleichs-
teil ist dabei notwendigerweise auch zielgerichtet, wie die eingehende Betrachtung der Titel-
themen Macht und Liebe im abschließenden Teil der Arbeit zeigt.
Dass der Jugendroman EINE HAND VOLLER STERNE sowohl im analytischen wie im interpreta-
torischen Teil der folgenden Arbeit weniger Raum einnimmt als DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE ist
freilich auf den unterschiedlichen Umfang der Werke zurückzuführen, dennoch sind Aspekte
beider Romane für ein umfassendes Verständnis des Konflikts von Liebe und Machtverhält-
nissen erhellend.
Ich für meinen Teil glaube in der intensiven Beschäftigung mit dem Werk Rafik Schamis
ein entscheidendes und in den großen weltpolitischen Konflikten unserer Zeit möglicherweise
oftmals leider nicht vorhandenes Verständnis für Mensch und Kultur in der arabischen Welt ge-
funden zu haben. Ich hoffe dieses Verständnis auf den folgenden knapp zwanzig Seiten vermit-
teln zu können.
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 4 GLIEDERUNG

Gliederung

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2

1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
2. Der Autor Rafik Schami . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
2.1 Biographie und familiärer Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
2.2 Erfahrungen aus Kindheit und Jugend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
3. Der Tagebuchroman "Eine Hand voller Sterne" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
3.1 Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
3.2 Beziehungsstrukturen um den Protagonisten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
4. Der Roman "Die dunkle Seite der Liebe" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
4.1 Entstehungsgeschichte des Romans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
4.2 Geschichte des Muschtak-Clans . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
4.2.1 Georg und Sarka . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
4.2.2 Elias und Claire . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
4.2.3 Farid und Rana . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
4.3 Beziehungsstrukturen um Farid Muschtak . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
5. Inhaltlicher Vergleich beider Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
5.1 Familienstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
5.2 Gefahren und Chancen der Liebesbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
6. Die Liebe im Kontext syrischer Machtstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
6.1 Machtstrukturen in der beschriebenen Gesellschaft Syriens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
6.2 Die Rolle der Liebe im Konflikt mit Sippe und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 5 1. EINLEITUNG

1. Einleitung
„Ich wollte von der Liebe unter erschwerten Bedingungen erzählen. Politik und reale Ge-
schichte dienen als Requisiten und Hintergrund eines Romans über verbotene Liebe unter Da-
maszener Bedingungen.“[1] So schreibt Rafik Schami in seinem Nachwort zu DIE DUNKLE SEITE
DER LIEBE. Der große Roman, an dem Schami über 40 Jahre arbeitete, erzählt unzählige Ge-
schichten von verbotener Liebe – glücklicher wie unglücklicher Natur. In das gleiche Umfeld
der zweifachen Diktatur von übermächtiger Sippe und autoritärem Staat in Syrien pflanzt
Schami auch den 16 Jahre zuvor erschienen Jugendroman EINE HAND VOLLER STERNE. Beide Wer-
ke erzählen im Kern die Geschichte zweier Liebenden, die keine solchen sein dürfen in dieser
Gesellschaft aus Sippe und Militärstaat. Und so erkennt auch die Biographin Bettina Wild:
„Die beiden heimlichen ,Hauptfiguren‘ [...] sind jedoch die Liebe und die Sippenstruktur der
arabischen Länder, die die aktuelle Tagespolitik bestimmt und ihrerseits von der Religion be-
stimmt wird.“[2] Die Untersuchung dieser ,heimlichen Hauptfiguren‘ Macht und Liebe soll
Kern und Thema der folgenden ausführlichen Analyse und Interpretation der beiden Romane
Rafik Schamis sein.

2. Der Autor Rafik Schami


2.1 Biographie und familiärer Hintergrund
Rafik Schami, eigentlich Suhail Fāḍil (‫ل‬PP‫هيل فاض‬PP‫ )س‬wird
am 23. Juni 1946 in der syrischen Hauptstadt Damaskus als
Sohn des Damaszener Bäckers Ibrahim Fāḍil und seiner Frau
Hanne geboren, er ist das dritte von sechs Kindern. Der Vater
entstammt einer großbäuerlich-städtischen Familie aramäi-
scher Christen, die seit Generationen in Damaskus und dem
Bergdorf Malula leben. Ibrahim Fāḍils Eltern verachten die
von ihm erwählte Hanne Joakim, da diese aus einer armen
Familie stammt, und sind folglich gegen eine Heirat. Ibrahim Abb. 1: Rafik Schami

und Hanne Fāḍil müssen in den Libanon flüchten, eine Versöhnung mit den Eltern und die
Rückkehr nach Damaskus erfolgen erst nach der Geburt des ersten Sohnes Nachle. Syrien ist
zum damaligen Zeitpunkt ein Land instabiler politischer Verhältnisse. Ab 1949 gibt es nicht
weniger als 17 Militärputsche und 40 verschiedene Regierungen, bevor 1970 Hafiz al Assad
mit dem vorerst letzten Putsch die Macht in der regierenden Baath-Partei übernimmt (siehe
hierzu „Politische Geschichte Syriens 1944-1971 (Zeittafel)“, Anhang S. 25).[3], [4]
Der junge Suhail erlebt seine Kindheit in den Gassen Damaskus' (siehe 2.2), besucht zeit-
weise eine jesuitische Klosterschule und tritt siebzehnjährig der Kommunistischen Partei Syri-
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 6 2. DER AUTOR RAFIK SCHAMI

ens bei. Sein Deckname und späteres Pseudonym lautet „Rafik Schami“ (‫)رفيق شامي‬, übersetzt:
„Damaszener Freund“. Nach dem Abitur 1965 beginnt er ein umfassendes Studium der Natur-
wissenschaften an der Universität von Damaskus mit dem Ziel Lehrer zu werden. Nach dem
schnellen Verbot der von ihm gegründeten Parteizeitung „al Scharara“ („Der Funke“) durch die
Parteiführung leitet Schami ab 1966 die außerparteiliche Wandzeitung „al Muntalak“ („Der
Ausgangspunkt“), die 1969 vom Geheimdienst verboten wird. Die beidseitige Zensur und die
anstehende Einberufung zum Militärdienst motivieren den Vierundzwanzigjährigen nach dem
Abschluss seines Studiums 1970 zur Flucht nach Beirut im Libanon (14. Dezember 1970) und
weiter in die Bundesrepublik Deutschland (18./19. März 1971), wo er sein Studium der Che-
mie an der Heidelberger Universität bis zur Promotion 1971 fortsetzt. Von 1979 bis 1985 ist er
mit Bettina Malmberg verheiratet, 1992 heiratete er die Illustratorin Root Leeb, die beiden ha-
ben einen Sohn. Ab 1977 veröffentlicht er Texte – zunächst in arabischer, ab 1978 auch in
deutscher Sprache – in Zeitschriften und Magazinen. 1978 wird sein erstes deutschsprachiges
Buch ANDERE MÄRCHEN veröffentlicht. Bis heute hat Rafik Schami 38 Bücher herausgegeben,
darunter ebenso Kinderbücher wie Romane und politische Essays. Seit den Anfängen seiner li-
terarischen Tätigkeit wächst Schamis Popularität stetig an und spätestens seit seinen beiden
großen Romane DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE (München, 2004) und DAS GEHEIMNIS DES KALLIGRAPHEN
(München, 2008) gehört der Schriftsteller zu den erfolgreichsten Gegenwartsautoren im
deutschsprachigen Raum. Großer Beliebtheit erfreuen sich auch die „Lesungen“ Schamis, wo-
bei der Autor zumeist anstatt vorzulesen frei erzählt. [5] Wie er auf einer derartigen Veranstal-
tung in Erlangen am 14. Dezember 2009 erläutert, sieht er sich damit in der Tradition der
großen arabischen Erzählerkultur: „Ich möchte das hier in Deutschland fortführen.“

2.2 Erfahrungen aus Kindheit und Jugend


Ein intensiverer Blick auf das Leben des jungen Suhail Fāḍil alias Rafik Schami in Syrien
offenbart eine ganze Reihe prägender Eindrücke, die der Autor teilweise später auch u. a. in
EINE HAND VOLLER STERNE und DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE als autobiographische Elemente verar-
beitet hat. Die Biographin Bettina Wild schreibt: „Die Kindheit des Suhail Fāḍil ist von den
Gesetzen einer arabischen Großfamilie und damit von zwei Polen geprägt: der Einbettung in
die Familie und dem Leben auf der Straße, »seiner Gasse«, das heißt, der Einbindung in die
Gruppe Gleichaltriger“[6]
In der Familie herrscht das klassische Patriarchat des Vaters, der in strenger Erziehung die
Kinder zur Mitarbeit in der verhassten Bäckerei zwingt, weniger aus finanziellen, als vielmehr
aus pseudopädagogischen Gründen. Zur Mutter hingegen hat Suhail ein ausgesprochen enges
und liebevolles Verhältnis, nicht zuletzt aufgrund zweier schwerer Infektionskrankheiten im
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 7 2. DER AUTOR RAFIK SCHAMI

Kindesalter, in deren Folge er ein kränkliches und damit nähe- und schutzbedürftiges Kind
bleibt. Dieses zwiespältige Verhältnis zu den Eltern ist auch den Protagonisten in EINE HAND
VOLLER STERNE und DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE zu eigen, auch hier spielt die vermeintliche Unver-
einbarkeit von liebevoller Erziehung und patriarchalischer Hierarchie eine wichtige Rolle (sie-
he 3.2 und 4.2).
Im Alter von zehn Jahren schickt der Vater Suhail auf die Klos-
terschule des jesuitischen „Ordens der Erlöser“ im Libanon, wo er
fortan den Namen „Barnabas“ zu tragen hat. Das Leben im Kloster
ist geprägt von Strenge und Disziplin; so dürfen die Jungen unter
Strafandrohung kein Arabisch, sondern lediglich Französisch spre-
chen. Andererseits kommt der unfreiwillige Klosterschüler über die
umfassende Bibliothek intensiv mit den großen Werken der Weltlite-
ratur in Kontakt. Als Suhail nach zweieinhalb Jahren an einer lebens-
Abb. 2: Der zehnjährige bedrohlichen Meningitis erkrankt, nimmt ihn der Vater endlich ein-
Suhail Fāḍil
sichtig aus der Klosterschule. Die Erfahrungen von Strenge und Dis-
ziplin im Kloster und die schwere Krankheit verarbeitet Schami später im Leidensweg des
Protagonisten Farid in DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE (siehe 4.1.3).
Für seine Entwicklung ebenso prägend wie die Familie ist für Suhail Fāḍil der tägliche
Umgang mit seinen Altersgenossen beim Spielen auf der Gasse. „Meine Erzieherin war die
Gasse“[7] sagt Schami in Bezug auf die cliquenhafte Struktur seines Freundeskreis. Hier ver-
bringt Suhail die meiste Zeit neben der Schule, auch erste Annäherungen zum weiblichen Ge-
schlecht sind – anders als in den muslimischen Vierteln von Damaskus – in seiner Gasse mög-
lich. Wie sein Protagonist in EINE HAND VOLLER STERNE gründet auch der junge Suhail eine gehei-
me Gruppe von verschworenen Jugendlichen namens „Schwarze Hand“[8], die Ungerechtigkei-
ten und Fehlverhalten in der Nachbarschaf zu ahnden versucht (siehe 3.1). So widerfahren dem
Jugendlichen im Alltag seiner Gasse wichtige und prägende Erlebnisse für seinen weiteren
Weg, gerade auch im Hinblick auf seine spätere politische Arbeit.
Neben dem täglichen Leben in Damaskus bieten die Sommerferien Suhail Fāḍil ein will-
kommenes Intermezzo, sie werden alljährlich im überwiegend christlichen Bergdorf Malula
verbracht werden. Das fiktive Bergdorf Mala in DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE weist nicht nur eine
namentliche Verwandtschaft mit Malula auf, auch Sozialstruktur und Gewohnheiten der Dorf-
bewohner, wichtige Bauten sowie die Lage und Geschichte des Dorfes entsprechen der Malu-
las in so offensichtlicher Weise,[9] das wohl eine weitgehende Gleichsetzung erlaubt ist.
Diese vielfältigen Erfahrungen aus Kindheit und Jugend tauchen als autobiographische
Elemente sehr häufig in Werken Rafik Schamis auf und tragen zum Verständnis der in DIE
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 8 2. DER AUTOR RAFIK SCHAMI

DUNKLE SEITE DER LIEBE und EINE HAND VOLLER STERNE aufgezeigten Beziehungsstrukturen, Macht-
[10]
gefüge und Erfahrungen bei.

3. Der Tagebuchroman „Eine Hand voller Sterne“


3.1 Inhalt
Ein Damaszener Bäckersohn teilt seinem Tagebuch über einen Zeitraum von etwa dreiein-
halb Jahren persönliche Erlebnisse mit. Die große Bedeutung, die dabei Erfahrungswerten des
Erwachsenwerdens zukommt, rückt EINE HAND VOLLER STERNE in die Nähe eines Adoleszenro-
mans. Der Ich-Erzähler, dessen Name ungenannt bleibt, hat Talent und Spaß am Schreiben und
der Poesie und sieht im Journalismus seinen Berufswunsch. Der Vater hingegen zeigt wenig
Verständnis für die Träume seines Sohnes, er möchte, dass sein Junge einmal die Bäckerei wei-
terführt und nimmt ihn schließlich sogar aus der Schule. Der Tagebuchschreiber findet in der
Poesie eine wichtige Stütze, ein Verleger veröffentlicht sogar einige seiner Gedichte in einem
Sammelband. Neben der Familie stehen dem Ich-Erzähler hauptsächlich der ehemalige Kut-
scher Onkel Salim, ein begnadeter Geschichtenerzähler, seine Freunde Josef und Mahmud so-
wie seine Liebe Nadia, die Tochter eines strengen Geheimdienstlers, nahe. Aufgrund der fami-
liären Situation seiner Freundin müssen Treffen, Liebesbezeugungen und Sexualität unter
größter Geheimhaltung vonstatten gehen, sind aber möglich. Der erdrückenden politischen Si-
tuation unter Putsch für Putsch wechselnden autoritären Regierungen setzt der Ich-Erzähler mit
seinen Freunden Mahmud und Josef die geheime Jugendbande „Schwarze Hand“ entgegen, die
Ungerechtigkeiten in der Nachbarschaft auf kindlich naive Art zu ahnden versucht. Neben sei-
ner begonnenen Lehre als Buchhändler, die ihn von der verhassten väterlichen Bäckerei be-
freit, lernt der Protagonist beim von staatlicher Zensur verbitterten Journalisten Habib das Ver-
fassen journalistischer Texte. Mit diesem und seinem Freund Mahmud gründet er eine geheime
Zeitung, die auf dünne Papierstreifen gedruckt und als Füllung in billig verkaufte Socken ge-
stopft, schnell in den Umlauf kommt. Der Journalist Habib bezahlt diese Arbeit mit der Verhaf-
tung, Folter und vermutlich dem gewaltsamen Tod. Jener Verlust, der Tod des geliebten Onkel
Salim und die willkürliche Verhaftung des Vaters stellen wichtige Stationen im Erwachsenwer-
den des Jungen dar. Er beschließt, die Arbeit als Herausgeber der „Sockenzeitung“ gemeinsam
mit Mahmud und seiner Geliebten Nadia allen widrigen Umständen zum Trotz weiterzuführen.

3.2 Beziehungsstrukturen um den Protagonisten


Der Tagebuchschreiber, namentlich ungenannter Protagonist des Romans, ist integriert in
ein sich teils erst im Laufe des Romans spannendes Netz aus Beziehungen und Verhältnissen,
deren Untersuchung und Bewertung die Frage nach der Position des Einzelnen in seinem nähe-
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 9 3. DER TAGEBUCHROMAN „EINE HAND VOLLER STERNE“

ren und weiteren Umfeld zu beleuchten hilft. Diese Beziehungen lassen sich in eine Reihe von
Gruppen, wenn man so möchte „Beziehungssysteme“, einteilen (siehe Abb. 3), wobei gewisse
Überschneidungen nicht nur zu berücksichtigen, sondern vielmehr in besonderer Weise zu be-
tonen sind, stellen sie doch für den Protagonisten die Verbindungsglieder zwischen den ent-
sprechenden Gruppen dar.

Familie

Salim Mutter Vater


Habib
Schwester

Mahmud Erzähler
Fr

Schule
eu
nd
e

Nadia Staat

Externe Ein
Art der Beziehung: flüss e

LIEBE HASS FREUNDSCHAFT

Abb. 3: Schema der Beziehungsstrukturen um den namenlosen Protagonisten in „Eine Hand voller
Sterne“

Zunächst einmal ist der Ich-Erzähler freilich in seine Familie eingebettet. Während die
jüngere Schwester Leila nur recht selten Erwähnung findet, ist das Verhältnis zu seinen Eltern
intensiver – im positiven wie im negativen Sinne. Die Mutter ist moralisches Vorbild und
liebevolle Stütze zugleich, sie spielt oftmals die Rolle der Vermittlerin zwischen Vater und
Sohn. Das Verhältnis zum Vater ist zu Beginn ein sehr gespanntes, Grund sind die unterschied-
lichen Vorstellungen der Lebensplanung den Ich-Erzähler betreffend. Während der Erzähler
von einer Zukunft als Journalist träumt, will der Vater in ihm, dem einzigen Sohn, den Nach-
folger in der familieneigenen Bäckerei sehen: „Er wird Bäcker, und damit Schluß!“[11]. Von den
Berufsvorstellungen des Jungen hält er nichts: „Ich habe ihm gesagt, daß ich Journalist wer-
den will. Er hat mich aber ausgelacht. Das sei ein Beruf für Nichtsnutze“[12]. Den Höhepunkt
erreicht der Streit, als der Vater seinen Sohn aus der Schule nimmt. Erst die Option einer Buch-
händlerlehre sorgt für eine gewisse Entspannung zwischen beiden. Als der Vater schließlich
Opfer einer willkürlichen Verhaftungs- und Folterwelle wird, eint der Hass auf das Regime die
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 10 3. DER TAGEBUCHROMAN „EINE HAND VOLLER STERNE“

Zerstrittenen: „Ich war noch nie so stolz auf meinen Vater gewesen wie heute, und weil sie ihn
geschlagen haben, liebe ich ihn wie nie zuvor.“[13]
Eine wichtige Bezugsperson für den Ich-Erzähler, gerade zu Zeiten der Zerstrittenheit mit
dem Vater, stellt Onkel Salim dar. Als väterlicher Freund weckt er im Jungen die journalisti-
schen Ambitionen, steht ihm bei schwierigen Fragen stets zur Seite und findet als begnadeter
Geschichtenerzähler oft die richtigen Worte im Umgang mit seinen Mitmenschen. Er ist es
auch, der den Jugendlichen davon abbringt, von daheim fortzulaufen: „Heute habe ich erfah-
ren, daß Onkel Salim nicht nur in jener Nacht auf der Treppe geschlafen hat. [...] Er hat ge-
ahnt, daß ich wirklich abhauen wollte. Er ist ein großartiger Freund.“[14] Sein Tod wird zum
entscheidenden Einschnitt im Lebensweg des Ich-Erzählers. Der Verlust dieser allseits belieb-
ten und ihn stets unterstützenden Vaterfigur lässt den Jugendlichen selbst enorm an Reife ge-
winnen.
Neben Mahmud und anfänglich noch Joseph, gewissermaßen seiner Peergroup, ist es der
betagte Journalist Habib, der die Funktion als Freund und Lehrer gleichermaßen erfüllt. Mit
ihm teilt der Protagonist den Hass auf die Regierung und den sehnlichen Wunsch nach einem
Leben in Freiheit. Er lehrt ihn das Handwerk des Journalisten, gewinnt dabei durch die Freund-
schaft mit dem jugendlichen Idealisten auch selbst seinen Lebensmut wieder. Die Wohnung des
Journalisten wird für den Erzähler zum Schutzort, an den er sich mit Nadia in Absprache mit
Habib regelmäßig zurückziehen kann. Die gemeinsame Arbeit an der Sockenzeitung und vor
allem die zweimalige Verhaftung und die vermutete Ermordung des Freundes beflügeln den
kritischen Aktivismus des Jungen; er ist neben dem Arabischlehrer Katib der zentral Verant-
wortliche für die journalistisch-literarische Ausbildung des Ich-Erzählers.
Einen wichtigen, vielleicht den entscheidenden Platz in den Verhältnisstrukturen um den
Ich-Erzähler nimmt seine Freundin Nadia ein, schon deshalb, weil sie nicht so recht in ein ein-
ziges Beziehungssystem zu passen vermag. Zwischen beiden herrscht weder, vor allem auf-
grund ihres strengen Vaters, ein freundschaftlich lockerer Umgang, noch stehen beide Distan-
ziert zueinander. Obwohl sie für ihn stets einen intimen Gegenpol zum alltäglichen Leben dar-
stellt, vertraut er ihr die Arbeit an der Sockenzeitung erst spät an, hauptsächlich um sie und
sich selbst gegenüber ihrem Vater, einem Geheimdienstbeamten, zu schützen. Ihre Beziehung
einen nicht nur die romantischen Gefühle und die im Laufe der pubertären Entwicklung beider
immer häufiger und weitgehender ausgelebten Intimitäten. Auch der gemeinsame Hass auf Na-
dias strengen, gleichwohl gegenüber den stets wechselnden Regierungen heuchlerischen Vater
und auf die unfreien politischen Verhältnisse prägt ihre Beziehung: „Sie schrieb, daß sie ihren
Vater verachtet, der allen Regierungen den Arsch leckt. Großartig!“[15] Nadia zieht sich neben
der Mutter als einzig unveränderlich positive, unverlorene, dem Erzähler stets Nähe und Unter-
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 11 3. DER TAGEBUCHROMAN „EINE HAND VOLLER STERNE“

stützung verleihende Figur durch die gesamte Handlung und steht dem Protagonisten am Ende,
als mit Habib und Salim zwei zentrale Fäden für ihn abgerissen sind, als stärkste Kraft auf sei-
nem weiteren Weg zur Seite.

4. Der Roman „Die dunkle Seite der Liebe“


4.1 Entstehungsgeschichte des Romans
„Eine junge Muslimin wurde 1962 vor meinen Augen und denen aller Nachbarn umge-
bracht, weil sie die Religionsgrenzen überschritten und einen christlichen Mann geliebt hatte.
[...] Man müsste, dachte ich damals als Sechzehnjähriger, [...] einen Roman über alle Spielar-
ten der verbotenen Liebe in Arabien schreiben“[16]. Rafik Schami benennt in seinem Nachwort
zu DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE jenes prägende Ereignis, das „all die Jahre als Katalysator fun-
gierte“[17]. Nach diesem Impuls arbeitet Schami nicht weniger als 42 Jahre an dem Roman. In
dieser Zeit erschweren nicht nur seine Flucht in die Bundesrepublik und das dortige Studium –
nicht zu vergessen die Schwierigkeiten, sich im Exil zurechtzufinden – die Arbeit (siehe 2.1),
auch findet Schami, er sei „trotz eingehender Beschäftigung mit der arabischen Gesellschaft
noch nicht genau informiert, wie die Herrschaft der arabischen Sippe funktioniert, [...] Ich
musste also erst einmal meinen Kopf durch gründliche Studien über die Ursprünge der arabi-
[18]
schen Gesellschaft reinigen“ . Da Rafik Schami selbst aufgrund einer dort zu erwartenden
Verhaftung nicht nach Syrien zurückkehren kann, beauftragte er unzählige Freunde und Be-
kannte mit dortiger Recherchearbeit: „Das war dank der Hilfe vieler Menschen so ergiebig,
dass ich bald eine eigene Bibliothek [...] einrichtete: etwa zweihundert Bände und ein großes
Archiv“19]
Trotz der vielen offensichtlich autobiographischen Elementen im gesamte Roman, beson-
ders aber in der Figur des Farid, ist die Kernhandlung der Flucht zweier Liebender unter er-
schwerten Bedingungen durchaus einer anderen Realität entnommen. Schamis Mutter erzählt
sie ihm in Beirut unmittelbare vor seiner Ausreise: „alle Frauen des Viertels tuschelten in den
Innenhöfen und Hammams von der Flucht der zwei Liebenden Rana und Farid und von Ranas
Rache durch den Verkauf der Wohnungseinrichtung an den Trödler“[20] Um diesen Kern herum
baut Schami bis 1986 mithilfe wichtiger Informationen über die Muschtaks und die Schahins
eine erste Fassung, die er auch in Teilen auf seinen Lesungen vorstellt. Trotz der positiven Res-
sonanzen gibt der Autor sie nicht zur Veröffentlichung frei. „Der Roman stimmte einfach
nicht“[21], so Schami. Zwischen 1992 und 1993 kann sich der Autor dank eines Stipendiums
des Deutschen Literaturfonds intensiv mit der Arbeit an dem Werk beschäftigen, doch erst ab
1995 glaubt er endlich die „einzige Form für eine solche Geschichte“[22] gefunden zu haben.
Ab 2000 zieht sich der Autor zurück, um den Roman fertigzustellen, die Ereignisse des 11.
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 12 4. DER ROMAN „DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE“

Septembers 2001 lassen ihn die Arbeit jedoch zugunsten des politischen Tagebuchs MIT
FREMDEN AUGEN unterbrechen. Als 2004 DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE erscheint, hält sich der Roman
30 Wochen lang in den gängigen Bestsellerlisten und stößt auf eine enorm positive Resonanz
gleichermaßen bei Publikum und Kritikern. So schreibt beispielsweise der Feuilletonist und
Schriftsteller Fritz J. Raddatz über den Roman: „Ein Meisterwerk. Ein Wunderding der
Prosa“.[23], [24]

4.2 Geschichte des Muschtak-Clans


Ganz im Stile der alten arabischen Erzählerkultur baut Rafik Schami DIE DUNKLE SEITE DER

LIEBE einem Mosaik gleich aus unzähligen teils alleinstehenden, teils verflochtenen Mosaikstei-
nen, sprich Einzelschicksalen, Geschichten und Anekdoten innerhalb sowie im näheren und
weiteren Umfeld der syrischen Familie Muschtak auf. „Und wie ein Mosaik erscheint das Bild
umso harmonischer und glatter, je weiter es vom Betrachter entfernt steht“[25], schreibt der Au-
tor selbst in seinem Nachwort. Die zeitliche Abfolge der unzähligen Geschehnisse wird im Ro-
man nicht linear eingehalten und erstreckt sich über ein gutes Jahrhundert. Nicht nur fällt es
folglich schwer, den Inhalt des Werkes dem Ablauf des Romans folgend zusammenzufassen,
auch würde eine Berücksichtigung aller Einzelepisoden und Handlungszusammenhänge den
Rahmen einer knappen Zusammenfassung weit sprengen. Als sinnvolle Möglichkeit bietet es
sich daher an, die persönliche Geschichte von Farid Muschtak, dem Protagonisten vor allem
der zweiten Hälfte des Romans, in den Mittelpunkt zu stellen und die vorausgehende Ge-
schichte der Muschtak-Sippe anhand Farids Eltern- und Großelterngeneration zu erläutern.

4.2.1 Georg und Sarka


Georg Muschtak und seine Frau Sarka sind die Begründer der Muschtak-Sippe in Mala.
Sarkas ursprünglicher Name ist Laila Chairi, sie ist die Tochter eines Muslimen und soll an
einen solchen verheiratet werden. Sie begegnet jedoch Nassif Jasegi, einem wohlhabenden ka-
tholischen Christen, in den sie sich verliebt. Gemeinsam fliehen sie in das Bergdorf Mala. Dort
geben sie sich als Georg und Sarka Muschtak aus und lassen sich als Großbauern nieder. Mala
bildet mit seiner christlichen Bevölkerungsmehrheit im überwiegende muslimischen Syrien
eine Ausnahme. Die in Mala bis dato vorherrschende Sippe stellen die orthodoxen Schahins
unter dem Patriarchat von Jusuf Schahin und seiner Frau Samia. Schnell entsteht eine Feind-
schaft zwischen den Schahins und den Muschtaks. In der Folge widmet Georg Muschtak sein
Leben dem Kampf gegen die Schahins und kehrt sich von seiner Frau Sarka ab; er betrügt sie
auch mehrfach. Sie verliert in Folge vier schwerer Geburten zunehmend den Verstand und
stirbt schließlich. Die Jahre sind überschattet von gegenseitigen Attacken der Schahins und
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 13 4. DER ROMAN „DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE“

Muschtaks. Seinen größten Triumph – auch gegenüber den Schahins – erfährt Georg
Muschtak, als er einen Mala belagernden gefürchteten Banditenführer (Hassan Kaschat, Sarkas
ehemaliger Verlobter) eigenhändig tötet. Auch in der Folge prägen zahlreiche gegenseitige
Anschläge und Vergeltungsschläge das Verhältnis der Muschtaks und Schahins.

4.2.2 Elias und Claire


Elias kommt als viertes Kind von Georg Muschtak und Sarka auf die Welt, wobei ihn der
Vater von Geburt an aufgrund Elias' gewaltigen Glieds neidvoll und abgrundtief hasst. Er er-
lebt eine schwierige Kindheit unter dem strengen Vater, genau wie seine „starrköpfige“
Schwester Malake, bis er zehnjährig in ein Jesuitenkloster in Damaskus geschickt wird. Es
wird dem Jungen ein paradiesischer Zufluchtsort vor seiner Familie, die er auch in den Ferien
nicht besucht. Er ist begabt und intelligent und erhält eine umfassende europäisch geprägte
Ausbildung. Erst nach sieben Jahren fährt Elias wieder nach Mala anlässlich der Hochzeit sei-
nes ältesten Bruders Salman, die in vielerlei Hinsicht eine wichtige Station in seiner Entwick-
lung darstellt. Zum einen bricht der Vater endgültig mit Malake, weil sie, noch bevor der Erst-
geborene die Ehe vollzogen hat, mit ihrem Geliebten Adel schläft; Malake und Adel fliehen
daraufhin. Zum anderen entdeckt Elias nach einem Akt der Sodomie mit einer Eselin seine
Sucht nach Sexualität und Frauen, was zum erneuten Bruch mit seinem neiderfüllten Vater
führt.
Nachdem Elias das Klosterleben hinter sich gelassen hat, nimmt er eine Lagerverwaltungs-
stelle in Damaskus an, wo er eine üble Misshandlung erfährt. Bei der Rückkehr nach Mala ent-
spannt sich das Verhältnis von Vater und Sohn, Georg Muschtak möchte seinen Sohn mit Sami-
ra, Tochter der Mobates, verheiraten. Er verliebt sich jedoch in die gebildete Damaszenerin
Claire Surur, die mit dem Boxer Musa Salibi verlobt ist. Mit ihr flieht er nach Beirut und heira-
tet sie dort. Elias wird Konditor und zieht mit Claire nach zwei Fehlgeburten nach Damaskus,
wo er eine erfolgreiche Konditorei eröffnet. Nachdem Elias ein von Musa Salibi verübtes At-
tentat überlebt, der nicht nur aus Rache, sondern auch auf Geheiß von Elias' gekränktem Vater
handelt, verliert Claire ihr drittes Kind. Mit Farid bringt sie schließlich ihren ersten Sohn auf
die Welt. Die liebevolle Beziehung von Claire und Elias wandelt sich nach einigen Affären des
Elias' zu einer respektvollen, aber recht lieblosen Ehe.

4.2.3 Farid und Rana


Farid ist das ersehnte erste Kind von Elias und Claire und wächst in eigentlich glücklicher
Kindheit in den Gassen von Damaskus auf. Er ist fest in seinen Freundeskreis eingebunden,
wird von seinem engsten Kumpanen Josef in dessen Jugendbande aufgenommen. Auch in
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 14 4. DER ROMAN „DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE“

Mala, wo die Muschtaks den Sommer verbringen, hat er Freunde, besonders Matta, sein (was
Farid nicht weiß) Halbbruder, steht ihm nahe. Als Jugendlicher trifft er Rana, Spross der ver-
feindeten Schahin-Familie. Die beiden verlieben sich, müssen ihre Beziehung aber aus Angst
vor ihren Vätern geheim halten. Dreizehnjährig will Elias Farid in ein Jesuitenkloster im Liba-
non schicken. Er und Rana versuchen nach Beirut zu fliehen, werden dort aber festgenommen
und zurückgeschickt. Das Klosterleben, die schwere Arbeit, die autoritäre Klosterführung und
seine aufgezwungene Verwandlung in den Mönch Barnabas machen dem Jungen schwer zu
schaffen, auch die anfängliche Freundschaft mit dem Mitschüler Bulos wandelt sich – ohne das
Farid den Grund kennt – in tiefe Ablehnung. Überraschenderweise kommt Jugendfreund Mat-
ta ebenfalls in das Kloster, wird nach zwei erfolglosen Fluchtversuchen jedoch entlassen und
verliert in Folge schwerer Misshandlungen einen Teil seiner geistigen Fähigkeiten. Die für Fa-
rid zunehmend schlimmer werdende Zeit endet erst, als seine Mutter ihn nach schwerer, dort
unbehandelter Krankheit aus dem verhassten Kloster „errettet“.
Die Liebe zwischen ihm und Rana bleibt über die Zeit bestehen und wird zunehmend auch
sexueller. Zum Vater bleibt das Verhältnis gespannt, auch weil Farid sechzehnjährig aus politi-
scher Überzeugung in die Kommunistische Partei eintritt und dort Leiter der Jugendorganisati-
on wird. Schließlich wird Farid, er studiert bereits an der Universität, vom Geheimdienst ver-
haftet und ins Gefangenenlager Gahan gebracht, wo die Inhaftierten gefoltert und misshandelt
werden. Ein Militärputsch befreit Farid nach endlosen Monaten der Qual aus dem Lager. In der
Zwischenzeit ist Rana nach einer Vergewaltigung durch ihren Cousin Rami von ihrer Familie
an denselben zwangsverheiratet worden. Es gelingt ihr dennoch, Zeit mit Farid zu verbringen.
Der tritt aus der Kommunistischen Partei aus und beginnt nach dem Ende seines Studiums als
Lehrer zu arbeiten, wird jedoch an die syrisch-israelische Grenze weit entfernt von Damaskus
strafversetzt. Die ländliche Verkommenheit dieses Kriegsgebietes (Sechstagekrieg 1967, siehe
Zeittafel S. 25) machen ihm zu schaffen, er schließt sich zeitweise den sozialistischen „Radika-
len“ an.
Rana quält in Damaskus vor allem Farids Abwesenheit. Sie wird depressiv, erfährt nach ei-
nem kurzen Aufenthalt in der Psychiatrie eine scheinbare Besserung. Farid versucht nötige Pa-
piere für eine gemeinsame Flucht zu organisieren, wird jedoch beim Versuch, sich im Unter-
grund vor dem Geheimdienst versteckt zu halten erneut verhaftet und in das KZ-ähnliche To-
deslager Tad gebracht. Unter Hauptmann Garasi erfahren die Gefangenen unmenschliche Qua-
len teils bis zum Tod; ein Hungerstreik der Lagerinsassen führt aber zur Absetzung Garasis.
Der neue Hauptmann, Mahdi Said, foltert noch entschiedener und quält Farid tagelang persön-
lich. Er erfährt, dass Mahdi Said niemand anderes ist als Bulos, Spross der Schahins und einsti-
ger Klostergefährte, der sich an ihm persönlich, und am Muschtak-Clan generell für die Ermor-
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 15 4. DER ROMAN „DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE“

dung seines Vaters rächen will. Die Nachricht dringt nach Damaskus und es gelingt Elias und
Claire, Farid durch Bestechung des Präsidentenbruders freizukaufen. Ranas Depression ver-
schlimmert sich nach Farids Verhaftung und sie verbringt lange Zeit in der Psychiatrie, wo sie
sich, gut geschützt vor Familie und Ehemann, langsam öffnet. Nach Farids Freilassung und ih-
rer Entlassung bereiten beide ihre Flucht nach Deutschland vor und lassen sich Pässe fälschen.
Mit Mattas Hilfe täuschen sie den Geheimdienst und fliehen über die Grenze nach Beirut, um
von dort mit Visum und Zulassung für die Universität Heidelberg in die Bundesrepublik zu
fliegen. Matta ermordet noch am selben Abend aus Rache Mahdi Said.

4.3 Beziehungsstrukturen um Farid Muschtak


Wie der Tagebuchschreiber in EINE HAND VOLLER STERNE ist auch Farid Muschtak umgeben
von einer ganzen Reihe für ihn wichtiger Bezugsgruppen und -personen. Die Einteilung in kla-
re Beziehungssysteme fällt jedoch schon aufgrund der erheblich größeren Anzahl von handeln-
den Personen in DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE schwerer. Eher kann es helfen, Ursprung und Grün-
de für die Ausprägung der entsprechenden Beziehungen zu untersuchen
Eine besondere Beachtung muss dabei der Struktur der Sippe zukommen. In eben die wird
Farid hineingeboren, obwohl sein Vater Elias bis zuletzt mit dem großen Familienoberhaupt
Georg Muschtak im Streit steht. Elias ist Pascha und bleibt trotz seiner europäisch-humanisti-
schen Ausbildung vom Ehrbegriff der patriarchalischen Familie geprägt, weshalb auch ihm die
Schahins verhasst sind. Das Verhältnis zu seinem eigenen Sohn, Farid, ist nach der beidseitigen
Enttäuschung – die Farids über den Zwang, ins Kloster zu gehen und die Elias' über den Ab-
bruch der theologischen Laufbahn Farids – weder von Liebe noch von Hass geprägt, vielmehr
herrscht eine entschiedene, jedoch von Seiten des Sohnes respektvolle Distanziertheit. Elias'
Enttäuschung über die sippenfremde Selbstständigkeit und die politischen Ideologien seines
Sohnes sitzen tief, ebenso belasten Farid die Machtausübungen seines Vaters ihm gegenüber:
„Jeder Räuber hätte mehr Verständnis für ihn als dieser Mann neben ihm“[26]. Erst die zwei-
malige Verhaftung Farids – er ist bereits über zwanzig – bringt Vater und Sohn wieder näher
zueinander, bezeichnenderweise nicht zuletzt auch deshalb, weil Farid in Tad von einem Mit-
glied des verfeindeten Schahin-Clans gefoltert wird.
Dass Farid überhaupt zur Selbstständigkeit reifen kann und die patriarchalischen Ehrbe-
griffe der Sippe nicht übernimmt ist vor allem seiner Mutter Claire zu verdanken. Die gebildete
Damaszenerin liebt ihren Sohn nicht nur zutiefst, sie schützt ihn mit ihrer Weltoffenheit und
dem unbedingten Verständnis für Farid auch vor dem Einfluss der bäuerlichen Sippenstruktu-
ren. Zwischen Vater und Sohn spielt sie wiederholt die Vermittlerin und zeigt sich dabei auch
erstaunlich emanzipiert: „'Ich frage dich noch einmal', schrie sie ihn an, 'bist du ein Vater?
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 16 4. DER ROMAN „DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE“

Bist du, der seinen verlorenen Sohn mit Schlägen empfängt ein Vater? Du bist ein
gewalttätiger Irrer, der hinter Gitter gehört. [...] Ein Kind ist Farid, ein Kind! Und ihr
misshandelt ihn!'“[27]. Auch Farids Liebe zu Rana ist ihr bekannt, und obwohl sie die
Problematik der verfeindeten Sippen sehr genau kennt, unterstützt sie ihren Sohn und wird
nach und nach auch zu einer engen Freundin Ranas.
Die andere wichtige Frau innerhalb der Familie ist für Farid seine wenige Jahre ältere
Cousine Laila. Von klein auf stehen die beiden in einem besonders liebevollen Verhältnis zu-
einander, das mit dem Erwachsenwerden beider auch eine erotische Komponente entwickelt.
Sie ist wie Claire eine attraktive, europäisch geprägt recht emanzipierte Frau, die entgegen dem
Wunsch ihrer Familie aus Liebe einen ihr Freiheiten gewährenden Musiker heiratet. Farid fin-
det, obwohl sie seine politischen Ideologien verachtet, bei ihr stets Unterstützung – sie ver-
steckt ihn sogar auf seiner Flucht vor dem Geheimdienst – und auch er ist für sie wichtiger Be-
zugspunkt. Der verbotenen Liebe zwischen Rana und Farid versucht die Cousine Hilfestellung
zu leisten, Anzeichen einer Eifersucht finden sich selten. Bezeichnend ist, dass diese beiden für
Farid wichtigsten Bezugspersonen innerhalb der Sippe zum einen Frauen sind, zum anderen
die Sippenherrschaft mit ihren althergebrachten Strukturen entschieden ablehnen.
Dass bei Farids Distanz gegenüber dem Vater und seiner Ablehnung des Sippen-Denkens
der Freundeskreis („Peergroup“), eine wichtige Bedeutung haben muss, erklärt sich von selbst.
So verwundert es nicht, das Farid stets von einem Kreis Gleichaltriger oder zumindest Wohlge-
sinnter umgeben ist. Auch die Mitgliedschaft in der geheimen Bande seines Freundes Josef und
des Geheimbundes „Syrische Brüder“ im Kloster lassen vermuten, dass Farid in diesen Bezie-
hungssystemen mit ihren ganz eigenen Regeln und Machtverteilungen eine Art „Ersatzfamilie“
sucht. Besonders Josef wird für ihn vom Jugendalter an ein wichtiger Freund in Damaskus.
Und obwohl die politischen Weltanschauungen Beider verschiedener nicht sein könnten,
herrscht ein reger und intensiver Austausch zwischen den Freunden, nicht zuletzt, weil Josef
wie Farid sehr intelligent ist. Auch lehnt Josef ebenfalls die Sippenstrukturen nicht zuletzt
wegen einer gescheiterten Liebschaft (siehe 6.2) ab. Auf einer weniger geistigen, als vielmehr
sprichwörtlich „brüderlichen“ Ebene spielt das Verhältnis zischen Farid und Matta, den er
schon aus Mala kennt. Mattas Passion während der Flucht aus dem Kloster hat Teile seiner
Erinnerung ausgelöscht, nicht aber das Wissen über Farids Zuneigung für ihn. Er ist Farid und
seinen Eltern fortan treu ergeben und arbeitet kostenlos für sie, Claire bezahlt ihn heimlich
über seine Tante. Farid nennt er nur „mein Bruder“, ob ihm die tatsächliche Verwandtschaft
(Elias ist unwissentlich Mattas Vater) bekannt ist, bleibt offen. Seine Liebe für Farid geht so
weit, dass er ihm und Rana nicht nur bei der Flucht hilft, er ermordet auch den ehemaligen
Klosterfreund Bulos alias Mahdi Said aus eigenem Racheempfinden für Farids Qualen.
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 17 4. DER ROMAN „DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE“

Die Figur dieses Hauptmanns spielt eine entscheidende Rolle für Farid, lernt er ihn im
Kloster doch zunächst als guten Freund kennen. Dass Bulos' weltlicher Name Said Schahin ist,
weiß er nicht. Als der erfährt, dass Mitschüler Barnaba (Farid) tatsächlich ein Muschtak ist,
wendet er sich ab und hält ihn später auch für einen Verräter. Said wartet aufgrund der Ermor-
dung seines Vaters durch einen Muschtak lange auf eine Gelegenheit, sich an dem verhassten
Clan zu rächen. Mit der Inhaftierung Farids in Tad glaubt er diese Gelegenheit gefunden zu ha-
ben, am Ende bezahlt er dafür mit dem Leben, das ihm Matta, ein „halber Muschtak“, nimmt.
Für Farid steht über all dem jedoch Rana. Beide halten – trotz der nötigen Geheimhaltung
gegenüber ihrer verfeindeten Familien – stets zueinander, müssen mehrfach lange aufeinander
warten, in Abstinenz voneinander leben. Ranas erzwungene Ehe mit Rami empfindet sie als
beidseitigen Betrug, was enorm zu ihrer Depression beiträgt: „Wenn du Rana wirklich liebst,
dann flieh mit ihr oder mach Schluss,“ fleht Ranas Freundin Dunia Farid einmal an, „ihre
Liebe zu dir macht sie krank. Sie ist inzwischen so weit, dass sie das Leben mit ihrem Mann als
Verrat an dir betrachtet und darunter leidet.“[28]. Im Kloster, dem Lehrerexil und während der
beiden Inhaftierungen ist sie für ihn wichtige Erinnerung, seine Zuneigung verfliegt nicht
einmal vorübergehend. Dennoch ist er – und damit dann doch Kind seiner Sippe – hin- und
hergerissen zwischen gemeinsamer Flucht und dem damit verbundenen Abschied von
Damaskus und seinen Eltern, was die Flucht merklich hinauszögert: „Sie“, fleht Dunia,
„wartet mit gepackten Koffern, aber du kommst und kommst nicht mit der erlösenden
Flugkarte.“[29]. Und dennoch, als Rana von Farids Freilassung erfährt ist jedwede psychische
Erkrankung augenblicklich verflogen, die endgültig gemeinsame Perspektive macht ihr (be-
gründete) Hoffnung. Und auch er erkennt nach der qualvollen Zeit in Tad, dass die Flucht nun
nicht nur zur Möglichkeit, sondern zur zwingenden Notwendigkeit geworden ist. Die ersten
glücklichen Augenblicke in gemeinsamer Freiheit in Beirut verdeutlichen, dass die gegenseiti-
ge Liebe beider in märchenhafter Weise die Zeit von den jugendlichen Anfängen der Bezie-
hung bis zur erlösenden Flucht überdauert hat.

5. Inhaltlicher Vergleich beider Werke


5.1 Familienstrukturen
Die arabische Sippe spielt in DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE und EINE HAND VOLLER STERNE wie oft
im Werk Rafik Schamis eine wichtige Rolle. Sie, die ihrer eigenen Hierarchie folgt, regelt das
Miteinander, setzt Verbote und Erlaubnisse, bestimmt sogar über Regierung und Politik und
ihre Achtung und Ehrerbietung hat Jedermanns ungeschriebenes Gesetz zu sein. Auch die je-
weiligen Protagonisten – der Tagebuchschreiber in EINE HAND VOLLER STERNE und Farid in DIE
DUNKLE SEITE DER LIEBE – unterstehen dieser althergebrachten Institution Familie, wenn sie auch
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 18 5. INHALTLICHER VERGLEICH BEIDER W ERKE

beide einen kritischen Umgang mit ihr an den Tag legen.


Im Falle des Tagebuchschreibers beginnt die kritische Auflehnung gegen die autoritäre Fa-
milienstruktur in der väterlichen Bäckerei. Die ist dem Jugendlichen zuwider und sein Ent-
schluss, sie nicht eines Tages weiterzuführen („Ich schwöre bei Gott, [...] daß ich niemals Bä-
cker werde. Nie!“[30]) ist fest, er entscheidet sich für den Journalismus. Freilich ist damit der
Konflikt zwischen Vater und Sohn vorprogrammiert. In der arabischen Gesellschaft ist eine
solche Auflehnung kein seltenes, aber ein stets unerwünschtes Phänomen, immerhin genießt
der Vater den Stand des Paschas, des Familienoberhauptes. Der Kompromiss der Buchhändler-
lehre des Sohnes ist somit eigentlich ein Sieg über den entschiedenen Willen des Vaters und
damit ein Durchbrechen der strengen Strukturen.
Noch offensichtlicher treten die Strukturen im familiären Umfeld Farids zutage. Obwohl
erst drei Generationen alt (siehe „Stammbaum des Muschtak-Clans“, Anhang S. 26) steht die
Ehre der Sippe über weltlichen Gesetzmäßigkeiten und weit über dem Willen des Einzelnen.
Bringt jemand Schande über die Familie, so ist jedwede Bestrafung bis hin zum Mord absolut
legitim. Als zwei der unzähligen Beispiele seien der vom Vater Georg in Auftrag gegebene
Mordanschlag auf Elias[31] oder der Ehrenmord im Schahin-Clan an Ranas Tante Jasmin, die
sich für die Liebe zu einem Muslimen entschieden hatte, genannt. Interessant ist, dass sich die
Vater-Sohn-Problematik im Fall der Familie Muschtak vererbt. Elias steht zeitlebens mit sei-
nem Vater Georg im Konflikt und macht letztlich mit seiner Distanziertheit gegenüber Farid
den gleichen Fehler wie sein eigener Vater.
Der Vaterkonflikt zieht sich also durch beide Werke, auch findet er seine Auflösung in bei-
den Fällen erst durch das gewaltsame Eingreifen einer externen Macht, dem gemeinsamen
Feind Staat: Nach der willkürlichen Verhaftung des Vaters findet der Tagebuchschreiber wieder
zu ihm, nach Farids zweimaliger Verhaftung besinnt sich Elias auf seine Zuneigung zum Sohn.
Auch die gute Beziehung zur Mutter ist beiden Protagonisten zu eigen. Sie ist Vertrauensper-
son und Erzieherin zugleich, steht aber, gerade in Fragen der Vater-Sohn-Problematik gewis-
sermaßen zwischen den Fronten, wodurch sie nie vollständig Partei für eine Seite ergreifen
kann. Daher findet sich in beiden Werken noch eine weitere, wichtige Bezugsperson innerhalb
der Familie: Ein Verwandter dritten Grades. Onkel Salim, als väterlicher Freund des Tagebuch-
schreibers, ist Anlaufstelle für nahezu jedes Problem und besticht durch unbedingten Rückhalt
gegenüber dem Jugendlichen. Genauso fungiert auch die Cousine Laila für Farid als wichtige
Anlaufstelle, hier ist die Beziehung jedoch eher geschwisterlich und mehr als nur platonisch
liebevoll, vor allem aber in jeglicher Hinsicht gleichberechtigt.
Trotz der erstaunlichen Gemeinsamkeiten in der unmittelbaren familiären Umgebung
kommt der Sippe mit ihren patriarchalischen Strukturen in DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE eine weit
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 19 5. INHALTLICHER VERGLEICH BEIDER W ERKE

größere Bedeutung zu als in EINE HAND VOLLER STERNE. In letzterem stellt die Sippe nur eines der
Beziehungssysteme um den Protagonisten, in Farids Fall die beherrschende Macht, die letztlich
jede andere Einflussgruppe durchzieht und somit ihre Stärke aus der Allgegenwärtigkeit ge-
winnt: Die Sippe als grundlegendes Prinzip über allen anderen gesellschaftlichen Erscheinun-
gen.

5.2 Gefahren und Chancen der Liebesbeziehungen


Interessant ist gerade im Hinblick auf die Sippe der Topos der Liebe: Es scheint, als gelte
in der von Schami beschriebenen arabischen Gesellschaft der Grundsatz, eine Heirat aus Liebe
sei niemals gut. Wie sonst ist zu erklären, dass sich zwei Liebenden in Schamis Erzählungen
stets unzählige Hindernisse in den Weg stellen, die meist von Seiten der eigenen Sippe(n) kom-
men? Es findet sich wohl kaum ein literarisches Werk, in dem es derart viele Fälle von verbote-
ner Liebe gibt, wie in Schamis DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE. Sei es in jeder der drei Generationen
des Muschtak-Clans (Georg und Sarka, Elias und Claire, Farid und Rana), oder in den Erzäh-
lungen des alten Geschichtenerzählers Gibran, sei es die unglückliche Liebe von Farids Freund
Josef zu Fatima oder die glückliche von Elias' Schwester Malake zu Adel – immer steht die
Liebe in starkem Kontrast zu den Vorstellungen der Familie. Schami lässt Ranas Freundin
Dunia die nüchterne Erkenntnis treffend formulieren: „Das ist in einem Film schön, aber im
Leben klappt es nicht. Die Familie wird euch beide vernichten. [...] Lass die Finger von die-
sem Jungen und such dir einen soliden Mann, den deine Eltern bewundern, dann hast du deine
Ruhe“[32]. Dabei sind nicht all diese Fälle von Beziehungsverbot auf überkommene Familien-
fehden zurückzuführen, woher also dieser familieneigene Wunsch, die eheliche Zukunft der
Sprösslinge so entschieden zu kontrollieren?
Die Antwort liegt nahe, Ziel ist die Kontrolle selbst, die Machtausübung der Sippe. Zweck
einer Heirat hat nie das persönliche Glück des Einzelnen zu sein, Zweck ist der Fortbestand
und die Ehrerhaltung der Sippe. Und das ist, so die alte Gesetzmäßigkeit, nur dann möglich,
wenn der Partner den Wünschen und Vorstellungen der Sippe in jeglicher Hinsicht entspricht.
Gut ist das zu erkennen am Fall des Elias: Georg Muschtak will den Sohn an Samira, die Toch-
ter des Dorfältesten und Pferdezüchters Mobate, verheiraten, um die beiden starken Sippen un-
ter dem Namen Muschtak zu vereinen und das Dorf Mala sozial und – was die Pferdezucht an-
geht – auch wirtschaftlich zu beherrschen. Dass Elias sich längst für Claire, eine Damaszenerin
ohne erstrebenswerte Position in Mala, entschieden hat, passt freilich nicht in die Pläne des
Vaters.
Fast erstaunlich gegen diese zumindest in sich plausiblen Verbote von Liebesbeziehungen
erscheint das Verhältnis des Ich-Erzählers zu Nadia in EINE HAND VOLLER STERNE. Hier findet sich
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 20 5. INHALTLICHER VERGLEICH BEIDER W ERKE

keine Feindschaft zwischen den Familien, wenn überhaupt dann eine Ablehnung von Seiten
der Familie des Jungen gegenüber der Geheimdiensttätigkeit von Nadias Vater. Und doch ist
die Beziehung der beiden unerwünscht – von Nadias Vater aus. Auch ist der Bäckersohn keine
allzu schlechte Partie, woher also hier die Ablehnung durch den Vater? Wieder geben Machtpo-
sition und Kontrolle durch das Familienoberhaupt die Antwort: „Ihr Bruder hat gesehen, wie
wir uns küßten, und hat es dem Vater verpetzt. Der Barbar hat sie geschlagen, sie in ihr Zim-
mer gesperrt, der ganzen Familie mit Strafen gedroht, wenn sie das jemandem sagten.“[33]
Nicht nur, dass Nadia in den Augen des Vaters zu jung ist und darüber hinaus vor der Ehe kei-
nen Umgang mit Männern haben sollte, auch ist der Bäckersohn vom Vater weder ausgesucht
worden, noch hat er einer solchen Verbindung je zugestimmt. Die Tochter handelt folglich mit
der Beziehung zum Ich-Erzähler eigenverantwortlich, selbstständig und ohne Rücksicht auf die
Familie – und unterwandert damit unausweichlich die gesamte Machtstruktur des Patriarchats.
Die Liebe zweier Menschen stellt also in beiden Werken eine Gefahr für das Machtge-
füge der arabischen Sippe dar. Die Ehre des Clans ist vom Familienoberhaupt in jeder er-
denklichen Weise zu erhalten, besser noch zu vermehren. Die Liebe mit ihren konventions-
fremden Spielarten muss daher, so die Vorstellung, schon im Keim erstickt werden – der
Sippenehre wegen. Doch diese ungeschriebene Gesetzmäßigkeit lässt auch den Um-
kehrschluss zu: Ist die Liebe zweier Menschen stark genug, den Hindernissen und Gefah-
ren der Sippe zu trotzen, kann sie nichts weniger als den Einzelnen aus den Machtstruktu-
ren der Sippe zu befreien – wie im Fall von Farid und Rana.

6. Die Liebe im Kontext syrischer Machtstrukturen


6.1 Machtstrukturen in der beschriebenen Gesellschaft Syriens
Rafik Schami beschreibt, in EINE HAND VOLLER STERNE gleichermaßen wie in DIE DUNKLE SEITE
DER LIEBE, eine Gesellschaft der Machtverhältnisse. Jede Form des Zwischenmenschlichen wird
geregelt von der Frage, wer über wen wie viel Macht besitzt und in wie weit derjenige seinen
Machtvorteil ausspielt. Fast jedes individuelle Streben dient dem Zweck des Machtzuwachses
– und zwar dem der Sippe. Bei wem liegt also welche Macht?
Zwangsläufig stößt man bei der Untersuchung dieser Frage auf ein System aus Hierarchi-
en. Der Einzelne, so auch Farid und der Tagebuchschreiber, ist nicht etwa nur in eine solche
Hierarchie eingebettet, nein, vielmehr zeigt jede Einflussgruppe, jedes Beziehungssystem eine
spezifische Machtstruktur in sich. Das für das Individuum unmittelbarste Machtsystem ist da-
bei zweifelsohne die Familie, die Sippe. In einem „STERN“-Interview sagt Schami:

„In Arabien gibt es keine Diskussion. Es zählt die Hierarchie, nicht das Argument. Sie
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 21 6. DIE LIEBE IM KONTEXT SYRISCHER MACHTSTRUKTUREN

können dem Oberhaupt nicht widersprechen. Das gilt als Verrat. Nach dem
Oberhaupt, dem Vater, kommen die alten Onkel, die alten Tanten, die älteren Söhne
und so geht es nach unten weiter bis zu den Mädchen, die ohne Rechte sind. [...]
Allein der Clan zählt. Und als Kind werden Sie darauf trainiert, auf diese Strukturen
Rücksicht zu nehmen. Auf die Paschas.“[34]

Ebenfalls darf jedoch nicht vergessen werden, dass beide Romanhandlungen zu einer Zeit
der Putsche und Militärdiktaturen spielen. Verhaftungen sind an der Tagesordnung (z.B. der
Vater, der Verrückte und Habib in EINE HAND VOLLER STERNE oder der Geschichtenerzähler Gibran
und zweimal auch Farid in DIE DUNKLE SEITE DER LIEBE) und jede politische Aktivität muss unter
der größten Geheimhaltung des Untergrunds geführt werden. Wenn also derjenige, der Militär
und Regierung in Händen hält, über die Menschen in Syrien nahezu willkürlich verfügen kann
(„In der Frage der Unterwerfung der Menschen verwandeln sich die langsamsten Bürokraten
der Dritten Welt in rasante und höchst effektive Staatsdiener“ [35]), wie passt das dann mit der
Herrschaft der Sippe zusammen? Im selben Interview sagt Schami:

„Diese Clan-System lähmt heute alles, führt dazu, dass die Söhne von Herrschern die
Macht übernehmen. Ein junger Assad macht Syrien nicht demokratischer, er übernimt
die alten Strukturen, die alten Geheimdienste, die Waffen. Er herrscht mit seinem Clan
wie im Mittelalter, verfügt aber über die Waffen des 21. Jahrhunderts. [...] Das Clan-
System dominiert immer noch alles. Entweder du kommst aus einer anerkannten
Familie, oder du bist chancenlos. [...] Sie müssen mit dem Diktator verwandt, verfilzt,
versippt oder der Sohn des Chauffeurs sein, um etwas zu erreichen.“[36]

Staat und Militär stehen also keineswegs über der Sippe, vielmehr baut der Staat geschickt
auf das Sippensystem auf und ist von selbigem durch und durch unterwandert. Der Staat kann
noch so autoritär sein, die Macht der Sippe, die Herrschaft des Clans wird er niemals angrei-
fen. So muss zum Beispiel jedermann einen dreijährigen Militärdienst machen, es sei denn, er
ist der einzige Sohn einer Familie, in diesem Fall gilt nämlich der Schutz des Fortbestands der
Sippe.[37] Wessen Familie über das nötige Ansehen verfügt oder wer gar mit dem Präsidenten
verwandt ist, der kann schier Unmögliches erreichen, so wie der angesehene Konditor Elias,
der den Präsidentenpalast beliefert. Er kann mit seinem Sohn Farid sogar einen „Politischen“
aus dem Gefängnis freikaufen. Die Familie des unbedeutenden Bäckers in EINE HAND VOLLER

STERNE hingegen ist bei der Verhaftung des Vaters völlig machtlos.
Spannend ist, dass dabei nicht unbedingt die Religion das entscheidende Kriterium dar-
stellt. In Syrien leben seit mehr als 1000 Jahren so viele unterschiedliche Religionsgruppen
dicht an dicht beieinander wie in kaum einem anderen Land des Nahen Ostens: Allein zu den
Sunniten und Schiiten gesellen sich eine ganze Reihe muslimischer Sekten wie Alaviten und
Drusen, hinzu kommen katholische und orthodoxe Christen und die jüdische Minderheit. [37]
Und obwohl die Regierung stets von Moslems gestellt wird, können auch Christen politischen
Einfluss gewinnen – so wie der Christ Elias Muschtak. Dass die Religion jedoch auch Vorteile
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 22 6. DIE LIEBE IM KONTEXT SYRISCHER MACHTSTRUKTUREN

bringen kann, zeigt sich am Fall des Said Schahin, ebenfalls Christ. Er tritt zum Islam über,
lässt sich beschneiden und heißt von da an Mahdi Said – und wird prompt Hauptmann.
Die Gesellschaft, die Rafik Schami in wohl leider erschreckend wirklichkeitsnaher Weise
zeichnet, lebt dank dieser ausgeklügelten, stets zu achtenden Machtverhältnisse von einer Sta-
bilität der Wechselbeziehungen. Die Sippe mischt sich nur so wenig in den (übrigens auch von
einer Sippe, nämlich der der Assads, regierten) Staat ein, wie der sich im Gegenzug aus den
Angelegenheiten der Familie heraushält. Der Staat braucht die Sippe, weil sie seine Macht
stützt, die Sippe braucht den Staat, der sie vor den modernen Einflüssen des Individualismus
schützt. Und so erkennt Schami wohl leider ganz richtig die ganze Misere der modernen syri-
schen Gesellschaft: „Solange die Macht der Sippe nicht gesprengt wird, gibt es keinen Fort-
schritt in Arabien.“[39]

6.2 Die Rolle der Liebe im Konflikt mit Sippe und Gesellschaft
„,Anscheinend ist der Fluch der Feinde ein Segen für verbotene Liebe‘, antwortete Fati-
ma. [...] ,Glaubst du wirklich, dass unsere Liebe eine Chance hat, die Meute der Fanatiker zu
überleben?‘, fragte Josef.“[40] In der Geschichte um Josef, den Jugendfreund Farids in DIE
DUNKLE SEITE DER LIEBE zeichnet Rafik Schami die eigentlich logische Konsequenz einer verbote-
nen Liebe unter syrischen Machtstrukturen: Josef überlebt schwer verletzt knapp ein Attentat
von Fatimas Brüdern, Anhänger der ultrakonservativen Muslim-Bruderschaft. Fatima wird als
vierte Ehefrau an einen reichen Moslem zwangsverheiratet. Doch nicht nur Josefs Schicksal
zeigt die zu erwartenden Folgen einer gegen die Konventionen verstoßende Liebe, in dem
großen Roman von Schami reiht sich Ehrenmord an Ehrenmord, Verstoß und Enterbung an At-
tentat und Vaterkonflikt. Und inmitten dieser erbarmungslosen Herrschaft des ehrbedachten
Patriarchats setzt Rafik Schami die Muschtak-Sippe, diese drei Generationen von Liebenden,
deren Beziehung jeweils stark genug ist, die Macht der eigenen Sippe zu brechen. Das Motiv
der verbotenen Liebe wird in dieser Familie geradezu vererbt, schon die Beziehung von den
Sippengründern Georg und Sarka Muschtak ist eine solche. Mit Elias und Claire verhält es sich
nicht anders. Im Fall von Georg Muschtak alias Nassif Jasegi ist das Opfer groß: Seine Familie
wird ausgelöscht. Und doch können beide nach der Flucht recht friedlich leben (und lieben): Ist
die Macht der Sippe erst durchbrochen, kann der Einzelne (relativ) frei von ihr sein Dasein
fristen. Es sei denn, er gründet bewusst wieder eine solche Sippe – wie im Fall der Muschtaks.
Denn damit überträgt sich das Problem automatisch auf seinen Sohn Elias. Doch auch der ent-
scheidet sich für die Flucht mit Claire und damit gegen die Sippe. Auch wenn der Vater später
halbherzig versucht, Rache zu üben (durch das gescheiterte Attentat von Musa Salibi), ist Elias
mit dem Entschluss für die Liebe zu Claire von seiner Sippe einigermaßen frei und kann unbe-
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 23 6. DIE LIEBE IM KONTEXT SYRISCHER MACHTSTRUKTUREN

helligt sein Leben führen.


Woher also die enorm bedrohlichere Situation für Farid und Rana? Nun, zunächst muss ge-
sehen werden, dass Farid und Rana mit ihrer Beziehung nicht nur nicht den Vorstellungen der
jeweiligen Elterngeneration entsprechen, sie entscheiden sich auch noch für einen Spross der
jeweiligen Erzfeinde. Doch spätestens nach Farids erster Verhaftung ist die Beziehung der bei-
den für die Familie Farids gar kein Problem mehr. Was von da an erschwerend hinzukommt, ist
vielmehr Farids Status als „Staatsfeind“. Mit seiner politischen Arbeit bringt er sich wiederholt
in die Schusslinie der exekutiven Staatsmacht. Auf das Liebespaar Farid und Rana übt also
nicht nur die Sippe vernichtenden Druck aus, die Staatsmacht gefährdet eine gemeinsame Zu-
kunft beider in gleicher Weise. Hier liegt der entscheidende Unterschied zu den vorherigen Ge-
nerationen: Ein Bruch mit der Sippe ist bei der Entscheidung für die verbotene Liebe unver-
meidlich, im Fall Farid und Rana ist dies jedoch auch der gleichzeitige Bruch mit dem Staat –
beides nur mehr möglich in der gemeinsamen Flucht.
Letztlich verhält es sich in EINE HAND VOLLER STERNE nicht anders, wenn auch schwächer:
Die Liebe zwischen dem Ich-Erzähler und Nadia ist nicht nur ein Dorn im Auge ihrer Familie,
die politische Arbeit an der „Sockenzeitung“ bringt auch den Staat als Gegner auf den Plan.
Auch wenn sich die Liebenden in diesem Fall in keiner derart erdrückenden Situation befin-
den, dass eine Flucht den letztmöglichen Ausweg darstellt – dem Tagebuchschreiber ist mit Fa-
rid dennoch etwas entscheidendes gemein: das Durchhaltevermögen. Jenes beziehen nämlich
beide aus der Liebe: Farid während Klosterzeit, Lehrerexil und zweimaligem Aufenthalt im
Strafgefangenenlager, der Tagebuchschreiber nach dem Verlust des Freundes und geistigen
Führers Habib. Beide finden in der gegenseitigen Liebe zu Rana bzw. Nadia den wichtigen
Rückhalt und die nötige hoffnungsvolle Perspektive, um den eingeschlagenen Weg allen Wid-
rigkeiten zum Trotz bis zum Ende zu gehen. Was in beiden Fällen gelingt: Denn mit dem ge-
meinsamen Entschluss, die „Sockenzeitung“, folglich die kritische Arbeit gegen den Staat,
weiterzuführen und dabei der Sippe zum Trotz zur gemeinsamen Liebe zu stehen, haben Ich-
Erzähler und Nadia die herrschenden Machtstrukturen für sich eigentlich bereits besiegt. Sippe
und Staat haben es trotz allem nicht geschafft, den beiden in ihrem Tun und Denken, Handeln
und Fühlen Einhalt zu gebieten. Und die über so lange Jahre, eigentlich seit den Anfängen ihrer
Liebe flehentlich erwartete, gemeinsame und erfolgreiche Flucht von Farid und Rana hebelt
jedwede Macht in der gegenwartsfremden syrischen Gesellschaft aus: Die Liebe zweier Men-
schen, ist stark genug, alle Instrumente von Staat und Sippe zu überwinden und die lang er-
sehnte Freiheit zu erreichen.
„Ich wollte von der Liebe unter erschwerten Bedingungen erzählen. Politik und reale Ge-
schichte dienen als Requisiten und Hintergrund eines Romans über verbotene Liebe unter Da-
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 24 6. DIE LIEBE IM KONTEXT SYRISCHER MACHTSTRUKTUREN

maszener Bedingungen.“[41] In beiden Romanen, EINE HAND VOLLER STERNE wie DIE DUNKLE SEITE
DER LIEBE, sprengt die Liebe in fantastischer Weise die realistischen Zwänge – das ist die
großartige Möglichkeit von Schamis Werken: Es erfüllt sich durch Kraft und Wille der
Einzelnen, vor allem aber durch die unbedingte Liebe zueinander der Traum vom Ende der
erdrückenden Macht von Sippe und Diktatur.
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 25 ANHANG

Anhang

I. Politische Geschichte Syriens 1944-1971 (Zeittafel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26


II. Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
III. Einzelnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
IV. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
V. Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
VI. Internetquellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
VII. Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 26 I. POLITISCHE GESCHICHTE SYRIENS 1944-1971

I. Politische Geschichte Syriens 1944-1971

Zeittafel:
1944: Am 1. Januar wird Syrien formell unabhängig, am selben Tag wird Syriens erste
Verfassung verabschiedet.
1946: Abzug der letzten französischen Truppen aus Syrien und dem Libanon./Mustafa as-
Sibal gründet in Homs die syrische Muslim-Bruderschaft.
1948: Erster Nahostkrieg zwischen Arabern und Isrealis
1950: In Syrien führt der Streit um eine neue Verfassung zu heftigen Konflikten zwischen
den Verfechtern einer säkularen Staatsidee und orthodoxen Muslimen. Es kommt zum
Kompromiss, wobei die Scharia in Teilen Einfluss auf die Gesetzgebung behält.
1954: Nasser entmachtet Naguib und wird Staatspräsident mit diktatorischer Macht. Er
lässt die Muslim-Bruderschaft hart verfolgen und etliche Führungsmitglieder hinrichten.
1955: In Syrien werden bescheidene Erdölvorkommen entdeckt.
1956: Nasser setzt das aktive und passive Wahlrecht für Frauen durch. Im Juli kündigt
Nasser die Verstaatlichung des Suez-Kanals an, was zu einer schwerwiegenden Krise
mit Großbritannien und Frankreich führt./ Zweiter Nahostkrieg ohne nennenswerte
Kräfteverschiebung.
1958‒1961: Zusammenschluss Syriens und Ägyptens zur Vereinigten Arabischen
Republik. Nasser wird Präsident. Aber die anfängliche Begeisterung der Syrer schlägt
bald in Unzufriedenheit über die ägyptische Bevormundung um. Die syrische Baath-
Partei, die sich zuerst für die Union engagiert hat, wird zum Gegner Nassers. 1961
zerbricht die Union unter maßgeblicher Mitwirkung der Baath-Partei.
1963: Im März übernimmt die sie syrische Baath-Partei nach einem Militärputsch in
Damaskus die unumschränkte Macht. Aflak ist Generalsekretär, Ministerpräsident ist
Bitar, aber bald verringert sich sich ihre Macht nach heftigen Flügelkämpfen innerhalb
der Partei.
1966: Im Februar putscht der radikale Flügel der syrischen Baath-Partei gegen die
gemäßigten Baathisten. Die Alawiten gewinnen stärkeren Einfluss. Der Alawitenführer
Hafis-al-Assad wird Verteidigungsminister.
1967: Der dritte Nahostkrieg, der sogenannte „Sechstagekrieg“, beschert im Juni den
arabischen Staaten eine verheerende Niederlage. Jordanien verliert die Altstadt von
Jerusalem und das Westjordanland an Israel, Ägypten den Sinai, Syrien die Golanhöhen.
Die arabischen Nationalisten, Nasseristen wie Baathisten, erleben einen starken
Vertrauensschwund. Damit gewinnen radikal-islamische Bewegungen erstmals
beträchtlichen Zulauf, allen voran die ägyptische und syrischen Muslim-Bruderschaft.
1970: Im September stirbt Nasser. Nachfolger wird der bisherige Vizepräsident Anwar as-
Sadat./ Im November putscht Assad in Damaskus gegen die eigene Parteiführung.
Innerhalb der Baath-Partei erringen die Alawiten die führende Position.
1971: Im März wird Assad Staatspräsident. Er führt in Syrien die allgemeine Schulpflicht
und das aktive und passive Wahlrecht für Frauen ein./ Sadat lässt die wichtigsten
Anhänger Nassers innerhalb des Parteiapparats verhaften.

Gekürzte Version nach: Schweizer, Gerhard: Syrien. Politik und


Religion im Nahen Osten, Stuttgart 19981, Klett-Cotta
Verlag, S. 366 – 368
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 27 II. ABBILDUNGEN

II. Abbildungen
Abb. 4: Stammbaum des Muschtak-Clans:

Abb. 5: Stammbaum des Schahin-Clans:


Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 28 III. EINZELNACHWEISE

III. Einzelnachweise

1. Schami, Rafik 2006, 1030 22. Schami, Rafik 2006, 20092, 1032
2. Wild, Bettina 2006, 159 23. Schami, Rafik 2006, 20092, 1032 – 1034
3. Wild, Bettina 2006, 7 – 14 24. Wild, Bettina 2006, 158 – 165
4. Schweizer, Gerhard 1998, 15 – 16 25. Schami, Rafik 2006, 1032
5. Wild, Bettina 2006, 16 – 69 und 174 – 182 26. Schami, Rafik 2006, 455 f.
6. Wild, Bettina 2006, 18 27. Schami, Rafik 2006, 462
7. Wild, Bettina 2006, 16 28. Schami, Rafik 2006, 815
8. Wild, Bettina 2006, 27 29. Schami, Rafik 2006, 816
9. Wild, Bettina 2006, 14 30. Schami, Rafik 1995, 18 f.
10. Wild, Bettina 2006, 16 - 29 31. Schami, Rafik 2006, 268 – 278
11. Schami, Rafik 1995, 18 32. Schami, Rafik 2006, 64
12. Schami, Rafik 1995, 20 33. Schami, Rafik 1995, 101
13. Schami, Rafik 1995, 107 34. Luik, Arno 2004 siehe Anhang S. 39
14. Schami, Rafik 1995, 88 35. Schami, Rafik 2006, 1024
15. Schami, Rafik 1995, 108 36. Luik, Arno 2004 siehe Anhang, S. 39
16. Schami, Rafik 2006, 1023 37. Schami, Rafik 2006, 795
17. Schami, Rafik 2006, 1034 38. Schweizer, Gerhard 1998, 17
18. Schami, Rafik 2006, 1028 f. 39. Luik, Arno 2004 siehe Anhang, S. 39
19. Schami, Rafik 2006, 1030 f. 40. Schami, Rafik 2006, 655
20. Schami, Rafik 2006, 1026 f. 41. Schami, Rafik 2006, 1030
21. Schami, Rafik 2006, 1028
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 29 IV. LITERATURVERZEICHNIS

IV. Literaturverzeichnis

Primärliteratur:
• Schami, Rafik: Die dunkle Seite der Liebe, München 2006, 20082, Deutscher
Taschenbuch Verlag
• Schami, Rafik: Eine Hand voller Sterne, München 1995, 200913, Deutscher
Taschenbuch Verlag
Sekundärliteratur:
• Schweizer, Gerhard: Syrien. Religion und Politik im Nahen Osten, Stuttgart 19981,
Klett-Cotta Verlag
• Wild, Bettina: Rafik Schami, München 20061, Deutscher Taschenbuch Verlag
Internetquellen:
• O. A.: „Im Interview: Rafik Schami“, Internetseite
<http://www.domizilsuche.de/ratgeber/b%FCcher/im-interview-rafik-schami-
530.html> vom März 2005, aufgerufen am 5. Januar 2010 (siehe S. 29 – 32)
• Luik, Arno: „Emigranten sterben jung – oder werden weltberühmt“, Internetseite
<http://www.stern.de/kultur/buecher/rafik-schami-emigranten-sterben-jung-oder-
werden-weltberuehmt-530116.html?nv=pr&pr=1“ vom 26. September 2004>
aufgerufen am 5. Januar 2010 (siehe S. 33 – 39)

V. Bildnachweis

Abb. 1 aus: Wild, Bettina 2006, Umschlagseite vorne, außen


Abb. 2 aus: Wild, Bettina 2006, 31
Abb. 3 eigene Abbildung
Abb. 4 aus: Schami, Rafik 2006, 1036 f.
Abb. 5 aus: Schami, Rafik 2006, 1038 f.
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 30 VI. INTERNETQUELLEN

VI. Internetquellen
[E] http://www.domizilsuche.de/ratgeber/b%FCcher/im-interview-rafik-schami-
530.html
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 31 VI. INTERNETQUELLEN
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 32 VI. INTERNETQUELLEN
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 33 VI. INTERNETQUELLEN
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 34 VI. INTERNETQUELLEN

[F] http://www.stern.de/kultur/buecher/rafik-schami-emigranten-sterben-jung-
oder-werden-weltberuehmt-530116.html?nv=pr&pr=1
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 35 VI. INTERNETQUELLEN
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 36 VI. INTERNETQUELLEN
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 37 VI. INTERNETQUELLEN
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 38 VI. INTERNETQUELLEN
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 39 VI. INTERNETQUELLEN
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 40 VI. INTERNETQUELLEN
Macht und Liebe im Werk Rafik Schamis 41 VII. ERKLÄRUNG

VII. Erklärung

Ich versichere, dass ich diese Arbeit selbstständig gefertigt habe; die
verwendete Literatur habe ich vollständig angegeben.

Altdorf, den 8. Januar 2010,

_________________________________
Simon L. Reuter

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