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NEUES FORUM Leipzig

Arbeitsgruppe Sport
4. 12. 1989

Zur Ethik und Moral des Sports

Der Sport ist Bestandteil des kulturellen Lebens eines jeden Volkes. Volkssport heißt Freude,
Entspannung und Gesundheit für alle. Leistungssport ist Unterhaltung, Selbstverwirklichung
und Animation für den Volkssport. Leistungssport heißt Völkerverständigung und in unserer
Zeit auch Wegbereiten für ein gemeinsames Haus Europa.

Der Sport in unserem Land braucht radikale Reformen, die die veränderten politischen und
wirtschaftlichen Verhältnisse berücksichtigen, d.h. die echte Demokratie und volle
Ausschöpfung der Möglichkeiten der Eigenfinanzierung gewährleisten. Der neue Sport der
DDR wird jedoch nur dann ein Sport des Volkes sein, wenn er seine Vergangenheit offen legt
und bereit ist, sie zu überwinden!

Die Geschichte der Körperkultur zeigt, dass die Moral des Sports stets ein Abbild der Moral
der Herrschenden ist. Partei und Regierung der DDR missbrauchten den Sport in mehrfacher
Hinsicht:

- Der Leistungssport wurde als strahlende Fassade errichtet, hinter sich die Diktatur
einer Partei- und Regierungsclique, Amtsmissbrauch, Korruption, Misswirtschaft und
Verrat am Volke verbargen. Glanz und Gloria nach außen wurden auf Kosten der
Volkswirtschaft, des Volkssports und damit der Volksgesundheit erkauft.
- Brot und Spiele dienten der oberflächlichen Befriedigung des Volkes und der
Sicherung des inneren Friedens. Aufwendige Jubelveranstaltungen wie Pfingsttreffen
und Sportfeste sollten die Illusion der Einheit von Partei, Regierung und Volk
vermitteln, das marode Staatswesen verschleiern und für die Verweigerung
elementarer Menschenrechte entschädigen.
- Der Sport der DDR – ein gigantisches Dekorationsstück der Partei und Regierung –
hat seine Wurzeln nicht im Volk. Die Notwendigkeit, das Sein der DDR durch den
Schein olympischer Medaillen aufzupolieren, verlangte die vorrangige
leistungssportliche Förderung olympischer Disziplinen. Die Beteuerung, nach der aus
Millionen regelmäßig übender und trainierender Volkssportler folgerichtig die kleine
Gruppe leistungsstarker Spitzensportler erwächst, ist als wohltönendes Märchen
entlarvt. Tatsachen sind, dass
1. die Möglichkeiten der sportlichen Betätigung für die Bürger der DDR weit unter
dem Standard entwickelter Industrienationen liegen;
2. private Initiativen zur Behebung dieses Notstandes unterbunden wurden (z.B.
Genehmigung privater Fitnesszentren);
3. die ernsthafte Unterstützung des Volkssports mit dem Erkennen des
leistungssportlichen Talents endete;
4. sogenannte „nichtolympische“ oder „wenig medaillenintensive“ Sportarten wie
Kraftsport, Triathlon, asiatische Kampfsportarten, Hockey, Basketball, Tennis
usw. bestenfalls widerwillig geduldet wurden, und
5. das quantitative und qualitative Angebot an Sportbekleidung, -geräten, -
ausrüstungen und –anlagen bei weitem nicht ausreicht, um die Bedürfnisse der
Bevölkerung zu befriedigen. Als Ausweg wird auf den „Sportplatz Natur“
verwiesen, der vielerorts – wie das Beispiel Leipzig zeigt – durch Verunreinigung
der Umwelt der Gesundheit eher Schaden zufügt.

Die Existenz des Volkssports in der DDR ist also weniger eine Leistung von Partei und
Regierung, sondern vielmehr das Verdienst ungezählter ehrenamtlicher Helfer, die als
Übungsleiter, Kampf- und Schiedsrichter, Sportmediziner und Funktionäre fleißig und
aufopferungsvoll arbeiteten.

Zur dauerhaften Beglaubigung dieser Täuschungsmanöver wurden und werden noch heute
ganze Heerscharen gut bezahlter Partei- und Sicherheitsfunktionäre, Gesellschafts- und
Erziehungswissenschaftler aufgeboten. Das führte im wahrsten Sinne des Wortes zur
Entmündigung des Sports, insbesondere seiner Spitzensportler, die mit der politisch-
ideologischen Erziehung der Kinder im Trainingszentrum begann und sich im „Sprechverbot“
gegenüber Sportlern, Funktionären und Journalisten nichtsozialistischer Staaten fortsetzte.
Der Zorn der Bevölkerung wendet sich deshalb auch nicht – wie in zahlreichen Erklärungen
glaubhaft gemacht werden soll – gegen den Leistungssport und die Leistungssportler an sich,
sondern gegen ihren jahrzehntelangen Missbrauch.

Die Schreibtischtäter und ihre allzu willfährigen Helfer sind die eigentlichen Verursacher der
tiefen moralischen Krise des Sports in unserem Land. Sie schieben heute die Spitzensportler
wie Schutzschilde vor sich her und glauben sich so verstecken und aus der Verantwortung
stehlen zu können. Nicht die Soldaten des Sports (Spitzensportler, Trainer usw.), sondern
seine Generale, die für die Errichtung des perfekten Kasernensozialismus im Leistungssport
Dank und Anerkennung ernteten und weiterhin mit Stolz auf diese „Leistung“ verweisen,
gehören an den Pranger!

Wo sind die Stellungnahmen der Politfunktionäre und Erziehungswissenschaftler, die den


Leistungssport zugunsten einer verfehlten Partei- und Regierungspolitik vom Volke trennten?
Wo ist die Positionierung der SED zum Leistungssport? Hat sie ihr Hätschelkind ausgesetzt?
Wo ist der Standpunkt des Herrn Krenz, der bis zum Oktober 1989 im ZK der SED für die
Linientreue des Sports zuständig war?

Um den politischen Missbrauch des Sports für immer auszuschließen, um den Glauben des
Volkes an die Ideale des Sports wiederherzustellen, muss sich der DTSB zur radikalen
Reformen bekennen. Solange keine klaren vertrauensbildenden Konzeptionen und Strategien
über den zukünftigen Kurs der Sportorganisation auf dem Tisch liegen, so lange wird das
Volk nicht bereit sein, auch nur eine müde Mark für den Sport auszugeben.

Einerseits haben wir mit Befriedigung zur Kenntnis genommen, dass die Positionen zum
Sport, die das Neue Forum bereits am 4. 11. 1989 in die Öffentlichkeit trug – zu einem
Zeitpunkt also, zu dem der DTSB sich noch in tiefes Schweigen hüllte – heute Einzug in die
Diskussion gefunden haben. Andererseits sind wir betroffen über die Zaghaftigkeit und
Inkonsequenz, mit der die dringend erforderlichen Reformen in Angriff genommen werden.
Jede Halbherzigkeit schafft neues Misstrauen!
Wir fordern deshalb:

- Sofortige Trennung von Partei und Sport (Wahl des Sekretariats des Bundesvorstandes
des DTSB im November 1989: ein Präsident und fünf Vizepräsidenten bedeutet sechs
altgediente SED-Funktionäre an den Schalthebeln des alten Machtapparates des Sports).

- Sicherung aller vertraulichen, streng vertraulichen und geheimen (Vertrauliche


Verschlusssachen) Archivalien des DTSB.

- Umgehende Aufklärung moralischer, ethischer und finanzieller Vergehen


(Fehlentwicklung des Sports; Doping, insbesondere Missbrauch anaboler Steroide;
Unterschlagungen usw.).

- Unverzügliche Erarbeitung richtungsweisender Konzeptionen und Strategien, in denen der


Einheit von moralischem und wirtschaftlichem Handeln Ausdruck verliehen wird.

Die Vertreter des Neuen Forums sind bereit, die Erneuerung des Sports in unserem Land
weiterhin durch konkrete Beiträge zu unterstützen.

Nutzen wir die Kraft der Basis, um mit Sachlichkeit und Besonnenheit realistische Ziele und
Aufgaben des Volks- und Leistungssports zu formulieren. Suchen wir gemeinsam nach
Lösungswegen, die frei von unangemessenen finanziellen Forderungen die Existenz des
DDR-Sports sichern. Stellen wir auch unseren Sport in den Dienst der Völker. Unterstützen
wir ein gemeinsames „Unternehmen Olympische Spiele 2004 in Berlin“, fördern wir diese
Vertragsgemeinschaft zwischen der BRD und der DDR, zwischen beiden Teilen Berlins, die
durch kluges Management in ideeller und materieller Hinsicht beiden Staaten zum Vorteil
gereicht.
[Das Original-Dokument befindet sich im Privatarchiv Grit Hartmann.]

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