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Verzettelt im Netz

Klicken, googeln, raubkopieren: Die Onlinewelt verändert unsere Sprache und unser Denken.
Werden am Ende nicht mehr wir den Computer beherrschen – sondern er uns?

Von Evelyn Finger | © DIE ZEIT, 15.05.2008 Nr. 21

Foto © Mark Wilson/Getty Images

Alltag an der Alma Mater. Bevor die Vorlesung beginnt, haben die Studenten schon ihre
Laptops aufgeklappt, und wenn der Professor zu reden beginnt, sind sie schon über den
unieigenen Router ins Netz verschwunden: E-Mails checken, Blogs schreiben, Verabredungen
treffen. Schnell ein Buch bei Amazon ordern! Mal sehen, was auf eBay gerade für meine alte
Comicsammlung geboten wird! Das leise Klicken der Tastaturen ist wie ein akustischer
Vorhang, durch den die Worte des Dozenten nur undeutlich an die Ohren der Studenten
dringen, und der leuchtende Bildschirm ist wie eine Firewall, die komplexeren Lehrstoff
abblockt. Kann man Hegels Phänomenologie des Geistes begreifen, während man sich auf
StudiVZ tummelt? Hilft es, während eines Hegel-Seminars den Hegel-Eintrag in der
Wikipedia zu lesen?

»Elektronische Bildschirmmedien machen dumm«, hat Deutschlands bekanntester


Hirnforscher Manfred Spitzer, Ordinarius für Psychiatrie in Ulm, schon Mitte der neunziger
Jahre prophezeit. Er wies nach, dass bei kleinen Kindern die Bildschirmwahrnehmung als
Ersatz von Wirklichkeitswahrnehmung eine mangelnde Formung des Geistes bewirkt, dass
bei Jugendlichen das dauernde Surfen im Internet das Sozialverhalten beeinflusst, und dass
bei Computerspielern aller Alterstufen haben Gewaltszenarien »negative Bahnungseffekte«
sowohl auf das Denken als auch auf das Handeln.
Medienstress heißt: Morgens den Computer
anschalten und abends wieder aus
Den Einflüssen der digitalen Kommunikation unterliegt auch Spitzer selbst. Er reagiert auf
unsere elektronisch gesendete Bitte um ein Interview mit dem Hinweis, sein »Alltag mit E-
Mails« sei »ziemlich schrecklich«, darüber könne man »am WE« mal reden. Er schreibt
»WE« statt Wochenende und schickt »beste Grüße vom mediengestressten Professor«. Seinen
Namen kürzt er ab: »Ihr ms«.

Was heißt mediengestresst? fragen wir ihn am WE als Erstes. Morgens im Büro sofort den
Computer anzuschalten und erst abends wieder aus, sagt Spitzer. Automatisch ins Postfach zu
schauen und dort hängenzubleiben. Hundert E-Mails täglich zu bekommen. Täglich
Interviewanfragen von Journalisten, täglich Hilferufe von Angehörigen Kranker. »Eigentlich
dürfte ich den wertvollen Tagesbeginn nicht mit E-Mailen vertrödeln, denn fast alle Menschen
haben ihr Tageshoch an Konzentration im Laufe des Vormittags. Kant hatte nach unserem
Stand der Hirnforschung vollkommen recht mit seinem Konzentrationsrhythmus: morgens
schreiben, nachmittags lesen, abends unterhalten.«

Natürlich schätzt Spitzer die neuen Möglichkeiten der Literatursuche im Netz, des
Archivierens auf der Festplatte, des direkten Kontakts zu Kollegen in aller Welt. »Außerdem
erlauben Computernetzwerke uns Vorhersagen über das menschliche Hirn, weil sie
Verknüpfungen herstellen, an die wir nie gedacht hätten. Und dann schauen wir im Hirn nach
und finden sie.« In Spitzers Büro steht ein Riesenbildschirm, auf dem ständig mindestens
sieben Fenster geöffnet sind, während er arbeitet.

Spitzer hat zuerst in Philosophie promoviert, ehe er sich in Nervenheilkunde habilitierte. Seit
2004 leitet er ein Transferzentrum für Neurowissenschaften, schreibt Bestseller über
»metakognitive Kernkompetenz« und moderiert eine wöchentliche Fernsehsendung zum
Thema »Geist und Gehirn«. Am meisten empört ihn momentan der Niedergang gelehrter
Vortragskultur durch die PowerPoint-Seuche. Denn es komme heute auf eine »interaktive
Folienpräsentation« mehr an als auf ein gutes Referat. Die Studenten, die schicke Websites
und Onlineslogans gewöhnt sind, erwarten auch von Vorlesungen eine bunte
Benutzeroberfläche. Also ziehen die Professoren sich aus dem Internet Tabellen, lösen ihre
Vorträge in Stichpunkte auf. »Bei Konferenzen sieht man die intelligentesten Kollegen mit
dem Laserpointer unter den Wörtern entlangfahren wie Schulanfänger, die noch mit dem
Zeigefinger lesen«, schimpft Vielschreiber Spitzer.

Auch Julia Semmer, Fachdidaktikerin am Institut für Anglistik der Universität Halle-
Wittenberg, beklagt Defizite bei der neuen internetversierten Generation von Studenten. »Die
Studenten tun sich immer schwerer mit dem Schreiben zusammenhängender Klausuren«, sagt
sie. »Konditioniert auf das Herumsurfen im Netz, stoppeln sie sich per Copy-and-paste zwar
Texte zusammen, durchdenken aber nur mühsam eine komplexe Aufgabe.« Seriöse
Internetseiten zur Literaturgeschichte können diese Studenten oft nicht von Fan-Webpages
unterscheiden, dafür sind sie Experten im Finden von Onlinedissertationen. Semmer hat für
solche Mangelerscheinungen ein englisches Wort, das so ähnlich klingt wie illiterat und den
neuen Analphabetismus im Internetzeitalter bezeichnet: »computerliterate«.

Doch was ist mit den Vorteilen der Digitalisierung unseres Denkens, die in
populärwissenschaftlichen Artikeln gefeiert werden: dass frühes Computerspielen Kinder
intelligenter mache oder dass das Internet die Lesefähigkeit trainiere? Um hier zu harten
Forschungsergebnissen zu kommen, hat Spitzer 2004 in Ulm das »Transferzentrum für
Neurowissenschaften und Lernen« gegründet. Konfrontiert man den Direktor des ZNL mit der
These namhafter Medienpädagogen, Computerspiele trainierten die Auge-Hand-Koordination,
fällt der sonst bedachtsam formulierende Forscher einem wütend ins Wort: »Blödsinn! Das
trainiert man weitaus besser beim Tischtennis. Gelesen wird im Internet auch nicht wirklich,
mehr geklickt, geguckt, raubkopiert.« Und was ist mit strategischem Denken,
Reaktionsvermögen, Aufmerksamkeit? »Diese sogenannten Medienpädagogen reden fast alle
Stuss, weil sie von Softwarekonzernen finanziert werden. Aufmerksamkeit beispielsweise
wird vom Computer insofern beeinflusst, als der Nutzer sich auf alle Elemente des
Bildschirms gleichzeitig zu konzentrieren lernt. Das führt aber zur Defokussierung. Wer noch
keine Aufmerksamkeitsstörung hat, kann sich mit Hilfe eines Egoshooters schnell eine
antrainieren.«

Das ZNL führte kürzlich ein Experiment mit zwei Gruppen von Ingenieurstudenten durch, die
dasselbe mathematische Problem lösen sollten. Dabei durfte nur eine Gruppe den Computer
benutzen. Diese verzettelte sich im Umgang mit der Software und verlor zeitweise das
Problem, gänzlich die Eleganz der Problemlösung aus den Augen.

Leider fehlen umfassende Studien zum Einfluss des Internets auf unser Denken, was auch
daran liegt, dass das Internet sich schneller als alle Medien zuvor in der gesamten Gesellschaft
durchgesetzt hat. Analysten haben vorgerechnet, dass das Radio fast 40 Jahre brauchte, um
weltweit 50 Millionen Nutzer zu erreichen, der Fernseher 13 Jahre, der PC sogar 16, das
Internet jedoch weniger als fünf. Heute finden Forscher keine repräsentativen internetfernen
Bevölkerungsgruppen mehr, die sich mit internetkompetenten vergleichen ließen. Immerhin
hat die neuere Hirnforschung bestätigt, was medienkritische Linguisten schon Ende der
Achtziger befürchteten: dass unsere Sprache schludriger wird und unsere Denkprozesse sich
fragmentieren, dass nicht wir den Computer beherrschen, sondern er uns.

Zu viel an Information ruft körperliche Krankheiten hervor

Wissen ist Macht, Information nicht, hat der britische Psychologe David Lewis 1996 gesagt.
Zu viel Information führe zu Informationsstress, der das Denken lähme, die Entschlusskraft
behindere, ja körperliche Krankheiten hervorrufe. Wird die Universität der Zukunft also von
kränklichen, denkschwachen Akademikern bevölkert sein?

Der Medienkritiker Dieter E. Zimmer hat darauf hingewiesen, dass die klassische
Schriftkultur, also das Schreiben auf Papier Jahrtausende brauchte, um auszureifen und sich
dem menschlichen Geist optimal anzupassen. Es sei daher sehr wahrscheinlich, dass der
Computer irgendwann mehr ist als heute, nämlich ein zivilisierter Verbündeter der
Schriftkultur. Vielleicht werden die Studenten dann unvorstellbar elegante Aufsätze verfassen,
die Jungschriftsteller höchst komplexe Bücher herausbringen. Sie könnten sich darauf
besinnen, dass sie die wahren Erforscher des menschlichen Bewusstseins sind, jenes
Unerklärlichen, dem weder Neurowissenschaftler noch Software-Experten beikommen.

Linksammlung

www.mpib-berlin.mpg.de/Pisa/CCCdt.pdf
Wissenswertes über metakognitive Kernkompetenz (PDF)

http://www.zeit.de/2008/21/III-Leben_-Chance-od_-Fluch?page=all
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