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Stumme Finger

Eine Erschütterung durchdrang die Saite. Der Hammer schlug weiter auf die Saite ein. Und
weiter. Nun kam er zum Ruhen.
Sie erhoben sich langsam und vorsichtig von der Klaviatur und griffen an den Henkel einer
weißen Teetasse. Diese wurde von ihnen zum Mund geführt, der die Füllung der Tasse schon
lange erwartete. Beim Blick in den Schlund der Tasse stieg ihm Dampf entgegen. Der Tee war
noch heiß. Er goss sich das heiße, gelbliche, wohlschmeckende Wasser in den Mund,
schmeckte an ihm und spülte es dann die Kehle herunter. Sofort durchfuhr ihn ein warmes
Gefühl im Halsbereich und er lockerte seinen Wollschal etwas. Während er das tat, dachte er
an die Saiten. An die Saiten und an die Hämmer.
Der Fluss aus Tee stoppte und der Wärmestau ließ nach. Er stand auf, nahm die Tasse mit
ihnen und ging dann langsam schlendernd in die Küche, um die Tasse neu zu füllen. Der
Teekessel war noch fast randvoll mit Wasser und das kochte auch noch. Somit war die Kanne
fast leer und kalt. Also füllte er das Wasser um und ließ es dann ein paar Minuten mit den
Teegewürzen stehen, während er sich ein Sandwich machte. Dafür erwählte er mit ihnen eine
Scheibe Schinken, etwas Butter, ein Salatblatt und eine Tomate. Sie halfen ihm erneut das
Sandwich an seinen Mund zu führen, wo er einen großen Bissen zu sich nahm und das
Sandwich fast ganz verschlang. Sie nahmen die Teekanne mit in einen anderen Raum, wo ein
kleiner CD-Spieler mit zwei kleinen Lautsprechern stand. Während ein Teil von ihnen sie
abstellte, stellte der andere Teil die Musik an. Er ließ sich auf dem gepolsterten Sofa nieder
und nahm erneut einen Schluck Tee. Die ruhige Klaviermusik drang an seine Ohren. Er sah
vor seinen Augen wie die Saiten vibrierten und wie die Hämmerchen auf und ab in Bewegung
gerieten.
Er öffnete die Augen.
Ganz ruhig saß er im Sofa, warf einen Blick auf die Uhr und erkannte, dass es bereits sehr
spät geworden war und er geschlafen haben musste. Erneut wurde ihm bewusst, dass
Hermann wohl nie eine enge Freundschaft mit Uhren aufbauen konnte, da sie ihm immer
wegliefen. Die CD war zum Ende gekommen und es war still geworden. Ein Blick aus dem
Fenster zeigte ihm, dass das Wetter alles andere als schön war: Es schneite und stürmte. Es
lagen etwa zweiundvierzig Zentimeter Neuschnee und es schien kein Ende nehmen zu wollen.
Zur Erwärmung nahm er einen Schluck Tee. Doch die Wärme blieb aus. Stattdessen war der
Tee kalt geworden. Er musste wirklich sehr lange geschlafen haben. Also ging er in die Küche
um neuen Tee zu machen. Als er gerade den Teekessel neu aufsetzte, vernahm er ein Klopfen.
Erst nur ganz leise, doch nach kurzer Zeit wurde es ein Pochen. Ein eindringliches Pochen. Er
sah eine Holztür vor sich. Seine Wohnungstür. Wer konnte das nur sein um diese Zeit bei
diesem Wetter? Jannet? Nein, sie hatte ihn vor zwei Wochen verlassen, weil sie es nicht mehr
aushielt. Was auch immer sie nicht mehr aushielt – er wusste es nicht und sie wollte oder
konnte es ihm nicht sagen. Er ging vorsichtig zur Tür. Durch das kleine vereiste Fenster in der
Tür konnte er eine Gestalt erkennen. Sie war gebeugt und schien sehr schwach zu sein. Er
öffnete die Tür langsam und die Person fiel Hermann entgegen. Es war eine Frau. In seinem
Alter etwa. Er schloss die Tür und beäugte die Frau genauestens. Sie war schön, weder zu
dick, noch zu dünn, hatte ein zierliches Gesicht und ihre Augen waren geschlossen. Nein, das
waren sie nicht. Sie waren offen und starrten ihn an. Sie waren grün und starrten ihn an.
Smaragde starrten ihn an. Er sah sie an. Seine Augen blickten in Edelsteine. Langsam öffneten
sich ihre kirschroten Lippen und ihre Zunge bewegte sich. Er wollte ihr zuvorkommen, doch
er brachte keinen Laut zustande. Er konnte nicht sprechen. Das wurde ihm gerade wieder
bewusst. Er gestikulierte ihr, dass alles in Ordnung sei und half ihr dabei sich aufzurichten.
Auch ihre Stimme schien zu versagen und so nickte sie nur. Er holte ihr eine Tasse Tee und
bat ihr einen Platz auf dem Stoffsofa an. Dankend nahm sie den Platz und setzte sich langsam
und vorsichtig hin. Er ging in die Küche um ihr eine wärmere Tasse Tee zu holen und sah, als
er zurückkam, wie sie sich aufs Sofa gelegt hatte und eingeschlafen zu sein schien. Er stellte
die Tasse Tee neben sie und deckte die Tasse mit einem Handtuch ab, damit sie nicht zu
schnell abkühlte. Ebenfalls deckte er sie mit einer dicken Wolldecke zu und legte zum
Abschluss noch ein flauschiges Kissen behutsam unter ihren Kopf. Dann ging er zum Klavier
und spielte so leise und schön wie er konnte. Er wurde wieder ruhiger, in sich gekehrter und
hörte für einen Moment auf zu spielen, um etwas zu schreiben. Das Blatt wurde nass. Eine
Träne kullerte erneut an seiner Wange herunter. Die nächste schien zu folgen, doch wurde
seine Wange plötzlich von etwas warmen berührt, das die Träne stoppte. Er drehte sich herum
und erkannte die Frau hinter sich stehen und sah, wie sie ihm die Tränen wegwischte. Ein
Lächeln fuhr über seine Lippen. Sie starrte in seine tiefen Augen und sie schlugen die alte
Saite zum letzten Mal an. In der folgenden Woche zog er um und die Saite wurde nie mehr
gespielt.

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