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Adolf Menzel, Balkonzimmer, 1845

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4. Kapitel
Filmbeispiele

1. Wind im Dispositiv

„Ich weiss nicht mehr welches es genau war, aber es war ein fast vollkommen schwarzes
Bild. Mit einer Figur in der Mitte. Ich weiss noch, wo es war: ich befand mich in diesem
phantastischen Saal der Pennsylvania Academy of Fine Art. […] Und wie ich so die Figur
auf dem Bild betrachtete, höre ich plötzlich einen Atemzug und sehe eine kleine Bewe-
gung. Da wünschte ich mir, dass sich das Bild wirklich bewegen könnte, nur ein ganz
kleines bißchen.“1
Mit diesen Worten schildert David Lynch (1946, Misoula, Montana) in einem Gespräch
mit Chris Rodley das Erlebnis, das ihn dazu bewegte sich dem Film zuzuwenden. Ein
gemaltes Bild wurde durch einen Atemhauch in Bewegung versetzt. Man könnte denken,
Lynch wurde für einen kurzen Moment Zeuge der Erfüllung des uralten Mythos von
Pygmalion:

„Während der Liebende staunt und bange sich freuet und Täuschung
Wieder besorgt und wieder den Wunsch mit den Händen berühret,
War sie Leib; und es schlagen, versucht vom Daume, die Adern.
Jetzo erhebt der paphische Held vollströmende Worte,
Worte des Danks zu Venus, der Gütigen! Endlich vereint er
Zum nicht täuschenden Munde den Mund: die gegebenen Küsse
Fühlt die Errötende, hebt zu dem Lichte die leuchtenden Augen
Schüchtern empor und schaut mit dem Himmel zugleich den Geliebten.“

Betrachtet man aber seine Filme, so erkennt man sogleich einen wesentlichen Unter-
schied zwischen dem Erlebnis Lynchs und demjenigen Pygmalions. Die Filme David
Lynchs kann man weder umarmen noch küssen. Aber nicht deswegen nicht, weil es keine
menschenförmige Statuen sind, sondern weil sie nicht gemacht sind um den Betrachter
in ihre illusionäre Wirklichkeit zu absorbieren. Sie mögen Perfektion ausstrahlen, doch
sie üben keine Faszination aus. Man kann sie lieben, aber man kann sie nicht besitzen.
Wenn Pygmalion eine Geliebte ersehnte, die ganz seinen Vorstellungen entsprechen wür-
de, und eine solche erschuf ohne zu ahnen, dass er ihr verfallen würde, kann man für
Lynch behaupten: er ersehnte zu wissen, wie das lebende Bild funktioniert. Der Wind-
hauch, der das Gemälde Lynchs in Bewegung versetzte, war nicht die Vorstellung des

1 zit. nach: Christ Rodley (Hg.): Lynch über Lynch, Frankfurt a.M., Verlag der Autoren 2006, S. 54

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Betrachters Lynchs. Im Gegenteil, was Lynch überraschte, war die ungewohnte Wirklich-
keit, daß ein Gemälde gewissermassen von Aussen bewegt wird.
Diese Form einer vorcinematischen Bewegung des Bildes, die keinen Betrachter benötigt
um sichtbar zu werden, wird gestaltet durch die Zeit des Windes und nicht die des Bet-
rachters. Es kann sich also auch nicht um eine territoriale Zeit des Zeitsubjekts handeln,
die dem Gemälde in Form eines Opfers entgegengebracht würde. Diese Zeitform kann
nach Walter Benjamins Thesen über der Malerei nur die materielle Fläche des Gemäldes
in Bewegung versetzen. Denn das Gemälde erscheint zwar auf einer Unterlage, doch oh-
ne diese zu besitzen. Die Zeitform, die dem Gemälde zuteil wird, muss demnach selbst
medialer Natur sein, insofern sie ohne das Zutun eines Zeitsubjekts und vollständig au-
ßerhalb der Reichweite von dessen Kompetenzen zustande kommt. Die Zeit des Windes
kann daher den Betrachter davor bewahren, daß ihn die Sichtbarkeit des Bildes absor-
biert. Und sie kann auch das Bild retten, wenn dieses in seiner Identität und Ewigkeit
verschlossen bleibt.
Man kann darum formulieren, dass die Bewegung des Windes ein Außen für die Sicht-
barkeit des Gemäldes und auch für die Position des Betrachters bildet. Der Wind wäre
aus dieser Sicht ein Vater sowohl für die Malerei als auch für den Betrachter.
Doch ein Wind ist für die Malerei ebenso selten, wie eine Auferstehung aus dem Grab.
Und wenn man das Kino als eine kulturelle Ausformung des Dispositivs für die funda-
mentale Zeit der Mutterschaft betrachtet, das Grab, hat dieses Dispositiv im Gemälde
eine erste manifeste Form erhalten. Im Gemälde wird die Trennung zwischen Leben und
Tod, für die das Grab ein absolutes Zeichen und ein Mal war, zur Sichtbarkeit des Bildes
transformiert. Das Gemälde ist ein Mal im engeren Sinne.
Die cinematische Bewegung ahmt aber diejenige des Windes nur nach. Sie kann ein
Aussen für das Gemälde darstellen, aber nicht die Position des Aussen für die Sichtbar-
keit des filmischen Bildes manifestieren. Die Bewegung ist dem Filmbild immanent. Es
ist also auch im Kino die Zeit des Betrachters, die geopfert wird, wie in der Malerei ohne
Wind. Denn der Film an sich, der Film als technisches Konstrukt mit Kompetenzen, Mit-
teln und Sprachen, erzeugt keinen Wind im Dispositiv des Grabes.
Lynchs Methode einen Wind für das Kinodispositiv zu erzeugen, möchte ich versu-
chen mit den folgenden Beispielen herauszustellen. Es handelt sich dabei um eine Be-
schreibung des Umbruchs in der Filmkonzeption Lynchs, die sich mit WILD AT HEART
äußert. In der Folge um eine Besprechung der narrativen Strategie in LOST HIGHWAY.
Und schliesslich um die Präsentation einer technisch-interpretativen Analyse von MUL-
HOLLAND DRIVE.

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2. Die Autarkie der Bilder in WILD AT HEART

Für die Geschichte David Lynchs als Filmregisseur bildete WILD AT HEART einen
Quantensprung. Es ist sein erster Film, in dem er die Medialität des filmischen Modus
zum zentralen Thema des Filmgeschehens erhebt und die klassische narrative Struktur
als eine der Kodierungsebenen des Filmes unterordnet.
Die Bilder von WILD AT HEART visualisieren eine Erzählung. Es handelt sich um eine
Liebesgeschichte. Man kann die Erzählung zwar nicht von den Bildern abstrahieren,
trotzdem scheint die Erzählung, die dem Film zugrunde liegt, für die Entwicklung der
Bilder selbst unwichtig zu sein. Die Bilder haben ihr eigenes Leben und die Erzählung
wirkt wie ein Hintergrund, auf dem sie erscheinen und sich selbst reflektieren können.
Dass die Geschichte von Lula und Sailor den Hintergrund des Films bildet, könnte be-
deuten, dass die Dialektik des Dramas, die jeder Erzählung inhärent ist, in einer ebenfalls
dialektischen Verbindung zu den visuellen Zeichen des Konsums steht. Dies ist aber bei
den Bildern von WILD AT HEART nicht der Fall. Im Moment, wenn die Bilder Verglü-
hen, erhalten wir den Hinweis, daß Erzählung und Bild hier in einer anderen Verbindung
stehen. Der Hintergrund auf dem die visuellen Zeichen sichtbar werden verglüht näm-
lich im gleichen Moment Auge und Ohr. Die Kodierung der visuellen Zeichen ist fak-
tisch eine mehrfache. Sie umfasst die Dialektik des Dramas, das Design der Visualität,
die Psychoanalyse der Sichtbarkeit und der Zeit.
Ihre Zeichen lassen sich in zwei Kategorien einteilen: historische Zeichen und Konsum-
zeichen. Die historischen Zeichen produzieren die Strukturierung der ephemeren Zeit,
während die Konsumzeichen konzipiert sind um einen Effekt von Unendlichkeit zu er-
zeugen. Durch die Gleichzeitigkeit und Identifikation dieser beiden Bildtypen gestaltet
Lynch in WILD AT HEART Bilder, die sowohl den Effekt der Unendlichkeit als auch eine
Erzählung enthalten, die ausgestattet mit Konsumzeichen, ebenfalls als unendliche sicht-
bar wird, wenn sie innerhalb der Filmzeit, als einer der möglichen Effekte der Sichtbar-
keit erscheint.
Man kann diese Bilder selbstreflexiv nennen, da sie die historischen Zeichen der Präsenz
und die flüchtigen Zeichen der Unendlichkeit kurzschliessen. Der Kurzschluss der histo-
rischen Zeichen mit den Konsumzeichen produziert akute Übersichtbarkeit, die syste-
mimmanent nur im Implodieren des Sehens Entspannung finden kann. Wollten die Zei-
chen des Konsums das Aussen der Zeichen der Geschichte sein, so überschreiben jetzt
die selbstreflexiven, rein visuellen Bilder alle Zeichen der Geschichte mit reiner Sicht-
barkeit. Das, wozu eine historische Zeit nötig war, das vermögen die Zeichen des Kon-

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sums dauernd als momentane, ewige Gegenwart zu erzeugen, die kein Aussen kennt. Die
reine Sichtbarkeit erhellt nicht die Potenzen der Geschichte, sondern sie bewahrt sie auf
als eines ihrer Zeichen.
In den Bildern von WILD AT HEART ist die Unendlichkeit ein Effekt der visuellen Zei-
chen des Konsums und gleichzeitig verewigen die Zeichen des Konsums die Geschichte
als Zeichen. Das Verglühen der Bilder und der technischen Mittel, wird als Programm-
komponente des Konzepts Sichtbarkeit aufgezeigt, als eine weitere Form ihrer Geschich-
te. Denn das Aussen der Konsumzeichen ist nicht die als Ewige vorgestellte Erzählung,
die en miniature die historische Zeit zum Stillstand bringt um sie als unentrinnbare zu
konfrontieren. Das Aussen der Konsumzeichen reaktiviert auch nicht die Dialektik von
Hintergrund und Zeichen. Die Konsumzeichen sind nur angebliche Gegenspieler der
historischen Zeichen. Es sind proforma Feinde. Darum ist das Verglühen der Sichtbarkeit
auch nicht als Vorschlag zum Bildersturm zu interpretieren, sondern nur als konsequent
zu Ende gedachte Sichtbarkeit. Es wird initiiert durch die Zeichen des Konsums im Mo-
ment der Realisierung ihrer Funktionsweise. Und sie verglühen auch nur repräsentativ
an Stelle des Betrachters.
Die Kodierungsschichten bilden dabei einen milchig-transparenten Raum, der im Mo-
ment der Implosion mit der Leinwand zusammenfällt. Die visuellen Zeichen kommentie-
ren also nicht die Zeichen der Erzählung. Sie konstruieren die Bedingungen, unter denen
die historischen Zeichen als flüchtige erscheinen können. Die Bildstruktur insgesamt
wird damit als flüchtige wahrnehmbar. Denn wenn die historischen Zeichen innerhalb
des Raumes der Zeichen des flüchtigen Effekts der Ewigkeit zu ihrer Selbstreflexivität
heranwachsen, wenn sie mündig werden, deuten sie auf das Verglühen aller Zeichen. Und
weil es keine visuelle Fläche der flüchtigen Zeichen der Ewigkeit gibt, die geometrisch
lokalisierbar wäre als über oder unter den Zeichen der Erzählung befindliche, sondern
die Zeichen der Erzählung im milchig-transparenten Raum schimmern, scheint es, als ob
die Erzählung in einem gläsernen Sarg träume aufgewacht zu sein, während die Zeichen
des Konsums, die Nabelschnur zwischen Traum und Geschichte entflammen. Wenn die
Ewigkeit des einen Bildes im darauf folgenden implodiert, erlischt darum auch die Ver-
bindung von Sichtbarkeit und Zeit.
Aus einer solchen Perspektive betrachtet, bildet die Geschichte von Lula und Sailor nicht
bloss ein trivialen, literarischen, kunstvoll verwendeten Hintergrund, auf dem sich die
Zeichen der Sichtbarkeit zu ihrer Autarkie bekennen. Wenn die Bilder ihre eigene Sicht-
barkeit reflektieren, ihre Kodierungen selbst dekodieren, bilden sie visuelle Stromkreise,
deren Selbstentzündung sowohl das Konzept Sichtbarkeit als auch das Konzept Ge-
schichte verbraucht.

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Und es ist nicht ersichtlich, ob die Zeichen der Geschichte das Alibi für die Zeichen der
flüchtigen Ewigkeit waren, oder die Geschichte das Alibi für den endgültigen Konsum.

3. Die Allimmanenz der Sichtbarkeit in LOST HIGHWAY

In Lost Highway haben die Bilder von Lynch einen weiteren Entwicklungsschritt vollzo-
gen. Die selbstreflexive Struktur der visuellen Zeichenkodierungen und die Auflösung
der Dialektik von Zeichen und Fläche, Vordergrund und Hintergrund im milchig-
transparenten Raum, hat sich in Lost Highway zur Architektur des filmischen Raums
auskristallisiert. War in WILD AT HEART die Erzählung noch als Spur vorhanden, so ist
in Lost Highway weder eine Erzählung noch eine Spur davon erkennbar. Wir haben es
hier nicht mehr mit Erzählung und Geschichte im Medium Film zu tun, sondern mit
Zeit, Sichtbarkeit und Sprache.
Doch die Sprache scheint hier in keinem geometrisch vorstellbaren Verhältnis zum vi-
suellen Raum zu stehen. Sie bildet kein Aussen der Filmbilder. Es handelt sich aber auch
nicht um eine Sprache der Fragmente, Zitate, Verweise, die innerhalb der Sichtbarkeit auf
etwas hindeuten würden.
Das Gesprochene gehört zu den Filmfiguren, wie die übrigen sichtbaren und hörbaren
Attribute in den Bildern. Wie die Bremsgeräusche zu den Autos und das Flackern und
Zischen zu den erlöschenden Glühbirnen.
Die Sprache steht in LOST HIGHWAY auch in in einem besonderen Verhältnis zur Film-
zeit. Weil die Impulse, die die Entwicklung der Filmzeit in Gang setzen, nicht von der
Sprache ausgehen, kann man sagen, dass hier das Gesprochene nicht den Regeln der
Narrativität gehorcht. Das Gesprochene fungiert als Attribut der Sichtbarkeit. Doch
nicht in Form einer Spiegelung im Bild. Auch nicht in Form einer Selbstreflexion des
Visuellen, die vom Gesprochenen ausgelöst würde. Wir haben es auch nicht mit einer
Intensivierung des Gesprochenen zu tun, die als Widerhall der Sprache in der Sichtbar-
keit wahrnehmbar wäre. Das Gesprochene wird von der samtenen Struktur der Sichtbar-
keit einfach absorbiert.
War für die dramatische und historische Zeit massgebend, daß sich ein kollektiv imagi-
nierter Konflikt im Dialog der Figuren widerspiegelt, sich darin kondensiert wiederprä-
sentiert; und bildete ein solcher Dialog einen medialen Aussenraum dessen, was darin
repräsentiert wurde, so kann man für LOST HIGHWAY behaupten, daß die Sichtbarkeit
den kollektiv imaginierten Konflikt absorbiert und zum visuellen Attribut der Filmfigu-
ren umformatiert.

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Das a-narrative Gesprochene erzeugt eine nachhistorische Sichtbarkeitsfläche, auf der
die Repräsentation eines Kollektivs und seiner als gemeinsame imaginierte Sprachimma-
nenz, ausschliesst. Die nachhistorische Sichtbarkeit ist vollständig erfüllt mit visuellen
Zeichen: Zeitzeichen, Bildzeichen, Sprachzeichen, Figurzeichen ...
Die Filmzeit kann darum nicht anhand der Filmfiguren und ihrer Sprachimmanenz er-
zeugt werden. Sie muss auf der Grundlage der technischen Zeit der materiellen Filmrolle
erzeugt werden. Die erfüllte und autarke Sichtbarkeit ermöglicht nämlich die Identifizie-
rung der Filmrollenzeit mit der Sequenzzeit. Gestalteten in WILD AT HEART die flüch-
tigen Ewigkeitszeichen und die historischen Zeichen der Filmfiguren einen interaktiven
Bildraum, der bei der Verewigung der historischen Zeichen in den Konsumzeichen im-
plodierte, so bilden in LOST HIGHWAY die nachhistorischen Zeichen und die zu sichtba-
ren Attributen herausgestellten Sprachzeichen, einen Raum der unentrinnbaren Sichtbar-
keit. Einen Raum der Allimmanenz.
Nicht weil die Geschichte, die in Lost Highway erzählt wird, eine wiederkehrende Struk-
tur besitzt, ist es richtig, wenn man formuliert, dass hier die Filmzeit zyklisch verläuft.
Es ist tatsächlich die Identifizierung der Figurzeit mit der materiellen Filmrollenzeit, die
in LOST HIGHWAY die Sichtbarkeitsimmanenz zur Allimmanenz erhebt. Wir haben es
darum nicht mehr mit einer Geschichte über Figuren zu tun, sondern mit Figuren, deren
Zeit sich mit der materiell-technischen Zeit des Konstrukts identifiziert: Mit der unent-
rinnbaren Identifizierung zwischen Figur und Konstrukt, bei der es die Vergänglichkeit
der materiellen Ebene ist, die das Aussen manifestiert.
Wenn aber die Filmfigurzeit mit der Filmrollenzeit identisch wird, kann die narrative E-
bene, die Ebene der kausalen Filmrealität, nicht dem Filmgeschehen immanent sein. Es
findet kein Geschehen statt, das die Figuren hervorrufen. Die Kausalität muss darum an
der Schnittstelle zwischen den Ebenen erzeugt werden, deren Konfrontation als Aussen
der Allimmanenz der Sichtbarkeit dient: Es ist die Schnittstelle zwischen Figur und
Technik an der sich die Allimmanenz der Sichtbarkeit mit der Zeit misst. Und diese
Schnittstelle gestaltet den Ort, an dem die Zeit als dialektischer Gegenpol der Sichtbar-
keitsimmanenz des Films deutlich wird.
Wenn die reale Ebene als die Schnittstelle zwischen technischer Ebene und Figurebene
aufgefasst wird; wenn also die technische Ebene als eine der Figuren des Films LOST
HIGHWAY aufgefasst wird, dann wird ein ‚erzählen’ - von einer Naturalisierung kann
nicht die Rede sein - von LOST HIGHWAY möglich. Dies würde bedeuten, das die Re-
konstruktion des Schicksals der Figuren des Films, das Medium einschliesst, in dem diese
vorkommen. Erst aus einer solchen Perspektive ist es denkbar, die Verbindung der ver-
schiedenen Filmsequenzen, als von der Figur Zeit imaginierte zu denken, einer Zeit, die
sich an der Schnittstelle zwischen technischem Konstrukt, Materie und Licht gestaltet.

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Der Film als technische Figur, die eine vergängliche Zeit produziert, ist in LOST
HIGHWAY Subjekt der Erzählung.
Die Hauptfigur auf der Filmebene ist folgerichtig ein Zeichen des territorialen Subjekts.
Denn die Ambition des Filmregisseurs liegt in der Gestaltung eines nachhistorischen
Zeitsubjekts. Folgerichtig ebenfalls, dass die technische Sichtbarkeitsfläche Video, als
Aussen der Sichtbarkeitsfläche des Filmgeschehens fungiert. Die dialektische Verbindung
zwischen Videobild und Filmbild erlaubt die Hypothese, dass das Zeichen des territoria-
len Zeitsubjekts, den Verlust seiner Zeit als kondensierte oder aufgezeichnete Sichtbar-
keit konfrontieren muss.
Wenn Zeit sich nicht mehr im Territorium oder im politischen Raum gestaltet und die
Sprache in der Sichtbarkeit absorbiert wird, funktioniert das Gedächtnis als Aufbewah-
rung von Vergänglichkeit in einem Bild. Nichts anderes ist der Blick des Dritten, der sich
in LOST HIGHWAY in seiner manifesten technischen Form zeigt: dem Videobild. Es ist
Gedächtnis, Aufzeichnung des unbeteiligten Blicks, und zugleich das einzige denkbare
Aussen, der göttliche Blick, der unter den Bedingungen der technischen Reproduzierbar-
keit von Zeit und Sichtbarkeit möglich ist.
Das Videobild fungiert in LOST HIGHWAY als Aussen der Filmfiguren, während die In-
terpretation, dass es sich hierbei um das Unbewusste handelt, letztem die Position eines
Göttlichen zugestehen würde, dass irgendwo im Inneren des Aufzeichungsapparates an-
gesiedelt ist. Nicht von der Hand zu weisen scheint aber, dass erst die Sequenz des Vi-
deobildes, welches die Hausfront zeigt, eine für die realitätsebene des Filmes wirkliche
Zeitform hervorruft: Nicht nur ‚lebt’ es nämlich zwischen zwei elektrischen Impulsen,
wie die Immanenz, sondern es ist auch unbekannter Autorschaft. Es trägt darum das
Gewicht des Bildes der Malerei, ein Mal zu sein. Die Zeitstruktur des Videobildes ist a-
ber eine gewesene, eine vergangene, sonst könnte, was sie strukturiert, nicht sichtbar
werden. Die vergängliche Zeit des Aufzeichnungsmediums ist unumstritten eine solche.
Doch, wie steht es mit der Zeit der Filmfigur, deren Gedächtnis sie manifestiert? Ist die
Zeit der Filmfigur bereits im Video vorgeschrieben? Ist sie unausweichlich? Ist die Zeit
der Figur das Schicksal des Mediums, in dem sie vorkommt und mit dem sie sich zu mes-
sen hat?
Die Zeit des ersten Videos ist diejenige, die auch die Zeit der Zuschauer reflektiert.
Auch deren Zeit wäre aus der Perspektive der Leinwand ein statisch aufgenommenes
Bild. Daraus darf man schliessen, dass der Betrachter und das Videobild in einem kausa-
len Verhältnis stehen müssen, insofern die Zeitstruktur des Videos auch den Anfang und
das Ende der narrativen Zeit markiert, innerhalb derer der Betrachter seine Erzählung
konstruiert.

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Hinzu kommt, dass die Autorschaft der Videobilder für die Ebene der Filmfiguren unbe-
kannt ist: Sie bekommen Aufzeichnungen ihrer Umgebung und ihrer selbst, ohne zu er-
fahren, wer sie erzeugt hat. Die visuelle Ebene des Videos erzeugt die narrative Entwick-
lung der Filmebene aber nicht, weil sichtbarkeitsintern ein Konflikt stattfindet. Auch auf
der Sichtbarkeitsebene des Videos haben wir es ausschliesslich mit Filmbildern zu tun,
die jeglicher Dramatik und Handlung, Diskursivität oder Affektivität entbehren. Es han-
delt sich um Bilder der reinen Sichtbarkeit, Streifenrauschen, Abstraktion.
Wenn ein Konflikt trotzdem stattfindet, dann ist er zwischen den beiden Medien der
Sichtbarkeit zu lokalisieren. Denn die Videobilder rufen eine Handlungsnotwendigkeit
für die Ebene des Films aus, die von den Filmfiguren verhandelt wird. Der Sichtbarkeit-
simmanente Konflikt und das Sichbarkeitsimmanente Drama, spielen sich in LOST
HIGHWAY also nicht nicht zwischen den Filmfiguren ab, sondern zwischen den medialen
Formaten.
Auf der anderen Seite ist der Zuschauer im Visuellen stillgestellt und im akustischen
Raum absorbiert. Der Blick des Zuschauers zeichnet zwar die Achse des Verdachts zwi-
schen Medium, Sub- und Superraum, konkret: zwischen Video, Filmbild und Tonspur, er
ist aber viel zu beschäftigt mit den akustischen Interferenzen, die teilweise noch Spuren
der historischen Zeitzeichen reaktivieren und ihn zu einem romantischen Regress verfüh-
ren können. Der Blick des Zuschauers befindet sich im Raum der einverleibenden Ver-
nunft, deren Eingang und Ausgang die Klangimmanenz ist, die sich mit der sprachlosen
Sichtbarkeit nicht messen muss, solange akustische und visuelle Delikatessen ihr die Zeit
vertreiben.
Weil die Sprache in LOST HIGHWAY ihre raumstrukturierende Kompetenz verfehlt,
wenn sie sich mit der Sichtbarkeit identifiziert, ist auch sie nicht in der Lage die Zeitbil-
der aus ihrer ewigen Ekstase zu locken. Und weil die Zeichen der Zeit ihre eigene Ver-
gänglichkeit nicht mehr ahnen können, wenn die Sichtbarkeit ihnen die Sprache raubt,
sind es die Zeichen der Figuren, sie müssen sich nun ganz allein um ihre Vergänglichkeit
kümmern.
Erst in dem Moment, in dem die Zeichen der Zeit und die Zeichen der Sprache sich in
der Sichtbarkeit eines objektiven Blicks identifizieren und Sprache und Zeit zum Still-
stand kommen, wird es wieder möglich die Geschichte der Zeichen zu artikulieren, die
eine Geschichte der Figuren war. Die Sichtbarkeit der Zeichen ist ein dialektischer Mo-
ment der Sichtbarkeit der Figuren: derjenige, der sie transzendiert, der sie in der Zeit
aufhebt.
Nur auf dem Hintergrund, den die Figur zum Verschwinden gebracht hat, ist nämlich ein
Zeichen dieser Figur möglich gewesen. Das Zeichen der Figur wurde gestaltet durch die

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Wiederherstellung des Hintergrundes, den das Bild der Malerei transzendiert hatte: als
Vordergrund.
Das Zeichen der Figur ist ein Bild der Ähnlichkeit, das zwischen Hintergund und Vor-
dergrund des Filmbildes stagniert. Wenn die Zeit der Immanenz, die in den schwarzen
Zwischenbildern als leere Stelle manifestiert ist, sich mit dem Vordergrund der Ähnlich-
keitsbilder identifiziert, erzeugt das Filmbild ein Zeichen der Figur, das seine eigene leere
Immanenz reflektiert. Die dem Betrachter immanente Zeit, das Vergehen des Betrach-
ters, welches im Bild der Malerei durch die der Sichtbarkeit immanente Bewegung er-
zeugt wurde, wird im Filmbild als Flucht vor der Bewegung der Filmrolle manifestiert.
Weil der Betrachter sich nicht mit der Perspektive der Kamera identifizieren kann, stellt
der Blick des Betrachters als Identitätsfläche des Videobildes den Hintergrund her, auf
dem die Figur als Zeichen sichtbar wird. Wenn die Figuren zu Zeichen werden, ist die
ihnen abhanden gekommene Zeit aufgezeichnet.
Das, was der männlichen Figur in der Sichtbarkeitsimmanenz abhanden gekommen ist,
ist seine eigene Zeit, die Zeit seiner Selbstritualisierung. Wenn sich das Zeichen der
männlichen Figur in eine Filmfigur der Zeit verwandelt und die mediale Formatierung
der Filmfigur die Bedingungen für dessen Zeit vorbestimmt, dann handelt es sich nicht
um eine Befreiung des Zeichens ‚Figur’ im Format ‚Film Noir’. Ganz im Gegenteil: Es
wird sichtbar, dass diese Formatierung der männlichen Filmfigur, die Vorgeschichte war,
die zu ihrer Absorbtion in der Sichbarkeitsimmanenz geführt hat.
Man kann auch sagen: Das Zeichen für Filmbild, die männliche Figur, die der Bildimma-
nenz der Malerei äusserlich war und die Zeit gestaltete, verwandelt sich zurück in einen
vorherigen Modus des Filmbildes, in dem es noch Ähnlichkeitsbilder von männlichen
Figuren gab, die eine Filmzeit erzeugten. Diese vorherige Zeit war die Suche des Filmbil-
des selbst –der männlichen Figur - nach dem Bild der Malerei, welches in den Bildern
der Ähnlichkeit nicht vorkommt, sondern die Form eines doppelten Filmbildes der Ähn-
lichkeit annimmt. Der zweite Teil von LOST HIGHWAY erzählt die Geschichte des Zei-
chens der männlichen Figur, das in Bezug auf die Immanenz des Bildes der Malerei das
Aussen dieser Immanenz, die vergängliche Zeit, erzeugte. Es ist von hier aus rekonstru-
ierbar, dass die Funktion des Bildes der Malerei, wie das Videobild, eine Ebene der Nar-
ration für die Ebene der Filmfiguren konstituiert. Der Konflikt in LOST HIGHWAY ge-
schieht in der Konfrontation der Formate Gemälde – Videobild – Filmbild.
Was durch diese Kristallisation der Sprache im Bild des Films sichtbar wird, ist vielleicht
einerseits das Zeitbild jedoch ist es gleichzeitig der Stillstand der Filmzeit der Filmfigur,
die so seine Selbstreflexion ermöglicht. Dass die Zeit im Film still steht, beruht auf der
Präsenz des Zeichens der Figur ohne Zeit, in einem anderen Film, dessen Urheber die
Zeichenstruktur selbst ist. Auch wenn das Technikum Video erst nach dem Technikum

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Film konzipiert wurde, ist, was es zeigt, immer das Vorher, eine vorherige Version des
Zeichens und somit, das, was geschehen kann. Die Wand, für deren Gestaltung das Zwie-
licht der unabdingbare technische Umstand ist, deutet auf die Erinnerung der Trennung
zwischen Körper und Zeichen, die die Grundlage für die Gestaltung von Bewegung im
Raum war, und die das Zeichen des Körpers transzendiert, wenn es die Immanenz ver-
lässt.
Das Zeichen des Körpers verlässt den Ort der zeitlosen Bühne und möchte seine Ge-
schichte lesen: die Figur. Ab diesem Moment ist es auch unerreichbar für die Allimma-
nenz der Sichtbarkeit. Und dass das Körperzeichen sich in einem Spiegel betrachtet und
nicht sieht, was es sucht, muss schliesslich als deutlicher Hinweis dafür aufgefasst wer-
den, dass der Spiegel noch aus einem anderen Grund nicht die Fläche der Selbstreflexion
des Zeichens sein kann. Der Spiegel besitzt einen Hintergrund, weswegen darin nicht die
Dialektik von Zeit und Sichtbarkeit reflektiert werden kann, sondern nur diejenige der
Sichtbarkeit selbst. Im Spiegel wird das Zeichen der Zeit als Immanenz sichtbar. Der
Spiegel muss darum als die vierte Fläche der visuellen Autarkie der Zeichen betrachtet
werden, weil darin die Identität des Zeichens mit sich selbst als Immanenz fungieren
kann.
Das Zeichen der Zeit bedarf um sichtbar zu werden eines eher dunklen Hintergrundes.
Auf einem solchen würde die Zeit auffallen, wenn sie das Bild der Ähnlichkeit – das Zei-
chen der Bildimmanenz- in Stücke zerreisst. Und sie würde sich gleichzeitig gut tarnen
können, wenn sie als hilfloses Zeichen durch die Erzählung irrt, als ob sie einen Hinter-
gedanken hat, den zu zeigen nicht förderlich wäre, hat doch das Zeichen der Zeit eine
Chance, gesehen durch die Rekonstruktion seiner immanenten Figur, sein Schicksal zu
beeinflussen. Die Übertragung, die hier stattfindet, und die zwischen dem Zeichen der
Figur und der Figur selbst angesiedelt ist, ist keine Sprachfunktion, sondern eine Zeit-
funktion. Die Übertragung ist keine Verschiebung von signifikanten Inhalten auf andere
signifikante Stellen in der Verkettung der Wörter. Es ist anders: Die signifikanten For-
men und die signifikanten Inhalte bestehen gleichzeitig und werden sichtbar erst, wenn
sie vergehen. Um vergehen zu können, müssen sie jedoch verschiedene Zeitachsen ge-
stalten. Die Metapher der Zeit ist keine Sichtbarkeit auf doppeltem Hintergrund oder
auf doppeltem Boden, sondern sie ist doppelte sichtbare Zeit. Die Identifizierung der
Metapher der Zeit mit der Immanenz des Bildes der Malerei wird in LOST HIGHWAY
entschlüsselt und als suksessive Version und Vorversion einer Filmfigur sichtbar ge-
macht: Der Figur der Zeit. Die Versionen der Filmfiguren, sind Versionen der Zeitmeta-
pher.

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1. MULHOLLAND DRIVE: Einleitung

Ein tiefer vibrierender Ton begleitet die ersten Sekunden des Films. Wir sehen silber-
weiße Buchstaben mit abgeschrägten Kanten auf einem schwarzem Hintergrund: STU-
DIO CANALE. ALAIN SARDE . Ein greller Ton löst nun den vorherigen ab. REGIE. DA-
VID LYNCH . Wie zur Einstimmung beginnt ein Tasteninstrument sanft zu klingen, als
würde es näher kommen. Schwarze wolkenförmige Flächen heben sich allmählich vor

einem violetten Hintergrund ab und nehmen Gestalt an. Sie bewegen sich in Zeitlupe
und hinterlassen Verzögerungsschatten, wenn plötzlich laute Trommeln einen Rhythmus
einleiten. Der Raum wird erfüllt und wir mitgerissen. Nicht zuletzt wegen der Lautstärke.
Im gleichen Moment bricht die Zeitlupe ab und ein Saxophon beginnt zu schreien, wenn
wir erkennen, dass die dunklen Schatten Männer und Frauen waren, die wir nun paarwei-
se tanzen sehen.
Es ist aber keine gewöhnliche Tanzszene, die uns hier präsentiert wird. Es ist keine
Bühne, kein Übungsraum. Der für Filmkonsumenten gewohnte 180° Bildraum ist hier
nicht der Fall. Die Paare tanzen in einem Raum, der gar nicht unseren Sehgewohnheiten
entspricht. Er scheint aus überlappenden Flächen zu bestehen. Halbtransparenten
Schichten. Man kennt solche Beschreibungen von Welten, die aus Schichten bestehen,
aus mystischen Erzählungen über Indianer, die mit Peyote die Pforten der Erkenntnis
durchqueren. Wir sehen mehrere Bildschichten, die ineinander fliessen, sich überlappen
und sich gegenseitig durchdringen, während der filmische Raum in dieser Sequenz so-
wohl einen Hintergrund als auch einen Vordergrund misst.
Wollte man das hier gesehene mit einer geometrischen Form vergleichen, so wäre die
Kugelform am geeignetsten. Unter der Bedingung aber, dass sich diese Kugel ständig
drehen würde, während wir uns ebenfalls rund um die Kugel drehen würden. Ein Son-

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nensystem im Kleinen sozusagen. Es kommen einem dabei zwei Dinge in den Sinn. Ers-
tens, dass die Erfahrung von Intimität in der Literatur als „rund“ bezeichnet wird. Dem-
nach werden wir in dieser Sequenz zu Teilnehmern der intimen Sphäre eines Anderen.
Wir sind mitten in einer Szene, die sich in der Seele eines Anderen abspielt. Wie muss es
einem gehen, dessen Seele so dreht! Die Szene erinnert aber auch an das Karusell aus
dem Luna Park: Vier Vierersitze drehen sich um ihre eigene Achse und um die Achse des
Viererkonstrukts, während sich die kreisförmige Bodenfläche des Gesamten in die entge-
gengesetzte Richtung dreht. Bei einigen Karusells kommt noch eine vertikale Bewegung
hinzu. Beispielsweise bei der Riesenkrake. Doch eine vertikale Bewegung der Bildflächen
haben wir hier nicht. Manchmal springt eine Dame in die Luft. Aber nur um sofort von
einem Mann aufgefangen zu werden. Das gibt es bei der Riesenkrake nicht. Was wir se-

hen ist also ein tanzendes Tassenkarusell. Oder besser gesagt: Was wir sehen, ist wie sich
einer fühlt, der gerade Tassenkarusell fährt.
Dabei erwecken die überlappenden Sichtbarkeitsflächen den Eindruck, es handle sich
um unzählige Paare, die hier in die Kadrierung hinein und hinaus hüpfen. Doch es sind

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stets die gleichen vier Paare, die auf den gespaltenen und vervielfachten Schichten zu
sehen sind. Figuren im Film sind stets Figuren der Ähnlichkeit. Der Versuch ihnen mit
dem Blick zu folgen und sie zu identifizieren, scheitert an der Geschwindigkeit, mit der
sie ihre Tanzfiguren ausführen.
Das erste Filmbild, das als Eröffnung der Tanz-
szene gedient hatte, war eine schwarze Fläche.
Diese bleibt in der gesamten Sequenz bestehen
und bildet darin eine Art Löcherebene des filmi-
schen Raum. Einige Figuren tanzen darin, andere
davor. Und die Löcherebene selbst ist gemacht aus
tanzenden Paaren. Trotzdem ist es nicht möglich
zu bestimmen, ob die schwarze Fläche den Hinter-
grund der Sequenz bildet, weil ‚dahinter’ und ‚da-
vor’ hier nicht funktionieren, wie in der zentral-
perspektivischen Bildkonstruktion, sondern eher
wie im Tassenkarusell. Es ist die Schwarze Fläche
selbst, die wir als Angelpunkt für die toplogische Verortung der Sichtbarkeitsflächen
nehmen: Was innerhalb der schwarzen Konturen erscheint, stufen wir als „dahinter“ ein.
Was sie durchkreuzt, betrachten wir als „davor.“ Und dies, obwohl die Ausschnitte der
Tanzfiguren im Inneren der schwarzen Flächen viel grösser sind als die Konturen, in de-
nen sie enthalten sind.
Während wir vom Rausch der Bilder erfasst werden, schleicht sich unmerklich ein
grosser weißer Fleck in unser Sichtfeld, der nahezu die gesamte Szene bedeckt. Er wirkt
derart fremd und aufgesetzt, dass wir meinen, es stimmt etwas mit unseren Augen nicht.
Doch der Fleck wackelt, während wir ja unbewegt sitzen. Er muss also auf der Leinwand
sein. Vielleicht ist es eine Verunreinigung des Projektors oder jemand im Kinosaal, der
ein Tuch zwischen Projektor und Leinwand hält, das sich dann milchig darstellt. Das sind
aber nur vorschnelle Interpretationen. Fluchtgedanken eigentlich um der unklaren Sicht
mit einer logischen Erklärung zu entkommen.
Der weiße unförmige Schatten ist aber absichtlich in diesen Bildern. Er wackelt erneut
und stellt sich dann selbst scharf, sodass wir drei Gestalten erkennen können: Eine junge
Frau in der Mitte, eine alte Dame und einen alten Herrn rechts und links. Alle drei bli-
cken strahlend in die gleiche Richtung, an uns vorbei.
Durch die Überblendung der weißen Schatten war die Tanzszene für kurze Zeit nur
wage sichtbar, als wäre sie hinter einem Vorhang verschwunden. Als schliesslich auch die
drei Figuren die Tanzszene wieder frei geben, taucht mitten in der Bildfläche der eine
weiße Schatten der jungen Frau allein auf. Wir sehen sie diesmal aus der Froschperspek-

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tive. Strahlend dreht sie den Kopf nach rechts und nach links. Die Musik vermischt sich
mit Applaus und beginnt abzuklingen. Als auch der Applaus abklingt hören wir ein
fürchterliches Rauschen. Es klingt wie eine Überschwemmung von Innen, die schliesslich
in ein Atemgeräusch mündet, dass aus den tiefsten Tiefen einer Seele zu kommen
scheint.
Die Tanzszene und die weißen Schatten werden abgeblendet und eine andere Szene
wird langsam erkennbar. Da ist noch ein ganz kleiner weißer Rest. Auch der verschwin-
det aber rasch und gibt endlich die Sicht auf den Raum frei, in dem sich die atmende
Person befindet. Die Nahsicht um genau zu sein. Denn wir sehen nun verschwommene
Details eines Zimmerausschnitts, aus der Perspektive der atmenden Person. Die Ab- und
Aufblende von der Tanzszene zum Zimmer hat also funktioniert wie ein Lidschlag der
hier hypostasierten Person. Sie machte ihre Augen zu und die Tanzszene verschwand.
Dann machte sie die Augen auf und befand sich einem Zimmer wird. Dazwischen lag das
grauenvolle Rauschen. Die Tanzszene war wirklich ein mentales Bild der hypostasierten
Person und die Aufblende in ihrem Schlafzimmer hypostasiert zugleich die tatsächliche
Sicht dieser Person in der filmischen Realität. In den wenigen Sekunden die folgen, irri-
tiert uns der getrübte Blick dieser Person immer mehr. Wir sehen den verschwommenen
Ausschnitt einer Kommode. Erkennen einen runden Griff und Kanten des Möbelstücks.
Durch einen langsamen Schwenk der Kamera nach links unten gerät der Zimmerboden

neben dem Bett ins Blickfeld. Die Person hat also in diesem Moment ihren Kopf seitlich
auf ihre linke Schulter gelehnt. Sie schweift nun ihren Blick langsam über die Gegen-
stände neben dem Bett. Da ist Etwas, das einer Puppe ähnelt. Uns scheint, wir erkennen
abstrakt die Konturen eines Körpers und die Form eines Gesichts. Es könnte eine Zeit-
schrift sein, auf deren Titelbild eine Frau posiert. Wir wissen es nicht.
Alle anderen Geräusche sind inzwischen verstummt. Zu hören ist nur der Atem der
hypostasierten Person, der angestrengt, erschöpft und beängstigend wirkt. Mit einem
langsamen Schwenk nach rechts sehen wir nun einen Teil des Bettes, an dessen Kante die
Person sitzt, aus nächster Nähe. Da sind benutzte altrosa Bettlaken und ein dazu passen-

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des Kopfkissen. Da liegt auch noch eine quer hingeworfene olivgrüne Decke. Sie ist aus
billigem synthetischen Stoff und widerspricht den edlen alten Laken farblich wie zeitlich.
Die Kamera bewegt sich behutsam und nähert sich ohne die Einstellungsgrösse zu
ändern dem Kopfkissen. Der Atem der Person wird flacher und die Abstände zwischen
Ein- und Ausatmen dehnen sich gefährlich. Die langsame Kamerafahrt zum Kopfkissen
lässt die Atempausen zu schleichenden Bedrohungen wachsen. Diese Pausen, diese Stil-
len, ähneln in nichts den sanften Gewässern, in die man gleitet kurz bevor man in Mor-
pheus Schoss fällt. Dies hier ist nicht der Atem eines Einschlafenden. Die Atempausen
sind kleine Vorboten des Todes. Und diese Person fällt in einen anderen Schacht, als in
den des Schlafs.
Obwohl wir den bedrohlichen Zustand der Person wahrnehmen, wandern wir mit ihr
auf das altrosafarbene Kissen zu. Ohne jeglichen Schnitt bewegt sich die Kamera so nah
an den Stoff heran, bis schliesslich kein Licht mehr zwischen Objektiv, Auge und Stoff
dringen kann. Die absolute Dunkelheit eröffnet das Filmgeschehen.

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