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Brief von Jean Vanier

Trosly, September 2010

Liebe Freunde,

Die Schwalben sind abgeflogen, jetzt sind sie fort! Das Nest ist leer. Jeden Tag
bin ich hier in Orval die drei oder vier Schwälbchen anschauen gekommen.
Die Schwalbenmutter ernährte sie stetig mit ihrem großen Schnabel und
die Kleinen wuchsen schnell. Sie fühlten sich immer unbehaglicher in ihrem
Nest, eingezwängt. Und als es soweit war, begannen sie zu fliegen, ohne dass
ihre Eltern es ihnen beigebracht hatten, die Natur hat es so eingerichtet.
Der Flug in die Freiheit. Dann sind die Schwalben weggeflogen, das Nest ist
leer, und bald werden sie wohl in Richtung Afrikasonne fliegen; nächstes
Frühjahr werden sie zurückkommen und auch ihre Nester bauen. So ist das Leben. Man kommt auf die Welt,
man wächst heran, man reist, man baut sein Haus, man vermehrt sich, die Kleinen gehen weg und man steigt
auf in den Himmel, einen anderen Himmel.

So geht es uns allen. Letztes Jahr habe ich euch berichtet, dass Jaqueline
Halluin am 24. August ihre Reise zu Gott angetreten hat. Dieses Jahr fand
die Abreise meines Bruders Bernard, der eineinhalb Jahre älter als ich
war, statt. Er lebte südlich von Paris. Ich besuchte ihn so gerne, wenn ich
konnte, was leider nicht oft der Fall war. Laurence, seine Tochter, die ich sehr
gerne mag, kochte dann für uns (Austern und immer eine Lammkeule).
Als wir jung waren, standen Bernard und ich uns sehr nahe. Wir schliefen
im selben Zimmer und gemeinsam machten wir viel Unfug. In Marcoussis,
wo Bernard lebte, sprachen wir dann lachend über den Unsinn, den wir als
Kinder machten. Das tat uns gut. Es gab so ein natürliches Einverständnis
zwischen uns. Mit 13 bin ich weggegangen, um in England die Offiziersschule
der Marine zu besuchen. Später haben sich unsere Wege nicht oft gekreuzt,
aber wenn wir uns begegneten, hatten wir immer viel Freude miteinander.
Er ist gegangen und das hat mich berührt. Ich habe einen Bruder verloren,
der auch mein Freund war. Vielen Dank an alle, die mir in Briefen ihr Mitgefühl und ihre Sympathie mitgeteilt
haben.

So ist unser Lebenszyklus: das Wachsen ist in uns vorprogrammiert, aber auch das Schwächerwerden und
schließlich das Sterben.

Und dann ist da auch der Wandel der Menschheit und des Universums – was die Schwalben nicht haben.
Es sieht so aus, als ob sich ihre Art nicht besonders weiterentwickelt. Die ersten Männer und Frauen, deren
Ursprung, heißt es, Afrika ist und Millionen von Jahren zurückliegt, haben sich über die Erde verbreitet und
in Gruppen, Sippen und Stämmen zusammengeschlossen mit eigenen Kulturen und Traditionen. In und
zwischen den Sippen gab es Konflikte; es gab Morde und Kriege. Diese Menschen, Männer und Frauen, haben

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Fortschritte gemacht, sie haben viel entdeckt, neue Kenntnisse erworben und manchmal auch Weisheit. Es
war ihnen unmöglich, in der Endlichkeit festgelegt zu sein. In den Herzen und der Intelligenz der Menschen
gibt es den Wunsch, sich dem Universellen zu öffnen, das horizontale Universelle aber auch das vertikale
Universelle. Eine Suche nach dem Sinn, der Quelle und der Bedeutung des Lebens. Über Millionen von Jahren
hin hat sich die Menschheit auf außergewöhnliche Weise gewandelt, sie ist reifer geworden, aber manchmal
zeigt sie auch Zeichen von Zerfall. Jede Generation hat Neues entdeckt. Dieser Wandel war wunderbar und
tief aber auch schmerzhaft. Atomwaffen ersetzen heute die Waffen aus Holz.

Die zwischenmenschlichen Beziehungen haben sich verändert, sie zeugen von mehr Reife, sie entwickeln
sich hin zu mehr Sensibilität und Zärtlichkeit, hin zu einem gegenseitigen Empfangen und gleichzeitig sind
wir Zeugen neuer Formen von Gewalt. Die zwischenmenschlichen Bande sind durch den Wunsch nach mehr
persönlicher, individueller Freiheit schwächer geworden. Der Wandel ist schön und schmerzvoll.

Die Arche hat sich auch verändert. Es stimmt, dass ich als erster zwei Personen, Raphael und Philippe, die
aus einer Einrichtung kamen, in der sie litten, aufgenommen habe, um mit ihnen zusammenzuleben und eine
neue Form von Gemeinschaft ins Leben zu rufen. Ich habe einige Zeit gebraucht, um mich als Gründer zu
betrachten, denn ich wusste nicht, welchen Weg ich einschlug und wie die Arche sich entwickeln könnte oder
sollte. Heute, 46 Jahre später, bin ich der glücklichste Gründer! Ich trage keine Verantwortung mehr für die
Organisation der Arche, Jean-Christophe und Christine sind am Steuer unserer sämtlichen Gemeinschaften.
Ich bin entzückt über ihre Weisheit, über die Art und Weise wie sie das Ganze führen. Ich sage Dank für sie
und alle anderen Verantwortlichen auf internationaler Ebene und in unseren Gemeinschaften, und ich sage
Dank für alle, die dieser großen Familie angehören, die ein Zeichen der Entwicklung zum Frieden und zur
Einheit aller Menschen sein will und dies nicht durch Kraft sondern durch Liebe.

Das gleiche gilt für „Glaube und Licht“. Ich gehöre keiner der „Glaube und Licht“ Gemeinschaften mehr an,
aber das was ich über die Gemeinschaften höre, erfreut mich sehr. Die Schwächeren und Bedürftigeren führen
ihre Aufgabe weiter, die darin besteht, Herzen zu öffnen und eine neue Anschauung unserer Gesellschaft zu
vermitteln. Eine Gesellschaft, in der nicht Kraft und Macht herrschen sollen, sondern ein Leben in Liebe für
jeden, so wie er ist. Ich ermutige Marie-Hélène Mathieu, ihr Buch über die Geschichte von „Glaube und Licht“
weiterzuschreiben. Ich habe einige Ausschnitte gelesen, und ihr könnt mir glauben, dass es ein wunderbares
Buch wird!

Ich bin mit meinem Leben zutiefst zufrieden, meine Reisen beschränken sich auf Frankreich (nur Orval ist eine
Ausnahme!). Natürlich würde ich so gerne Jacqueline Sanon und die Gemeinschaften in Haiti und auch andere
Gemeinschaften in der Welt besuchen. Aber ich glaube, dass ich aufhören musste, das Gemeinschaftsleben
zu verkünden, um es ganz einfach in meinem Haus und meiner Gemeinschaft zu leben. Nicht mehr über
die Kraft und die Schwäche, die jeder Mensch trägt,
zu sprechen, sondern sie in meinem eigenen Körper
zu erleben, wenn meine Beine erschöpft und mein
Kopf verwirrt sind. Schritt für Schritt die Schwäche
anzunehmen und sie nicht nur hinzunehmen,
die Realität freudig annehmen und mit Weisheit
reagieren, denn in der Realität finden wir Gott und
die Erfüllung.

Ende Juli bin ich von meiner Aufgabe als Präsident des
Trägervereins der „Ferme“ in Trosly zurückgetreten.
Mahlzeit in Le Val Fleuri, Trosly © Elodie Perriot Es war ein Geschenk für mich, Odile Ceyrac zu
unterstützen, als 2000 die neue „Ferme“ entstand
und dann Veronika Ottrubay, die 2006 nach Odile die Verantwortung übernahm. Jean-Claude Mallet, ein alter
Freund, ist mein Nachfolger. Ich freue mich so sehr darüber! Ich bin sehr glücklich darüber, dort weiterhin

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die Vorträge bei Exerzitien zu halten, über das Evangelium zu sprechen,
die Gegenwart Jesu in den Ärmsten und die versteckte Schönheit jedes
Menschen trotz seiner Schwächen und Schwierigkeiten. Heute besteht
meine Aufgabe darin, zu versuchen, „Arche“ zu leben und sie durch
mein Leben zu verkünden, durch die kleinen Liebesgesten im täglichen
Leben, in unserer Welt, die so schrecklich schmerz- und gewaltvoll, ohne
sichtbare Hoffnung, erscheint.

Wenn ich von den Grausamkeiten im Irak, von dem, was in Israel und
Palästina vor sich geht, der Situation in Haiti, in Pakistan und den Bränden
in Russland höre, wird mir, ehrlich gesagt, klar, dass es meine Aufgabe
ist, so menschlich, so verliebt wie möglich zu leben und in Vertrauen zu
Gott, wie der Psalm es singt.

Etty Hillesum
Ich denke oft an Etty Hillesum. Während sie 1942 in diesem schrecklichen
© Joods Historisch Museum, Lager für Juden, die in Auschwitz sterben sollten, lebte und Europa
Amsterdam von der dämonischen Hitlersippe beherrscht wurde, betete sie: „Mein
Gott, es sieht so aus, als ob du nicht besonders fähig bist, eine Situation
zu verändern, die man nicht von diesem Leben trennen kann. Ich will nicht, dass du dich rechtfertigst, im
Gegenteil, du musst eines Tages von uns verlangen, Rechenschaft abzulegen. Es wird mir bei jedem Herzschlag
klarer, dass du uns nicht helfen kannst, aber dass wir dir helfen müssen und bis zum Ende die Stätte, in der du
in uns weilst, verteidigen müssen.“ Das wirklich Wichtige, sagt sie, ist in Gottes Armen zu verweilen.

Ich mag die Worte, mit denen wir jeden Abend beim Komplet beten: „Der Herr ist unsere Zuflucht, er schützt
uns und beschirmt uns mit seinen Flügeln.“ In unserer Welt, in der es so viel Gewalt, Angst, Unsicherheit
und Verzweiflung gibt, können wir mit vielen anderen kleine Orte des Friedens schaffen, wo jeder seinen
Nächsten liebt und wo Gott weilt. Zeichen dafür sein, dass die Liebe stärker als der Hass ist.

Um diese Orte des Friedens, der Behutsamkeit und der Zärtlichkeit zu schaffen, muss man an sich arbeiten.
Der Patriarch von Konstantinopel, Athënagoras, sagte: „Der härteste Krieg ist der, den man gegen sich selbst
führt. Man muss es erreichen, sich zu entwaffnen. Ich habe diesen Krieg jahrelang geführt. Er war schrecklich,
jetzt bin ich von dem Willen Recht zu haben, entwaffnet.» Der Weg zum Frieden ist immer ein Weg der
Demut.

Das Wort, das sich in meinem Geist und meinem Herzen immer wieder verlauten lässt, ist „Gegenwart“. In der
Realität und den anderen gegenüber gegenwärtig sein, nicht in eine Traumwelt und in Gedanken flüchten; in
der Gegenwart leben, nicht in Zukunftsträume fliehen oder sich in der Vergangenheit einschließen. Mich so
akzeptieren wie ich bin, mit meinen Schwächen, meinen Schwierigkeiten und meinen Begabungen und mich
Gottes Gegenwart öffnen. Ein weites Feld für das kommende Jahr.

Ich bete mit jedem von euch und ich umarme dich,

Jean

PS: Das Buch « Notre Vie Ensemble » (Unser gemeinsames Leben), das meine Briefe von 1964 bis 2007 enthält
und von Media Paul auf Französisch herausgegeben wurde und die 4 DVD’s über das Johannesevangelium,
die im heiligen Land aufgenommen wurden, sind bei der „Ferme“ verfügbar:

http://www.lafermedetrosly.com/
publications-arche@lafermedetrosly.com
+33 344 85 34 78

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