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Julian Koch 17.04.

2010

Die Kuh als Kult


Oder warum Lems Naturbegriff ein artifizielles, kulturelles Zeichen ist

„Ich begreife die Notwendigkeit des Fortschritts; ich würdige die


Vermilcher, die auf das Weidegras gesprüht werden, so daß es sich
von selbst in Käse verwandelt. Die Vernunft muß dieses Ausschalten
der Kühe gutheißen, und doch wird dadurch offenbar, daß ohne ihrer
aller geruhsames, in sich gekehrt wiederkäuendes Beisein die Wiesen
beklemmend leer sind.“

– Stanislaw Lem „Der futurologische Kongress“

Im Zitat steht die Natur in Form der Kuh einem artifiziellen, funktionsorientierten Begriff gegenüber:
„Vermilcher“. Dieser Begriff steht einfach für ein synthetisches Mittel, das Gras ohne den Umweg über
einen Organismus in ein Milchprodukt verwandelt. Aber diesen Begriff kann man auch noch `wörtlicher’
nehmen, er ist ein Stück Sprache. Auch sprachlich ist dieser Begriff artifiziell: er ist ein nicht minder
synthetischer Neologismus. Die Künstlichkeit, die Science-Fiction Autoren gerne mit szientifizierten
Wortneuschöpfungen bezeichnen, ist des Science-Fiction Autors größter Feind: Sie beschwören eine
Dämonie, deren Faszination sie erlegen sind. Ich werde im Folgenden einen kurzen Abriss über den
Gegensatz Natur - Künstlichkeit machen, um dann en Retour auf das Zitat darzulegen, dass das
eigentlich Künstliche die Trennung beider Begriffe ist.

Als Eingangsbeispiel wähle ich hier den biblischen Sündenfall. Er ist ein mythischer Anfangspunkt in der
Selbstinterpretation der westlichen Geistesgeschichte. Im Sündenfall steht der gottgewollte
paradiesische Naturzustand der sündhaften, zivilisierten Welt gegenüber, in der Adam im Schweiße
seines Angesichts Land `kultivieren‘ muss. Man hat hier also zunächst eine post-hoc Beziehung, also
zeitliche Beziehung der beiden Welten – der einen vor, der anderen nach dem Griff nach dem Apfel. Die
propter hoc Beziehungen im Sündenfall sind aber nicht durch eine lineare Beziehung (wie etwa der
zeitlichen) entschlüsselbar. Denn die Sünde und das Wissen um sie entstehen erst mit dem Biss in den
Apfel. Das entsprechende Verbot kann aber nur mit diesem Wissen als solches verstanden und
verantwortlich gebrochen werden. Die einfache Gut und Böse Beziehung die das post hoc der Zivilisation
(Sünde/Böse) gegenüber Urzustand (Gut) suggeriert, ist bei der Frage nach dem propter hoc nicht
gegeben. Es wird also dem Urzustand, dem Paradies, in der Retrospektive aus der Zivilisation heraus –
also nachträglich – ein positiver Wert zugesprochen – und zwar fälschlicherweise.

Zunächst entsteht der Urzustand zuallererst durch Konfrontation und Abgrenzung gegenüber der
Zivilisation. Zum anderen geschieht oben genannte Wertzuweisung innerhalb eines Systems von
Zeichen, Sprache – also in einem kulturellen, zivilisatorischen Kontext. Man bewertet also nachträglich
einen an sich wertneutralen Raum, den Urzustand. Insofern es aber aus eben diesen beiden Gründen
unmöglich ist, den Urzustand `an sich‘ – also vor-sprachlich, vor-zivilisatorisch zu denken, sind wir hier
mit einem Paradox konfrontiert – ein Paradox, das zwar nicht zu lösen ist, dessen man sich jedoch
bewusst sein sollte – und das ist genau der Punkt, an dem Lems Ich-Erzähler hier scheitert.

Wie auch im Sündenfall zieht Lems Ich-Erzähler den Urzustand – synekdochisch dargestellt durch die
Kuh auf der Weide – dem Technischen, Künstlichen vor – den „Vermilchern“. Lem steht hier in einer
ganzen Tradition von Philosophen, Science-Fiction Autoren und Regisseuren (und der des Sündenfalls).
Neo zieht die `reelle‘ Welt der „Matrix“ vor, bei Asimov drehen die Roboter durch, in „Gattaca“ sowohl
als auch in „Die Insel“ steht die Genforschung für einen fatalen Fortschritt, durch den der Mensch auf
seine genetischen Merkmale reduziert wird … usw. Auf einer wissenschaftstheoretischen Meta-Ebene
will die analytische Philosophie die Sprache an das Ursprüngliche, eine „Welt von Tatsachen“ 1, die
Empirie gebunden sehen. Denn diese „Tatsachen“, die Empirie, ist es, die über den Bezug auf

1 Wittgensteins „Tractatus“
1
Julian Koch 17.04.2010

vermeintliche Basissätze den Sachwert von Theorieaussagen sichern soll. Sowohl dieser `Wert‘ als auch
der Begriff einer „Tatsache“ entstehen jedoch erst durch Sprache (s.o.). Der Urzustand mit seiner
positiven Konnotation, ob so bildlich verstanden wie im Sündenfall oder auf abstrakterer Ebene bei der
analytischen Philosophie, das ist das, was man Metaphysik nennt.

Wie schon gezeigt, kann die Hinwendung zum Urzustand nur in der Kultur geschehen. Natur wird also in
der Kultur selbst zum Kultus – eine antikulturelle, subkulturelle Rückwendung, die selbst Kultur ist.
Subkultur, die selbst Kultur ist, in der Kultur sich metakulturell durch Ausschluss selbst definiert. Kultur,
als semiotisches System verstanden, entfernt sich also sogar noch mehr vom Urzustand bei der
Rückwendung auf denselben, welche zweifelsohne nur in der Kultur geschehen kann. Dieses Phänomen
und mangelhafte Reflexion über dasselbe lassen sich bei Lem sehr schön am Beispiel der Kuh aufzeigen –
und zwar auf gleich mehreren Ebenen:

1. Die europäische Kuh ist ein `kreatürliches’ Wesen, und das direkt im mehrfachen Sinne: Eine
gezüchtete `Kreatur’, die, kaum noch mit den natürlichen Verhaltensweisen ihres `Urzustandes’
ausgestattet, nach des Menschen Bedürfnissen domestiziert, `kreiert‘ wurde und wird. Trotzdem
nimmt Lem an, dass auf die `natürliche’ Weide eine Kuh gehört. Das liegt entweder daran, dass Lem
dem zivilisatorischen Prozess derart unreflektiert erlegen ist, dass er die Kuh als `natürlich‘
einschätzt,

2. oder aber, auf einer höheren Ebene, dass Lem sich den Urzustand als die arretierte Gegenwart
vorstellt, weil in Relation zu dieser die von ihm porträtierte Zukunft („Vermilcher“) unerwünscht ist.
Zwar befehle die Vernunft die „Vermilcher“ zu verwenden, doch mit ihnen sei die Wiese
„beklemmend leer“. Der Romantiker wählt Herz über Verstand, das `warme Herz‘ über `kalten
Verstand‘. In den Gesamtzusammenhang des „futurologischen Kongresses“ eingeordnet, wo sich
nachher die schön funktional-futuristische Welt als die Illusion eines Diktators herausstellt, um über
den Schrecken der wahren, `natürlichen‘ Welt hinwegzutäuschen, heißt dies Gut über Böse wählen.
Und genau an dieser Stelle der Wertzuweisung, dem Vorziehen des Urzustandes, ist Lem wieder
unbewusst einem kulturellen Phänomen der Rückwendung zur Natur in der Kultur unterlegen – die
Kuh wird zum – nur scheinbar archetypischen, ursprünglichen – `Kult‘.

Meine These der `Künstlichkeit 2 der Trennung‘ baut darauf auf, dass gewisse Worte (Natur – Kultur)
durch die Metaphorik einer zeitlichen Relation zwischen Urzustand und Zivilisation getrennt werden und
zusätzlich Wertbegriffe (Gut – Böse), die nur dialektisch verstanden werden können, den zeitlich
getrennten Welten zugewiesen werden. Dieses Problem ist ein sprachliches und in der Sprache nicht zu
lösen – sie wird nun einmal notwendig metaphorisch, indem sie metasprachlich von ihren Zeichen sagt,
sie verwiesen auf Natur, Dinge, „Tatsachen“. Letztere hätten für uns kein `Sein‘, wären sie nicht durch
Sprache bezeichnet. Spätestens bei einer Wertzuweisung wäre kritische Reflexion angebracht. Die
Trennung der Welten selbst ist schon eine metaphorische und damit ist Lem seiner eigenen Metapher
erlegen: Wir haben die Kuh auf die Weide gestellt.

2 Mit diesem Begriff falle meiner eigenen Argumentation zum Opfer falle insofern er einen Zustand der Nicht-Künstlichkeit
voraussetzt… Es sei nur bemerkt, dass ich mir dieses Kunstgriffs der Sprache bewusst bin.
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