DIE GEÄCHTETEN
Roman
DIE VERSPRENGTEN
FRANZ SCHAUWECKER
Wirre
Der Himmel über der Stadt schien mehr gerötet zu
sein als sonst. Das Licht der einsamen Laternen
prallte gegen den Novembernebel, färbte die feuchte,
gesättigte Luft und machte das Gewölke schwer und
milchig. Auf den Straßen war kaum ein Mensch zu
sehen. Von fernher kam gequält und hallend der
langhingezogene Ton einer Trompete. Das Geprassel
von Trommeln schlug drohend gegen die Häuser-
fronten, verfing sich in dunklen Höfen und machte die
verschlossenen Fenster zittern.
An der Hauptwache stand gedrängt eine Gruppe
von einigen zwanzig Schutzleuten. Sie hatten sehr
bleiche, fast schwammige Gesichter, und die Hände in
den weißen Handschuhen hingen schwer herunter.
An ihren braunen Koppeln hingen klotzig die drei-
eckigen Futterale ungefüger Pistolen. Sie standen und
warteten. Als meine Schritte über das Pflaster hallten,
wandten sie die Köpfe und folgten mir mit den Augen,
ohne daß sich sonst eine Miene ihrer Gesichter, ein
Glied ihrer Körper regte.
Einer von ihnen hatte das Band des Eisernen
Kreuzes im Knopfloch des blauen Uniformrockes. Er
stand einige Schritte vor dem geballten Haufen der
anderen und schien angespannt auf den Trompetenstoß
zu lauschen. «Geht's los?» fragte ich ihn und stockte,
und meine Stimme klang heiser. Der Schutzmann sah
mich mit stumpfen Augen an. Er stand unbeweglich
vor mir, wie ein Klotz; ich mußte den Kopf in den
Nacken senken, um ihn anzusehen. Er richtete seinen
müden Blick auf die blanken Knöpfe meiner Uniform,
sah mir dann erstaunt ins Gesicht, hob plötzlich die
riesige Hand auf meine Schulter und sagte: «Gehn
Sie man nach Hause und ziehen Sie Ihre Uniform
aus.» Und mir, der ich gewohnt war, Befehlen zu
gehorchen, schien dies wie ein Befehl: ich riß
erschreckt die Hacken zusammen wie vor einem
Offizier und sagte «Nein, nein — — — » und nach
einer unsagbar verwirrten Weile wieder «nein» und
ging dann, lief dann fast blind und stolpernd davon,
durch ausgestorbene Straßen mit blicklosen Häusern,
über weite Plätze, an deren Seiten nur vereinzelte
Schatten huschten, durch die Anlagen, in denen das
Laub auf dem Boden raschelte, daß ich vor dem Schritt
meiner eigenen Füße zusammenfuhr. Durch verhängte
Fenster drangen nur die schmalen Lichtlinien
umhüllter Lampen. Die Läden hatten eiserne Rolläden
mit kompakten Schlössern vor den weiten Flächen
ihrer Schaufenster. Fröstelnd hockte ich schließlich in
meiner Stube, indes der Hall der unheimlichen
Trompete durch die Straßen gellte.
Mich peinigte die Lautlosigkeit meines Zimmers.
Ich hatte auf dem Tische die Dinge aufgebaut, die mir
den Halt geben sollten. Das Bild meines Vaters, in
Uniform, bei Kriegsausbruch aufgenommen, die
Bilder von Freunden und Verwandten, die im Kriege
gefallen waren, die Feldbinde, den krummen
Husarensäbel, die Achselstücke, den französischen
Stahlhelm, die durchschossene Brieftasche meines
Bruders — das Blut war schon ganz dunkel und
fleckig geworden — die Epauletten meines
Großvaters mit den schweren, nun schwärzlichen
Silbertroddeln, ein Bündel Briefe aus dem Felde auf
stockigem Papier — aber ich konnte es nicht mehr
sehen, all das. Nein, ich konnte es nicht mehr sehen.
Dies alles war nicht mehr gültig. Dies alles gehörte
zum Bestande jener Siege, da aus allen Fenstern die
Fahnen hingen. Nun kamen keine Siege mehr, nun
hatten die Fahnen ihren leuchtenden Sinn verloren.
Nun, in diesem verworrenen Augenblick, da alles in
Trümmer ging, war der Weg verschüttet, der mir
vorgezeichnet war, stand ich unfaßlich vor dem
Neuen, vor dem, was sich herandrängte, ohne Gestalt
angenommen zu haben, ohne einen eindeutigen Anruf
klingen zu lassen, ohne eine Gewißheit zwingend ins
Hirn zu hämmern außer der, daß jene Welt, der ich
verhaftet war, zu der ich mich nicht zu bekennen
brauchte, da ich ihrer ein Teil, nun endgültig und
unwiderruflich in den Staub sank und nie mehr,
niemals wieder erstehen würde.
Ich beugte mich aus dem Fenster meiner Dach-
kammer. Unter mir in der Regenrinne klickerte das
Wasser. Ich sah die drohenden schwarzen Schatten
der Häuser, die nassen, zerflederten Bäume tief
drunten auf dem glitzernden Asphalt. Von der Straße
stieg ein fauliger Dunst herauf, kletterte am grauen
Stein, strömte in alle Ecken der kleinen Stube. Die
Kerze ging aus. Ich warf im Dunkeln die Dinge, die
auf dem Tische lagen, polternd in eine Schublade. Ich
schlief die ganze Nacht nicht. Ich war der gefährlichen
Stille ausgeliefert und wußte nur, daß ich zu bestehen
hatte, um jeden Preis zu bestehen, vor was es auch
immer sein möge. Denn was sich nun aus der Wirre
anbot, konnte nicht anders bezwungen werden als
durch die Unbeirrbarkeit einer Haltung, um die ich
von nun an zu ringen hatte.
Als ich am Morgen in die Küche kam, sah ich, wie
meine Mutter die weißen Achselklappen von meinem
Mantel trennte. Ich konnte ihr nicht ins Gesicht
sehen, ich trank die dünne braune Brühe und griff
nach dem dunklen Brot, ich schnitt hastig zwei
feuchte Scheiben und saß kauend und mit gesenkten
Augen da. Dann nahm ich den Mantel, stieg in meine
Kammer und nähte die Achselklappen wieder an. Ich
ging leise, die Füße in den schweren, genagelten
halbschäftigen Kadettenstiefeln vorsichtig hebend, die
Stiege hinunter zum Vorplatz. Das Koppel schnallte
ich über den Mantel, entgegen der Vorschrift, die den
Kadetten das Unterschnallen gebot. Das Seiten-
gewehr, lang, schmal, in eleganter Lederscheide, war
blank und spitz, aber nicht geschliffen. Ich zog es
heraus und beschaute es verlegen.
Schließlich ging ich auf die Straße. Vor den Läden
standen wie immer die Frauen in langen Reihen. Sie
sprachen lebhaft miteinander. Die Hände über dem
Bauch gefaltet, die Taschen und Körbe am Arm, säen
sie mit rotgeränderten Augen aus grauem Gesicht
hinter mir her. Viele Geschäftsleute hatten ihre
Räume noch nicht geöffnet. Ein kleiner Mann mit
vergrämtem Gesicht stand auf hoher Leiter und
schraubte sorgfältig sein Hoflieferantenschild ab.
In der inneren Stadt hörte ich plötzlich aus einer
Hauptstraße, in die ich sofort einzubiegen beschloß,
lautes Getöse. Ich fühlte, wie sehr ich bleich wurde,
ich biß die Zähne zusammen und sagte mir:
«Haltung!» und zischte mir nochmals zu: «Haltung!»
und hörte Fetzen eines schrillen Gesanges, hörte
Schreie aus gesammelten Kehlen, ahnte Wirre und
Tumult. Eine riesige Fahne wurde einem langen Zuge
vorangetragen, und die Fahne war rot. Naß und trüb
hing sie an langer Stange und schwebte wie ein
blutiger Fleck über schnell zusammengeströmter
Menge. Ich blieb stehen und sah.
Der Fahne nach wälzten sich müde Haufen,
regellos durcheinanderstapfend. Weiber marschierten
an der Spitze. Sie schoben sich mit breiten Röcken
voran, die graue Haut der Gesichter hing in Falten
über spitzen Knochen. Der Hunger schien sie
ausgehöhlt zu haben. Sie sangen aus ihren dunklen,
zerfransten Umschlagetüchern heraus mit
scheppernden Stimmen ein Lied, dessen Rhythmus
nicht zu der zögernden Schwere ihres Ganges paßte.
Die Männer, alte und junge, Soldaten und Arbeiter
und viele Kleinbürger dazwischen, schritten mit
stumpfen, zermürbten Gesichtern, in denen ein
Schimmer dumpfer Entschlossenheit stand, und nichts
weiter als das, fielen immer wieder in Gleichschritt
und bemühten sich dann, wie ertappt, die Füße enger
oder weiter zu setzen. Viele trugen ihr Blechkännchen
mit sich, und hinter der nassen, vom Regen mit
dunklen Flecken getünchten roten Fahne beulten sich
Regenschirme über dem Zug.
So zogen sie, die Streiter der Revolution. Aus
diesem schwärzlichen Gewusel da sollte also die
glühende Flamme springen, sollte der Traum von Blut
und Barrikaden sich verwirklichen? Unmöglich, vor
denen da zu kapitulieren. Hohn über ihren Anspruch,
der keinen Stolz kennt, keine Siegessicherheit, keine
bändigenden Wellen. Gelächter über ihre Drohung,
denn diese da marschierten aus Hunger, aus
Müdigkeit, aus Neid, und unter diesen Zeichen hat
noch niemand gesiegt. Trotz über die Gefahr, denn
sie trug ein gestaltloses Antlitz, das Gesicht der
Masse, die sich breiig heranwälzt, bereit, alles in
ihren seimigen Strudel aufzunehmen, was sich nicht
widersetzt.
Ich aber wollte nicht dem Strudel verfallen. Ich
steifte mich und dachte «Kanaille» und «Pack» und
«Mob» und «Pöbel» und kniff die Augen zusammen
und besah diese dumpfen, ausgemergelten Gestalten;
wie Ratten, dachte ich, die den Staub der Gosse auf
ihren Rücken gen, sind sie, trippelnd und grau mit
kleinen, rotgeränderten Augen.
Auf einmal aber waren Matrosen da.
Matrosen waren da mit riesigen roten Schärpen;
Gewehre hatten sie in den Händen und lachende
Gesichter unter den bebänderten Mützen und breite,
elegante, flotte Hosen um lässig gesetzte Beine.
«Unsere blauen Jungens!» schoß es mir durch den
Kopf, und ich dachte, jetzt müsse mir der Ekel in den
Hals steigen, aber es war nicht der Ekel, es war Angst.
Die hatten die Revolution gemacht, diese jungen Kerls
mit den entschlossenen Gesichtern, die rüden
Burschen, die da Mädels untergehakt hatten und
sangen und lachten und johlten und dahinzogen, breit
und selbstbewußt mit nackten Hälsen und flatternden
Schlipsen. Ein Auto brauste heran, Matrosen standen
auf den Trittbrettern, hockten auf dem Kühler, und
das rote Tuch flatterte, bauschte sich wie ein Fanal.
Und einige waren dabei, die blickten frech, die schrien
heiser, die hatten gedrehte Locken in der Stirn, denen
kreischten die Weiber zu. Und die winkten herüber,
wohin winkten die, zu mir? Zu mir?
Da kam die Gefahr. Nicht ausweichen, dachte ich,
um Gottes willen nicht ausweichen! Ich griff nach
dem Seitengewehr und dachte daran, daß es nicht
geschliffen war, und ließ die Hand doch am Griff und
zog die Schultern zusammen und nahm das Kinn
zurück.
Vor mir aber ging ein Soldat, ohne Koppel, mit
braunen Gamaschen, ein junger Mensch mit Kneifer
und Aktentasche, und der hatte die Achselklappen
noch dran am langen Mantel. Und auf den gingen sie
zu, und einer, ein Artillerist, breit und untersetzt, mit
hohen, klobigen Stiefeln und mit der roten Kokarde an
der Feldmütze, der schrie: «Da ist ja noch einer!» und
hieb dem jungen Soldaten die Faust ins Gesicht und
riß ihm links, rechts die Achselklappen runter, daß er
taumelte, sich wandte, bleich, sehr bleich, und
stammelte: «Aber warum denn, warum denn nur?»
Und er zog den Kopf in die Schultern, und der
Kneifer splitterte, und das bleiche Gesicht wurde
feurigrot.
Diese Schweine, dachte ich, diese Bande, ich konnte
nichts anderes denken; aber dann stand der Artillerist
vor mir und hatte kleine, tückische Augen und
schmutziges Kinn und struppige Haare, und er hob die
Hände, rote, breite, behaarte Hände. Schnell sah ich
mich um. Viele Leute standen plötzlich im Kreis, auch
Frauen waren da und einer mit einem runden, steifen
Hut, und dieser hob den Regenschirm gegen mich,
und ein anderer lachte, viele lachten, aber ich dachte
nur an die Achselklappen. Alles hing an den
Achselklappen, meine Ehre — wie lächerlich, was lag
an den Achselklappen? — alles lag daran, und ich
griff zum Seitengewehr. Da pflanzte sich die Faust mir
mitten ins Gesicht.
Im Augenblick war alles dumpf, Auge, Nase und
Kinn, und warm rann das Blut. Stoß zu, dachte ich,
jetzt gibt es nur eins: stoß zu! Ich stieß, aber der
Artillerist spie mich an und lachte, und ich hatte den
Speichel im Gesicht, und eine Frau schrie: «Du Affe,
du Zierbengel, du Hosentrompeter», und ein Stock
flog mir ins Genick, und ich fiel. Einer trat mich, viele
traten und hieben, ich lag und stieß mit dem Fuß,
schlug um mich und wußte, es war umsonst, aber ich
war Kadett und die Achselklappen hatten sie nicht. Sie
lachten alle und johlten und schlugen, und mir lief das
Blut in die Augen, in die Nase, und plötzlich wurde es
still.
Aus dem Carlton-Hotel kam einer, ich sah ihn aus
verquollenen Augen, ein Offizier kam, der war
schlank und groß und trug blaue Husarenuniform und
hatte die Mütze schief auf und hatte Lackstiefel mit
Silberborte, und auf der Attila klebte das E.K. I. und
im Gesicht das Monokel. Er klatschte mit der Reit-
peitsche gegen die Stiefel und hatte ein schmales,
braunes, eckiges Gesicht, kam näher, klatschte mit der
Peitsche, hatte undurchdringliche Augen und ging
geradeswegs auf den Haufen zu. Die Weiber waren
still, der Haufen öffnete sich, der Mann mit dem
steifen Hut verschwand, der Artillerist war weg, der
Lange, Elegante, Blaue beugte sich, faßte mich am
Arm, ich taumelte hoch und stand stramm.
«Bitte, stehen Sie bequem», sagte er, er sagte: «Ich
bin auch Kadett gewesen, kommen Sie bitte in mein
Hotel.» Ich ging mit und wischte mir das Blut aus der
Nase und sagte: «Die Achselklappen haben sie mir
nicht abgerissen.»
Hoffnung
Damals, ich war gerade 16 Jahre alt und
Obersekundaner der 7. Kompanie der Königlich-
Preußischen Hauptkadettenanstalt, damals in den
ersten acht Tagen nach Ausbruch der Revolution
hatte ich den Plan, das Hauptquartier der Matrosen
auszuheben. Etwa achtzig Matrosen hatten in der
Stadt die Revolution gemacht, sie bildeten eine
Volksmarinedivision und saßen im Polizeipräsidium.
Mit einer Handvoll entschlossener Gesellen, so
dachte ich mir, mußte es möglich sein, sie auf einen
Schlag unschädlich zu machen. Aber es mußte
schnell geschehen, denn noch brodelte die Stadt, noch
knallten verlorene Schüsse in den Straßen, noch wußte
keiner, wie die Dinge sich gestalten würden. Das
Gebäude der «Volksstimme», das Polizeipräsidium,
die Post und der Bahnhof mußten in unsere Hand
gebracht werden, dann waren wir die Machthaber der
Stadt, bis die Soldaten der Front zurückkehrten. Mit
hundert Bewaffneten war dies wohl zu bewerk-
stelligen. Es galt nur, sie zu sammeln.
Es waren noch mehr Kadetten in der Stadt, ich
suchte sie der Reihe nach auf. Sie hatten alle das
sonderbarste Zivil angezogen, sie trugen kurze Hosen
aus früherer Knabenzeit oder umgearbeitete
feldgraue und dazu die blaue Litewka mit Schiller-
kragen. Sie schienen mit ihrer Uniform alle Sicherheit
der Haltung aufgegeben zu haben. Bleiche Mütter
fürchteten, ich würde ihre Söhne zu
Unbesonnenheiten verleiten, und die Söhne standen
verlegen dabei, und einer weinte, und ein anderer
sagte, er sei froh, daß die Revolution gekommen sei
und daß er nicht mehr ins Korps zurückbrauche, und
Ludendorff sei an allem schuld, das habe schon sein
Vater gesagt, und im Kasino sei ja doch bloß immer
nur von Pferden, Weibern und Saufen gesprochen
worden, und ein dritter, der still dabeistand, solange
seine Mutter klagte, lief mir auf der Treppe nach, als
ich gehen wollte, und flüsterte eilig, wenn ich etwas
vorhätte, sollte ich ihn benachrichtigen, aber seine
Mutter dürfe nichts davon wissen.
Tag für Tag strich ich um das Polizeipräsidium, ja,
ich wagte mich hinein, ließ mir den gutmütigen Spott
der Matrosen gefallen, die freilich in dem schüch-
ternen Kadetten keine Gefahr witterten, trotzdem das
Lacklederkoppel immer noch das ungeschliffene
Seitengewehr trug. Zwei Kriminalbeamte, die ich
kannte und die in ihren Zimmern saßen und ihren
Dienst unbehelligt weiter taten, machte ich empört auf
die Dreckwirtschaft aufmerksam, die durch die Matro-
sen in den Räumen herrschte, und sie hörten mich
freundlich an und lächelten, und dann sagte einer, sie
täten bloß ihre Pflicht als Kriminalbeamte, und das
weitere kümmere sie nicht. Und dann suchte ich den
Major Behring auf, einen Freund meines Vaters,
rotgesichtig, schnurrbärtig und leider wegen Hexen-
schusses nicht felddiensttauglich, und den weihte ich
ein in meinen Plan, und er war begeistert, und er
sagte, das würde ihm alle Hoffnung wiedergeben, daß
die deutsche Jugend so treu zum alten, herrlichen
Kaiserreich stünde und für die alten Ideale eintrete,
und er wünsche mir Gottes Segen zu meinem
Vorhaben, er selbst habe ja Frau und Kinder und ich
verstünde wohl, der verfluchte Hexenschuß, der ihn ja
auch leider, leider verhindert habe, seinem Kaiser zu
dienen — aber ich mußte weiter und ging und sah
unterwegs die Bekanntmachungen des Arbeiter- und
Soldaten-rates und stand davor und las und las und
verstand kein Wort und wußte nur, daß dies
feindlich war und daß dies ja alles gar nicht stimme,
und ich nahm freilich von den Zetteln, die ein Mann
mit roter Armbinde verteilte und die Beitrittser-
klärungen für die Sozialdemokratische Partei waren,
ich nahm einen ganzen Pack, aber nur, um sie
sorglich, über den Rinnstein gebückt, in einen
Kanalisationsschacht zu stecken. Ich irrte durch die
Straßen und prüfte und verwarf in Gedanken Hunderte
von Leuten, die ich hätte aufsuchen können, und
wetzte meinen Zorn an den vorbeipatrouillierenden
Matrosen mit ihren roten Armbinden und den roten
Papierblumen im Mützenband und kümmerte mich
längst nicht mehr um die vielen Blicke der Leute, die
meiner Uniform galten und dem Koppel und den
Kokarden. Die Stadt war ruhig, nur am Bahnhof
kamen noch kurze Demonstrationszüge vorbei; und
einmal, da stand an der Spitze des Zuges ein junger
Offizier, feldgrau, mit einer riesigen roten Schärpe,
und das war der Bahnhofskommandant; er hielt eine
Ansprache und erklärte, er bekenne sich voll und ganz
zur Sache, zur geheiligten Sache der Revolution. Und
ihn grüßte ich, ja, ihn grüßte ich, ich ging vorbei und
grüßte so stramm wie möglich, die Hand flitzte an
den Mützenrand, dicht an ihm ging ich vorbei und sah
ihn vorschriftsmäßig an, und er sah mich, und mitten
im Wort blieb sein Mund stehen, und seine Hand fuhr
zu halber Höhe und sank dann wieder zögernd, und er
wurde sehr rot im Gesicht.
Einen fand ich, der bereit war, mitzumachen. «Wir
wollen die rote Schweinebande schon ausräuchern»,
sagte er, und hatte auch einen Revolver, den er mir
zeigte, und vielleicht berührte nur dies mich peinlich
bei dieser unerwarteten Bereitschaft und der Art, sie
auszudrücken, daß es mein jüngerer Bruder war,
Kadett und Obertertianer. Sonst war keiner bereit,
nicht der Oberlehrer, der im dritten Stockwerk
wohnte, und der bebte vor Wut, wenn er nur das
Wort Sozialdemokrat hörte, aber nun murmelte er, die
Aufregung dieser Tage habe ihn ganz krank gemacht;
nicht der Kunstmaler von nebenan, Inhaber des
Kriegsverdienstkreuzes und Vorstandsmitglied des
Flottenvereins, der malte an einem Stilleben,
Erdbeeren auf einem Kohlblatt, und sagte, er müsse
erst seinem Werke leben; nicht der Kassenrendant,
Zahlmeister außer Dienst, der ging nach wie vor auf
sein Amt und hatte durchaus keine Zeit; nicht der
Vater meines lungenkranken Freundes, Textilfa-
brikant, der bangte um seinen Betrieb, fürchtete die
Wut seiner Arbeiter — und sie hatten alle recht, sie
hatten alle jenes verfluchte Recht für sich, die
maßvolle, weise Überlegung, mit der sie jeden Ein-
wand, jede auflodernde Begeisterung abwürgen
können. Und durch die Auflösung der bisherigen
Ordnung, die gleichzeitig geschah mit einer Freigabe
der tiefsten und geheimsten Wünsche und Süchte,
durch die Lockerung aller Bindungen entfernte sich
der eine vom anderen und brauchte es nicht mehr für
notwendig zu erachten, den eigentlichen Gehalt seines
Wesens ängstlich zu verschleiern. Ja, so standen sie
alle plötzlich für sich allein und konnten nur für sich
allein gewertet werden, und jede Freundschaft wurde
unmöglich.
Da ich Menschen nicht sammeln konnte, sammelte
ich Waffen, und es war leicht, Waffen zu sammeln.
In jedem Hause fast war mindestens ein Gewehr, und
meine Bekannten waren froh, daß ich ihnen die
gefährlichen Werkzeuge aus der Wohnung schleppte.
Nächtlicherweile trug ich Gewehr für Gewehr,
eingepackt und verschnürt, durch die Straßen und war
unendlich stolz, als sich die Waffen in meiner Dach-
kammer stapelten. Wenngleich ich nicht wußte, was
ich mit diesem Depot beginnen sollte, so vermittelte
mir das Bewußtsein des Besitzes jener Dinge doch
das erregende Glücksgefühl der Beherrschung tödli-
cher Mittel, und sicherlich war es die Gefahr ihres
Besitzes, die mich in ständiger Selbstachtung erhielt
und den Augenblicken meiner demütigenden Unt-
ätigkeit die Rechtfertigung verlieh.
Die Waffenstillstandsbedingungen wurden bekannt.
Mitten in einem großen Menschenhaufen stand ich
vor dem Gebäude der Zeitung. Da hingen die breiten
Bogen mit den knalligen Überschriften, und der Herr
vor mir las halblaut und stockend, und andere
drängten sich heran, sogar einer mit einer roten Binde
am Arm. Erst konnte ich nichts sehen, aber einer
lachte erregt und sagte, das wäre doch alles Unsinn,
das könnte doch gar nicht sein, und Wilson werde
schon dafür sorgen, daß... aber ein andrer sagte: «Ach
was, Wilson», und da war der erste still. Und einer
sagte, das hätten die Franzosen schon bei Ausbruch
des Krieges gesagt und gewollt; eine Frau schrie
heiser: «Aber da kommen ja die Franzosen bis
hierher?» Und dann stand ich vorne und las. Fett und
behäbig berichteten die Überschriften, und mein erstes
Gefühl war Ärger über die Zeitung, weil diese
entsetzlichen, trockenen, lakonischen Bedingungen fast
behaglich hergerichtet waren. Dann aber war mir, als
ob mir der Hunger, an den ich mich schon gewöhnt
glaubte, die Magenwände zusammenriß. Das stieg mir
bis zum Halse, füllte mir den Mund mit einer fauligen
Leere und ließ mir ein Flimmern in die Augen
schießen, so daß ich nicht mehr die Leute, die um
mich geballt standen, sehen konnte, daß ich überhaupt
nichts mehr sehen konnte außer dem Schwarz der
Buchstaben, die da eine Ungeheuerlichkeit nach der
anderen mit grauenhaftem Gleichmut in mein Hirn
schoben. Zuerst verstand ich nicht. Ich mußte mich
zwingen, zu verstehen. Ich glaubte, lachen zu müssen,
ich murmelte mit trockener Kehle vor mich hin, und je
länger meine Augen über die Zeilen hetzten, desto
schwerer stieg mir der Druck in den Hals. Schließlich
wußte ich nur eines, daß die Franzosen hierher kom-
men würden, daß die Franzosen als Sieger einrücken
würden in die Stadt.
Ich wandte mich an den Mann neben mir und
packte ihn am Arm und sah erst dann, daß er eine rote
Binde trug, und sagte trotzdem, und die Stimme war
brüchig: «Die Franzosen kommen her», und der sah
nur hin auf das Zeirungsblatt, und seine Augen hatten
einen starren Glanz; und einer sagte: «Die Flotte
müssen wir auch ausliefern» — und dann sprachen
sie alle durcheinander. Ich rannte aber nach Hause
und sah unterwegs, daß sich nichts verändert hatte,
während mir doch schien, als müsse die Stadt zu
schreien beginnen, als müsse es aus allen Gassen
brechen. Aber da standen nur vereinzelt Grüppchen an
den Ecken, Straßenredner holten mit mächtiger Geste
aus, und ich hörte, wenn Soldaten und Offiziere
gleiche Löhnung und gleiches Fresssen bekommen
hätten... aber da war doch noch ein alter Herr und
der meinte, heute sollten wir doch nicht nach Schuld
und Nichtschtschuld fragen, sondern da müsse das Volk
einig sein, denn die Franzosen kämen in die Stadt. Doch
man hörte nicht auf ihn, und es war rührend, zu sehen,
wie der alte Herr sich an einen nach dem anderen wandte
und auf ihn einsprach und wie sich einer nach dem
anderen nach kurzen Augenblicken anscheinend
gelangweilt abwandte und der alte Herr dann betrübt und
kopfschüttelnd weiterging. Einer, aber sagte und sah
hinter ihm her: «Man möchte bald sagen, lieber die
Franzosen im Land als die Roten», und erschrak dann
vor sich selber und ging mit eilig geschwungenem
Regenschirm davon.
Freilich rasten noch die Autos durch die Stadt,
vollbesetzt mit roten Bewaffneten, und ich musterte sie
genau und sah kräftige, entschlossene Gestalten, gepackt
vom Rausch der schnellen Fahrt, und überlegte mir, ob
ihnen auch der Rausch eines tollen Widerstandes gegen
den Einmarsch der Franzosen zuzutrauen sei. Und ich las
die Plakate, die roten Plakate mit den Bekanntmachungen
des Arbeiter- und Soldatenrates, und witterte hinter der
hallenden Wucht ihres Ausdrucks doch eine gefährliche,
bezaubernde Energie, hinter den prahlerischen Ver-
kündungen doch einen heißen Willen. Ja, da mir schien,
daß die fieberhafte Erwartung, die in den ersten Tagen
der Revolution der Stadt das Gepräge gab, immer mehr
einer stumpfen Resignation Platz gemacht habe,
wünschte ich mir Exzesse herbei und erschrak fast vor der
Befriedigung, die ich spürte, als es hieß, die Gefängnisse
seien gestürmt und geöffnet worden und man habe einen
fetten Gast des Café Astoria, der über einen
Demonstrationszug der Kriegsbeschädigten zu lachen
sich erdreistete, halb totgeprügelt. Die Bekleidungsdepots
wurden geplündert, und die Matrosen waren die
Anführer, und viele junge Mädchen der Stadt, die mit
den Matrosen befreundet waren, trugen auf einmal
notdürftig umgearbeitete feldgraue Mäntel. Aber in den
Straßen erschienen nach und nach an Stelle der
verwegenen Matrosenstreifen ältere Männer in schwar-
zem Rock und mit steifem Klappkragen, denen die rote
Binde seltsam genug auf dem Ärmel prangte, erschienen
die bleichen Soldaten der Amtsstuben, die statt der
Aktentasche das Gewehr trugen, mit der Mündung im
Dreck, wie es Sitte geworden war; aber was bei den
Matrosen als ein kühnes Zeichen der Aufehnung
erschien, war bei diesen nur der Ausdruck der geheimen
Angst, nicht als gefährlich betrachtet zu werden. Die
Matrosen zogen sich erbittert zurück, sie waren nicht
mehr die Helden der Revolution, sie fühlten sich
betrogen und strichen mit verbissenen Mienen an den
Ordnungssoldaten vorbei, an den Wachleuten, die überall
wichtig herumstanden und den vagierenden Matrosen
mit kleinen, kalt glitzernden Augen folgten.
In einer der Nächte zwischen jenen verworrenen Tagen
träumte ich vom Einmarsch der Franzosen. Ja, ich
träumte davon, obgleich ich außer den Kriegs-
gefangenen noch keine französischen Soldaten gesehen
hatte — und es sei hier gesagt, so, wie ich sie träumte,
so sah ich sie später, siebzehn Monate später, als sie
wirklich die Stadt besetzten —, und so sah ich sie: Sie
waren plötzlich in der Stadt, in der toten, gedämpften
Stadt, geschmeidige Gestalten, graublau wie das
Dämmerlicht, das zwischen den Häusern hing,
stumpfglänzende Helme über hellen Gesichtern, über
blonden Gesichtern, und sie gingen schnell, das
Gewehr geschultert und am Gewehr die Bajonette, sie
gingen mit federnden Knien, die Mäntel öffneten sich
vor ihren Knien, und sie stießen in die weiten, leeren
Plätze hinein, unbeirrbar, wie am Draht gezogen, und
vor ihnen wich der Dunst, der über der Stadt lagerte,
und es war, als stöhnte das Pflaster, als triebe jeder
Schritt einen spitzen Keil in den gemarterten Boden,
und es war, als duckten sich die Bäume und die
Häuser vor der jauchzenden Drohung des Sieges, vor
dem unbezwinglichen, tödlichen Rausch ihres
Marsches; Kolonnen marschierten, endlose, exakte,
prachtvolle Kolonnen, mit Geblitze und Gefunkel und
mit glänzenden Kupfernaben an den Rädern der Ge-
schütze; und wie ein Schrei stiegen die steilen Lichter
ihrer grellen Fahnen, wie ein Schrei fuhr über dem
Brausen der kurzen, knatternden Schritte plötzlich
das Schmettern der Clairons — wo sah ich das, wo
hörte ich das, den Marsch des Regimentes Sambre et
Meuse? —, eine wilde, hallende, todesmutige Musik,
die ihren gellenden Jubel an den Himmel hetzte, in
die Herzen der Gegner jagte, in die Steine preßte —
und vor ihr war Flucht, Panik und das namenlose
Entsetzen vor dem Unentrinnbaren. Maßlos war der
Hohn, marternd der Jubel, unerträglich das Gelächter
des Siegers, des Herrschers, über den Hunger, über
die Not, über das Gewinsel, über die flatternde,
brechende, verzweifelte Gegenwehr. Und dazwischen
kamen hurtige Kolonnen, kleine Gestalten, schmal,
gelenkig, bräunlich, wie Katzen; Tunesier, mit Pföt-
chenschritten und bleckenden Zähnen, sie schlängelten
sich, blitzend funkelnde Augen schweiften, Witterung
der Wüste, Unruhe unter glühheißer Sonne, über
flimmernden, weißen Sand; dazwischen in flattern-
den, leuchtenden Mänteln, auf winzigen, zähen
Pferden, wendig, geschickt, blutzischend, die Spahis;
dazwischen, schwarz wie die Pest, lange Beine,
muskulöse, seidige Körper, blanke Gesichter, ge-
wölbte, gierige Nüstern, die Neger! Und wir, über-
rannt, übertrampelt, gebändigt: das darf bei Gott nicht
sein! Unnennbare Wucht: und wir zerschmettert vor
ihr, wir in den Staub getreten, jeden Anspruchs bar,
Besiegte, Geschändete, Aufgegebene, nie wieder
Leuchtende ...
«Nach dieser Revolution wird der Usurpator
kommen», las ich in der Zeitung, und seiner Sache
gewiß verwies der «Generalanzeiger» auf das
Beispiel der Französischen Revolution und
Napoleons. Ich hatte noch ein Bild des Korsen im
Schrank — seit Kriegsausbruch hing es nicht mehr in
meinem Spind. Ich suchte nach dem Bild und erschrak
vor diesem Gesicht. Das war bleich und schwammig,
und ich dachte, wenn man mit einer Nadel hinein-
stäche, dann platzte die Haut und es müßte weißlich
und fett aus der Wunde quellen. Aber die Augen sta-
chen dunkel und voll der gefährlichsten Rätsel unter
der zerflederten Locke. Ja, Napoleon, der Usurpator,
stammte aus der Revolution. Dieser stürmische Blick,
hatte der nicht alles zusammenbrechen sehen, hatte
der nicht gebändigt, was schaumig auseinander-
zufließen drohte, stand nicht unter der unmittelbaren
Drohung dieses Blickes Frankreich und die Welt?
Wenn das neu war, was damals entstand, dann wurde
es neu, weil hinter dieser Stirn die flackernden
Wünsche der Menschen nach Gerechtigkeit, nach dem
Freisein, nach dem Brot, nach dem Ruhm und nach der
Liebe in den Wirbeln eines tollen Hohnes geballt, ge-
sammelt, eingekocht und in blitzende Energien
verwandelt wurden, weil diese zwingenden Augen in
sich sogen, was nach dem Niederbruch an Kraft und
Bewegung auf brachen Feldern lag, weil dieser
schmale, gebieterische Mund Worte formte, dieses
kalte, glühende Herz Pläne gebar, die das brodelnde
Paris, das zerfleischte Frankreich zusammenschleu-
derte zu einem einzigen, kompakten Kern, der wuchs
und wuchs und alle Grenzen sprengte, und alle
Grenzen sprengen sollte. Mit welch entflammendem
Schauder las ich von jenem gallischen, sengenden,
nüchternen Heroismus, der die zerfetzten, hungernden,
marodierenden Scharen gegen die eindringenden
Armeen trieb, der das Salpeter von den Kellerwänden
kratzte, um Pulver zu haben, der Generäle auf die
Guillotine schleppte, weil sie, entgegen dem Befehl,
nicht gesiegt. Aus diesen Bereichen wuchs der Korse,
das war die Revolution, die den Usurpator gebar.
Levée en masse — wer bot uns das Wort? das war
es, ja, das war es! Wir mußten alle aufstehen gegen
den Feind. Wir mußten der Revolution einen Sinn
geben, wir mußten das Land aufkochen lassen, die
Fahnen, die gültig waren, und seien es die roten, nach
vorn tragen — das mußten wir. Sollten wir nicht die
Revolution lieben lernen? Hatte nicht Kerenski
weitergekämpft und hatte nicht Lenin der ganzen
Welt den Krieg erklärt? Wir würden alle Waffen
tragen, und wir würden sie tragen mit der
Leidenschaft des Sieges, die uns mehr verhieß, als
seren Bestand zu wahren, die uns einer Mission wert
sein ließ, die der Verzweiflung ihren fahlen
Schimmer nahm und aus Busch und Hecke, aus
jedem Fenster, jedem Torweg unsern Haß und unsern
Glauben spritzte. Wer sollte widerstehen unserm
Aufstand? Der Mann, der uns das Wort bot, stand
nicht im Ruche krauser Phantasterei — wir sollten's
wagen!
Ich wollte die Revolution lieben lernen; vielleicht
waren ihre Energien noch nicht geweckt. Vielleicht
lauerten die Matrosen auf die Parole, vielleicht
standen die Arbeiter, die Soldaten bereits zu heim-
lichen Bataillonen geformt, vielleicht war die Sprache
der Aufrufe schon gesprüht aus den quirlenden Gluten
eines unmeßbaren, ungeheuerlichen, welttrotzenden
revolutionären Willens — die aktivsten Elemente der
Nation trugen die Waffen schon in den Händen.
Und ich lief durch die Stadt, aber die Stadt war
ruhig. Und ich drängte mich in die Versammlungen,
aber erhitzte Redner donnerten von Junkern, Pfaffen
und Schlotbaronen und vom fluchbeladenen
Hohenzollernregime. Und ich las mit Inbrunst die
Proklamationen, aber da stand etwas von einem
Demobilmachungskommissar und Anordnungen zur
Durchführung der Waffenstillstandsbedingungen.
Und ich rannte durch die Straßen, aber die Menschen
gingen zur Arbeit, sie blieben kaum stehen vor den
grellroten Plakaten, sie gingen müde in alten, ab-
geschabten Kleidern dem Erwerb nach, unendlich
geduldig, verdrossen, und wenn sie etwas sprachen,
dann war es wie gemurrt, und die Frauen standen wie
immer an den Ecken in langen Reihen und warteten
ergeben. Ich schmiß mich an die Wachleute, aber die
sahen mich mißtrauisch an und führten Worte im
Mund, die ich kannte, zerledert und abgekaut und
hundertmal gehört. Und ich sah geballte Massen mit
wehenden Fahnen und prangenden Schildern, aber da
schrie es über die Plätze: «Nie wieder Krieg!» und
«Gebt uns Brot!», und sie standen und sprachen vom
Generalstreik und von Betriebsrätewahlen. Und ich
wandte mich an meine Bekannten, an Bürger, an
Offiziere, an Beamte, aber die sagten, es müsse erst
Ordnung werden, und sprachen von der Schweine-
wirtschaft, mit der unsere zurückkehrenden Feldgrauen
schon aufräumen würden.
Aber die Matrosen, die Matrosen hatten die
Revolution gemacht, sie waren wie das mahnende
Gewissen aus ersten Tagen des Aufbruches, sie
strichen kühn durch die Stadt, sie waren Keim und
Träger jeder Erregung. Zum zweiten Male ging ich ins
Polizeipräsidium, stieg über die schmutzige, aus-
getretene Treppe, ging in ein Zimmer mit rohen
Holztischen und Bänken, auf denen Kochgeschirre,
Brotbeutel, Bierkannen, Seifenstücke, Kämme, Ta-
baksbeutel, Fettgläser, Speckstücke in tollem Wirrwar
lagen und dazwischen verstreut Patronen, Karabiner,
Seitengewehre, Lederzeug, indes ein Maschinen-
gewehr gebuckelt in der Ecke stand neben einer Kiste
Handgranaten. Da lagen, hockten, standen die
Matrosen, rauchten, spielten, dösten, aßen, sprachen,
und über ihnen hing die Luft, schwer und blau, aus
Schweiß und Staub und Rauch, der Ruch eines
Heerlagers, voll sonderbar beklemmender Würze,
gleich als ob alles ahnen ließe, daß hier Sprengstoffe
lagerten, die auf den zündenden und befreienden
Funken warteten.
Und ich erniedrigte mich, ließ mich anfahren oder
höhnisch belächeln, stand im Wege, ging nicht, bot
schlechten Tabak an, mischte mich heiser in rüde
Unterhaltung, belachte die Zoten, erzählte selber eine,
biederte mich an, schmiß mich heran, suchte mir
einen, zwei, die abseits saßen, holte Zeitungen vor.
Und einer, ein Kleiner, Junger, mit kessem Gesicht,
der fragte mich aus, den log ich an, beschimpfte den
Kaiser, ließ mir erzählen von prahlerischen Heldentaten,
wie sie ihre Offiziere verprügelt, wie viele Mädchen sie
über die Bank gezogen, bestaunte ihn, bis der
geschmeichelt duldete, daß ich über die Wachleute
herzog, über die schlappen Hunde, die die Revolution
verraten wollten, aus Furcht vor den Bourgeois und aus
Furcht vor den Franzosen. Und ob er wüßte, daß die
Franzosen herkämen, und was sie dann machen würden,
die Franzosen würden doch keine Bewaffneten dulden,
und ob sie kämpfen würden, ob sie kämpfen würden
gegen die Franzosen?
Da lachte der Kerl und sagte: «Wir nicht, wer noch?»
und spie in die Ecke.
Heimkehr
Berlin
«Halt! Wer weitergeht, wird erschossen!» Aber der
geht ja weiter — soll ich schießen? Was für ein
Unsinn, das ist doch ein ganz harmloser Mensch.
Befehl ist Befehl. I was, das war früher mal, wie der
Gefreite Hoffmann immer sagt. Ein widerliches
Gefühl: dem kleinen Männchen, das da im schäbigen
Rock und ohne Mantel über den Platz geht, so mir
nichts, dir nichts in den Rücken schießen zu sollen...
Da, natürlich, jetzt gehn die andern auch über den
Platz. «Halt! Halt! Stehenbleiben, können Sie nicht
lesen? Zurück da! Hier darf niemand über den Platz!
Warum? Weil gleich geschossen wird!»
Und heute ist der vierundzwanzigste Dezember.
Und da ist die Schloßbrücke und da ist das Schloß und
da ist der Marstall und da hocken die Matrosen drin.
Es kracht. Da oben, in die Mauer staubt es,
Steinsplitter fliegen. Blitzschnell huscht ein Mann um
die Ecke und klebt sich an die Mauer und lacht. Und
ich lache auch. Aus dem Hausgang lugen Frauen.
Leute kommen ahnungslos vorbei. Ich rufe: «Halt!»
Schnell sammelt sich ein Grüppchen. Ein Schuß
kommt vom Schloß. «Hier können Sie nicht vorbei»,
sage ich und stecke das Kinn tief in den Mantel. Die
Handgranate baumelt mir am Koppel.
Der Unteroffizier kommt. Wir schnellen beide nach
vorn, hinter die Litfaßsäule. Vor dem Schloß stehen
viele Menschen. «Der General verhandelt», sagt der
Unteroffizier. Da laufen die anderen heran, das
Gewehr vorgestreckt. «Wir sollen zur Verstärkung
hin.» — «Was ist denn los?» — «Befehl: Es soll
keiner mehr durchgelassen werden.»
Eine Postenkette spannt sich um den Schloßplatz.
— «Was los ist? Die Brüder waren schon
eingeschlossen, da wollte der General verhandeln,
nun kamen die Matrosen alle heraus und auch
andere, nun stehen sie alle mitten unter uns: zurück
da!» Wir reihen uns ein. Auf einmal sind wir mitten
drin. Auf einmal stehe ich allein; ich sehe knapp noch
den Stahlhelm des Unteroffiziers.
Vor mir steht eine Frau und lacht. Breit steht sie da
und lacht mir mitten ins Gesicht, ganz nah. Dick ist
sie, grau ist sie und hat eine graue, grobe Bluse und
nur wenige Zähne und eine Warze dicht neben der
Nase. Warum lacht sie? Sie lacht mich an, sie schlägt
die Arme über den mächtigen Leib und prustet mir ins
Gesicht. Verflucht, dies Weib, diese Vettel, ich
könnte ihr den Kolben ins Gesicht rennen — aber ich
drehe den Kopf weg. Warum seh ich auch so jung
aus? Nun fangen die anderen auch noch an. Dicht
gedrängt stehen sie um mich rum und plötzlich sind
auch Matrosen da, Gewehre umgehängt, rote
Binden, sie schauen mich an, und einer sagt:
«Rindviecher, warum kämpft ihr gegen uns? Jagt doch
eure Offiziere zum Teufel, lauft doch den Leute-
schindern nicht nach!»
Was soll ich tun? Widerlich ist das. Ah, Gott sei
Dank, da kommt der Unteroffizier. Er schiebt sich
durch, sieht die Matrosen, sagt: «Immer mit die Ruhe,
kümmert ihr euch man um euren Dreck.»
Bewegung auf dem Platz! «Zurück!» schreit
plötzlich der Unteroffizier und reißt das Gewehr hoch.
Im Augenblick ist Platz. Vor uns Gebrüll, Weiber
kreischen. Ins Tor laufen die Matrosen. Wir rücken
langsam an. Am Fenster seh ich einen, einen jungen
Kerl, Matrose mit rotem Haar, der beugt sich prüfend
vor und mustert uns, dann zieht er ruhig eine
Handgranate ab.
Geknatter, hinlegen — Teufel, das spritzt ins
Pflaster. Ich springe hoch und rase zurück, es knallt
und pfeift.
Hinterm Pfeiler liegen schon drei Mann. Und auf
dem Platze, dort und dort, Häufchen, seltsame graue,
dunkle, langgestreckte Flecken — ach so.
Der Unteroffizier ist neben mir. «Wo steckt denn
das MG? Verflucht nochmal.» Da rattert es schon los,
vom anderen Pfeiler. «Hierher!» ruft der
Unteroffizier. Nun kommt das zweite MG. Wir
rücken enger aneinander. «So, nu geh du mal ran; ja,
du! Mal sehn, ob du was kannst. So, halt, noch nicht,
jetzt erst daherurn die Knarre, schieß mal erst dem
Kerl da auf der Brücke den Schniepel ab. Ja, ja, dem
Lehmann seine Steinfigur da, auf der Brücke. So,
war ganz gut, nu die Knarre, untere Reihe Fenster,
etwas höher halten, gut so, gut.»
Der breite Kolben haut mir in die Schulter. Ich seh
die Mündung tanzen, springen, sprühen, halte
knatternd hin. Die Fensterreihe steigt in mein Visier,
das Fenster, an dem vorhin der junge Matrose stand
— da steht er wieder und legt die Knarre an und
ballert nach uns hin —, mein Gewehr liegt ruhig;
Kimme, Korn, Finger krumm und los. Am Fenster
sehe ich nichts mehr.
Wir liegen lange. Es knallt um uns, wir knallen
wieder. «Sind knarsche Jungs, da drüben!» sagt der
Unteroffizier. «Zurück!» schreit einer. «Warum,
wieso? Ach so, Geschütze!» Wir kriechen schnell
zurück. Und an der Ecke steht auch schon auf
schlanken Rädern das Geschütz. Kaum sind wir da,
reißt einer an der Schnur, es hallt heraus und heult
und birst da drüben, reißt ein Loch in die Fassade,
läßt die Steine springen. Und aus dem Fenster
schleudert sich mit halbem Leib ein Mann, bleibt in
der Wölbung hängen. Und langsam wird es Nacht.
Gegenüber dem Admiralspalast fiel der Unteroffizier
Poessel mit Kopfschuß. Es war aber der Unteroffizier
Poessel ein Mann, der den Krieg vom ersten Tage der
Mobilmachung an mitgemacht hatte, und er war gut
durchgekommen, mit einer einzigen, nicht schweren
Verwundung, und hatte das E. K. I. Er lag da, an
einem braunen Bretterzaun, an dem sein Gehirn
hingespritzt klebte, und über ihm hing ein Plakat, ein
breites, gelbes Plakat mit der Ankündigung eines
Kriegerwitwen- und Bösen-Buben-Balles, und hinter
dem Zaun standen die Bretterbuden und Zelte eines
Vergnügungsparkes, allabendlich drehten sich dort
schmetternd die Karussells, fauchte die Berg- und
Talbahn, juchten die Mädels. Dort lag der
Unteroffizier Poessel. Wir trugen ihn dann ein Stück
bis zum MG-Wagen, der ihn ins Quartier bringen
sollte. Wir trugen ihn durch die engen, von
Menschen wimmelnden Straßen, vorbei an Luxus-
lokalen, aus deren von Zeit zu Zeit sich öffnenden
Türen ein schwüles, rotes Licht auf die Straßen drang,
wir hörten im keuchenden Vorbeischreiten
Niggermusik aus Bars und Dielen, sahen Schieber und
Kokotten, lärmvoll und besoffen, sahen die von uns
geschützten Bürger mit ihren Weibern in Logen
sitzen, eng umschlungen, vor Tischen mit blitzenden
Gläsern und Flaschen, sie steppten auf blanken,
spiegelnden Flächen ihre aufpeitschend entnervenden
Tänze. Und von fernher knallten noch die verlorenen
Schüsse der Kameraden.
Wir schossen uns mit den Dachschützen herum.
Wir strichen, an die Häuserwände gepreßt, um die
Ecken, das Gewehr schußbereit, nach offenen Luken
spähend, wir hockten hinter schnell getürmten
Barrikaden, wir lagen hinter Litfaßsäulen und
Kandelabern, wir schlugen Türen ein und stürmten
über dunkle Treppen, wir schossen auf alles, was
Waffen trug und nicht zur Truppe gehörte, und
manchmal lagen auf den Straßen auch Menschen, die
keine Waffen getragen hatten, manchmal lagen auch
Frauen da, und manchmal auch Kinder, und über ihre
Leiber flitzten die Geschosse, und es konnte
vorkommen, daß die Geschosse in die Toten fuhren,
dann war es, als ob sie noch einmal aufzuckten, und
wir hatten einen fauligen Geschmack im Mund.
Aber hinter der Front unserer Kampfgruppen strichen
die Huren. Sie wedelten in der Friedrichstraße auf
und ab, wenn wir Unter den Linden schössen. Sie
warfen sich an uns heran mit unsagbar fremdem
Hauch, wenn wir, noch gepackt von den Gesetzen
dieses wirren Kampfes, den Gegner über dem Visier
noch im gebannten Blick, zu kurzer Pause hinter den
schützenden Häuserfronten verweilten, und nicht das
flüsternde Anerbieten erschien uns so unerträglich,
sondern die gelassene Selbstverständlichkeit, mit der
sie nach unseren Körpern griffen, die eben noch den
zuckenden Feuerbändern der Maschinengewehre
ausgesetzt. Und wenn wir, mit leerem Blick und
durch den Straßentrubel wie belästigt, noch aller
Spannung voll uns durch die Menge schoben, vorbei
an Reihen von Bettlern, von Kriegsbeschädigten, von
Schüttlern, von Blinden, vorbei an den schnell
zusammengezimmerten Ständen der Straßenhändler,
dann konnte es wohl sein, daß einer an uns herantrat
und Kokain anbot und ein anderer einen Brillantring
und ein dritter die letzten Kiesewetterverse. Und von
den Schaufenstern der kleinen Läden hingen die
Postkarten mit Bildern gelöster Mädchen, nichts
weniger als verführerisch, doch ebenso nackt wie das
Gesicht dieser Straßen der inneren Stadt.
6. Januar 1919.
«Abteilung halt!» Wir stehen, ein Unteroffizier,
acht Mann, an einer Straßenecke. Noch sind die
Straßen wenig belebt.
Der Unteroffizier tritt ein paar Schritte vor und
lugt die Hauptstraße rauf und runter. Er kommt
zurück und zuckt die Achseln: «Noch nischt zu
sehen.» Einzelne Leute bleiben stehen; ein alter Herr
geht vorbei, stockt und sagt strahlend zu uns: «Das
sind doch wenigstens noch Soldaten!» Er wendet sich
an den Unteroffizier: «Na, ihr werdet wohl bald
Schluß machen mit dieser Sauregierung?» Der
Unteroffizier sieht den Herrn ruhig an und sagt: «Ich
bin Sozialist.» Der Herr zuckt zusammen, wird rot
und geht rasch davon.
Bewegung unter uns acht Mann. Unteroffizier
Kleinschroth ist Sozialist? Dieser ruhige, dunkle,
ernsthafte Mensch? Ich sehe ihn scheu von der Seite
an. Der Gefreite Hoffmann dreht mir das fröhliche
Gesicht zu und lächelt: «Da staunste, was? Ich bin
auch Sozialist. Eingeschrieben seit 1913!»
Ich schweige betroffen. Hoffmann sagt halblaut
und eifrig: «Mensch, wir wollen doch den Staat!»
Und dann nach einer Weile: «Ich bin doch Arbeiter
gewesen, Eisendreher.» — «Arbeiter gewesen»,
denke ich, «gewesen, sagt er, warum sagt er
gewesen?» Hoffmann sieht angestrengt vor sich hin:
«Wenn wir sozialisieren wollen, dann lassen wir
doch nicht vorher kaputtmachen, was wir ...», und ist
wieder still.
Auf einmal ist ein Brausen in der Luft. Es kommt
von oben herab und füllt den Nebel, der schwer und
trächtig herniederhängt. Nein, es kommt nicht von
oben, es schiebt sich von links heran, schwillt und
schwillt, und verschluckt jedes Geräusch der Straße,
bläht sich im Raume und drückt gleichsam alle
Regung an die Häuserwände. Der Unteroffizier
springt einige Schritte vor und kommt schnell wieder
zurück. «Sie kommen!» sagt er und weist uns in
einen dunklen Torweg, der, die Straße macht eine
Biegung, schräg zum offenen Platze steht. Dort
stehen wir, im Schatten, ungesehen, doch selber alles
sehend. «Ruhe im Glied!» Der Unteroffizier sieht
vor sich hin, dann wendet er sich um, geht mit drei
Schritten auf mich zu, auf mich, den Jüngsten und
Kleinsten, der ich am linken Flügel stehe, und sagt
beinahe drohend: «Mensch, wenn deine Flinte
losgeht, bevor ich es befehle ...» Ich sage: «Nein,
Herr Unteroffizier!» Er sieht mich dunkel an, dann
geht er vor die Mitte unserer Front.
Viele Menschen sind auf einmal in der stillen
Straße. Aus den Häusern laufen Frauen herzu, Kinder
sammeln sich, Fuhrleute halten ihre Wagen an.
Immer mehr Leute kommen, junge Burschen, die
meisten in der feldgrauen Joppe, ziehen vorüber. Die
Straßenecken sind schon schwarz von Menschen. Das
Brausen verdichtet sich. Mit den Fetzen eines Liedes,
der Internationale, kommt fauchend und stöhnend ein
Lastwagen, auf dem sich eine rote Fahne breit und
riesig wölbt. Wir stehen atemlos im Torweg und
starren auf den Platz. Nicht einer rührt sich. Das
Koppel mit den Handgranaten drückt. Schwer lehnt
das Gewehr am Bein. Wir haben Fuß bei Fuß
gezogen, der Rücken strafft sich zu einer angespannt
geschwungenen Linie, die Augen spähen unterm
Helmrand vor.
In ganzer Breite ist die Straße schwarz. Die Straße
selber schiebt sich vor. Es ist, als wollten die Häuser
sich neigen, es rollt das wirre Band bedächtig, riesig,
unangreifbar, unaufhaltsam: Massen, Massen, Mas-
sen.
Knallig prunken die roten Flecken überm Haufen,
weiße Schilder schweben, eine gelle Stimme schreit:
Es lebe die Revolution! Die Masse brüllt: Hoch! Es
orgelt tief aus tausend Brüsten, schmeißt den Dunst
beiseite, Fenster klirren. Hoch und Hoch! Der Boden
dröhnt, es rollt und wälzt sich weiter. Volk! Es bricht
sich Bahn die Ahnung dessen was das heißt: das ist
das Volk! Nein, Massen sind es, Tausende, nur
Massen — und Mensch an Mensch und Leib an Leib
und Kopf an Kopf — die Wucht der Schritte läßt den
Rhythmus spüren, und wieder kommen Fahnen, sie
holpern mühsam vorwärts und zwischen den Bewaff-
neten, den Matrosen, den blinkenden Gewehren
schweben die Schilder: «Nieder mit den
Arbeiterverrätern, nieder Ebert, Scheidemann»,
«Hoch Liebknecht», «Hunger», «Friede, Freiheit,
Brot!»
Der Strom reißt nicht ab. Welch ungeheure Faust
erraffte diese Massen und stopfte gnadenlos den
Brodel in den engen Schlauch der Straße? Ja, wenn
sie wollten! Wer kann sich hier dagegenstemmen? Es
lärmt, sie schreien, der Haß spritzt aus den dunklen
Mündern. Bewaffnete marschieren, wirr kreuzen sich
die Gewehre, Wagen rattern vollgestopft, bedrängt
von Männern, es lugen die MGs mit rundem Auge,
indes die Reihen schimmernder Patronen zum Schuß
bereit aus ihren Bäuchen quellen.
Ein junger Mensch, sehr blaß und eifrig, kommt in
unseren Torweg Er schwingt erregt die Hände und
sprudelt hervor: «Es geht schon los sie haben diese
Nacht das ganze Zeitungsviertel besetzt. Liebknecht
spricht am Brandenburger Tor. Ihr werdet
totgeschlagen! Es ist mit den Berlinern nicht zu
spaßen...» Der Unteroffizier sagt: «Gehen Sie weg,
Mann, Sie haben hier nichts zu suchen.» Draußen
bricht jäh das Gebrülle ab. Einer steht auf einem
Wagen und spricht. Es ist ein kleiner, dunkler, blasser
Mensch, mit Kneifer, Spitzbart und Regenschirm Er
läßt ganz kurze, klare Sätze hallen. Die Worte
kommen schwer zu uns herüber: «Das internationale
Proletariat... Unsere Arbeitsgenossen in der ganzen
Welt... Unsere Brüder in Frankreich, England und
Italien... Deutschland trägt die Schuld...»
Der ganze Platz ist nun gefüllt. Wir sehen eine
Wand von Menschenrücken. Männer stehen
dazwischen, die haben weiße, zottige Pelze an, das
Koppel schnürt, daß sich das starre Fell unförmig
bauscht. Die Gewehre hängen umgekehrt. Und von
diesen Männern sieht uns einer.
Er fährt zurück, er schreit und winkt. Es geht mir
spritzig kalt durch alle Adern. Da starren uns,
vergiftend, lähmend, tausend Augen an. Sie brüllen
auf — nun gilt's — sie drängen an. «Schlagt sie tot,
das Mordgesindel —». Es zischt der Haß, wie Wasser
zischt auf heißem Herd. Im roten Nebel wirbeln
Köpfe, Hände und Körper, sie drängen sich flächig
und voller Wucht heran.
Da schreit der Unteroffizier — erlösend geht es
durch unsere verkrampften Körper —: «Laden und
sichern!» Wir reißen die Gewehre hoch, die
Mündung spitz der Masse ins Gesicht, wir fahren
mit den klammen Händen an das Schloß, Patronen
raus, es klirrt mit niederträchtigem Geräusch, es
knackt der Hebel, schnappt zurück — für Sekunden
ist es still.
Acht Gewehre drohen, Tod im Lauf. Und vor uns
weitet sich der Raum. Zwei Linien straffen sich.
Unerträglich biegt sich die Spannung, sie reißt und
zerrt wie ein dünner, glühender Faden, ein einziger
Atem hängt in der Luft, steigt es nicht heiß und
stöhnend aus dem Boden auf, so glasig, Gasdunst
letzter Augenblicke...
Da steht der kleine Mann mit Regenschirm, er
fuchtelt mit den Händen: «Zurück, nicht schießen!»
und stellt sich mitten zwischen beide starre Fronten.
«Weitergehen!» brüllt er, und sie gehorchen. Sie
lösen sich zögernd, er treibt sie vor sich her, er
wendet sich und sagt zu uns: «Und schämen sollt ihr
euch!»
Wir nehmen still das Gewehr bei Fuß. Mir kommt
ein Tröpfchen Schweiß der Stirne in das Auge. Ganz
rot sehe ich verwirrte Kreise, ich drehe mich schwach
und lehne mich, zwei Schritte weiter vor, an die
Mauer, und sehe mühsam hoch. Da hängt ein Plakat,
weiß, rot umrandet. Zwei große schwarze Zeilen
prallen aus dem Wust der kleinen Schrift: «Und das
ist Sozialismus!» schreit es von der Mauer. Und
unter diesem Worte haben wir gestanden.
Der Platz ist leer. Die Straße leer. Kalt, naß und
trüb der Himmel, schwer und grau.
Wir treten an. Der Unteroffizier befiehlt Entladen.
«Das hat noch gutgegangen», sagt er. Wir marschie-
ren ab.
Der Gefreite Hoffmann sagt: «Saudumm sind die,
die verpassen egal jeden richtigen Moment.»
Weimar
Am 20. Januar 1919, am Tage nach der Wahl zur
verfassunggebenden Nationalversammlung, kamen
die Kommandeure der in Berlin stehenden Truppen
zum Oberbefehlshaber Noske. Sie erklärten, sie
könnten für den Bestand der Truppen keine Garantie
übernehmen. Die Agitation der Unabhängigen und
Spartakisten unter den Soldaten sei derart intensiv,
daß ein längeres Verbleiben der Formationen in der
Stadt für den Geist der Truppe gefährlich sei. Es sei
zu erwägen, ob die Formationen nicht wieder auf die
Übungsplätze, Vororte und Dörfer zurückzunehmen
wären.
Die Regierung der Volksbeauftragten beschloß,
die Nationalversammlung in Weimar tagen zu lassen.
Das Freiwillige Landesjägerkorps Maercker galt
als die bestdisziplinierte Truppe, und es sollte wohl
eine Anerkennung bedeuten, daß General Maercker
den Auftrag bekam, die Tagung der Volksvertreter in
Weimar zu schützen. Der Arbeiter- und Soldaten-Rat
von Thüringen aber war nicht einverstanden mit
dieser Anerkennung und sandte ein gekränktes
Telegramm an den Oberbefehlshaber Noske. Die
Garnisonen von Thüringen seien allein imstande, die
Sicherheit der Volksvertreter zu garantieren, und
fremde Truppen seien in Thüringen durchaus
unerwünscht.
Die Bewegtheit jener Tage aber war bestimmt
durch den Kampf der Revolution um ihren Bestand.
Die Unabhängigen und Spartakusleute sahen im
Zusammentreten der Nationalversammlung eine
unmittelbare Bedrohung der revolutionären Er-
rungenschaften. Der von ihnen erstrebte und in den
Anfängen durchgeführte Räteaufbau des Staates
mußte, das wurde scharf anerkannt, dem bürgerlich-
demokratischen Prinzip gegenüber, durch welches
allein die Nationalversammlung und die in ihr zu
schaffende Verfassung ihre Geltung erhalten konnte,
mit allen Mitteln behauptet werden, sollte nicht aus
der Revolution ein Gebilde erwachsen, das deren
Sinn verfälschte. «Alle Macht den Arbeiter- und
Soldaten-Räten!» lautete darum die Parole der
Revolutionäre, und diese Parole wurde in unzähligen
Aufrufen verbreitet und fand in ebenso unzähligen
Entschließungen revolutionärer Kongresse und
Versammlungen ihren Widerhall. Im Reiche war die
Herrschaft der Räte noch fast völlig unangetastet. Nur
in Berlin war sie gebrochen. Aber schon marschierten
Truppen nach Bremen, schon schufen in
Willhelmshaven Offiziere und Soldaten unter dem
Korvettenkapitän Ehrhardt eine neue Ordnung, in der
die Räte ausgeschaltet waren.
Es beruhte jedoch die Macht der Arbeiter- und
Soldaten-Räte im Reiche einfach auf der Tatsache,
daß sie ihnen bislang noch niemand streitig gemacht
hatte. In den Betrieben waren die Belegschaften
zersplittert und die Arbeiter-Räte keineswegs einer
unbedingten Gefolgschaft sicher, die bewaffneten
Kampfkräfte klein an Zahl und nicht gehärtet. Selbst in
Berlin waren es immer nur die Einzelnen, die den
letzten Einsatz für die Revolution wagten, Ver-
sprengte, Unbestechliche, und freilich konnten sie
unter günstigen Umständen die Masse mit sich
zwingen. Aber es rief niemand anders sie als die
Stimme ihres Blutes, sie fanden sich auf den
Barrikaden zusammen, wie sich diese Männer immer
zusammenfinden dort, wo Gefahr ist, aber sie waren
nicht geeignet als blitzende Werkzeuge einer zu
bildenden Macht, sie erkannten keine Führung an, sie
gehorchten keinen Räten.
Von Bauern-Räten hat man nach den ersten Tagen
der Revolte niemals gehört.
Am aktivsten erschienen die Soldaten-Räte. Sie
führten in ihren Kundgebungen eine bedrohliche
Sprache, kontrollierten fast die gesamte Verwaltung
und traten mit herrischem Anspruch als die eigent-
lichen Machthaber überall auf. Aber sie waren
Soldaten-Räte ohne Soldaten. Das heimkehrende Heer
löste sich auf. Schon auf dem Marsch zu den
Garnisonen verringerten sich die Regimenter,
verließen große Teile der Mannschaft, von den
Offizieren gewißlich nicht gehindert, die Truppe,
drängten nach Haus. In den Garnisonen selbst lagen
die ältesten Jahrgänge und die jüngsten — Landsturm,
Rekruten und Garnisondiensttaugliche. Sie waren es,
welche die Räte im ersten Überschwang der Revolte
gewählt. Von den zurückkehrenden Frontsoldaten
erhielt ein jeder Urlaub, soviel er wollte, die anderen
nahmen sich den Urlaub selber. In den verödeten
Kasernen hausten als Alleinherrscher die Soldaten-
Räte, sie saßen fett und behaglich in den weiten
Räumen und verfaßten Entschließungen und erhielten
Löhnung und Zulagen und Tagegelder und zehrten
von den Vorräten und Lagerbeständen. Die Schreiber
der Abwicklungsstellen, die arbeitslosen jungen
Soldaten, die ihre Löhnung abholten, Deserteure und
wenige Berufssoldaten bildeten die Garnisonen. Es
waren aber die Garnisonen zu allem entschlossen,
außer zu arbeiten und zu kämpfen. Die Unabhängigen
hatten Wachregimenter aufgestellt und Sicher-
heitswehren, gebildet aus Arbeitern und entlassenen
oder entlaufenen Soldaten; die Matrosen lebten,
finster und entschlossen, in kargen Grüppchen,
Volksmarinedivisionen genannt, in ihren zu waffen-
starrenden Festungen umgewandelten Quartieren, wie
die Füchse im Bau, stets bereit, zu schießen, aber
keinem Befehle gefügig. Dann waren nur noch die
hungernden Massen da.
Die Freikorps aber, geworben für den Schutz der
Grenze im Osten, der Stamm der Frontsoldaten,
freiwillige Studenten, Schüler, Kadetten, Offiziere,
Arbeiter, Bauern, Handwerker und ewige Soldaten,
sie standen im Solde der Regierung, marschierten,
wie es Noske befahl.
Als die kleine Gruppe der Quartiermacher des
Landesjägerkorps nach Weimar kam, befahl der
Weimarer Soldatenrat, sie zu entwaffnen. Aber die
Quartiermacher eilten vor das Hauptquartier des
Rates; der Vorsitzende, zwischen zwei Maschinen-
gewehren stehend, erklärte, er weiche nur der Gewalt.
Da warfen die Landesjäger die Maschinengewehre
um und drangen in das Gebäude. Der Vorsitzende des
Soldatenrates Weimar aber wich. Dies war die einzige
kriegerische Handlung, die in Weimar geschah.
Wir erfuhren davon, als wir in die schlafende Stadt
einrückten. Am Bahnhof mußten wir die Seiten-
gewehre aufpflanzen. Unsere Quartiere lagen in
Ehringsdorf, wir zogen fröstelnd und übermüdet von
der langen, nächtlichen Fahrt durch die dunklen
Straßen. Am Nationaltheater machten wir halt. Wir
setzten die Gewehre zusammen und warteten.
Neugierig standen die Soldaten um das Denkmal
herum. Der Leutnant Kay kletterte auf den Sockel
und setzte sich zwischen die Füße der beiden
Bronzegestalten. Das Theater stand weiß und geruhig,
mit einfachen Linien, wie ein klarer, stiller Tempel in
der Nacht, Leutnant Kay sagte: «Der Tag ist wirklich
zu absurd. Konfuse, verwirrende Lehren und
verwirrter Handel walten über der Welt.» Und
klopfte Goethe kameradschaftlich auf den Schenkel.
Nach kurzer Weile marschierten wir weiter.
Weimar wurde vom Landesjägerkorps zerniert. In
der Stadt selbst lagen nur wenige Kompanien, im
Schloß, am Theater. Wir exerzierten in Ehringsdorf
und in Oberweimar, wir schoben Wache in
Umpferstedt und in Süßenborn, wir kampierten in
Tiefurt und in Hopfgarten. Wenn der Dienst zu Ende
war, hatten wir nicht immer Lust, nach Weimar
hineinzugehen; denn die geruhsame Stadt verlor
nichts von ihrer Farblosigkeit durch das schwärzliche
Gewimmel der Volksvertreter und deren mannig-
faltige Reden —, und uns brannte noch Berlin im
Blut.
Wir waren zu plötzlich herausgerissen aus dem
Strudel der tollen Wochen, die hinter uns lagen. Der
Abmarsch aus Berlin, der nie bezwungenen Stadt,
erschien uns wie Flucht und Verzicht. Und zwischen
Dienst und Wache, zwischen Suff und Schwoof
verloren wir uns in übersteigerten Gesprächen.
Anfangs besuchten wir die Versammlungen im
Städtchen, in denen Abgeordnete aller Parteien
sprachen, aber die geistigen Waffen, die dort den
Kriegern angepriesen wurden, ließen uns den Wert
von Fünfzehner-Langrohrgeschützen in noch
schärferem Licht erscheinen. Unser Leben vollzog sich
sehr abseits von dem, was die Vertreter des Volkes als
Kern und Wesen der Dinge betrachteten; wir standen
in jenen Tagen inmitten des Strudels, da, wo es am
stillsten ist. Und Leutnant Kay sagte: «Immer hübsch
kochen lassen und ab und an ein bißchen umrühren
und zuweilen ein kleines Feuerchen drunter!»
«Wie meinen Sie das mit dem Feuerchen
drunter?» fragte ich den Leutnant, meinen Zugführer,
bei dem Glase Wein, zu dem er mich eingeladen
hatte. Da drehte sich der Leutnant um, und drei
Tische weiter saß ein kleiner, rundlicher Herr im
schwarzen Rock, ein Herr mit Hornbrille und
Aktentasche. «Das ist Erzberger», flüsterte der
Leutnant und sah mich an. «Ein tüchtiger Mann,
sagenhaft fleißig!» Und drehte das Glas und beugte
sich über den Tisch. «Was meinen Sie, wie würde das
Hühnervolk gackern, wenn der eines Tages mal
gehörig verprügelt würde? Machen Sie mit?» Ich
sagte: «Jawohl, Herr Leutnant!»
Aber Erzberger flüchtete im Hemde zum Fenster
hinaus, als wir anrückten, und Noske war sehr böse
über uns. Es schien, wir fingen an, ihm Sorge zu
machen. Als Oberbefehlshaber zog er immer den Hut,
wenn es einem von den Soldaten einfiel, ihn zu
grüßen. Seit er Reichswehrminister war — es war da
ein Befehl, der lautete, der Reichswehrminister sei
vorschriftsmäßig zu grüßen —, seit dieser Zeit also
hob er immer nur zwei Finger bis knapp an die breite
Krempe seines Hutes. Und wir gaben uns doch solche
Mühe! Wenn wir, am Schlagbaum von Umpferstedt,
das Auto kommen sahen, dann freuten wir uns schon
und hielten den Wagen an und fragten nach dem Paß
und baten diensteifrig die Herren, auszusteigen, da
der Wagen nach Waffen durchsucht werden müsse.
«Ministerauto», wagte der Chauffeur zu sagen. «Das
kann jeder sagen», meinten wir knarsch und: «Paß
bittä!» Dann aber sahen wir den Paß, und das riß uns
plötzlich herum! Da krachte das Gewehr auf die
Schulter, daß der Helm rutschte, da holten wir
vielleicht mit dem rechten Fuß aus und knallten ihn
gegen den linken und sahen den Herrn eisern an. Und
der Herr Reichswehrminister hob mißtrauisch zwei
Finger, und wir rührten uns nicht eher, als bis aus der
Tiefe des Wagens der freundliche Wunsch brummte,
es möchte doch endlich der Schlagbaum geöffnet
werden.
Der Minister aber liebte es, bei Besichtigungen die
Front abzugehen und freundliche Fragen an einige
Leute zu stellen. Und ausgerechnet den Gefreiten
Hoffmann fragte er: «Was sind Sie von Beruf?» —
«Korbflechter, Euer Exzellenz!» kam prompt die
Antwort. Und der Hauptmann hatte später Gelegen-
heit, kopfschüttelnd zu sagen, nichts wie Unfug
hätten wir im Kopfe, und es müßte wohl ein bißchen
mehr exerziert werden.
Und es wurde mehr exerziert. Es wurde auch mehr
gesoffen. Leutnant Kay hatte eine Mischung
erfunden, die nannten wir den Geist von Weimar.
Nur war diese Mischung sehr fade, und man mußte
viel trinken, ehbevor man sich berauschte. Aber viel
trinken, das wollten wir, viel tanzen, das wollten wir
auch, und vor allen Dingen wollten wir nichts davon
hören, was in der Nationalversammlung besprochen
und beraten wurde.
Das harmlose Städtchen spreizte sich in dünner
Wichtigkeit. Als der Volksbeauftragte Ebert zum
Reichspräsidenten gewählt wurde, war es aus-
füllendes Stadtgespräch, daß er mit weichem grauem
Hut die Ehrenkompanie abschritt, nicht mit
Zylinder. Die sechzig Berliner Schutzleute
reräsentierten mit Würde Weltstadt. Jede Rede der
Frau Zietz fand in den Damenkränzchen aufgeregte
Besprechung. Wenn Pfarrer Traub sprach, flaggten
einige Häuser schwarz-weiß-rot. Die Läden wurden
fast gestürmt, als es hieß, die ersten Waggons
italienischer Apfelsinen seien eingetroffen. An
Sonntagen spielte die Landesjägerkapelle. Die jungen
Mädchen der Stadt ließen sich in öffentlichen Lokalen
nur mit Offizieren sehen, allenfalls mit Feldwebeln.
Die Herren Abgeordneten tranken abends ihren
Wein im «Elefanten» oder im «Schwan» und
betrauerten die Zukunft Deutschlands.
Im März kamen die Nachrichten von dem Aufstand in
Berlin. Gleichzeitig begann es in Mitteldeutschland zu
brodeln. Eine Abteilung des Landesjägerkorps rückte
nach Gotha, andere rüsteten zum Marsch nach Halle.
Im mitteldeutschen Industrierevier drohte der Streik.
In den Städten zogen hungernde Massen
demonstrierend durch die Straßen. In München war
am 21. Februar Kurt Eisner erschossen worden.
Daraufhin bemühten sich die Abgeordneten im
bayrischen Parlament nicht ohne Erfolg, sich
gegenseitig auszurotten. Im Ruhrgebiet herrschte
Anarchie, aus den Seehäfen liefen die Lebensmittel-
transporte nur spärlich ein. Im Osten knallten sich
schwache Grenzschutzformationen mit vorrückenden
polnischen Banden herum.
Und langsam wurden die Friedensbedingungen
bekannt.
Wir strichen unruhig durch die Straßen. Es war für
uns Soldaten kein Zweifel, daß die Weimarer Herren
annehmen würden. Wir aber hoben die Nasen
witternd in den Wind, gleich als ob wir die Vielfalt
röchen, um die uns das Leben noch niemals betrog.
Leutnant Kay nahm einzelne von uns beiseite. Er
sprach mit der Gruppe Kleinschroth, er suchte sich
die Kadetten zusammen, er saß in den Kompanie-
quartieren mit den Unteroffizieren, in den Kantinen
mit Leuten des anderen Bataillons, in den
Weinstuben Weimars mit Offizieren und Fähnrichen
und flüsterte herum.
Langsam fanden sich einige zwanzig Mann. Die
erkannten sich an einem Blick, an einem Wort, an
einem Lächeln, die wußten voneinander, daß sie
zusammengehörten.
Aber sie waren nicht regierungstreu, sie waren
beileibe nicht regierungstreu, nichts weniger als das.
Sie konnten keineswegs den Mann und den Befehl
achten, dem sie bislang gehorchten, und die Ordnung,
die sie schaffen helfen sollten, erschien ihnen ohne
Sinn.
Sie waren Herde der Unruhe in ihren Kompanien.
Der Krieg hatte sie noch nicht entlassen. Der Krieg
hatte sie geformt, er ließ ihre geheimsten Süchte wie
Funken durch die Kruste schlagen, er hatte ihrem
Leben einen Sinn gegeben und ihren Einsatz geheiligt.
Ungebärdige, Ungebändigte waren sie, Ausgestoßene
aus der Welt der bürgerlichen Normen, Versprengte,
die sich in kleinen Gruppen sammelten, ihre Front zu
suchen. Da waren viele Fahnen, um die sie sich
sammeln konnten — welche flatterte am stolzesten
im Wind? Da waren noch viele Burgen zu stürmen,
noch viele feindliche Haufen lagerten im Feld.
Landsknechte waren sie — wo war das Land, dem sie
Knechte waren? Den großen Betrug dieses Friedens
hatten sie erkannt, sie wollten nicht teilhaben an ihm.
Sie wollten nicht teilhaben an der bekömmlichen
Ordnung, die man ihnen schleimig pries. Sie waren
unter den Waffen geblieben nach einem unbeirrbaren
Instinkt. Sie knallten allerorts herum, weil ihnen das
Knallen Spaß machte, sie zogen durch das Land,
hierhin und dorthin, weil ihnen die fernen Felder
immer neue, gefährliche Dünste atmeten, weil ihnen
überall der Ruch herber Abenteuer winkte. Und
dennoch suchte jeder etwas anderes und gab andere
Gründe für sein Suchen an, das Wort war ihnen noch
nicht geboten. Sie ahnten das Wort, ja, sie sprachen
es aus und schämten sich vor dessen verwaschenem
Klang und drehten es, prüften es in geheimer Furcht
und ließen es aus dem Spiel mannigfaltiger
Gespräche, und es stand doch über ihnen. In tiefer
Dumpfe eingehüllt stand das Wort, verwittert,
lockend, geheimnisreich, magische Kräfte strahlend,
gespürt und doch nicht erkannt, geliebt und doch nicht
geboten. Das Wort aber hieß Deutschland.
Wo war Deutschland? In Weimar, in Berlin?
Einmal war es an der Front, aber die Front zerfiel.
Dann sollte es in der Heimat sein, aber die Heimat
trog. Es tönte in Lied und Rede, aber der Ton war
falsch. Man sprach von Vater- und Mutterland, aber
das hatte der Neger auch. Wo war Deutschland? War
es beim Volk? Aber das schrie nach Brot und wählte
seine dicken Bäuche. War es der Staat? Doch der
Staat suchte geschwätzig seine Form und fand sie im
Verzicht.
Deutschland brannte dunkel in verwegenen
Hirnen. Deutschland war da, wo um es gerungen
wurde, es zeigte sich, wo bewehrte Hände nach
seinem Bestände griffen, es strahlte grell, wo die
Besessenen seines Geistes um Deutschlands willen
den letzten Einsatz wagten. Deutschland war an der
Grenze. Die Artikel des Versailler Friedens sagten
uns, wo Deutschland war.
Wir waren für die Grenze geworben. In Weimar
hielt uns der Befehl. Wir schützten raschelndes
Paragraphenwerk, und die Grenze brannte. Wir lagen
in madigen Quartieren, aber im Rheinland
marschierten französische Kolonnen. Wir schossen
uns mit verwegenen Matrosen herum, aber im Osten
brandschatzten die Polen. Wir exerzierten und
stellten Ehrenkompanien für Regenschirme und
weiche Filzhüte, aber im Baltikum traten zum ersten
Male wieder deutsche Bataillone zum Vormarsch an.
Am 1. April 1919, dem Geburtstage Bismarcks —
die Rechtsparteien hielten patriotische Feiern ab —,
verließen wir, achtundzwanzig Mann, Leutnant Kay
an der Spitze, Weimar und die Truppe, ohne
Kündigung und Befehl, und fuhren nach dem
Baltikum.
Vormarsch
Im Zielfernrohr stand die Silhouette eines Gehöftes.
Ich lag mit meinem Gewehr auf einem
buschbewachsenen Hügel, dicht am Bahndamm.
Neben mir lag Leutnant Kay, seinen zum Stutzen
umgearbeiteten Karabiner vor sich und behängt mit
Leuchtpistole, Handgranatensäcken, Munitionsgür-
tel, Zeissglas und Kartentasche. Um uns herum, in
samtener Dunkelheit, kauerten dichtgedrängt die
Hamburger, leichte Maschinengewehre zwischen
sich. Die Minenwerfer in der Senke standen mit
drohend aufgerichteten Mäulern da. Vor uns
klickerte dunkel die Eckau, einzelne Sterne
spiegelten sich zitternd im schwarzen, schmalen,
leichtbewegten Wasser. Hinter der Waldecke stand
der Panzerzug unter sacht strömendem Dampf. Am
Bahndamm mußten die Geschütze stehen, von den
Pionieren gedeckt. Alles lag in der vordersten Front.
Alle Waffen drohten nach vorn. Menschen und
Sprengstoff lauerten in geheimnisreicher, mit
wütender Spannung geladener Nacht auf Erlösung.
Von der Rigaer Bucht bis Bauske lagen dicht
nebeneinander die gekrümmten Körper bereit zum
Ansprung. Der Bolschewik ahnte nichts.
Hinten, über Tetelminde war der Himmel gefärbt
mit gedämpftem Rot. Kein Postenruf erscholl, kein
Schuß weckte die Nacht. Ich betastete noch einmal
mein Gewehr. Der Gurt war eingeführt, die erste
Patrone im Lauf. Steif stand die Knarre auf ihren
Insektenbeinen. Die Hebel fest, der Mantel gefüllt.
Selbst das eine Ende des Schlauches war sorgfältig
vergraben, wie es die Vorschrift befahl. Ich legte den
Kopf auf die Arme. Wir warteten. Wir warteten auf das
Signal. Und vorne der Bolschewik ahnte nichts.
Mit jedem Atemzuge füllte ein sonderbar herber
Geruch die Lungen. Fast schmerzhaft würzig drang er
durch den ganzen Körper. Dieser Dunst der
kurländischen Erde ließ rnich dumpf spüren, was uns
dies Land zu bieten hatte. Ich krallte die Finger in die
satte Erde, die mich anzusaugen schien. Diesen Boden
hatten wir erobert. Nun forderte er von uns; auf einmal
war er uns verpflichtendes Symbol.
Sicherlich waren es nicht die Bolschewiken, die uns
zwangen, hier zu liegen in lechzender Lauer, in
wütender Gier. Da drüben, wo das lastende Dunkel den
Feind, gleich uns, an den Boden drückte, da drüben
beherrschte die Front ein glühender Zwang, ein
wahnwitziger Wille, eine göttliche Besessenheit, ein
einziger Glaube, der die durcheinanderfließenden
Horden der Soldaten und Bauern mit stählerner Zange
zusammenhielt und formte, der den Verlorenen die
Mission gab, die Zerlumpten zu Heroen hämmerte, die
Aufgegebenen zu Eroberern und ein ganzes Volk an die
Grenze hetzte. Wir aber waren Versprengte, kein Volk
gab uns den Auftrag, kein Symbol war uns gültig. Wir
lagen nun hier in knisternder Finsternis; wir suchten den
Eingang zur Welt, und Deutschland lag hinten irgendwo
im Nebel, wirrer Bilder voll; wir suchten den Boden,
der uns die Kraft geben sollte, und dieser Boden gab
sich nicht willig her; wir suchten die neue, die letzte
Möglichkeit, für Deutschland und für uns, und drüben
im heimlichen Dunkel barg sich jene unbekannte, jene
gestaltlose Macht, die, halb verwundert von uns und
halb gehaßt, unserem Drängen wehrte. Wir zogen aus,
die Grenze zu schützen, aber da war keine Grenze. Nun
waren wir die Grenze, wir hielten die Wege offen; wir
waren Einsatz im Spiel, da wir die Chance witterten,
und dieser Boden war das Feld, auf das wir gesetzt.
Die Balten, die drüben hinter jener vorspringenden
Waldecke an der Straße massiert lagerten und auf das
Signal zum Angriff warteten, fragten nicht nach dem
Sinn ihres Einsatzes. Ihnen war der Kampf, zu dem sie
sich gesammelt, geweiht, war ihnen das einzige Gebot
der Stunde. Sie drängten erbittert, Riga zu nehmen;
denn dies war ihre Stadt, und dort in der Zitadelle
waren die baltischen Geiseln, denen ein ähnliches
Schicksal drohte wie den Geiseln Mitaus. Leutnant Kay
hatte mich mitgenommen zu baltischen Familien, die
uns von der Bolschewistenzeit in Mitau berichten
konnten. Und da war nicht eine Familie, von der nicht
mindestens ein Mitglied verschleppt, gemartert oder
hingerichtet wurde, und viele Familien waren mitsamt
den Dienstleuten ermordet worden, und von vielen
lebten nur manche Frauen noch, und von den Frauen
nur die älteren. Es war aber so gewesen, daß es genügte,
auf der Straße deutsch zu sprechen, um erschlagen zu
werden, und daß das Wort «deutsch» als
ungeheuerlichstes Schimpfwort galt und der Deutsche
als die verhaßteste Ausgeburt dieser Welt. Die
baltischen Mädchen aber, aus ihren Häusern
gerissen, galten in ihrer straffen, gepflegten Herbheit
als begehrte Beute, und die bolschewistischen
Unmenschen hatten ihre Lust, sie zu schänden und
ihren edlen Willen in toller Brunst zu brechen, bis
sie, von ganzen Horden gefoltert, nackt und
zerrissen im Kot der Straßen lagen oder im Hofe
des Gefängnisses, indes über ihren Leichen die
baltischen Männer zusammengeschossen wurden.
Als die baltische Landeswehr, ohne Befehl,
gepeitscht vom wahnsinnigen Aufschrei ihres Blutes,
den letzten Stoß nach Mitau wagte, von Tückum her
im Sturm die Stadt anfiel, da wurden die Geiseln in
die Höfe ihrer Kerker getrieben, und in die
dichtgedrängte Masse der gepferchten Leiber flogen
gebündelte Handgranaten, zuckte aus der Mündung
schnell gerichteter Gewehre Schuß auf Schuß, daß
die geballten Körper immer wieder in die Höhe
schnellten und schließlich nichts von ihnen übrig-
blieb als ein einziger blutiger, formloser Brei.
Andere Geiseln aber wurden von roten Reitern an
die Gäule gebunden und mit Kantschuhieben aus
der Stadt nach Riga geschleift. An der Straße bis zur
Eckau konnte die Landeswehr noch viele Leichen
ihres Stammes zählen. Das Grab der Herzöge von
Kurland war erbrochen, die Mumien, mit deutschen
Stahlhelmen auf den Köpfen, standen aufrecht an
den Wänden, durchsiebt von sinnlos hingeknallten
Schüssen. Es waren lettische rote Regimenter, die so
in Mitau Rache an ihren früheren Herren nahmen.
Was uns aber aus dem geruhigen Mittelpunkte
des kreisenden Deutschlands Weimar nun an die
Peripherie geschleudert hatte, in dieses Land, in dem
wir nun schon sechs glühende Wochen im Gefechte
standen, das dünkte uns nur schwach erklärt durch
jene nüchternen Versprechen, die zum Schall der
Werbetrommeln uns geboten wurden. Als in den
Tagen der Revolte die Front der deutschen achten
Armee in den Ostseeländern zusammenkrachte,
plündernd, zuchtlos, aufgelöst auf allen Wegen der
Heimat zuströmte, drang prahlend und im
mächtigen Rausch eines wilden Überlegenheits-
glaubens die Rote Armee, in der sich die Elemente
eines neuen nationalen und sozialen Stolzes mit
asiatischer Willkür seltsam mischten, in das
preisgegebene Land. Riga fiel und Mitau, und bis
zur Windau strichen die zerlumpten, siegessicheren
Partisanengruppen. Da sammelten sich die Balten
und boten den ersten Widerstand. Und zu ihnen
stießen schwache deutsche Grenzschutztrupps. Die
lettische Regierung Ulmanis, geflohen von Riga
nach Libau, aber versprach den deutschen
Freiwilligen Land zur Siedlung, achtzig Morgen
Land und gewichtige Kredite und erhöhten Sold,
wenn sie das Land zurückeroberten. Die deutschen
Truppen hatten Auftrag, Ostpreußen und mit dieser
Provinz des deutschen Ostens Grenzen zu schützen.
Der deutsche Führer, General Graf Rüdiger von der
Goltz, glaubte, den Befehl nur durch die Offensive
er füllen zu können. Und der Feldzug begann in
Schnee und Eis, indes die ersten Frühlingsstürme
durch die Wälder heulten, mit wilden und
verwegenen Patrouillenritten, mit kurzen, jauch-
zenden Stößen, mit Überfall und Gewaltmarsch.
Mitau wurde befreit. An der Eckau bildete sich die
neue Front. Riga, die baltische Stadt, lag wild
ersehnt hinter den dunklen Wäldern. Aus ihr drang
wirre Botschaft bis zur deutschen Front, hervor-
gekeucht aus den erschöpften Lungen baltischer
Flüchtlinge, aufgefangen vom sowjetischen Funks-
pruch, gewaltsam erpreßt von gefangenen Rot-
gardisten. Aber die deutsche Regierung, fürchtend
die Drohung der Entente, verbot den deutschen
Truppen, die Stadt zu befreien.
Das Wort «Vormarsch» hatte für uns, die wir
nach dem Baltikum zogen, einen geheimnisvollen,
beglückend gefährlichen Sinn. Im Angriff erhofften
wir die letzte, befreiende Steigerung der Kräfte,
ersehnten wir, das Bewußtsein zu bestätigen, jedem
Schicksal gewachsen zu sein, hofften wir, die
wahren Werte der Welt in uns zu erfahren. Wir
marschierten, von anderen Zuversichten genährt, als
sie der Heimat gültig sein konnten. Wir glaubten an
die Augenblicke, in denen sich die Vielgestalt eines
Lebens ballt, das Glück einer Entscheidung.
«Vormarsch»: das hieß für uns nicht ein Marsch auf
ein militärisches Ziel, um einen Punkt auf der
Landkarte, eine Linie im Gelände zu erobern, das
hieß vielmehr den Sinn einer harten Gemeinsamkeit
erfahren, das hieß die Zeugung einer neuen
Spannung, die den Krieger auf eine höhere Ebene
stößt, das hieß die Lösung aller Bindungen an eine
versinkende, verrottete Welt, mit der der echte
Krieger keine Gemeinsamkeit mehr haben konnte.
Der Aufbruch der deutschen Bataillon im Baltikum
glich dem Aufbruch eines neuen Völkerstammes.
Jede Kompanie führte ihr eigenes Feldzeichen mit
sieh und focht ihr eigenes Gefecht. Das Feldzeichen
der Kompanie Hamburg war die Flagge der
deutschen Hansestadt. Aber über der Flagge wehte
noch ein schwarzer Wimpel, und als ich einen der
Hamburger fragte, ob dies ein Zeichen der Trauer sei
— und ich war selbst verlegen ob dieser Frage —, da
pfiff der die ersten Takte des Seeräuberliedes. Nein,
keine Trauer also, den schwarzen Wimpel hatte schon
Klaus Störtebeker am Maste der «Bunten Kuh»
geführt, und er wehte einstens über den Kriegs-
koggen der Vitalienbrüder. So hatte also die Flagge
der Hamburger im Baltikum ihren besonderen Sinn,
und sie flatterte an jedem Panjewagen der Kompanie
und auch an der Feldküche, ja, bei manchen Gefechten
— das war möglich im Baltikum, da war alles möglich
— bei manchen Gefechten wurde sie vorangetragen,
und sie leuchtete blutigrot mit ihren schmalen
weißen Türmen und dem düsteren Strich darüber. So
konnte es wohl vorkommen — und es war gewiß ein
gut Teil Absicht der Hamburger dabei —, daß die
Bolschewiken zauderten zu schießen, ungewiß, ob es
nicht rote Truppen seien, die da anrückten, und es
konnte auch vorkommen, daß die Balten auf die
Hamburger schössen — denn die Balten konnten
kein Rot sehen, ohne gleich zu schießen —, dann aber
brauchten die Hamburger nur «Hummel, Hummel»
zu rufen, und das Geballer hörte auf; denn die
Hamburger waren bekannt in ganz Kurland und ihr
Schlachtruf auch.
Sie waren so bekannt, daß die Juden und Krämer
ihre Läden bedachtsam schlössen, wenn die Ham-
burger zu kurzer Ruhe in Mitau einrückten, ihr
traditionelles Lied singend, das Seeräuberlied, oder
irgendeine Unflätigkeit. Die Soldaten der anderen
Truppenteile traten dann auf die Straße hinaus und
sahen sich die Hamburger an, kopfschüttelnd zumeist,
denn diese marschierten nicht etwa, wie es sich
gehört, beileibe nicht, sie kamen daher, rechts und
links der Straße in je einer langen Reihe, und trugen
das Gewehr, wie es ihnen bequem war, und
schritten, braungebrannt und mit offenen Röcken
und Knüppeln in den Händen. Die Haare und die
Barte hatten sie sich lang wachsen lassen, und sie
grüßten nur Offiziere, die ihnen bekannt und genehm
waren. Es war eine große Ehre für einen Offizier,
von den Hamburgern gegrüßt zu werden. Denn diese
verdrehte Formation stand unter keinem der gültigen
militärischen Gesetze, kein Zwang hatte sie gebildet
und keinen Zwang erkannte sie an. Der Wille des
Führers allein galt, und dieser wiederum war
gewachsen aus jener motorischen Kraft, die alle, die
sich um das Feldzeichen scharten, zueinander finden
ließ. Es war gefährlich, auch nur einem von ihnen
auf die Zehe zu treten: der Unvorsichtige hatte
sofort die ganze Rotte auf dem Hals. Die Beute
gehörte allen, wie allen das Wagnis gemeinsam war.
Und wo sich die Hamburger mit den Bolschewiken
trafen —, und sie trafen sich oft genug, denn wo ein
Befehl die Fronten in Starre band, da machten die
Hamburger für sich alleine Krieg —, hatten sie
voreinander den gleichen, tödlich-freundlichen
Respekt. Es konnte wohl vorkommen, daß einer aus
der Schar gegen die eisernen Gesetze des Clans
verstieß, dann trat die Kompanie zu kurzem
Feldgericht zusammen, und nachdem der Meuterer
begraben war, zogen die Hamburger weiter, das
Seeräuberlied singend und in wütender Verachtung
jeden Aktenkrams.
Die Kompanie Hamburg war früher ein Bataillon
gewesen. Aber schon in den ersten Gefechten des
verwegenen Vormarsches von der Windau bis Mitau
wurde das Bataillon so zusammengeschossen, daß
Leutnant Wuth, der Führer, froh sein konnte, einen
Bestand zu wahren, der wenigstens noch knapp eine
Kompanie darstellte. Der Stamm der Hamburger
bestand aus Niedersachsen der früheren Hansa-
Infanterie-Regimenter, die Leutnant Wuth schon
während des Rückmarsches um sich gesammelt und
durch das verwirrte Deutschland an die ost-
preußische Grenze und dann nach dem Baltikum
geführt hatte.
Leutnant Wuth, ein großer, brauner, eckiger Mann
— ein Eberzahn stach ihm aus dem Munde, den er an
borstigen Haaren seines Bärtchens zu wetzen pflegte
—, vertauschte vor jedem Gefecht seine Feldmütze
mit einem Samtbarett, wie es die Urpachanten und
die Wandervögel tragen. Denn schon in den
gleißenden Vorkriegstagen fand dieser hagere Mann
die einzig ihm gemäße Form in den Reihen jener
Jugend, die in der lauen Luft erstarrter Forderungen
nicht atmen konnte, vom Durchbrach träumte und
vom Sturm, der in die dumpfen Räume fahren sollte.
Und wenn es nun bei den Hamburgern irgend etwas
gab, das Disziplin zu nennen war, dann kam es aus
der Witterung für dieses Mannes Wesen und sein
Glück.
So stellten die Hamburger, zu denen ich mich
gesellte, eine besondere Klasse von Kriegern dar
inmitten der Heerhaufen des Baltikumkrieges.
Da gab es viele Kompanien im Baltikum,
geordnete Formationen unter sicheren Führern,
geworben und marschierend nach zwingendem
Befehl. Da gab es Haufen unruhgepeitschter
Abenteurer, die den Krieg suchten und mit ihm die
Beute und das Losgelassensein. Da gab es
patriotische Korps, die den Niederbruch der Heimat
nicht verwinden konnten und die Grenze wahren
wollten vor der brandenden roten Flut. Und es gab
die Baltische Landeswehr, formiert aus den Herren
dieses Landes, die ihre siebenhundertjährige
Tradition, die ihre überlegene, kräftige Filigran-
kultur, die das östlichste Bollwerk deutschen
Herrentumes um jeden Preis zu retten entschlossen
waren, und es gab deutsche Bataillone, gebildet aus
bäuerliche Menschen, die siedeln wollten, die nach
Land hungerten, die den Boden rochen und nach den
Kräften tasteten, die dieser herbe Boden ihnen bot.
Truppenteile, die für die Ordnune kämüfen wollten,
aab es keine. Und die Vielzahl der Parolen gab ihnen
die Sicherheit, ihnen allen war ein Quentlein
zugeacht, ein Quentlein Lohn und Hoffnung und ein
lockendes Ziel.
Aus der Masse aber, welche die zusammen-
gekrachte Westfront nach dem Osten schwemmte,
sonderten sich die Gleichen ab. Wir fanden uns wie
auf ein geheimes Zeichen hin. Wir fanden uns fernab
der Welt der bürgerlichen Normen, keines Lohnes,
keines Zieles bewußt. Uns war mehr zerbrochen als
die Werte, die wir alle in der Hand gehalten. Uns
brach die Kruste auch, die uns gefangenhielt. Die
Bindung brach, wir waren frei. Und riß uns auch
das Blut, aufzischend plötzlich, in Rausch und
Abenteuer, trieb uns das Blut in Weite und Gefahr,
es trieb auch zueinander, was sich als zutiefst
verwandt erkannte. Ein Bund von Kriegern waren
wir, durchtränkt mit aller Leidenschaft der Welt, toll
im Begehren, jauchzend im Nein und Ja.
Was wir wollten, wußten wir nicht, und was wir
wußten, wollten wir nicht. Krieg und Abenteuer,
Aufruhr und Zerstörung und ein unbekannter,
quälender, aus allen Winkeln unserer Herzen
peitschender Drang! Aufstoßen ein Tor durch die
umklammernde Mauer der Welt, marschieren über
glühende Felder, stampfen über Schutt und stiebende
Asche, jagen durch wirren Wald, über wehende
Heide, sich hineinfressen, stoßen, siegen nach Osten,
in das weiße, heiße, dunkle, kalte Land, das sich
zwischen uns und Asien spannte — wollten wir das?
Ich weiß nicht, ob wir es wollten, wir taten es.
Und die Frage nach dem Warum verblaßte unter
den Schatten immerwährender Gefechte.
Noch immer gloste der Himmel über Tetelminde.
Das Gewirr der Äste zeichnete sich dunkel ab. Ahnte
der Bolschewik wirklich nichts? Schon die ganzen
letzten Tage war Unruhe an der deutschen Front.
Gerade wollten die Formationen auf eigene Faust
losbrechen, den Sturm auf Riga wagen, als die
deutsche Regierung verschmitzt dem Oberkomman-
dierenden auf dessen Drängen hin hatte mitteilen
lassen, sie könne es nicht hindern, wenn die Baltische
Landeswehr Riga erobere, die deutschen Truppen
dürften dann die eigenen Linien sichern.
Am Abend, als der Befehl zum Vormarsch
verlesen wurde, ging es durch die Mannschaft wie ein
Ruck. Und indes die Haufen auseinanderspritzten, um
zu packen und zu rüsten, flammten auch schon an
allen Enden die verlassenen Häuser hoch. Die
Offiziere rannten fluchend hin und her, doch aus
immer mehr Dächern prasselten die roten Zungen,
beleuchteten den starren Waldrand, färbten den
dunklen Himmel weithin mit gespenstischem
Schein. Ganz Tetelminde brannte, eine grandiose
Fackel, angesteckt vom Urtrieb der Besessenen, in
denen plötzlich wieder die erste Lust des Menschen,
die Vernichtung, pochte und nach ihren Rechten
schrie.
Das Zifferblatt der Armbanduhr leuchtet. Gleich halb
zwei. Ich sehe zu Leutnant Wuth hinüber, der unweit
hinter einem Baume steht und durch das Glas nach
vorne stiert. Nun macht er eine Bewegung. Er bückt
sich halb und führt eine Leuchtpatrone in den Lauf
der Pistole ein. Er schiebt den Lauf zurecht, es
knackt.
Drüben im Gehöft kräht ein Hahn. Es ist, als ob die
ganze Front den Atem anhält. Ein Rauschen geht
durch den Wald. Unzählige linke Beine ziehen sich
zum Leib. Im Osten beginnt es zu dämmern. Auf
einmal hebt Leutnant Wuth den Arm und jagt das
Signal hoch in die Luft.
Die Front brüllt auf. Ich reiße mich herum und
drücke auf den Hebel. Schon höre ich das Rattern des
Gewehrs nicht mehr. Der Panzerzug ist da und greift
mit blitzenden Armen nach vorn. Alle Rohre speien,
und da liegt Mann an Mann, Geschütz an Geschütz,
MG an MG. Alles versinkt in wahnsinnigem Getöse.
Der Dampf zieht in dicken Schwaden durch das
Gebüsch und bleibt mit flatternden Fetzen an den
zerwirrten Ästen hängen. Drüben verschluckt eine
Staubwand das Gehöft. Ich halte zitternd den Hebel
fest. Der Gurt ist durch. Ich reiße mechanisch den
Hebel hoch und schlage die Kurbel vor. Mein Blick
tanzt über das Visier nach Ungewissem Ziel. Da
stehen starre, schwarze Bäume im Feld und sinken
wieder zusammen und stehen an anderer Stelle wieder
auf.
Ich sehe Hoffmann, er hängt mit halbem Leib über
seiner Knarre. Er drückt mit einer Hand den
Abzugshebel und brüllt sich seine Lust, weit
vorgebeugt, mit krallen Augen aus dem Herzen. Der
ganze Waldrand ist nun eine straffgespartnte Schnur
berauschter Leiber. Wir feuern, was nur immer aus
den Läufen will. Das Feld vor uns wird glattrasiert, es
ist, als zuckte alle Wirre, alle langgehemmte Wut aus
den Fingerspitzen und wandelte sich zu Metall und
Flamme. Heraus damit, heraus mit Feuer, Eisen,
Dampf und Schrei. Es geht erlösend durch den Wald,
der Donner unsagbarer Lüste schmeißt das Feld vor
uns zu Scherben.
Im fahlen Grau des Morgens, unter den ziehenden,
milchigen Fahnen des Nebels, tauchen breite braune
Erdflecken auf. Dort halte ich die spritzende Mündung
hin.
Die Pioniere schmeißen Bretter übers Wasser; der
Panzerzug rückt keuchend vor. Der Waldrand wird
lebendig, aus allen Büschen wimmelt es nach vorn.
Unwillig plätschert die Eckau, Ringe werfend, wie
die Hamburger ins flache Wasser springen, mit
hocherhobenen Gewehren waten, flink den Uferrand
erklettern.
Kaum sind wir über den schmalen Fluß, zischt uns
verdrossen von jenen Erdaufbauten Feuer um die
Beine. Wir, in den Ohren das Gedröhn der
Feuerwelle, erregt den feuchten Dunst der Pulvergase
atmend, stoßen vor. Schwerfällig erst, dann immer
schneller, taumeln, springen wir über dampfgefüllte
Trichter, stolpern über Ackerfurchen, und die
Beschleunigung des Schrittes reißt uns zwingend in
das Sprühen, steigert mit dem Lauf die hemmungs-
lose Erbitterung, läßt uns den Widerstand als dreisten
Hohn erscheinen, den in toller Hatz zu brechen einzig
Ziel des Augenblickes ist.
Die Hamburger sind schon heran. Ich sehe, wie am
Graben die Bälle der Handgranaten fliegen, wie sich
Gestalten von der Erde lösen und nach hinten eilen.
Ich reiße den Karabiner herunter und schieße lau-
fend einen Rahmen leer. Die zuckenden Bänder des
Stacheldrahtes zerren an meinen Beinen. Daß in
diesem Augenblick der Schütze drei mit Kopfschuß
fällt, das ungefüge Gewehr auf sich stürzen lassend,
empfinde ich mit springender Wut als einen mir
persönlich angetanen Akt der Rache. «Laß liegen»,
schreie ich dem Schützen zwei zu, der sofort die
Sporen des Schlittens fahren läßt, so daß die Knarre
polternd niedersaust. Wir springen in den Graben.
Quer liegt auf der Sohle ein unförmiger brauner
Körper, ich trete auf eine ausgestreckte Hand, ich
breche in eine holzverschalte Höhle, Stöhnen schlägt
mir entgegen, erdfahle, dumpfe Gesichter mit wirrem
Haar liegen eingebettet in glitschigem Lehm,
halbaufgerichtet hockt unter den Toten einer, der mir
den blutenden Arm entgegenstreckt. Ich muß weiter;
hinter der Brustwehr krachen dumpf die Detona-
tionen der Handgranaten. Ich laufe wie im Rausch.
Der Graben öffnet sich. Drei, vier Hamburger
schlüpfen aus qualmenden Unterständen. Wir klettern
über quergestürzte spanische Reiter, tauchen aus den
Sappen auf, gelangen in dürftiges Unterholz, das sich
zwischen Birken breitet. Ein MG tackt aus nahem
Busch. Die Hamburger brechen durch die Zweige.
Eine Lichtung tut sich auf, und plötzlich, unwirklich,
stehen zehn, zwölf erdbraune, zerlumpte Gestalten
vor uns, werfen klirrend die Gewehre weg, stoßen
die Arme hoch und kommen zögernd auf uns zu.
Aber die Hamburger, mit vorgestreckten Gewehren,
springen an, sie knallen blindlings in die Gruppe,
kaum verweilend. Die Gruppe steht, es lösen sich aus
ihr ein paar Gestalten, sinken in die Knie, fallen, einer
bricht zusammen mit hohem, langgezogenem Schrei.
Murawski, Schütze zwei, springt vor, sein Kolben
saust in steilem Bogen, da reiße ich den Karabiner
hoch und schieße auch. Ich fahre durch die letzten
Stehenden der Gruppe, knacke durch das Unterholz,
dem Schall des tackenden Maschinengewehrs
entgegen.
Mitten im Forst, geschmiegt an eine schmale
Lichtung, duckt sich ein Gesinde. Von dort her
kommt das Feuer. Wir hasten durch den Wald, von
keinem anderen Drang erfüllt, als die Gelüste
unseres Blutes zu stillen in blitzschnellem Ansprung
auf das besetzte Haus. Neben mir keucht Hoffmann
mit seinem Gewehr. Das Rad des Minenwerfers
knarrt auf einem Waldwege. Murawski läuft zurück,
unser Gewehr zu holen. Wir raffen durch den
Hummelruf zusammen, was an Hamburgern in der
Nähe ist. Am Waldrand werfen wir uns hin. Eine
Gruppe setzt von der Flanke aus zum Sturme an.
Wütend haut das MG-Feuer vom Gehöft in ihren
ersten Sprung. Doch indes sie zum zweiten Sprung
rüsten, indes der Gurt durch das Gewehr Hoffmanns
rattert, verläßt auch schon die erste Mine grell den
kurzen Lauf. Bevor die hochgespritzten Balken und
Sparren wieder zur Erde kommen, wachsen drei, vier
Tulpen vorm Haus, schwarze Ballen, die den
wahnsinnigen Krach durch den hallenden Wald
senden. Da sehe ich schon die dunklen Punkte der
Hamburger um das Gesinde wuseln. Wir lassen das
Gewehr im Stich und rennen los.
Der helle Tag ist da. Schon sind wir an den ersten
Zäunen, da kommt einer aus dem Hofe gelaufen. «Wir
haben Gefangene!» schreit er, und er schreit: «Dort
im Gebüsch soll Kleinschroth liegen!»
Kleinschroth war vor zwei Tagen von einer
Patrouille nicht zurückgekehrt. Ich renne auf die
Sträucher zu, da knackt Hoffmann durch die Büsche,
und da liegt Kleinschroth.
Ist das Kleinschroth? Dies blutrote Bündel da?
Wie, das war ein Mensch? Auf braunem Boden ein
Gemisch von Erdbrocken, Blut, Knochen, Därmen,
Kleiderfetzen. Der Kopf allein, abgeschnitten, daß
der Schlund gen Himmel ragt; ein dünner Faden Blut,
aus dem Mund zum Kinn, getrocknet; die Augen
offen, so daß nur das Weiße starrt, so liegt der Kopf.
Und der Boden rund um den armen Leib zerstampft,
zertrampelt, aufgewühlt — und weiß und körnig
kleine, fast verwehte Häufchen zwischen Blut und
Schleim — was ist das? Salz!
«Gefangene, sagst du?» frage ich den Mann,
«Gefangene?» Hoffmann ist schon fort. Ich rase auf
das Haus zu. Da sind Gefangene, und einer hat eine
blaue deutsche Husarenuniform und eine rote Schärpe
um den Leib. — «Was, Deutsche?» Hoffmann
schnellt auf diesen zu, «was, Deutsche?» röchelt er
und springt ihn an und hämmert ihm die Faust ins
Antlitz. Der aber fährt zurück, er taumelt, rafft sich
hoch. Jetzt schlägt er wieder, denke ich; da ist's, als
risse ihn Unnennbares zusammen, die Backen-
muskeln straffen sich und er wird bleich, so bleich,
wie ich noch niemals einen Menschen sah. Zwei
Leute klammern sich an Hoffmann, der rasend an den
Mann zu kommen strebt und sein «Was, Deutsche?»
zischt. — «Ja», sagt auf einmal der Gefangene und
preßt die Worte durch die Zähne, «ja, ich bin
Deutscher», sagt er, und es liegt ein unmeßbarer Haß
in diesem seinem Wort, «wir sind sehr viele
Deutsche drüben», keucht er, und er brüllt auf
einmal los: «Wir werden niemals ruhn, bis dies
verfluchte Deutschland ausgerottet ist» ...
Es sind im ganzen acht Gefangene, davon sind drei
Letten, zwei Tschechen, einer Pole, einer Wolgarusse,
einer Ukrainer und dann der Deutsche. Der Deutsche
ist aber Kriegsgefangener gewesen, in Sibirien, hatte
sich den roten Truppen eingefügt und gehört nun zum
Regiment Liebknecht, das zumeist aus deutschen und
österreich-ungarischen Kriegsgefangenen zusammen-
gesetzt ist. Er stammt aus der Provinz Sachsen und
war früher Monteur. Nein, sagt er im kurzen Verhör,
Angehörige habe er keine in Deutschland. Ja, er sei
Kommunist. Er hatte den Befehl über die Besatzung
des gestürmten Gesindes. Kleinschroth sei angeschos-
sen in ihre Hände gefallen und auf seine Anordnung
getötet worden. Was nun mit ihm geschehe, sei ihm
gleichgültig.
Hoffmann schaufelt schon in wütender Hast an
Kleinschroths Grab. Die Gefangenen werden an die
Mauer der Scheune geführt. Sie treten ruhig vor die
Gewehre. Die Letten und die Tschechen gehen fast
eilfertig an ihren Platz, sie sehen starr, finster und
gequält in die Mündungen. Der Russe und der
Ukrainer, beides Bauern mit völlig zerfetzten
Uniformen und verwilderten blonden Bärten,
nehmen die Mütze ab, als wollten sie sich
bekreuzigen. Sie lassen es aber. Der Pole zittert und
fängt leise an zu weinen. Der Deutsche schiebt sich
gleichgültig hin.
Leutnant Kay, der sich beim Sturm zum Gehöft
gefunden hatte, dreht sich plötzlich um und geht
davon. Ich sehe zu Hoffmann hin, der an
Kleinschroths Grab schaufelt. Ich zaudere, ob ich zu
ihm gehen soll. Da kracht die Salve.
Dann marschieren wir weiter. Wir kommen, durch
den breiten, dichten Waldgürtel stoßend, an die
Straße, wo wir uns sammeln. Dort drängen sich
schon die Kolonnen. Die breite Straße ist überfüllt
mit Truppen und Fahrzeugen, die alle nach vorn
streben. Wir gliedern uns ein und marschieren mit.
Dicht vor Thorensberg erfahren wir, daß Riga gefallen
ist.
Auf der Straße war die Abteilung v. Medem der
baltischen Landeswehr, mit dem baltischen
Stoßtrupp, Führer Leutnant Baron Hans v.
Manteuffel, und der deutschen Sturmbatterie, Führer
Leutnant Albert Leo Schlageter, im ersten Anhieb
durchgebrochen. In wahnsinnigem Tempo war die
Abteilung vormarschiert, kümmerte sich nicht um die
wirren, verlorenen Haufen der Bolschewiken rechts
und links der Straße, sauste im Karracho vorbei an
besetzten und befestigten Stellungen, überrannte die
Barrikaden, stürmte schnurgerade auf Riga zu. Hinter
der Abteilung schlug das Gefecht wieder zusammen,
aber die nachdrängenden deutschen Bataillone
zerschmetterten mit kurzen Stößen das brechende
Gefüge der roten Front. Die Balten hetzten indes
durch überraschte Massen, unbeirrt, unbezähmbar,
polterten durch die ersten Straßen der Rigaer Vorstadt
Thorensberg, jagten verbissen, mit röchelnden
Lungen und dreck-, schweiß- und blutbekrusteten Ge-
sichtern durch die Stadt, stießen zur Brücke vor,
brachen den kurzen Widerstand mit schnell
gewendeten Geschützen, besetzten den Brückenkopf,
hielten wütendem Gegensturm stand, sandten eine
Kolonne über die träge Düna nach Riga hinein,
hielten die einzige Brücke fest in der Hand. Der
Stoßtrupp erstickte aufflackernde Gegenwehr in Riga
mit rasendem Ingrimm, knallte sich durch die
brodelnde Stadt bis zur Zitadelle und kam fiebernd,
heulend, mit letzter, angespannter Kraft eben zurecht,
um die schon in die Todeskeller gepferchten Geiseln
zu befreien. Am 22. Mai 1919, des Nachmittags um
vier Uhr, war Riga in deutscher Hand. Leutnant v.
Manteuffel, der baltische Nationalheld, fiel vor der
Brücke durch Kopfschuß im Augenblick seines
höchsten Triumphes.
Dies erfuhren wir auf der Straße. Wir erfuhren dies
und noch mehr. Denn während wir über Rigas Fall
uns irre Worte der Freude in die Ohren schreien,
flattern dumpfe Gerüchte über bitterbösen Kampf im
Südosten, bei Bauske. Dort sollte Hauptmann v.
Brandis mit seinem Korps den rechten, ungedeckten
Flügel der deutschen Front nach vorne tragen. Aber
gerade dort hatte der Bolschewik für diesen Tag seine
Offensive angesetzt. Bei Bauske wollte die Rote
Armee durchstoßen bis zur Bahn Mitau-Schaulen, der
Lebensader der deutschen Front. Dort traten die roten
Regimenter an zum Sturm und stießen mitten hinein
in den deutschen Aufmarsch. Brandis und seine Leute
lagen vor Bauske auf freiem, ungedecktem Feld, und an
der dünnen Linie brandeten unaufhörlich die Sturm-
wellen der Roten Armee.
An den ersten Häusern der Vorstadt Thorensberg
erreicht uns der Befehl. Wir werden aus dem Angriff
herausgenommen und nach Südosten abgedreht. Unser
Bataillon sollte über Bad Baidon, Neuguth vorstoßen bis
Friedrichstadt und den Bolschewisten an der Flanke
packen, um Brandis Luft zu schaffen.
In aller Frühe weckte mich Leutnant Wuth. Eine
Patrouille solle nach Neuguth vorfühlen, eine Gruppe
Hamburger und mein Gewehr. Die Kompanie rückte auf
Panjewagen, die noch in der Nacht requiriert wurden,
sogleich nach. Es war drei Uhr morgens und schon
taghell, als wir auf den Hof traten und die drei
Panjewagen bestiegen, die dort standen. Die Gruppe der
Hamburger fuhr voraus. Ich mußte noch die Munition
verpacken und trabte dann hinterher. Am
Aussichtsturm von Bad Baidon rief mir einer herunter,
Neuguth sei wahrscheinlich schon geräumt. Man könne
oben vom Turm aus die Ortschaft mit ihrer
zerschossenen Kirche deutlich sehen.
Wir hockten ein bißchen stumpfsinnig und nachlässig,
ohne Koppel, auf unseren Karren. Der Panjegaul
stockerte lustig unter seinem hohen Kumt voran. Die
kleinen waldbestandenen Hügel von Bad Baldon lagen
frisch und anmutig im erwachenden Tag. Es war doch
schön so, in den Morgen hineinzufahren, in diese
wundervolle, friedliche Landschaft. Die Spannung der
Vormarschtage hatte sich wohltuend gelöst. Alles war
sehr selbstverständlich. Hinter mir, auf der Rückseite des
Karrens, unterhielten sich Bestmann und Gohlke, zwei
Mann meines Gewehrs, gedämpft und einschläfernd über
den Krieg. Beide waren alte Soldaten, hatten den ganzen
Krieg über im Westen gestanden. Bekannte Namen
flogen wie von weither an mein verschlafenes Ohr. Von
Douaumont sprach einer — richtig, Hauptmann v.
Brandis, der jetzt dort hinten mit seinem Korps einsam
im Gefecht lag und von dem die Sage ging, man sähe
ihn nur in zweierlei Zuständen, entweder kämpfend oder
besoffen —, der war ja einer der bekannten Stürmer von
Douaumont gewesen. Ich schloß die Augen und ließ
wohlig die monotonen Reden an mein Ohr plätschern.
Alle die Namen, die da fielen wie plumpe Steine in einen
trägen See, Flandern und Verdun, Somme und Chemin
des Dames, alle diese furchtbaren, blut- und
eisenhaltigen Namen, nun gleichmütig ausgesprochen
von Männern, die mit ihnen ein Erleben verbanden, von
dem ich mir nur eine ferne, matte Vorstellung bilden
konnte, alle diese Namen standen nun beinahe losgelöst
von jeder Wirklichkeit in dieser sonnenüberströmten,
gedämpft flimmernden Landschaft und ließen so das
Bild einer tiefen, gesättigten Ruhe desto eindringlicher
erscheinen. Bestmann und Gohlke plauderten, wie um
sich dunkle Schatten von der Seele zu streichen,
wurden aber nach und nach immer einsilbiger, und
schließlich sagte Gohlke mit einem kleinen Seufzer
abschließend: «Dies hier, das ist ja gar kein Krieg.»
Sie schwiegen eine Weile. Eine Lerche stieg aus dem
Feld. Über einem sanften Hügelrücken war gerade
noch die Kuppe des Neuguther Kirchturmes zu sehen.
«Wenn hier kein Krieg ist, warum seid ihr dann
hier?» fragte ich faul über die Schulter weg. «Ach,
das verstehst du nich», sagte Bestmann mit der
Überlegenheit des alten Soldaten, «das is hier doch
man ’n Übergang. Der Krieg is noch lange nich aus. Der
Krieg geht nie zu Ende. Wenigstens wir erleben's
nich.» — «Da hast du recht», betonte Gohlke, «bloß,
was sollen wir in Deutschland? Nee, da passen wir
nich mehr hin. Die denken, der Krieg war' aus. Ja,
Scheibe, solang wir verloren haben, is der Krieg nich
aus.» — «Das walte Gott», sagte Bestmann, «und jetzt
wer' ich noch 'n bißchen röcheln», und lehnte seinen
Kopf an einen Munitionskasten und schloß die Augen.
Der andere schwieg. Träge kreisten die Räder im
Sand.
Vor mir zuckelten die beiden anderen
Panjewägelchen. Nach einer langen Weile machten die
vorne halt. Unteroffizier Ebelt von den Hamburgern
kam zu mir heran und meinte, wir müßten jetzt wohl
runter von den Wagen und uns ranpirschen an
Neuguth. «Ach wo», knurrte ich, «da is doch nischt
los. Wir werden's schon merken, wenn wir Dunst
kriegen.» Ebelt lachte: «Also fahren wir weiter.» Wir
fuhren weiter, ein wenig aufmerksamer als bisher.
Nichts rührte sich in Neuguth.
Die ersten Häuser tauchten am Wege auf. Wir
trabten vergnügt drauflos. Einige Hühner flatterten
über den Zaun. «He, Panje», schrie Ebelt und knallte
mit der Peitsche. Aus der Tür des ersten Hauses kam
ein verstrubbelter Bauer und verschwand sofort
wieder, als er uns sah. Ebelt lachte und wir fuhren
weiter. Bald waren wir in der Ortschaft. Kein Mensch
war zu sehen. Doch, in einem der Häuser dicht am
Markt stand ein Mädchen am Fenster; Ebelt rief sie
an, und sie kam auch sogleich heraus. Es war ein sehr
hübsches Mädel, städtisch gekleidet, keine lettische
Bauerntrampel. Wir rissen alle die Augen auf. Und das
Mädel sprach deutsch! Herrgott, hatte sie eine
klingende Stimme! Nein, die Bolschewiken seien weg,
Gott sei Dank, gestern abend schon. Vielleicht hinten
bei den Vorwerken, da könnten noch einige sein. Sie
sei Flüchtling. Wohne beim Apotheker. Nein, sie ist
Russin, aber der Apotheker sei Balte. Die Roten
hätten schlimm gehaust im Ort. «Aber jetzt seid ihr
ja da», lachte sie. Ebelt grunzte befriedigt. Wir
wollten doch noch durch bis zum Vorwerk,
nachsehen. Dann kämen wir zurück. «Bis dahin also
—» Sie nickte und winkte uns nach, als wir
weitertrabten.
Wir sahen nur wenige Leute, Letten. Sie verstanden
uns nicht oder wollten uns nicht verstehen.
«Bolschewik nix», sagten sie.
Wir glaubten ihnen und fuhren zum Vorwerk. Auch
da waren keine Bolschewiken. Ebelt wollte nicht auf
dem gleichen Wege zurück. Er wollte erst durch die
Kastanienallee zur Kirche und da nach Rotgardisten
schnüffeln. Es müsse doch von dort noch ein Weg
zum Markte führen. Dicht an der Apotheke sei ja eine
schmale Straße abgegangen. Er solle nur zur Kirche
fahren, sagte ich hastig, ja, da müsse er wohl erst
noch hin. Ich würde an der Apotheke auf ihn warten.
Ebelt schien zu zaudern. Dann grinste er, nickte und
bog ab. Ich wendete den Karren und fuhr zurück.
Herrgott, die Welt ist wirklich schön.
Ich saß ganz vorne auf der Leiste des Karrens. Die
andern hockten tief drinnen und ließen gemütlich die
Beine baumeln. Da war schon die Apotheke in Sicht.
Ich knatterte über das dürftige Pflaster auf das Haus
zu.
Da schnitt ein Knall alle Fäden durch. Aus
unmittelbarer Nähe, dicht am Ohr riß es uns hoch. Der
Panjegaul stieg plötzlich, raste dann mit einem Satze
los. Ich flog vom Wagen, stolperte, fiel in den Dreck
und war umtanzt, umringt von zerlumpten
Rotgardisten, die ihre Gewehre schwangen und
stehend dem davonhetzenden Wagen Schüsse
nachpfefferten. Drei, vier stürzten sich auf mich,
prügelten mich hoch und zerrten mich fort. Ich war
gefangen.
Ich wußte kaum, was geschehen war. Einer hieb
mir mit einer Peitsche oder einem Stock quer übers
Gesicht und fragte mich was. Ich verstand ihn nicht,
ich verstand überhaupt nichts, es sauste mir nur durch
das Hirn: «Ich bin gefangen, das ist unmöglich, ich
bin gefangen.» Sie brüllten auf mich ein; ich wurde
hin- und hergezerrt, und auf einmal stand ich an einer
Mauer. Sie war weiß und die Sonne flimmerte auf ihr.
«Was soll ich an der Mauer?» dachte ich, ich
verstand gar nicht, was ich an der Mauer solle. Ich
drehte mich um und sah in die Mündungen der
Gewehre. Da wußte ich, was ich an der Mauer sollte.
Die Mündungen stehen vor mir, kleine runde,
schwarze Löcher. Es gibt nichts auf der Welt als diese
Mündungen. Ach, Unsinn. Es gibt nichts auf der Welt
außer mir. Die schwarzen Löcher aber werden größer,
immer größer, jetzt fangen sie an zu kreisen, werden
runde, schwarze Scheiben. Die Scheiben aber werden
rot, nein gelb, und weiß und blau und grün.Sie teilen
sich plötzlich und alles fängt an, sich langsam zu
drehen. Das hebt sich auf der einen Seite und
darunter ist nichts und dann schwenkt die ganze Welt
einfach um, mit einer einzigen großen, gütigen
Gebärde. Und ich bin entsetzlich einsam. Das ist so
kalt um mich. Ich bin wirklich ganz allein. Es ist ja
niemals etwas gewesen außer mir, ich müßte es ja
doch sehen, wenn irgend etwas außer mir jemals
gewesen wäre. Ich will doch die Augen aufmachen,
aber da merke ich, daß ich sie gar nicht zugemacht
habe. Bloß, mein Bauch ist eine gläserne Kugel.
Wenn daran getippt wird, dann ist Weltuntergang.
Dann muß der Bauch ja platzen, wie eine Seifenblase.
Und das ist unmöglich. Ich verstehe gar nicht, daß ich
je gelebt habe. Das war ja alles Unsinn. Sicher habe
ich mir das nur eingebildet, daß ich gelebt habe.
Leben ist Unsinn. Und Tod gibt es natürlich nicht.
Wenn es nur drinnen nicht so brüllend heiß wäre und
draußen so kalt. Irgendwo muß an mir Wasser sein.
Oder Eis. Ich weiß nicht. Es ist ja auch ganz gleich.
Eigentlich ist es ganz schön, zu wissen, daß man
ganz allein auf der Welt ist und daß es im Grunde gar
keine Welt gibt. Nun weiß ich auch, welche Farbe
alles hat. Lila. Einfach Lila. Es ist nur dumm, daß
man gar kein Glied bewegen kann. Ich glaube, ach
natürlich, ich habe ja auch gar keine Glieder. Das ist
jetzt zu Ende. Was ist zu Ende? Was?...
Das? ... Schüsse, Schüsse, Schüsse... Brausen in der
Luft.
Auf einmal stürzt der Strom in meine Adern, packt
mich, rüttelt, öffnet alle Poren.
Die Hamburger sind da — da ihre Fahne! Vor mir
liegt ein dunkles Häufchen, ein toter Bolschewik.
Und Ebelt streicht vorbei und sagt: «Da haste noch
mal Schwein gehabt!»
Ich lege mich ganz sanft zu Boden. Ein kleiner
Käfer, goldbraun, klettert eifrig über ulkige trockene
Krümel, verschwindet in einer Ritze der weißen
Mauer. Und eine kleine blaue Beere ist da. Blank ist
die runde Beere, und ich sehe in ihrem winzigen
Scheine die ganze Welt sich malen.
Wende
Vier Wochen lang marschierten wir ziellos hin und
her. Wir marschierten in der glühenden Junihitze
durch die weiten Wälder, über die würzigen Heiden,
auf den dunstigen Sümpfen dieses wunderlichen
Landes, badeten in der Aa, in der Eckau, in der
Düna, stießen von Friedrichstadt aus bis weit nach
Lettgallen hinein und von Bauske aus bis weit nach
Litauen. Wir befuhren mit den winzigen, immer
trabenden Panjewägelchen das ganze Land, besuchten
die dumpfen litauischen Dörfer, die einsamen
kurländischen Gesinde, die schlicht sauberen
baltischen Herrensitze, fragten und erzählten, suchten
und tasteten, aber jene versprengten Rotarmisten von
Neuguth, die mich vor ihren kalten Läufen hatten,
waren die letzten Bolschewiken, die wir sahen. Wir
erfuhren nicht, was aus der Roten Armee geworden
ist, wir erfuhren auch nicht, was indessen in
Deutschland vor sich ging, aber von dem, was sich
droben in Nordlivland und in Riga ereignete, davon
kamen verworrene Gerüchte bis zu uns, und es war
schwer genug, diesen Gerüchten zu glauben.
Nach Riga aber waren wir nicht gekommen. Als die
ersten Gerüchte von der unglücklichen Schlacht bei
Wenden zur Truppe kamen, waren die Hamburger fast
befriedigt darüber, daß den hochnäsigen Balten eins
auf das Dach gegeben wurde, und vernahmen mit
dem Stolze, der alten Kriegern so wohl ansteht, von
dem Befehl, der das Bataillon gegen Ende des Monats
Juni 1919 nach der neugebildeten Front am Jägelsee
berief.
Folgendes war vorgegangen: Durch den deutschen
Vorstoß nach Riga war Moskau gezwungen worden,
auch den gegen die weißgardistische Armee
Judenitsch am Peipus-See kämpfenden Flügel der
Roten Armee zurückzunehmen. Dadurch wurde die
estnische Armee, die im Verbände Judenitschs focht,
entlastet. Judenitsch und die Esten aber hatten die
Unterstützung der Engländer. Die Unterstützung der
Engländer hatte auch der frühere, durch einen Putsch
des Barons Manteuffel in Libau am 16. April 1919
abgesetzte lettische Ministerpräsident Ulmanis. Die
Deutschen und Balten und Pastor Needra, der
deutschfreundliche lettische Ministerpräsident, hatten
die Freundschaft der Engländer nicht. Nichts weniger
als das. Denn England hatte Interessen im Baltikum.
Und wo England Interessen hat, da legt es Wert auf
das Gleichgewicht der nicht englischen Kräfte. Durch
den deutschen Sieg war dies Gleichgewicht gestört.
Und Ulmanis verbündete sich mit den Esten gegen
die Regierung Needra, die von den Baltikumtruppen
gestützt wurde.
Ulmanis fand Hilfe bei dem lettischen Obersten
Semitan, der lettische Truppen in Nordlivland
kommandierte. Die Esten beschuldigten die lettische
Regierung Needra der Grenzverletzung beim Vor-
marsch der Balten auf Wenden zu. Und in Wenden
wurden kleine baltische Abteilungen von Esten und
Semitan-Letten entwaffnet. Die Landeswehr eilte
ihren Kameraden zu Hilfe, deutsche Bataillone
schlössen sich den Balten an. Ulmanis organisierte
eine estnisch-lettische Armee, und diese Armee hatte
englische Ausrüstung, hatte englische Waffen, eng-
lische Offiziere und englisches Geld. In der Bucht von
Riga kreuzten plötzlich englische Kriegsschiffe, und
englische Kommissionen saßen in Riga herum. Der
«Bürgerkrieg» war da.
Die Landeswehr und starke Teile der Eisernen
Division, das Badische Sturmbataillon und die
Abteilung Michael rückten auf Wenden zu. Sie
nahmen Wenden, der Gegner wich aus. Er wich hier
aus und dort, er war nirgends zu fassen, niemand
wußte, wie stark er war, wo er stand, wer er war. Und
auf einmal war Wenden eingezäunt. Auf einmal war
Artillerie da, links, rechts, vorn und hinten, auf
einmal krachte es zwischen sorglos ziehende deutsche
Kolonnen, auf einmal war das Badische Sturm-
bataillon umzingelt, überrascht und überfallen von
Truppen, die deutsche Stahlhelme trugen und deutsch
sprachen und aus Deutschland stammten und doch
keine Deutschen waren und auch keine Letten oder
Esten oder Engländer, sondern Soldaten des
Oberleutnants Goldfeld, der mit seiner Truppe im
Baltikum meuterte und dann zu den Letten übertrat.
Auf einmal war die Landeswehr angegriffen, stand in
tollem Kreuzfeuer auf offenem Feld, verlor ihre
Kolonnen, überstand mühsam eine Panik und mußte
zurück. An der Livländischen Aa, an den Seen vor den
Toren der Stadt Riga bildete sich die neue deutsche
Front, und an dieser Front wurden alle verfügbaren
Bataillone eingesetzt. —
Leutnant Wuth wetzte seinen Zahn und sagte:
«Herrschaften, mal herhören: Wir sollen jetzt an die
Jägelfront. Da ist dicke Luft. Der Este hat
angegriffen. Wie er dazu kommt, weiß ich nicht. Wie
kommt Spinat aufs Dach? Wahrscheinlich steckt der
Engländer dahinter. Jedenfalls, die deutsche Regierung
hat verboten — Maulhalten dahinten —, hat verboten,
daß deutsche Truppen Riga betreten. Darum sind wir
jetzt lettische Staatsbürger. Daher der Name
Bürgerkrieg. — Ebelt, quasseln Sie nicht dauernd
dazwischen; wenn Sie was zu melden haben, dann
melden Sie das in Berlin. — Also, wir sind jetzt laut
höherem Befehl lettische Staatsbürger. Fragen wird
euch wohl keiner danach. Beim Marsch durch Riga
müssen wir einen tadellosen Eindruck schinden.
Gerubelt wird nicht. Vielmehr bitte ich mir Disziplin
aus. Es werden nur hochanständige Lieder gesungen.
Mit Gruppen rechts schwenkt marsch. Ab dafür.»
Die Disziplin der Hamburger war untadelig. Sie
war nur von besonderer Art. Denn es geschah nichts
weiter, außer, daß sie auf ihrem Marsch durch die
spröde Stadt das schöne Lied sangen von dem
Seemann, der im Puff erwacht, wobei ich nur die
Hoffnung hegte, daß die baltischen Mädchen in hellen
Kleidern, die uns am Alexander-Boulevard zuwinkten,
den rauhen Text des Liedes nicht verstanden.
Am Aa-Übergang zwischen den Seen bezogen wir
eine notdürftig vorbereitete Stellung. Zurückflutende
Abteilungen riefen uns zu, die Esten drängten mit
allen Kräften nach. Wir gruben uns ein, besetzten
Wald und Uferrand und befestigten die zerschossene
Zuckerfabrik, so gut es in der Dunkelheit ging.
Am nächsten Morgen schon, in aller Frühe, waren
die Esten da. Ein leichter Regen fusselte. Ich lag in
meiner Mulde und hatte die Zeltbahn über mich
gedeckt. Bestmann hatte Wache. Wütendes Krachen
weckte mich. Ich fuhr hoch und steckte den Kopf über
die Deckung. Sofort spritzte MG-Feuer in den Sand.
Wir legten uns platt in die Mulde, und Bestmann
begann ruhig, sich tiefer einzugraben. Vier bösartig
krachende Einschläge dreißig Meter vor uns im
feuchten Wiesenhang zur Aa überschütteten uns mit
klatschenden Brocken und surrenden Splittern, ohne
vorherige Ankündigung durch das Gejaule der
Flugbahn. «Was ist denn das?» fragte ich. «Ratscher»,
sagte Bestmann lakonisch. Ich hob vorsichtig die
Augen über die Deckung. Schon schleuderte es mich
zurück. Hinter uns barst es viermal. Man hörte
Abschuß und Einschlag fast gleichzeitig. «Die nächste
Salve sitzt!» sagte Bestmann und schmiegte sich dicht
an die Deckung. Das fing ja lieblich an, dachte ich,
und plötzlich hatte ich eine rasende Angst. Die
nächste Salve... dachte ich und preßte mich bebend an
den Boden. Da... «Zu weit», stellte Gohlke fest, aber
etwas pfiff und flitzte dicht vor meinem Kopf
glupschend in den Boden, und es war, als ob eine
gespenstische Riesenhand mir einen Ballen gepreßter
Luft ins Kreuz geschmissen hätte. Ich war hier zum
ersten Male in Granatfeuer. Also, so war das? Da,
schon wieder... Mein Gott! «Die müssen da, hinter
der Waldecke, stehen», sagte Bestmann und lugte
behutsam hinüber. «Das is man bloß eine Batterie.»
Dies Wort beruhigte mich etwas, aber ich hatte das
unklare Empfinden, daß ich jetzt vor den alten
Frontsoldaten meines Gewehres irgendwie einen
besonderen Mut zeigen müßte. Ich hob also den Kopf
und sagte: «Die können ja nischt» — «Kopp weg,
Mensch», brüllte Bestmann, «biste denn total
verrückt? Meinste, wir wollten allen Dunst
abkriegen?»
Und dies war sein letztes Wort. Ja, denn plötzlich
tat sich die Erde auf, sie riß vor uns auseinander mit
einem brutalen Ruck, der mich beiseiteschleuderte, die
Stichflamme der Sprengung krachte betäubend hoch,
Eisen, Knall und Geheul und Platzen aller Adern, ein
Hammerschlag aus zerflatterndem Himmel, stinkender
Qualm, Stein, Stahl und Glut. Mein Kopf hieb in den
Boden, und alles war schwarz und rot.
Jemand rüttelte mich. Doch schienen alle meine
Knochen aus den Gelenken gesprungen. Ich hob den
dumpfen Kopf aus gepreßter Schulter und betastete
mich. Die Erde vor mir war überzogen mit einem son-
derbaren, grünlichen Schimmer, das Maschinenge-
wehr lag umgestürzt und mit Dreck beworfen, der
ganze Boden war zerwühlt. Da bewegte sich einer,
und einer lag auf dem Rücken. Ich kroch hin. Gohlke
fingerte an dem Liegenden herum, halb aufgerichtet.
Da lag Bestmann. Aus seiner Brust quoll es rot, er
hob schwach die Hand. Das beschmutzte Gesicht war
grünlich bleich, und über die blauen, schmalen Lippen
drängte sich blasiger, roter Schaum. Die Hand fiel
wieder zurück, und ich legte müde den Kopf auf die
Erde und schämte mich sogleich, aber Gohlke
versuchte schweigend das Gewehr wieder aufzu-
richten, und ich mußte ihm dabei wohl helfen.
Nun aber kam von hinten eine Kette dumpfer
Explosionen. Es fauchte und gurgelte über uns, ließ
die Luft wütend erdröhnen und hieb dann vorne an
der Waldecke ein. Sechs Tulpen stiegen mit dumpfem
Ballern hoch, vermischten ihren Qualm zu einer
riesigen dunklen Wolke, die langsam und schwer sich
am Boden rollend hinzog. Gohlke schrie nach dem
Sanitäter. Rechts und links begannen unsere
Maschinengewehre zu rattern, und unsere Artillerie
sandte nun Schuß auf Schuß in den gegenüber-
liegenden Wald.
Also Bestmann war tot? Ich sah scheu zu ihm hin.
Der Regen war allmählich bis auf die Haut gedrungen,
die Kleider hingen wie nasse Lappen um meinen
Körper. Doch auch meine Haut schien mir ekeler-
regend faltig und weich, und sicherlich war es nur die
Feuchtigkeit, die mir plötzlich die Zähne klappern
ließ. Gohlke deckte eine Zeltbahn über den Toten,
und ich legte mich hinter das Gewehr. Schnell duckte
ich den Kopf, als drüben wieder Abschüsse
erdröhnten, doch der Este tastete nun nach unserer
Batterie, und die Geschosse jaulten über uns hinweg.
Wir lagen den ganzen Tag so. Ab und zu bekamen
wir Artilleriefeuer, und zuweilen spritzte uns eine
widerliche MG-Garbe um die Ohren. Von den Esten
war kaum etwas zu sehen; nur einmal sah ich durchs
Zielfernrohr am jenseitigen Waldrand hinter schmalen
Erdstrichen tellerförmige Helme. Gegen Abend wurde
auf beiden Seiten das Feuer stärker. Die Zuckerfabrik
ging in Flammen auf und erleuchtete das Vorfeld. Wir
arbeiteten emsig am Ausbau unserer MG-Nester.
Die Essenholer kamen, schlichen von Nest zu Nest
und erzählten, die Esten hätten die Rigaer
Wasserwerke gestürmt und das Wasser für die Stadt
abgesperrt.
Es fing wieder an zu regnen. Unteroffizier Schmitz
kam zu mir herüber; er war Bergarbeiter aus dem
Ruhrgebiet, wir rauchten und unterhielten uns. Nach
einer Weile kam auch Leutnant Kay. Er sagte, daß die
Kompanie bis jetzt sieben Tote habe. In Riga
befürchte man Unruhen. Wir lägen jetzt an der
exponiertesten Stelle der Front, zwischen zwei Seen,
an der Brücke, die den Esten den direkten Zugang zur
Stadt am leichtesten ermögliche. Hinter uns sei nichts
an Reserven, nur Artillerie. Wir kauerten dreckbe-
spritzt und durchfeuchtet in unserem Loch und
stierten nach vorn.
Leutnant Kay sagte: «Da liegen wir nun, in einer
dünnen Linie, in dieser verfluchten Ecke der Welt
zusammengepfercht. Das ist nun das letzte Stückchen
der deutschen Front, die einmal so lang war, daß sie
ganz Mitteleuropa umzäunte und noch ein bißchen
mehr, die einmal am Kanal in Flandern begann und
sich bis zur Schweiz hinzog, und von der Schweiz
über die Alpen ging, nach Oberitalien, und von dort
über den Karst bis Griechenland und von da zum
Schwarzen Meer bis zur Krim, bis zum Kaukasus und
quer durch Rußland bis Reval hinauf. Nicht einge-
rechnet die versprengten Fronten in allen Erdteilen,
und wir hier sind der Rest.» Er schwieg, und wir
schwiegen. Leutnant Kay sagte: «Dahinten liegt nun
Riga. Eine deutsche Stadt immerhin, von Deutschen
gegründet und aufgebaut und bewohnt. Schade, daß
Sie nicht das Schwarzhäupterhaus gesehen haben und
die Peterskirche. Die Brücke über die Düna heißt
Lübeckbrücke und ist gebaut von Pionieren der 8.
Armee. Immerhin also eine deutsche Stadt, gehörte
aber nie zum Deutschen Reich. Jetzt gehört sie zum
Deutschen Reich? Nein, jetzt ist sie die Hauptstadt
von Lettland, und wir sind gefälligst lettische
Staatsbürger. Das heißt, eigentlich sind wir deutsche
Soldaten, Soldaten der Deutschen Republik. Das
heißt, eigentlich gibt es das noch gar nicht, Deutsche
Republik; die sind ja noch nicht fertig in Weimar, und
der Friedensvertrag ist auch noch nicht fertig. Das
heißt, eigentlich ist er wohl schon fertig. In den
Grundzügen war er wohl schon 1914 fertig. Bloß wir
haben nichts zu sagen dabei. Und die Deutsche
Republik wird also auch so aussehen, daß jedermann
merken wird, wie wenig wir zu sagen hatten dabei.
Jedenfalls, wir liegen hier, das letzte Stückchen
deutscher Front, das die Welt zu sehen das Vergnügen
hätte, wenn sie zu sehen ein Vergnügen wäre. Wir
sind deutsche Soldaten, die nominell keine deutschen
Soldaten sind, und schützen eine deutsche Stadt, die
nominell keine deutsche Stadt ist. Und drüben sind
also Letten und Esten und Engländer und
Bolschewiken — nebenbei gesagt, die Bolschewiken
sind mir noch die liebsten von der ganzen Bande —,
und weiter im Süden, da sind also die Polen und
Tschechen, und dann weiter — ach, ihr wißt ja wohl
Bescheid. In Weimar beraten sie grade über
Zündholzsteuer oder ob sie künftig schwarz-rot-gold
flaggen wollen oder die alten ruhmreichen Farben,
wie ich mir sagen ließ, genau weiß ich's nicht, ist ja
auch herzlich wurscht. Tja, und wir halten also die
Stellung. Lange werden wir sie wohl nicht halten
können. Haben Sie 'ne Zigarette für mich, Fähnrich?
Danke.» Leutnant Kay putzte sein Monokel, das vom
dünnen Regen dicht besprüht war. Schmitz rauchte
unerschütterlich seine Pfeife und sagte: «Hier
kommen sie nicht durch.»
Gohlke schoß plötzlich eine Leuchtkugel ab. Wir
lugten starr über den Grabenrand. Die Senke lag in
magischem, gespenstisch zuckendem Schein, in dem
sich jeder Schatten dauernd veränderte. Anscheinend
hatte die Batterie hinten die Leuchtkugel als Signal
aufgefaßt, denn nach wenigen Sekunden tönten sechs
Abschüsse; die Geschosse fauchten über unsere Köpfe
und schlugen in prompter Folge drüben im Walde ein.
Sofort knatterte MG-Feuer. Gewehr Hoffmann
antwortete. Darauf feuerten hinter den Ruinen der
Fabrik die Minenwerfer. Das Feuer von drüben wurde
lebhafter, wieder schoß unsere Batterie. Aber nun
antworteten auch die Ratscher. Der Lärm ihrer
Abschüsse kam jedoch von einer anderen Stelle als
vorher. Die ganze Front wurde lebhaft. Überall gingen
Leuchtkugeln hoch. Plötzlich zerriß ein ohrenbe-
täubender Krach das Gebelfer der kleinen Kaliber,
dann stieg es hinter uns orgelnd und heulend in die
Luft, wälzte sich mit infernalischem Gekreisch über
unsere Köpfe nach vorn, daß wir uns unwillkürlich
duckten unter der Wucht einer schrecklichen
teuflischen Macht, und dann hieb es drüben ein, daß
der Boden rollte und zuckte und wie gepeinigt
stöhnte. Beim Esten krachte, splitterte und hallte es;
der Wald schien sekundenlang zu wanken und trug
den mächtigen Schlag von Baum zu Baum in die
Weite. Dann war völlige Stille, als ob unser
Einundzwanziger, unwillig über die Störung seiner
Nachtruhe, einen dicken, kategorischen Punkt gesetzt
hätte hinter diese nächtliche Feuerwerkerei.
Schmitz sog an seiner Pfeile und sagte: «Hier
kommen sie nicht durch. Und ich will Ihnen mal was
sagen, Herr Leutnant, selbst wenn wir hier die Front
aufgeben müßten, was ich nicht glaube, oder wenn
wir die Stadt verlassen müßten, was ich auch nicht
glaube, dann sind wir ja immer noch da. Wir sind
immer noch da, Herr Leutnant, und wir werden auch
immer da sein. Das ist schließlich ganz piepe, wo wir
stehen. Es ist ja auch möglich, daß wir mal aus
Kurland rausgehen müssen, ich glaub's nicht, aber
möglich ist es, und es ist auch möglich, daß mal die
Kompanie Hamburg auseinandergeht. Deswegen sind
wir immer noch da. Da können sie in Paris so viel
beraten, wie sie wollen, und was sie in Weimar
betratschen, das soll uns noch weniger angehn.
Jedenfalls, wir sind noch da, wir alle, und solange wir
da sind, geben wir auch keine Ruh. Dann wird eben
anderswo weitergekämpft. Es sieht nicht so aus, als
ob wir nicht noch gebraucht würden in den nächsten
Jahren. Und das sage ich Ihnen, Herr Leutnant, wenn
wir hier nischt erreichen, oder wir kommen nach
Deutschland und erreichen auch da nischt, und es soll
immer so weitergehn und die Herrschaften, die vor
dem Krieg dicke Bäuche gehabt haben auf unsere
Kosten und im Krieg dicke Bäuche auf Kosten von
unserm Blut und nach dem Krieg dicke Bäuche so gut
wie vorher — erinnern Sie sich, Herr Leutnant, in
Weimar? — wenn also die Burschuasie und die großen
Herrn weiter glauben, gute Geschäfte machen zu
können mit unserer Haut — und die scheren sich
verdammt nich um Deutschland, nee, tun sie nich —,
denn weiß ich für mein Teil, was ich tue, und ich
glaube, Sie, Herr Leutnant, und der Fähnrich wissen
das auch.» — «Schmitz, Sie sind 'n Spartakist», sagte
Leutnant Kay. Und Schmitz sagte gleichmütig: «Auch
das, wenn's sein muß.»
Ich drehte mich ein bißchen erschreckt um, aber
die anderen lagen in ihren Löchern und pennten. Nur
Gohlke stand Wache, und richtig, er wandte sich um
und sagte zu Kay: «Jedenfalls, für Ruhe und Ordnung
nich in die Lamäng»; grinste und schaute wieder
nach vorn.
Kay sagte bedrückt: «Ich kann das ja verstehn.
Aber so herum ist uns auch nicht geholfen. Sie sind ja
Bergarbeiter, Schmitz, nun, ich war mal Student.
Warum bin ich denn hier? Ich könnte ja auch an
meine Karriere denken und an mein Weiterkommen
und an mein Wohlergehn. Warum zum Teufel sitze
ich denn hier? Weil mir das alles wurscht ist, weil es
mich geradeheraus ankotzt, weil ich fühle, in drei
Deibels Namen, daß das hier wichtiger ist als
Paragraphen rausknobeln und Ehescheidungen
einleiten und Leute mahnen, die ihre Zahnarzt-
rechnungen nicht blechen können. Weil ich weiß,
Himmel, Arsch und Wolkenbruch, daß die eigentliche
Entscheidung des Krieges noch nicht gefallen ist, noch
nicht gefallen sein kann, und weil ich weiß, daß ich nicht
schlechter sein darf als die viertausend Gefallenen
meines früheren Regiments, und weil ich weiß — ach,
Kinder, gar nischt weiß ich, bloß, daß wir eben mit
reingebuttert werden müssen, und daß das unser
Schicksal ist, und daß ich bereit bin, es zu erfüllen.» —
«Ja, hops gehn wir woll bei der Geschichte», sagte
Schmitz, und dann schwiegen wir. —
Wir lagen vier Tage in dieser Stellung am Jägelsee. In
diesen vier Tagen wurden wir heftig beschossen, von
Tag zu Tag mehr. Der Wald vor uns schien bis an den
Rand gefüllt mit Truppen; wir stellten nach und nach
zwölf Batterien fest, die zu uns herüberfunkten. Wir
hatten einen vortrefflichen MG-Stand für uns gebaut,
aber oft mußten wir wieder zum Spaten greifen und die
Schäden ausbessern, die das Feuer riß. Die Essenholer
kamen nur nachts nach vorn, und die Kompanie hatte in
diesen vier Tagen zwölf Tote. Der Abhang zum
Flüßchen herunter war gespickt mit Trichtern, und
morgens blühten da die seltsamen Stauden, die das
unablässige Feuer schuf. Doch auch der Wald jenseits der
Niederung wurde langsam zerfledert. Manchmal
mischten sich in die krachenden Einschläge sonderbar
hohle und blaffe Explosionen, dann schrie gewöhnlich
einer: «Gas —»; aber es war ganz unnötig, daß so
geschrien wurde, denn daß dies Gas sei, sahen wir, und
Gasmasken hatten wir nicht; wir tauchten die
Taschentücher in die Wasserkästen und banden sie vor
Mund und Nase.
Am Abend des vierten Tages wurden wir abgelöst
durch eine Kompanie, die aus den Resten der Abteilung
Michael zusammengestellt war. Doch kamen wir zur
Ruhe in einen Wald, der nur wenige hundert Meter hinter
unserer eben verlassenen Stellung lag. Wir hörten, genau
so wie ganz vorn, wie sich das Feuer immer mehr
steigerte, bis zu einer Wut, wie wir es bislang nicht
kannten. So lagen wir die ganze Nacht hindurch
einsatzbereit.
Leutnant Wuth erzählte uns unterdessen, was sich in
Riga ereignet hatte. Zwei Tage vorher hatten sich
plötzlich in den lettischen Vorstädten die Letten
bewaffnet. Patrouillen der regierungstreuen Ballod-
Letten, nach ihrem Führer, Oberst Ballod, genannt,
durchzogen eifrig die unruhig gewordene Stadt. Am
Nachmittage fiel in der Gertrudenstraße ein Schuß aus
der dortigen lettischen Wache und tötete einen deutschen
Soldaten der Polizeikompanie. Dieser Schuß war wie ein
Signal zum Aufstand. Sofort brodelte in der ganzen, von
deutschen Truppen fast entblößten Stadt der Aufstand
los. An jeder Straßenecke krachte es; die Ballod-Letten
machten mit dem Mob der Vorstädte gemeinsame Sache;
Läden wurden geplündert, Balten erschlagen, die
deutschen Patrouillen beschossen. Die alten Rufe
«Straße frei» und «Fenster zu» machten hier, wie
seinerzeit im Deutschland der Revolutionsunruhen,
die Sache wichtig, und die schnell zusammengetrom-
melten deutschen Trupps säuberten mit einiger
Übung die Quartiere der Aufständischen.
Als die Panzerautos durch die Straßen rasten und
Leuchtkugeln in den lettischen Wachlokalen Feuer
zündeten, erklärten die Ballod-Letten freundlich, das
Ganze sei nur ein Mißverständnis. Doch wurde der
Aufstand unter der entschlossenen Drohung der
deutschen Gewehre erstickt. Zwei Tage später aber
hieben schwere Geschosse in die geprüfte Stadt. Die
Esten warfen in gleichmäßigen Abständen die Lagen
ihrer Fernbatterien nach Riga hinein. Zwar konnten
unsere Einundzwanziger die feindlichen Geschütze
zeitweilig niederkämpfen, doch wurde die Stadt von
Unruhe gepackt, einer Unruhe, die sich zur Panik
steigerte, als plötzlich auch die Dünabrücke unter
schwerem Feuer lag. Da zeigte es sich, daß das Feuer
von See her kam. Es zeigte sich, daß englische
Kriegsschiffe Riga beschossen. Hatte die lettische
Regierung Needra England den Krieg erklärt? Hatte
die deutsche Regierung die Feindseligkeiten wieder
aufgenommen? Hatten deutsche oder lettische oder
baltische Fischerboote vielleicht versucht, die
englische Flotte zu kapern? Nichts von alledem.
England hatte nur Interessen und verstand es, sie zu
verfechten. An vielen Stellen der offenen Stadt
loderten Brände. Die Wasserwerke waren in
estnischem Besitz; es konnte nicht gelöscht werden.
Die Beschießung der Stadt währte die Nacht
hindurch. An der Front ebbte das Feuer nachts ab. Wir
konnten deutlich den Donner der Einschläge in Riga
hören und sahen den roten Feuerschein. Vor uns lag
der Este, in unserem Rücken eine beschossene,
aufrührerische Stadt; die Dünabrücke, unsere einzige
Rückzugsader, lag unter englischem Beschüß.
«Übrigens», sagte Leutnant Wuth, «daß ich's nicht
vergesse, die deutsche Regierung hat die Baltikum-
truppen aufgefordert, sofort nach Deutschland
zurückzukehren, widrigenfalls — ja, weiß der Teufel,
ich glaube Verlust der Staatsangehörigkeit, Sperren
der Löhnung und der Grenzen und Gefängnisstrafen
glaub' ich, wer für die Baltikumer in Wort oder
Schrift wirbt. Hat vielleicht einer Lust, nach
Deutschland zurückzugehen?» — «Muß es gleich
sein?» fragte eine Stimme aus der Dunkelheit.
Im Morgengrauen wurde es an der Front sehr
unruhig. Unablässig blubberte es; das Feuer schlug in
den Wald, bis zu uns. Wir lagen übernächtig und
fröstelnd unter den Bäumen und lauschten nach vorn.
Leutnant Wuth setzte sein Barett auf. Das Feuer
steigerte sich. Wir preßten uns an den Boden, wenn
die Lagen dicht vor uns in die Erde hieben, ganze
Bäume splitternd mit sich reißend. Ich lag mit
meinem Gewehr am rechten Flügel der Kompanie.
Leutnant Kay mit einer Gruppe Hamburger lag
neben mir.
Nach zweieinhalbstündigem Beschuß war plötzlich
Stille. Leutnant Kay sagte laut: «Das sind Anfänger.
Von Sperrfeuer, Feuerwalze und ähnlichen Scherzen
haben die noch nischt gehört.» Einige lachten. Wir
wußten, daß sie jetzt angriffen vorn. Auch unsere
Artillerie schwieg. Aber auf einmal peitschten
Schüsse durch den Wald. «Liegenbleiben!» schrie
Wuth.
An der Straße, halblinks vor uns, war wirrer Lärm.
«Sie kommen, sie kommen ...» — «Ruhe,
liegenbleiben!» Wuth stand plötzlich neben mir.
«Fähnrich, sobald wir vorgehen, sausen Sie mit Ihrer
Knarre halbrechts, bis zu der Waldnase am Fluß, und
richten das Gewehr auf die Brücke ein, verstanden!
Über die Brücke müssen die Burschen ja doch
zurück!»
Einzelne Versprengte eilten zurück. «Alles in
Bruch, alles in Bruch», schrie einer. Leutnant Wuth
hob den Karabiner und stakte mit langen Beinen auf
die Straße zu. Die Hamburger erhoben sich bedächtig,
murmelten «Hummel, Hummel» und verschwanden
in den Büschen. Ich riß die Knarre hoch, und wir
stolperten, vier Mann, quer durch den Wald, auf die
bezeichnete Stelle zu. Links war tolles Gebrüll und
Geknatter aus vielen Gewehren. Wir eilten keuchend
vor. Der Wald öffnete sich, da lag die Stellung. Wir
tigerten gebückt zur Waldnase, erreichten sie, ohne
gesehen zu werden, und vertarnten uns im Gebüsch.
Die Brücke lag nun scharf links von uns und konnte
in ihrer ganzen Länge bestrichen werden. Ich richtete
das Gewehr ein, zog alle Hebel fest, legte die ganze
Munition parat, und dann warteten wir.
Auf der Brücke und dem Stückchen Straße, das in
unserem Schußbereich lag, war nun kein Mensch zu
sehen.
Wir horchten auf den Gefechtslärm an der Straße,
im Wald. Ganz wohl war uns nicht. Wie, wenn es
den Hamburgern nicht gelang, die Esten zurück-
zudrängen? Gohlke schien dasselbe gedacht zu haben,
denn er sagte: «Helm ab zum Gebet.» — «Ist das
immer noch kein Krieg?» fragte ich ihn. — «Noch
nicht», meinte er, «aber es kann noch einer werden.»
— «Danke», sagte ein dritter, «so viel Zunder wie
heute haben wir in Rußland auch nur selten gehabt.»
Wir hörten «Hummel, Hummel» und «Slah doot.»
Gedämpft klang es herüber, vom Walde aufgefangen,
und schien voll einer dumpfen und gefährlichen Wut.
Kam es nicht näher? Gohlke, kommt es nicht näher?
Verdammt, es kommt näher! Da, da kamen sie! Erst
einzelne, dann immer mehr; der Waldrand bewegte
sich von den Zurückhastenden, an der Straße kamen
sie in dicken Klumpen. Nun ratterten die
Maschinengewehre im Walde, an der Straße war
Tumult, deutlich sahen wir Durcheinanderwuseln,
Sichhinschmeißen, Wiederaufspringen, Zurückrennen.
Nun kamen wirre Haufen. Ich hockte mich mit
klammen, flatternden Händen an mein Gewehr. In uns
raste die Spannung des Jägers; ha, da hatten wir sie
endlich vorm Gewehr, und wie hatten wir sie. Ruhe,
Ruhe, Warten, das sind noch nicht genug. Immer noch
nicht genug. Abwarten, abwarten, jetzt sind sie an der
Brücke. Teufel, die ganze Straße wimmelte. Jetzt sind
es genug! Ich drückte auf den Hebel.
Das Gewehr bebte zwischen meinen Knien wie ein
Tier. Auf der Brücke purzelten sie, fielen sie,
platschten ins Wasser. Dicke, geballte Haufen
spritzten auseinander, fielen zusammen, wurden von
hinten gedrängt. Ja, sie mußten durch, sie mußten alle
durch; da stand die Garbe mit Hebeln fest, und das
Wasser kochte im Lauf. War es nicht, als spürte ich an
den zuckenden Metallteilen des Gewehrs, wie das
Feuer in warme, lebendige Menschenleiber schlug?
Satanische Lust, wie, bin ich nicht eins mit dem
Gewehr? Bin ich nicht Maschine — kaltes Metall?
Hinein, hinein in die wirren Haufen; hier ist ein Tor
errichtet, wer das passiert, dem wurde Gnade.
Wann bot sich je einem Gewehre solch ein Ziel?
Und dann war der Gurt alle, und ein neuer flog in
den Zuführer, doch schoß Gohlke jetzt, und ich lag
erschöpft und fröstelnd am Boden und sah nicht
einmal mehr auf. —
Später lagen wir in der Stellung. Die Hamburger
kamen nicht gleich, sie hatten erst Beute gemacht im
Wald. Fünfzehn Gefangene wurden eingebracht; vier
davon waren Engländer und drei Letten. Zwei Tote
hatten die Hamburger, — wieviel die Esten hatten,
machte sich niemand die Mühe zu zählen. Allein an
der Brücke lagen so viel, daß man den weißen Staub
der Straße kaum sehen konnte. Und von der
estnischen Front kam den ganzen Tag nicht ein
Schuß. Ja, die ganze Front schien erstarrt, und wir
wunderten uns, daß niemand mehr schoß. Wir
wunderten uns nicht mehr, als Leutnant Kay kam und
sagte, es wäre Waffenstillstand. Die Kompanie war
die einzige, die noch vorne lag.
Der Waffenstillstand aber lautete so: Die Deutschen
mußten zurück bis zur Olaistellung. Die Esten
mußten zurück bis zur estnisch-lettischen Grenze.
Die Ulmanis-Letten besetzten Riga, die Stadt; Pastor
Needra wurde unter die Anklage des Hochverrats
gestellt, und England hatte alles erreicht, was es
wollte.
Und wir marschierten zurück. Wir marschierten
durch die Stadt, als letzte deutsche Kompanie, und
die Hamburger sangen das Seeräuberlied.
Meuterei
Drohung
Putsch
Niemals werde ich vergessen, wie die Schatten dieses
sinkenden Tages unserem Auszuge alle Schroffheit
nahmen. Die ganze Süßigkeit der Welt kam aus dem
runden und weichen Schimmer des Waldes, brach aus
den sich erschließenden Knospen der Birken, die sich
zitternd an den Bahndamm schmiegten. Der Boden
hielt den Atem an, die dunklen Lieder summten sich in
ihn hinein und schwebten lange noch in den
Gesträuchen, indes der Zug vorüberstampfte. Und alles
in der Welt war Schein, ja, selbst das Dunkel, das sich
nun samten senkte, war ein trügerischer Schleier, der
uns vom harten Tage schied, der die vielen unter uns
zum letzten Male träumen ließ von den
Versprechungen des Glücks. Das ließ uns schweigen,
legte eine bange Würde über uns, die Ahnung von der
zwingenden Gewalt, in deren offne Fänge wir
hineinmarschierten.
Der Zug hielt auf offner Strecke. Die schwarzen
Wände hochgekanteter Häuser standen rechts und links
des Bahndammes in drohender Steilheit. Leutnant
Wuth kam hastig am Zuge entlang geschritten und
sagte uns, wir könnten nicht weiterfahren, denn am
Bahnhof Harburg sei die Strecke gesperrt. Da schrillte
auch schon der Befehl: «Alles aussteigen.» Wir sollten
nur die Waffen mitnehmen, das Gepäck im Zuge
lassen. In Harburg sollte übernachtet werden, für den
nächsten Tag in der Frühe war die Weiterfahrt geplant,
oder, falls der Zug auch weiterhin nicht über Harburg
rollen könnte, der Fußmarsch über die Eibbrücke nach
Hamburg. Wir hoben vorsichtig die Gewehre aus den
Abteilen, kletterten fluchend und stolpernd über den
spitzen Schotter und über tückische Bahnschwellen und
kamen an eine Schranke, die eine breite Straße schloß.
Hier traten wir an.
Die dürftigen Laternen legten einen grünen, fahlen
Schein über die dunkle Masse, über der die Gewehre
ein wirres Verhau von Schatten bildeten. In den
Lichtkegel der Laternen traten plötzlich gespenstisch
einige Zivilisten, die erschreckt zusammenfuhren und
wie Schemen wieder im Dunkel verschwanden. Die
ganze, finstere Häuserfront der Straße zeigte nur ein
einziges viereckiges Licht. Es schwebte sehr hoch und
ganz unwirklich, beinahe losgelöst von jeglicher
Beziehung zur Erde, über unseren Häuptern.
Hauptmann Berthold kam säbelklirrend vorbei, ganz
allein, und ließ sich von der Finsternis wieder ver-
schlucken. Der Marsch begann.
Diese Stadt war feindlich. Wir hatten noch die
ruhigen Flächen der Marsch im Blick, den breiten
Spiegel des Stromes, die Geruhsamkeit einer bedächtig
hingebreiteten Landschaft. Hier stieß sich in engem
Räume Ding an Ding, schwarze Steinmassen bauten
sich aus dem Pflaster vor uns auf, Straßenschluchten
schnitten gefährliche Löcher in die Starre, an jeder
Ecke lauerte ein Geheimnis. Wir hatten nicht den
Eindruck, an Wohnungen der Lebenden vor-
beizumarschieren, wir glaubten Ruinen zu sehen,
riesige Schutthaufen mit kahlen, rauchgeschwärzten,
blicklosen Mauern, beengende Kälte von sich speiend,
getürmte Steine hinter einer splitternden Fassade von
Glas, Eisen und Verputz. Aus den Kellern schien es
garstig zu riechen, kein Stern drang durch den
gespaltenen Himmel dieser Straßen. Wir klirrten durch
einen Dunst von Rauch, Nebel und Gefahr, unsere
Schatten wuchsen im Bannkreis der spärlichen Lichter
zu scheußlichen Dämonen und schrumpften schüchtern
wieder zusammen, unsere Schritte polterten hohl, und
es war unmöglich, Gleichschritt zu halten.
Vorne bei den ersten Gruppen erhob sich ein dünner,
heiserer Gesang. Doch gleich verstummte er wieder,
denn ein Fenster schepperte auf, und dann hieb ein
grelles, tödliches Lachen in unsere Kolonne, ein
Lachen, wie ein höhnischer Schrei, wie ein spitzer,
vergifteter Pfeil, der durch die gefolterte Luft schwirrte
und unsichtbare Blechwände zerspellte. Das war eine
Frau, die so lachte, nein, das war die Stadt selbst oder
die Dämonin dieser Stadt. Dies Lachen mußte
erschlagen werden, es war unerträglich, es fernerhin zu
hören. Brüllen mußten wir, singen, daß uns die Hälse
schmerzten, und wir sangen, alle durcheinander, und
ich hatte die Hand am Koppel, die Faust umschloß eine
Handgranate, und ich ertappte mich bei dem fast
unbezähmbaren Wunsche, die Ladung Sprengstoff wild
in das offene Fenster zu schleudern. Doch nun sangen
sie im Takt, und wir bogen um eine Ecke, in eine
Straße, in der Bäume standen, eine breitere Straße, mit
Vorgärten und niedrigen Häusern.
Hier tauchten Menschen auf aus dem Dunkel. Aus
einer Gastwirtschaft drängten sich Leute ans Staket, ein
Gemurmel empfing uns, Fragen schnellten in unsere
Reihen. Ich ging neben Hoffmann, und ein Herr trat
plötzlich vor uns hin, daß wir fast erschraken, aber der
Herr hob die Hände und fragte mit einer Stimme, in der
das Alter, der Alkohol und die Freude bebten. «Jungs,
holt ihr unsern Kaiser wieder?» — Nun erschrak
Hoffmann wirklich und konnte erst antworten, als wir
schon zehn Schritte weiter waren. «N-nein, das nicht,
das nicht...» murmelte er und sah sich wie erwachend
um. Ich lachte leise, zwischen zerdrückten Flüchen,
aber es tat mir beinahe leid, daß wir nicht sagen
konnten: ja, wir holen den Kaiser wieder, denn dann
hätte unser Tun doch wenigstens einen Sinn gehabt —
hatte denn unser Marsch keinen Sinn? Auf welchen
Gedanken ertappte ich mich da? Das war diese ver-
fluchte Stadt, die dazu verführte, diese vermaledeite,
spritzige Dunkelheit, die uns die Sicherheit raubte. Was
gestern uns noch klar und zwingend schien, das
schwand hier in der satanischen Luft dieser Stadt, in
diesem vergiftenden Gemenge aus Furcht und Haß und
Schatten nahender Gefahr. Den Kaiser wiederholen?
Nein. Hier ging es doch um mehr als um den stillen
Mann in Doorn. Ich versuchte mir die Worte des Kapp-
Programmes zu verlebendigen. Doch hier, gerade hier
mußte ich die Spanne klaffen spüren. Begann nicht die
Verkündigung mit einer Abwehr? Das zeugte doch
wohl nicht von einem Glauben, der seiner Kraft gewiß.
Das reichte nicht für diesen Kampf, das verblaßte bei
der ersten Probe, und sei sie nur ein hastiges
Marschieren in den Rachen einer sprungbereiten Stadt.
Das war es nicht, was uns den Weg diktierte, nicht die
Worte des Programms. Der Sinn, der Sinn? Im Wagnis
lag der Sinn! Der Marsch ins Ungewisse war uns Sinn
genug; denn er entsprach den Forderungen unseres
Blutes. Wir wissen nicht, doch wie werden anders wir
denn jemals wissen? Daß wir nicht wußten, das bewies,
es könne unser Tun vielleicht Verbrechen sein, doch
niemals Reaktion. Gleich, wie die Würfel fielen, dachte
ich, sie sollen fallen, und wir, wir halten prüfend,
schüttelnd sie noch in der Hand. Der Gesang war
abgebrochen, Geflüster in den Reihen überall. Nicht
mich allein traf der Zweifel, packte aus den Sternen
fallend das Warum.
An einem freien Platze kam das Kommando: Halt!
Was suchen denn die bewaffneten Zivilisten da? Mit
weißen Armbinden? Bürgerwehr? Und die da mit roten
Armbinden? Arbeiterwehr? Wie wichtig die sich tun!
Und Berthold verhandelt mit denen? Ach so, wegen des
Quartiers! Abmarsch in die Heimfelder Mittelschule!
Das ist wohl das große Gebäude da drüben? Kinder,
was bin ich müde! Rechts schwenkt marsch. —
Wir packen die Gewehre in eine Ecke, stapeln die
Munition drumherum; ein Witzbold von den Bayern
malt noch hurtig ein paar Karikaturen von Berthold an
die Schultafel, dann hauen wir uns auf die harten,
schmalen Schulbänke, und ich ärgere mich im
Einschlafen, daß wir gerade ein Klassenzimmer der
ABC-Schützen erwischt haben; in den Bänken kann
man sich kaum rühren. —
Am Morgen stand Hoffmann mit fahlem,
unausgeschlafenem Gesicht vor mir und sagte: «Das
gefällt mir nicht!» — «Was denn?» — «Komm mal
mit», sagte Hoffmann und zerrte mich die Treppe hoch,
vorbei an offenen Schulzimmern, in denen sich die
erwachenden Soldaten rekelten. An einem Eckfenster
der Schule machte er halt. «Da vorne, siehst du, da
stehen Maschinengewehre im Hof! Da rechts zwischen
den Scheunen schleppen sie jetzt schon seit einer
halben Stunde Kästen vorbei, anscheinend Munition;
Frauen, Kinder, Männer! Auf den Straßen wimmelt es
nur so von bewaffneten Arbeitern. Aber das Schönste
ist doch noch dort hinten, auf dem freien Felde, sieh
einmal scharf hin, was ist das? Schützengräben,
regelrechte Schützengräben! Wir sind, schlicht und
einfach gesagt, eingeschlossen.» — «Das ist ja
sonderbar! Weiß Berthold? Und Wuth?» — «Wissen
beide! Da geht's schon seit einer halben Stunde mit
Deputationen und Kommissionen und Verhandlungen!
Arbeiterwehr und Bürgerwehr und Reichswehr...»
—«Was, Reichswehr liegt hier?» — «Ein
Pionierbataillon. Die 9. Pioniere liegen hier, das ist es
ja eben; die Schweinehunde haben heute früh ihre
Offiziere eingesperrt, die Magazine geöffnet und die
Waffen an die Arbeiter verteilt!» —
Das war ja lieblich. «Mensch, woher weißt du das
alles?» — «Ja, ich bin schon den ganzen Morgen auf
den Beinen, ich weiß nicht, ich hab so ein mulmiges
Gefühl im Balg. Mich trieb es dauernd rum. Die Stadt
ist schwer erregt.» Wir blickten aufmerksam zum
Fenster hinaus. Um die dünne Perlenkette der Posten
säumte sich ein breiter Strich von Menschen,
Unbewaffneten; die Bewaffneten standen dahinter und
verdrückten sich in die Straßenecken.
«Wir müssen zu Berthold», sagte ich. Auf den
Gängen standen überall die Soldaten herum und
starrten erstaunt durch die Fenster. «Ich weiß nicht, was
das mit mir ist», murmelte Hoffmann, «ich glaube, das
gibt ein Schlamassel, und ich... ich weiß nicht—»
—«Was ist dir, Mann, bist du krank? Hier nimm mal 'n
Schluck Wasser!» Der Becher an der Kette der Leitung
klirrte, ich drehte den Kran, es gurgelte und sprühte ein
bißchen, das Wasser lief nicht. «Das ist ja eine nette
Bescherung, holla, die Burschen haben das Wasser
abgestellt! Nun aber schnell zu Berthold.»
Wir rannten die Treppen hinunter. «Das kommt
davon», sagte ich grimmig. «Was denn?» fragte
Hoffmann. «Daß Flieger ein Infanteriebataillon im
Straßenkampf führen wollen! Zum Deubel, hier sitzen
wir ja schön in der Mausefalle, alle hübsch auf einem
Fleck. Statt sofort alle öffentlichen Gebäude zu
besetzen und sich eine starke, bewegliche Reserve zur
Hand zu behalten...» Ich öffnete die Tür und hörte
Berthold zu einigen Abgesandten der Bevölkerung
sagen: «Ja, meine Herren, Sie verlangen Abzug; ich
habe Ihnen doch schon gesagt, ich habe gar nicht die
Absicht, hier in Harburg zu bleiben, wir wollen weiter,
heute früh noch. Was sollen wir denn in Deibels
Namen in Harburg? Die Fahne? Die Fahne wird
eingezogen, sobald wir abmarschieren, nicht eher. Wir
marschieren bald ab, die Leute packen schon. Wenn Sie
uns nicht aufgehalten hätten, wären wir vielleicht schon
weg. Nun gehen Sie bitte und beruhigen Sie die
Bevölkerung, damit kein Malheur passiert. Aber nun
gehen Sie doch schon, meine Herren!»
«Sachen packen?» fragte ich zu Hoffmann hin. Der
zeigte stumm durchs Fenster. Der Platz war schwarz
von Menschen. Die Posten standen dicht umdrängt,
dort, wo die Hauptstraße auf den Platz mündete, war
die Postenlinie schon erheblich eingebeult. «So, mein
Lieber», sagte ich, «wir werden jetzt keine Sachen
packen, wir werden vielmehr die M. G.s in Stellung
bringen, das scheint mir wichtiger.» Hoffmann nickte,
und wir machten uns in Hast an die Arbeit. An jeder
Front des Hauses montierten wir ein Gewehr, eins kam
auf den Dachboden. Unten am Haupteingang hatten die
Bayern zwei leichte und ein schweres Gewehr, bauten
es aber noch nicht auf, sondern hielten es in einem
Klassenzimmer verborgen. Der Haupteingang mit dem
großen Treppenhaus ging nicht auf den Platz, sondern
auf eine breite Nebenstraße zu.
Im ersten Stockwerk standen die Hamburger am
Fenster. Ich reichte den Wasserkasten des M. G.s
herum, und wir füllten ihn unter schlechten Witzen auf
eine sehr natürliche Art. Wir hoben das MG auf die
Bänke, so daß wir es jeden Augenblick zum Schuß
fertig haben konnten. Unten war die Postenkette noch
weiter zurückgegangen. Alle Fenster des Platzes waren
nun offen, einzelne Köpfe zeigten sich verstohlen; die
Straßen, die auf den Platz mündeten, waren angefüllt
mit Menschen, soweit wir sehen konnten. Die Massen
quirlten erregt durcheinander, viele Frauen, auch
Kinder waren zu sehen. Wir hörten das unablässige
Gemurmel breit und betäubend anschwellen. Es
schienen vornehmlich Arbeiter zu sein, die da
bewaffnet standen.
Hoffmann und ich starrten auf den Platz. «Die sind ja
dämlich», sagte ich, «was wollen die eigentlich von
uns?» — «Ja», sagte Hoffmann und sah mich bleich an,
«ja, die Arbeiter sind dumm. Wir waren auch dumm,
als wir für Ruhe und Ordnung kämpften. Jetzt sind die
dumm.» Hinter uns stand Wuth. Er hatte sein Barett
auf. Also gab es heute noch Dunst. Hoffmann sagte
leise und eindringlich: «Jetzt wäre die Stunde für die
Arbeiter gekommen! Herr Leutnant, wenn man die
Macht erobern will, dann muß man auch wissen, wofür.
Wir wissen es nicht, ich glaube nicht, daß Kapp und die
Herren in Berlin wissen, wofür. Wenn jetzt die Arbeiter
schlau sind, dann gehen sie mit uns, dann schaffen wir
denen freien Raum, und die zeigen uns, wofür man
heute nur Macht haben kann und darf. Wenn die schlau
sind, Herr Leutnant, so schlau, wie wir verwegen, dann
hat die Geschichte Sinn!»
«Die sind nicht schlau», sagte Wuth. Und ich sagte:
«Vielleicht sind auch zu viel alte Herren bei unserer
Aktion!» —
Schreie und Pfiffe tönten auf dem Platz. Wir beugten
uns aus dem Fenster. Über die schmale Lichtung, die
der Postensaum bis jetzt noch wahren konnte, ging
Hauptmann Berthold, barhäuptig, sein schwarzer
Scheitel blinkte. Er ging auf die Menge zu, ging durch
die Postenkette, bahnte sich einen Weg durch die
drängenden Haufen und machte erst mitten zwischen
den Massen halt. Er hob die Hand. Mit einem Schlage
war alles ruhig. Er begann zu sprechen. Wir konnten
hier oben nicht verstehen, was er sagte. Wir sahen die
Massen eng zusammenrücken. Hinten stiegen sie auf
Treppen und Schwellen. Trupps mit roten Binden
boxten sich durch die Massen. Berthold sprach laut und
hallend. Man mußte ihn weit hören. Aber, was drängten
da hinten die Bewaffneten so? Was, zum Teufel, sollte
das bedeuten, daß plötzlich die Gewehre von den
Schultern flogen?
Die Bayern und die Hamburger nahmen vorsichtig
die Knarren hoch. Jetzt kreuzten sich über dem mit
wimmelnden Köpfen gefüllten Platz die magischen
Linien der Gewehre. Und Berthold sprach und sprach.
Eine Welle dumpfen Hasses stieg aus der Masse zu uns
herauf, der Haß zweier Rassen, der blinde Ekel
voreinander, der schmerzhafte Widerwille vor den
Gerüchen der anderen. Wir starrten mit spitzen Augen
auf die Masse, nicht auf die bewaffneten Gegner, die
doch viel gefährlicher waren. Allmählich legte sich ein
dunstiger, gelber Staub über das Meer von Köpfen da
drunten. Ich hatte eine sonderbare Art von Mitleid mit
Berthold, der dastand inmitten dieser blicklosen Menge
und gegen sie anredete. Der Staub stieg und schien die
züngelnden Linien der gerichteten, zielsuchenden
Gewehre zu weiten, schien an ihnen zu zerren, zu
reißen, daß sie sich in unerträglicher Spannung bogen.
Und da fiel der Schuß, auf den wir alle gewartet
hatten. Ein ganz schwacher Knall, nichts weiter, aber
das Geschoß fuhr durch jeden von uns, es platzte eine
Handvoll gepreßter Luft gegen die Mauern, es löste den
wirbelnden Aufschrei. Alle Gewehre flogen an die
Backe, und dann spritzte das Feuer aus jedem Winkel.
Hoffmann rannte aus dem Zimmer zu seinem
Gewehr. Ich kippte die Knarre auf das Fensterbrett und
schoß. Ich widerstand der wahnwitzigen Versuchung,
mitten in die flüchtende, kreischende Menge zu
knallen, der betäubende Lärm, das krachende Splittern,
das Beben der Mauern krallte mich zu steinerner Ruhe.
An der Ecke der Hauptstraße, in die sich die
todesängstlichen Massen wälzten, kauerte eine Gruppe
Rotbinden mit vorgeschobenem Gewehr, wartend, daß
sich die Menge verlaufe. Sie legte ich mit dem ersten
Strich meines knatternden Laufes um. Die Männer
lagen, präzis getroffen, in einer Reihe vor der Schwelle
eines Hauses, aus dessen offenen Fenstern das Feuer
uns entgegenpeitschte. Fenster für Fenster streute ich
ab, sah die Scheiben splittern, sah die puffenden
Wölkchen im Mörtel und Kalk der Wände steigen. Der
Platz war in wenigen rasenden Sekunden von Lebenden
geleert. Während der neue Gurt aus dem Kasten rollte,
beugte ich mich vor, erblickte dunkle, erbarmungs-
würdige Häufchen wie hingesät auf dem Platz, Männer,
Frauen, Kinder, die knisternde Luft täuschte gequälte
Bewegung der hingestreckten Leiber, die Geschosse
fuhren durch sie hindurch. Ein wahnsinniger Druck
stieg mir aus dem Magen zur Kehle, ich schrie heiser
irgendwas, es riß mich auf die Bank, mit halbem Leibe
aus dem Fenster ragend suchte ich neues Ziel. Scharf
links in einem düsteren Hofe, hinter geschwärzten
Mauern, richteten durcheinander hastende Männer ein
MG gegen uns. Mein Gewehr flog herum, es hing
schief, schwebend aus dem Fenster; ich stemmte das
Knie auf das Brett, klemmte mich mit tobenden Nerven
in den schwankenden Schlitten und schoß. Da zuckte
das Gewehr, bäumte sich plötzlich auf, daß ich fast aus
dem Fenster stürzte, glühheißes Wasser klatschte mir
sengend in die Augen, ins Gesicht. Ein zerreißender
Schlag schleuderte mich zurück, ich fiel, das Gewehr
auf mich zerrend, in den Klassenraum und stürzte
zwischen die Bänke. Mein rechter Arm tastete nach
einem Halt, griff in Blut und Staub; etwas stöhnte
schwer. Da lag der Hamburger, der mir den Gurt
gehalten, mit zermantschtem, zerfleischtem Gesicht,
rotüberströmt. Das Gewehr hatte fünf Schüsse im
Mantel, die tödliche Garbe riß vier Mann vom Leben
ins Nichts, und zauberte kreisrunde Löcher in die
Kreidekarikaturen Bertholds an der zersplitternden
Schultafel.
Das ganze Haus zitterte im rasenden Feuer, das
gegen die Wände prasselte. Glasscherben flogen mit
den Geschossen plärrend in den Raum, knallten
splitternd gegen den Boden und ritzten Tote und
Lebende. Die Luft explodierte vom harten, knallenden
Aufschlag jedes einzelnen der zerspellenden Bleikerne,
die Bilder an den Wänden tanzten gespenstisch und
polterten zerfetzt zu Boden. In den Wänden barst Stein
und Stahl, kleine zackige Klumpen schleudernd, der
Kalk rieselte, bestäubte den Raum, überzog Menschen,
Leichen und Dinge mit weißlichem Mehl, machte das
rinnende Blut zu klebrigem Brei. Holzsplitter flogen
zischend, es klaffte die Tür, die Tafel, das Pult, die
Wände zernarbten, bröckelten, unzählige kleine körnige
Trichter zauberte das Feuer an sie hin. Wir lagen dicht
an die Vorderwand gepreßt, unfähig, zu schießen, und
ließen den Regen über uns prasseln.
Die Tür sprang auf, Hoffmann trat ein, sank
blitzschnell zu Boden und kroch auf allen vieren zu mir
hin. Augenblicks donnerte eine Garbe in den Gang, und
die Tür sauste, von geheimnisvoller Hand bewegt,
bebend hin und her. Hoffmann starrte mich aus
bleichem, bestaubtem Gesicht an, wühlte in der Tasche
und zerrte einen kleinen Spiegel heraus, den er mir
vorhielt. Ich blickte hinein und sah mein Gesicht
blutbespritzt. Aus einer winzigen Wunde an der Schläfe
quoll es dunkel hervor. Ich wischte mit schmutzigem
Taschentuch, das ich bespie, und verschmierte mich
ganz. «Gewehr kaputt!» brüllte Hoffmann. Ich deutete
fragend auf mein MG, das umgestürzt am Boden lag.
Er zeigte nickend mit dem Daumen in die Richtung des
Raumes, aus dem er kam. Leutnant Wuth kam gebückt
in das Zimmer geflitzt. Sein Barett ließ Samtfetzen
flattern. Ein dünnes Rinnsal Blut floß von der Stirn ihm
zum Kinn. Sein Blick zerrte uns aus dem Raum. Wir
krochen am Boden bis zur Tür und witschten dann
einzeln durch in den Gang. Dort konnten wir, geschützt
durch die dicken Mauern, aufrecht stehen. «Das hat so
keinen Zweck», kreischte Wuth. «In jeden Raum soll
nur ein Mann, Schießscharten in die Mauern, beobach-
ten, alles andere in die Gänge. Munition sparen!» —
Die Gänge lagen voll von Toten und Verwundeten.
Wir schleiften auch die Toten unseres Raumes in den
Gang. Ein Hamburger hieb mit einer Eisenstange ein
Loch in die Mauer. Hoffmann und ich schleppten die
Munitionskästen heraus. Dann hetzten wir in
Hoffmanns Zimmer, auch dort die Munition zu bergen.
Im Treppenhaus hockten die Leute dichtgedrängt. In
der Nähe der Türen und Fenster aber war niemand, nur
Leichen lagen dort. Ich suchte jedes meiner Gewehre
auf, stolperte über die Toten und schnellte in die
Klassenräume. Aber kein Gewehr, nicht ein einziges
von uns, war noch intakt. Nur oben das leichte auf dem
Dachboden schoß noch unentwegt. Ich trug einige
Kästen Munition hinauf. Die Verwundeten riefen
stöhnend um Wasser. Der Doktor und die Sanitäter
verbanden blutige Glieder, rissen aus den Hemden der
Lebenden und Toten Stoffstreifen, denn das
Verbandzeug war aufgebraucht. Der Doktor hielt mich
an, fragend auf das Blut an meiner Stirn deutend, doch
ich winkte ihm ab.
Die Schule wurde von allen Seiten beschossen. Die
umliegenden Häuser und Höfe und Felder waren dicht
besetzt. Unablässig und gleichmäßig prasselte es gegen
unsere Mauern. Der Haß der ganzen Stadt sprühte
unerbittlich an den isolierten Stein. Aus einem
Schulzimmer kam einer der Hamburger und sagte:
«Nun schießen sie MG-Punktfeuer aus noch nicht
hundert Meter Entfernung! Jeden Stein schießen sie
einzeln heraus!» Der ganze Kasten bröckelte. Wenn
unten am Haupteingang einer der Bayern schoß, dann
hallte es donnernd im ganzen Hause, als krache eine
Mine hoch.
Die Bayern lagen schweigend auf den Steinfliesen
der Gänge und auf den Treppenabsätzen. Wenn ein
Schuß durch eine der Türen fuhr, rückten sie stumpf
etwas zusammen. In den Klassenräumen kauerten nur
noch die Beobachtungsposten. Hoffmann, Wuth und
ich legten uns zwischen die anderen. «Wo ist
Berthold?» fragte ich. «Am Haupttor», murmelte Wuth.
Ein junger bayrischer Offizier kam langsam über die
hingestreckten Körper geklettert, sah Wuth und sagte
mit brüchiger Stimme: «Die Zugwache muß doch
hören, was los ist? Es muß doch Nachricht nach Stade
gekommen sein? Balla und die anderen Bataillone
müssen doch wissen, daß wir im Druck sitzen?» —
Wuth schüttelte stumm den Kopf. Der Bayer sagte
eintönig: «Die Hamburger Schupo muß doch
eingreifen? Ich verstehe gar nicht, man kann uns doch
nicht einfach so sitzen lassen?» Wuth stand auf und
nahm den Offizier am Arm und führte ihn weg.
Einer kam und sagte: «In der Stadt wird
geschossen!» Sofort war die Hälfte der Leute auf den
Beinen. Die Klassenräume füllten sich wieder, alles
lauschte. «Das ist die Zugwache, die anrückt!» —
«Nein, das kommt von einer anderen Richtung, das
sind Hamburger!» Ich horchte angestrengt, aber ich
vernahm keine Abweichung von dem pausenlosen,
hämmernden Feuer, das gegen die Schule schlug. Einer
behauptete, ein Hurra gehört zu haben. Wuth kam und
sagte: «Herrschaften, nur nicht nervös werden. Alles in
die Gänge!» Er sah mich an und flüsterte: «Mann, der
Zug ist gestürmt, hinten im Felde schwenken sie unsere
Flagge.»
«Können das nicht die Unseren sein?»
«Nein, es sind Zivilisten!»
Das Feuer wurde stärker. Es schwoll und prasselte,
wie wenn ein Strich Hagel inmitten Platzregens auf
Wellblechdächer trommelt. Die Soldaten krochen eng
und enger aneinander. Nun aber sonderten sich wie
immer in den Augenblicken höchster Spannung die
einzelnen. Es hielt uns nicht im dicken Haufen. Wir
standen auf und strichen durch die beschossenen
Zimmer, huschten durch die Gänge, kletterten auf den
Dachboden, stöberten im Keller, schleppten Munition,
immer nur ein paar Mann, von hundert etwa drei bis
vier. Ich stolperte mit Hoffmann alle Eingänge ab. Da
war eine Tür, die auf den Schulhof führte, und diese
Tür lag im toten Winkel. Der Hof war mit einem
Bretterzaun umgeben. Konnte man nicht ungesehen bis
zu jenen Häusern vordringen? Die Häuser schienen
nicht besetzt zu sein. Von dort konnte man vielleicht
auf das freie Feld gelangen? Die Schützengräben lagen
weiter rechts. Ich winkte Hoffmann, er zeigte nach
oben; wir kletterten zum MG ins Dachgeschoß.
Ich ging in ein Klassenzimmer und warf mich vor die
Schießscharte. Der Bayer wälzte sich stumm zur Seite
und legte müde den Kopf auf die Arme. Das Feuer kam
von allen Seiten. Der Platz lag völlig tot. Ich konnte
nicht einen gegnerischen Schützen entdecken. «Durst»,
sagte der Bayer. Ich zuckte die Achseln. «Ihr Bayern
habt immer Durst.» — «Ach, quassel nicht.» — Ich
schlängelte mich wieder hinaus. Hoffmann sagte: «Die
Munition wird knapp.» Das Gewehr am Dach hatte
noch knapp einen Gurt. Ich stieg die Treppe hinunter.
Ein Treppenfenster war noch völlig heil. Es ging auf
den Hof zu und war durch den Seitenflügel des Hauses
gedeckt. Nur ein ganz schmaler Streifen Feldes war
durch dies Fenster einzusehen.
Wir traten, Hoffmann und ich, ans Fenster. Unten
riefen sie: «Munition!» — «Wir kommen gleich!»
schrie ich. Da krachte es ohrenbetäubend und splitterte,
zwei Arme griffen in die Luft, das Gewehr polterte die
Treppe hinunter. Etwas Schweres schlug mir an die
Brust, meine Knie knickten ein, ich fiel — und sah auf
meiner Brust den gurgelnden Kopf, die Wunde, den
höllischen Spalt aus Blut, Haar und Hirn — Hoffmann
— Hoffmann! —
Hoffmann war tot. Sanitä... ja, er war tot. Hoffmann
war tot. Ich legte ihn sanft hin. Dann hockte ich mich
auf den Treppenabsatz und sah stumpf in den Abgrund.
«Wann kommt die Munition?» hallte es von unten.
Wuth strich vorbei wie ein Gespenst, stutzte einen
Augenblick, sah und murmelte: «Fähnrich, die
Munition.» Jetzt krachte es. Das bayrische LMG am
Haupteingang donnerte einige unsagbar hallende
Schüsse. Ich torkelte hinunter. «Sie kommen, sie
kommen!» —
Wuth riß mich zu Boden, an das andere Gewehr. Ich
machte es mit flatternden Händen fertig zum Schuß.
Die Bayern der anderen Bedienung riefen zu uns
herüber, sie kämen aus den Häusern, steckten jetzt im
toten Winkel.
Wir lagen rechts und links des Haupteingangs, auf
dem ersten Treppenabsatz, etwa in Höhe des
Oberlichtes der Tür. Von den Häusern konnten wir nur
gerade noch das Erdgeschoß sehen, von der breiten
Straße nur einen kleinen Ausschnitt. Auf der Treppe
vor uns lag ein umgestürztes SMG total zerschossen,
daneben lagen zwei Tote, beide mit gräßlichen
Kopfschüssen, ähnlich wie Hoffmann — «Ruhe», sagte
Wuth, «Ruhe!» — Wir lagen bewegungslos hinterm
Gewehr.
Das andere Gewehr schoß. Von draußen klackte es
nur zaghaft gegen die Treppenstufen. Ich konnte nichts
sehen, öde lag der schmale Streif der Straße. Dann war
alles still. Nur auf dem Platz bruzzelte eintönig das
Feuer gegen das Haus.
Oben wurde nach Wuth gerufen. Er stand zögernd
auf, stieg dann eilig die Treppe hinan. Die Bayern, es
waren drei Mann, fragten, ob wir nichts von der
Zugwache gehört hätten, oder ob von Stade oder von
Hamburg Verstärkung oder Entsatz käme? Ich zuckte
die Achseln.
Wuth kam und sagte: «Befehl Hauptmann Berthold,
es soll nur im äußersten Notfall geschossen werden.»
Er hockte sich auf die Treppe und sah starr vor sich hin.
Fünf Stunden ging nun schon diese Schießerei. Ich
lugte angestrengt durch den schmalen Spalt der Tür. Da
wehte doch eben ein Schatten? Nein, drüben, in den
Häusern, in den Fenstern regte es sich. Ich fuhr mit der
Hand zum Gurt. «Nicht schießen», sagte Wuth. —
Ganz deutlich sehe ich einen Mann mit Gewehr am
Fenster. Er schaut angestrengt zu uns her. Ich richte
mein MG genau auf ihn ein. Nun scheint er mich zu
sehen — ja, er hebt das Gewehr, ja, er zielt...
blitzschnell werfe ich mich zur Seite, da knallt es auch
schon, spritzt und flackert und schlägt mir an den Arm.
Ich sehe erschrocken, wie der Ärmel sich blutig färbt.
«Verwundet?» fragt Wuth und ist im Augenblick neben
mir. «Achtung!» brülle ich und reiße ihn mit dem
linken Arm weg. — Wir untersuchen die Wunde. Ganz
harmlos, das Geschoß fuhr in den steinernen Pfeiler
neben mir, splitterte und jagte mir die kleinen
Sprengstücke in den rechten Unterarm. Es blutete stark.
«Rauf, verbinden!» befahl Wuth.
Der Doktor wand hastig einen Streifen Zeugs um den
Arm. Er kaute abgerissene Worte durch die Zähne und
sah sehr erschöpft aus. «Berthold will verhandeln,
verhandeln, wie soll das weitergehn...»
Ich ging zum toten Hoffmann. Er lag auf dem
Rücken, den Körper friedlich ausgestreckt. Wie,
bewegt er sich? Er röchelte doch eben? Hoffmann?
Nein, ach nein, das Blut tropfte ihm aus Stirn und Nase
in die Kehle und bahnte sich gurgelnd seinen Weg. So
schnarchte der Tote noch lange, und jedesmal fuhr ich
doch wieder zusammen. Ich konnte nicht so sitzen
bleiben, ich mußte weiter; ich streifte scheu an
Hoffmanns Hand und ging.
Berthold ließ eine Schultafel bemalen: «Waffenruhe!
Wir wollen verhandeln!» Die Tafel wurde an Stricke
gebunden und dann vorsichtig aus einem Fenster
gehängt. Sofort konzentrierte sich das Feuer auf diese
Stelle, binnen weniger Augenblicke war die Tafel
völlig zerfetzt. — Ich streife nun mit einem jungen
großen Bayern durch das Haus. Oben im Dachgeschoß
sitzen die zwei Mann des LMG schweigsam und ruhig
und lugen auf den Platz. Es sind zwei Bayern. Der eine
trägt Tressen, ist wohl Fahnenjunkerunteroffizier. Ich
spreche ihn an, er antwortet karg, ja, er ist Student. Ich
gehe mit meinem Begleiter wieder hinunter. Wir
kommen an einen Gang, in den durch die Türen immer
wieder Schüsse knallen. Der Bayer macht sich den
blödsinnigen Spaß, aufrecht vorbeizuspringen, und
lacht dabei und sieht sich triumphierend nach seinen
Kameraden um. Wieder springt er los, schnellt aber,
plötzlich eigentümlich gefedert, mitten im Sprung zur
Seite und fällt wie ein Klotz, das Gewehr fegt krachend
den Gang entlang. Tot.
Da ist der kleine, schmale, bayrische Offizier wieder.
«Es muß doch Entsatz kommen?» sagt er und sieht
mich beschwörend an. Ich will stumm an ihm vorbei,
da schreit es von der Treppe: «Offiziere zu Hauptmann
Berthold!» Wuth kommt mir entgegen. Ich gehe mit
ihm bis zu dem Raum, wo Berthold die Offiziere
versammelt. Es ist ein enges Zimmer, dicht am
Haupteingang. Wuth geht mit dem kleinen Bayer
hinein, ich sehe im Moment das Häufchen der
übriggebliebenen Offiziere dicht um den Hauptmann
stehen. Dann schließt sich die Tür. Aber ich kann nicht
hier draußen stehenbleiben, ich darf nicht und ich kann
nicht. Ich weiß mit entsetzlicher Bestimmtheit, daß da
drinnen um die Übergabe beraten wird. Und ich gebe
mir einen Ruck, öffne die Tür und trete ein.
«Herr Hauptmann!» sage ich heiser, die Worte
würgen sich trocken durch die Kehle, «Herr
Hauptmann», dann reiße ich die Knochen zusammen
und sage: «Bitte, eintreten zu dürfen.» Die Offiziere
fahren herum, Wuth tritt auf mich zu mit rascher
Bewegung, ich mache einen Schritt zur Seite und sehe
den Hauptmann an. Der sagt, den Kopf halb gewendet
und sehr bleich: «Ja, was ist?» Ich sage: «Herr
Hauptmann, ich weiß, wie es in Halle war, wir dürfen
die Übergabe nicht...» — ich beginne zu stammeln,
raffe mich zusammen und sage: «Wir können doch
noch einen Ausfall machen!» und fahre rasch fort:
«Hinten, die Tür zum Schulhof ist nicht eingesehen, ich
habe alles ausgekundschaftet, da ist ein Bretterzaun,
niemand sieht uns bis zu einer Häusergruppe an
offenem Feld. Die Gräben liegen weit rechts-ab, wir
müssen so durchstoßen können ins Freie.» Der
Hauptmann hebt die Hand: «Wieviel Munition haben
wir noch?» Wuth fährt hoch: «Alles in allem noch etwa
fünfhundert Schuß.» Der Hauptmann schweigt. Einige
Sekunden lang ist alles still, nur das Feuer draußen
plätschert eintönig weiter. Wuth sagt: «Das ist möglich,
Herr Hauptmann, nur müßte der Ausfall durch eine
Gruppe, die im Gebäude weiterschießt, verschleiert
werden.» Schnell sage ich: «Das geht, wir haben noch
drei intakte MGs, da bleiben wir einfach und feuern so
lange...» — «Und was geschieht mit diesen Leuten
dann?» fragt der Hauptmann und schnellt den Kopf zu
mir, wie ein Vogel. «Wir können», ich stottere, «Herr
Hauptmann, nur ein paar Mann, wir können vielleicht
uns doch noch durchschlagen nachher.» Der
Hauptmann sagt ruhig: «Nein. Meine Herren, wenn der
Ausfall beschlossen wird, dann werden die Offiziere
den Ausfall decken.» Die Offiziere fahren mit der Hand
an die Mütze. Ich sage: «Herr Hauptmann, ohne Sie
gehen die Leute nicht.» Berthold steht auf und sagt:
«Dann unterbleibt der Ausfall», überlegt zwei tödliche
Sekunden und spricht zögernd: «Wer von den Leuten
den Ausfall allein wagen will, kann es tun. — Es ist
gut, Sie können gehen.» Ich reiße mich hoch und
taumele zur Tür und weiß mit nagendem Schmerz, daß
dieser Entscheid Bertholds für ihn der einzig mögliche
ist. Ich finde mich bei der Leiche Hoffmanns wieder.
Es wird rasch dunkel.
Wir haben keine Munition, wir haben kein Wasser,
wir haben so viel Tote, daß wir die Lebenden zählen.
Wir haben auch keine Hoffnung mehr. Hoffmann
schnarcht periodisch. Es ist alles zu Ende. Was
kümmert es uns, daß draußen das Feuer nachläßt? Wuth
kommt und sagt, Berthold sei mit den Belagerern in
Verbindung getreten. Was kümmert's mich? Der kleine
bayrische Offizier tritt hinzu, er ist wie eine Klette, er
lauscht mit offenem Mund. Ich habe noch wenige Pa-
tronen in der Tasche. Drunten am Eingang wird es
lebhaft. Es ist schon sehr dunkel im Haus. Auf einmal
stehen zwei Arbeitersanitäter vor uns, ältere Leute,
fragen ruhig, wo Schwerverwundete seien. Einer mit
roter Armbinde kommt hinter ihnen und sagt mit halber
Stimme: «Freier Abzug ohne Waffen zugesichert. Bitte
legen Sie die Waffen ab.» Er sagt «bitte». Wuth lächelt
fatalistisch und schnallt das Koppel vom Mantel und
läßt es zu Boden fallen. Der kleine Bayer sagt aufgeregt
zu Wuth: «Aber das Koppel ist mein Privateigentum!»
— «Schnall's unter, du Rindvieh!» sagt Wuth grob und
dreht sich um. Das Schießen hat völlig aufgehört.
Wir drängen uns langsam auf den Haupteingang zu.
Schon sind einzelne Leute auf dem Platz, schon stehe
ich auf der Treppe und blicke über die schwarze,
bewegte Masse der Bewaffneten, da knallt es wieder
los. Die vorne spritzen erregt zurück, «Verrat» schreien
sie, «Verrat» und «Die Hunde schießen wieder ...» Ich
rase sofort hinauf auf das Dach zum letzten MG. Kaum
bin ich an der Tür, rattert es auch schon wieder los. Der
Kampf beginnt von neuem.
Es dauert nicht lang. Wir verknallen die letzten
Patronen. Zwei Rotbinden kommen mir auf dem Gang
entgegen und sagen: «Es hat doch keinen Zweck,
Leute, es hat doch keinen Zweck.» — «Ihr
Schweinehunde», sage ich, und fühle, wie ich bleich
werde. «So haltet ihr die Abmachung?» Die schweigen.
Schwere Dünste von Blut, Schweiß, Staub und
Pulver drücken auf die Lunge. Über die Leiche
Hoffmanns steigen mehrere Rotbinden mit
vorgehaltenem Gewehr. Ich habe eine irrsinnige Wut.
«Die Waffen weg!» rufen sie mir drohend zu. Ich
schmeiße das Gewehr beiseite und sage: «Hab sowieso
keine Patrone mehr.» Einer sagt, ein ganz junger Kerl:
«Ihr seid die Dummen, ihr seid ja bloß verführt. Aber
wenn wir einen von euren Offizieren erwischen!» Eben
biegt Wuth um die Ecke. Ich zerre ihn schleunigst
zurück. «Achselstücke runter!» zische ich ihm zu. Er
sieht mich entsetzt an, ich reiße ihm die Dinger kurzer-
hand vom Mantel. «Auf die Offiziere haben die's
abgesehn», sage ich; er zuckt die Achseln. Dann nimmt
er langsam und mit tödlich trauriger Miene das
Gefechtsbarett vom Kopf. Er hat einen einfachen
Mantel an. Ich stülpe ihm die blutige Mütze Hoffmanns
auf den Kopf. Er fährt zusammen und sagt: «Schnell zu
Berthold!»
Unten herrscht ein tolles Durcheinander im dunklen
Treppenhaus. Rotbinden, Zivilisten, die Unseren und
auch einige wenige Reichswehrleute wühlen sich
durcheinander. Da steht Berthold. Sein Pour le mérite
leuchtet für kurze Augenblicke. Nur wenige Leute
trennen uns noch von ihm. In diesem Moment reißt ein
Feldwebel der Reichswehrpioniere einen Mantel hoch,
schlingt ihn um Berthold und zischt: «Herr Hauptmann,
fliehen Sie, Sie sollen erschlagen werden!» Berthold
fährt herum, dann ruft er laut: «Nein, ich bleibe bei
meinen Leuten!»
Da stößt Wuth wie ein Keil durch den Haufen, er
schleudert die Leute beiseite, rennt den Hauptmann an,
boxt ihm die Faust ins Kreuz und zischt ingrimmig:
«Los, Berthold, verflucht nochmal, weg!» Der
Hauptmann stolpert vor, Wuth jagt hinter ihm drein,
treibt ihn mit raschen Stößen, auf einmal sehe ich beide
nicht mehr.
Ein riesiger Matrose reißt mir den Rock auf und
greift in die Brusttasche. «Ist das bei euch so Sitte?»
frage ich ihn. Er stößt mich schweigend zurück und
drängt sich weiter. Endlich stehe ich an der Tür. Die
Straße ist schwarz von Menschen. Eine schmale Gasse
öffnet sich, gesäumt von Bewaffneten, für die
Gefangenen. Jemand gibt mir einen Stoß, ich taumle
vor, sofort erhalte ich einen Schlag auf den Kopf. Ich
hebe den Arm, um das Gesicht zu schützen. Die
Schläge prasseln auf mich nieder, doch ich spüre kaum
etwas, ich sehe nur zu, daß ich weiterkomme. Hinten in
der Menge entsteht Tumult, ich bemerke, wie der
Haufen sich dorthin drängt, von mir abläßt. Ein großer
Bayer ist plötzlich neben mir, er flüstert stockend: «Da
erschlagen sie unsere Offiziere!»
Immer mehr Gefangene sammeln sich unter dem
wüsten Geschrei der Menge. Wir stehen apathisch da,
der Kopf ist mir benommen, ich sehe nur ein wirres,
unsagbar widerliches Durcheinander von verzerrten
Fratzen. Ich kann an nichts denken, ich will an nichts
denken. Einige Minuten bin ich völlig betäubt und
wünsche mir nur ein Glas Wasser. Da sehe ich Wuth,
einige Schritte vor mir. Er steht gleichgültig unter den
anderen. Gott sei Dank, denke ich und denke sofort,
ach, dann ist Berthold nicht durchgekommen! Aber von
Berthold ist nichts zu sehen.
Der Doktor drängt sich, begleitet von dem riesigen
Matrosen, zu uns durch, sieht mich, stürzt zitternd auf
mich zu: «Wo ist Leutnant Wuth? Wo ist Leutnant
Wuth! Ich muß ihm sagen, daß ich jetzt die Verletzten
verbinden soll. Wo ist denn Leutnant Wuth?» Der
Hamburger neben mir fährt auf: «Halt's Maul, du Idiot!
Hier sind keine Offiziere, du Idiot!» Jetzt begreift der
Doktor endlich, wird im Gesicht ganz grau, sein
Unterkiefer fällt weit herab. «Jaja, so, jaja, ja natürlich,
also, damit Sie Bescheid wissen, ich verbinde jetzt die
Verletzten. Ja...» Der Matrose zerrt ihn fort.
Wir marschieren los. Rechts und links gehen dicht
aufgeschlossen die Bewaffneten. Mein verletzter Arm
beginnt unerträglich zu schmerzen. Alle Nerven
konzentrieren sich auf den einen Punkt. Wir stolpern an
dem Zaun entlang, biegen dann rechts in eine stille
Straße ab. Die letzten Minuten fahlen Lichts vor dem
Einbruch der Nacht tauchen die Häuser in einen
verschwimmenden Dunst und lassen unseren Marsch
völlig unwirklich erscheinen.
«Halt!» schreit eine grelle Stimme. Die vordersten
Gruppen stoppen. Es läuft plötzlich wie ein elektrisches
Beben durch die Reihen, die Rotbinden wenden jäh uns
die entsicherten Gewehre zu. Ich renne erschreckt auf
meinen Vordermann auf. Was ist los, da muß Entsetz-
liches geschehen sein — «Da liegt euer Hauptmann,
seht ihn euch an —» —
Was, was schreit er da, der versoffene Hund? — Der
Hauptmann? Der Hauptmann? — —
«Der Hauptmann!» schreien die Bayern, das geht
wie ein Ruck durch die aufgestörte Kolonne; die
Bayern brüllen, drängen plötzlich vor.
Da liegt der Hauptmann. Da liegt Berthold. Im
Rinnstein, in der Gosse. Was haben sie mit dem
Hauptmann gemacht — er ist ja nackt, wo ist denn sein
Kopf? — Ein blutiger, zertretener, nackter Leib, die
Kehle durchgeschnitten, der Arm vom Rumpf gerissen,
der Körper voller roter Striemen, und Narbe an Narbe
an diesem Körper. Ist das wirklich Berthold? Da liegt
sein Kopf!
Der Hauptmann! Wir nehmen ihn mit! Wir nehmen
den Hauptmann mit. Die Bayern stöhnen auf. Wir
nehmen ihn mit! Und stoßen vor. Kolben fahren
dazwischen. Doch schon sind die ersten Gruppen
heran; einzelne Schüsse krachen los. Wir nehmen ihn
mit! Die Rotbinden jagen vor. Die Bayern hinten
drängen ruckartig nach. Die ersten Gruppen werden
von den folgenden Kameraden fortgerissen, die Masse
der Gefangenen wälzt sich weiter, um den Hauptmann
zu sehen, doch in diesen flirrenden Sekunden der
Verwirrung sind die Rotbinden schon verstärkt und
schieben sich dazwischen; Kolbenhiebe prasseln. Wir
sind vorbei. —
Ein tobender Troß von Menschen begleitet uns.
Weiber kreischen fäusteschüttelnd auf uns ein. Steine
fliegen, Töpfe, Stöcke. Die Wachleute werden
getroffen und rufen nun wütend zu den Weibern hin.
In eine Wirtschaft werden wir schnell hineingetrieben,
die Menge drängt nach, wird von den Bewaffneten
zurückgehalten. Wir kommen in einen mit Gasflammen
erleuchteten Tanzsaal. Verstaubter, billiger Vorstadt-
flitter baumelt an den Wänden, und unter der Decke
ziehen sich Papiergirlanden, an denen bunte Lampions
hängen. Wir müssen antreten. Die Wachleute komman-
dieren wild herum. Draußen grölt die Menge und
poltert gegen die Tür. Jetzt ist mir schon alles gleich.
Der Arm schmerzt rasend, ich drehe mich halb um. Wir
sind höchstens noch hundert Mann — von vierhundert
— und Wuth ist nicht dabei.
Einer von den Rotbinden spricht. Ich koche vor
dumpfer Wut. Was hat der Kerl für eine große
Schnauze! Das ist ein ziemlich junger Kerl noch,
schwarzes, langes, buschiges Haar, Hornbrille, sehr
rote Lippen, eine dunkle Russenbluse. Aha, den Typ
kennen wir. Er scheint der Anführer. Er geht unsere
Reihe entlang und fragt schallend: «Wo ist der Mann
mit der hellen Mütze, der gleich zu Anfang das
Maschinen-gewehr im ersten Stock bediente?» Er
bleibt vor mir stehen, stutzt, sieht wohl den besseren
Schnitt meines Rockes, meine Reithosen, sagt
herablassend: «Was ist denn das für einer. Bist du
Gemeiner?» Ich sehe rot. Ich sage: «Nicht so gemein
wie du!» und hebe versteckt das Bein, um es ihm sofort
in den Bauch zu treten, wenn er sich auch nur muckst.
Doch er geht schnell weiter. Meine helle Mütze, ach,
die liegt zerfetzt neben Hoffmann da droben in der
Schule.
Wir legen uns ermüdet auf den Boden. Vor der Tür
tobt die Menge. Von Zeit zu Zeit brüllt es los und
donnert an das Tor. Dann eilen die Wachleute wichtig
dahin. Endlich kommt die große Schnauze zu uns und
muß natürlich wieder eine Rede halten. Er fordert uns
auf, freiwillig eine Sammlung zu veranstalten für die
unglücklichen Hinterbliebenen unserer Opfer. Einige
wenige der Gefangenen greifen müde in die Tasche.
Aber jetzt gehe ich hoch. «Nicht einen Pfennig!»
knirsche ich den Gefangenen zu. «So wollen wir das
Dreckleben nun doch nicht erkaufen!» und fahre auf
die große Schnauze zu. «Aber, wenn Sie nichts stiften,
dann wird die Menge hier eindringen, Sie müssen die
erregten Massen besänftigen!» sagt der Kerl
fassungslos. Ich schnappe mir einen Stuhl und setze
ihm Wort für Wort dicht vor das zurückfahrende
Gesicht: «Wenn die Menge hier reinkommt, dann
wehren wir uns mit Stuhlbeinen, Fäusten und Zähnen,
und dann könnt ihr zählen, wer von euch noch
übrigbleibt.» Die Großschnauze weicht zurück. Ich
teile Posten von uns ein, die einige Stunden wachen
müssen, damit wir nicht von der vielleicht
eindringenden Menge überrascht werden. Dann hauen
wir uns auf die Dielen. Ich kann lange nicht
einschlafen, der verletzte Arm ist dick geschwollen, das
Blut hat den Verband durch-tränkt und schwärzlich
verkrustet. Endlich falle ich in eine Art wacher
Betäubung. —
Am frühen Morgen wurde plötzlich die Türe
aufgerissen, das Gejohle der schon wieder oder immer
noch vor dem Hause versammelten Menge dröhnte
aufreizend zu uns herein, und dann kam eilig eine
Gruppe Gefangener von draußen, unter den ersten auch
Wuth. Viele bluteten am Kopf, fast alle hatten Striemen
im Gesicht und zerfetzte Uniformen. Die Tür wurde
eilends geschlossen, wir mußten antreten. Ich schob
mich an Wuth heran und stellte mich neben ihn. Er war
sehr bleich, sein Gesicht schien erschreckend
abgemagert zu sein, sein Eberzahn stach weiß und
blank in das zerzauste Bärtchen. Die Soldaten,
vornehmlich die Hamburger, standen dichtgedrängt um
ihn herum. Sie kannten ihn alle, — als er in den Saal
trat, ging es wie ein Hauch der Erleichterung durch die
Gefangenen. Fast alle blickten ihn jetzt verstohlen an.
Die verdammte Großschnauze in der Russenbluse
sprach mit einem riesenhaften, bewaffneten, mit einer
dicken roten Armbinde gezierten Arbeiter. Dessen
Rock stand offen, die nackte braune Brust war mit
blauen und roten Tätowierungen bedeckt. Er hatte ei-
nen für seinen Körper kleinen, Vierkanten Kopf, aus
dem über einer starken und kühnen Nase die Augen
merkwürdig rötlich und fast ohne Wimpern die
Gefangenen musterten. Draußen schwoll das Toben der
Masse. Wir hörten die schrillen Schreie der Weiber,
Steine polterten gegen die Tür. Der Kerl in der
Russenbluse wandte sich nun zu uns und sagte: «Wir
wissen, daß noch Offiziere unter euch sind. Ihr habt
euch verführen lassen durch diese Schweine. Es soll
euch nichts geschehen, wenn ihr uns jetzt sagt, wer von
den Offizieren noch unter euch ist. Wer die Offiziere
nennt, dem passiert nichts; er wird sofort unter
sicherem Schutz nach Hamburg gebracht und
freigelassen. Wenn ihr die Offiziere nicht angebt, na,
dann werdet ihr ja sehen, was geschieht. Na, wird's
bald?»
Ich packte mit der linken Hand sofort Wuths Arm
und drückte ihn fest zusammen. Ich spürte, wie seine
Muskeln sich strafften, wie seine Knochen ein Beben
durchlief. Ich preßte eisern sein Handgelenk und zerrte
mit ganzer Kraft nach unten. Der ganze, starke, zähe
Mann strebte nach vorn. Wollte er sich durch das erste
Glied drängen, sich melden, um unsertwillen?
Niemals? Niemals darf das geschehen. Unsere beiden
Fäuste rangen miteinander. Ich sah ihm wütend ins Ge-
sicht; das war unheimlich gespannt, die Haut straffte
sich über die mageren Backenmuskeln, doch hatte er
die Zähne fest zusammengebissen. «Schnauze halten,
Wuth!» flüsterte ich. Die anderen Gefangenen standen
unbeweglich und stumm. Am rechten Flügel entstand
Unruhe. Ich sah erregt hin. Aber Tietje von den
Hamburgern hatte nur spielerisch und anscheinend
völlig unbeteiligt nach einer Stuhllehne gegriffen.
«Na, denn nicht», sagte die Russenbluse. Der
Riesenhafte drehte sich kurz um, hieb mit dem Kolben
rasselnd auf den Boden und stampfte hinaus. Die
Russenbluse sagte: «Ihr werdet jetzt abtransportiert.
Aber wir wollen noch eine Weile warten, es sind noch
nicht genug Leute draußen, die auf euch lauern.» Er
grinste und verkrümelte sich zum Eingang.
Sofort war um Wuth ein dicker Klumpen Ge-
fangener. Tietje sagte: «Für was halten uns die Brüder
eigentlich?» und schwenkte seinen Stuhl. Wuth zischte
durch die Zähne: «Herrschaften, wenn die draußen
prügeln, dann wiederprügeln. Keinen Hieb gefallen
lassen. Immer hinter oder neben dem Wachmann
gehen, damit der auch sein Teil abkriegt von seinen
eignen Leuten! Immer dicht zusammenbleiben. Einer
dem anderen beistehen. Die größten in die erste und in
die letzte Gruppe, die Verwundeten in die Mitte. Seht
zu, daß ihr die Stöcke ergattert, aber nicht aus der
Reihe springen. Auf mich achten, ich gehe in der ersten
Gruppe.» Nach einer kurzen Pause fragte er: «Wieviel
Hamburger sind eigentlich noch da?» Einer sagte:
«Zwölf.» Wir schwiegen.
Der Tätowierte kam herein, brüllte: «Antreten!» und
riß dann die Tür auf. Einige Sekunden lang hörte man
nur das Trappen unserer eiligen Schritte. Wuth ging als
erster ins Freie. Ich folgte dicht hinter ihm.
Wir rannten mit vorgeneigtem Kopf, die Arme
abwehrbereit erhoben, wie weggeschleudert in den
dumpfen Haufen. Sofort spaltete sich die Menge; es
war, wie wenn ein Keil in sie hineingetrieben wäre;
eine schmale Gasse riß sich in den Kern der Menge, wir
stießen in sie hinein. Wir wußten nicht, wohin sich
unser Weg ziehen sollte; wir wußten nicht, ob wir
ausgeliefert waren an die Masse, ob eine sichre Zu-
flucht winkte irgendwo; wir wußten nur, daß wir jetzt
uns zu wehren hatten; wir wußten, daß wir jetzt nur
durch unerbittlichen, keuchenden, letzten Ansprang
alles setzen mußten an das bißchen Lebensmut, das uns
die Welt erträglich machte. Ein Geflirre von
stolpernden Füßen war vor meinen Augen, und die
linke Faust stieß in ein Gesicht und fühlte, wie etwas
Knorpeliges brach. Ein schwerer Schlag sauste auf
meinen Kopf, vom Arm halb aufgefangen. Ein
manchestersamt-bespannter Bauch sprang ins Blickfeld
und beulte sich nach zielgenauem Stoß. Es fiel ein
steifer, schwarzer Hut; mein Fuß zerstampfte ihn, war-
um gab mir das solche wilde Freude? Was dröhnt mir
auf den Kopf? Was hämmert mir die Schulter wund?
Da ist ein Schienbein, hin den Nagelschuh! Ein Hieb
zuckt schmerzend auf den rechten Arm. Ein ungleich
Spiel, von denen kriegt nur jeder einen Schlag — doch
wieviel Schläge treffen uns?
Der Kerl, der Tätowierte, trabt jetzt neben mir. Er hat
die Knarre halb erhoben, doch sieht er unempfindlich
gradeaus und läßt die Schläge auf uns prasseln. Ich
sehe, wie ein Kuli einen langen Schlauch weit
ausholend niedersausen läßt, sofort spring ich zurück,
der Schlauch klatscht nieder, schlängelt pfeifend um
den tätowierten Wachmann. Der brüllt auf und fährt
herum und haut dem Kuli in die Fresse. Nun kommt er
doch in Fahrt, der Wachmann! Wuth boxt gekrümmt,
drei Schritte vor mir. Weiber dringen auf ihn ein. Die
Weiber, breit, in blauem Zeuge, mit nassen Schürzen
und zerschlampten Röcken, fauchrot die faltigen
Gesichter unter wirrzerzaustem Haar, mit Stöcken,
Steinen, Schläuchen und Geschirren, sie hämmern auf
uns los. Sie spucken, keifen, kreischen, — wir sind
heran, nun durch. Es röchelt neben mir im schnellen
Lauf ein kleiner Bayer, älter schon, und wie wir an den
Weibern sind, da hör ich eine kreischen: «Was schlagt
ihr denn die jungen, die alten Böcke müßt ihr prügeln!»
Der arme kleine Bayer kriegt sein Teil.
Da ist einer an der engen Gasse, ein junger, starker
Kerl, der ist mit großem Ernste bei der Arbeit. Er sucht
sich seine Leute aus, blickt prüfend und bedächtig erst
die Reihe längs, bevor er schlägt. Dann aber haut er
voller Wucht dem Auserwählten von unten rauf mit
ganzer Faust vom Kinn her an die Nase, daß die rote
Brühe spritzt. Er kommt an Wuth; das war verkehrt,
denn Wuth duckt blitzschnell sich, der Bursche taumelt,
und Wuth rennt ihm das Knie, die Wucht des ganzen
Körpers hintersetzend, in den unbewehrten Unterleib.
Der knickt zusammen, fällt, doch Wuth fällt mit ihm,
beide rollen. Ich bin heran und schnappe Wuth am
Kragen und zerr ihn hoch, wir rasen weiter. Jetzt spüre
ich den Schmerz des Armes nicht, jetzt schlag ich auch,
wo niemand mich bedroht. Die Bewaffneten laufen
neben uns. Es krachen Schüsse hinten, Schreie
dröhnen, es kommt Bewegung in die Massen. Doch aus
einer Seitenstraße bricht ein neuer Trupp, vornehmlich
Weiber. Die Weiber sind die schlimmsten. Männer
prügeln, Weiber spucken auch und keifen, und man
kann so ohne weiteres nicht die Faust in ihre Fratzen
pflanzen. Da steht, Idylle im Gewirr, ein altes Weib
und stützt sich auf den Schirm. Die guten alten Augen,
ach, unter jettbesticktem Häubchen! Kaum stehen kann
sie, ernsthaft blickt sie uns entgegen und hebt — und
hebt mit zitterigem Arm den alten Schirm, und schlägt
mich, schlägt mich! Heiland!
Schon wieder Schüsse. Wir laufen jetzt gehetzt,
gepeitscht von Schrei und Schlag. Die Massen rennen
hinter uns. Es baut sich eine hohe, rote Mauer vor. Ein
Tor fliegt auf. Wir flitzen durch. Wir sind jetzt in der
Pionierkaserne. Die Rotbinden sammeln sich am Tor
und wehren den Nachdrängenden den Eingang. Wir
stehen keuchend, blutend und zerschlagen auf dem Hof.
Die Reichswehrleute weisen uns zurecht und drängen
uns in das Quartier. Die Reithalle, der ganze Boden
dicht bedeckt mit grauem Erbsstroh, nimmt uns auf.
Es wurden sieben Mann von uns bei diesem
Sturmlauf von der Masse erschossen und erschlagen.
Wuth knirschte, auf den Boden der Halle hingeworfen:
«Das nächste Mal, bei Gott, da kommen wir mit
Fünfzehner-Langrohr über diese Stadt.» Doch Tietje,
unverbesserlich, behauptet: «Prügeln ist immer fein,
auch wenn man selber Hiebe kriegt.» —
Drei Tage lagen wir in der Reithalle. Wir lagen im
knisternden, staubigen Stroh, gereizt, müde, verbraucht,
voll einer dumpfen, fressenden Wut. Einer der Bayern
erzählte Tag für Tag eintönig, wie Berthold starb. Der
Mann war bis zuletzt bei dem Hauptmann gewesen.
Berthold war im Schutze des Mantels bis zu jener
Seitenstraße gelangt. Da kamen ihm Matrosen und
Arbeiter entgegen. Einer von denen erkannte ihn am
Pour le mérite. Sie fielen über ihn her, er wehrte sich,
er schlug um sich, ein Kolbenhieb auf seinen bloßen
Kopf ließ ihn umsinken. Er zog mühsam den Säbel, den
er noch umgeschnallt trug, doch wurde der ihm
entrissen. Er, halben Leibes an einen Laternenpfahl
gelehnt, kämpfte um den Orden. Man riß ihn herunter,
sie trampelten ihm auf die Beine, sie zerrten ihm den
Rock ab, sie brachen ihm den mehrfach zerschossenen
Arm. Berthold entriß einem Matrosen die Pistole, schoß
ihn nieder, sie stürzten sich auf ihn, ein Messer gleißte,
zerschnitt ihm die Kehle. Langsam verröchelte er,
einsam, kämpfend, in den Kot getrampelt. Seine
Mörder teilten sein Geld. Der Bayer lag in einem
Hausflur, verwundet, bewacht.
Einer von der Zugwache erzählte, wie sie
angegriffen und aufgerieben wurden, nur ganz wenige
lebten noch. Das Gepäck wurde geraubt.
Von den Reichswehrpionieren erzählte einer von den
gewaltigen Verlusten, die wir den Harburgern zugefügt.
Wir sagten diesem Soldaten, was wir von seiner
trefflichen Formation dächten, und er zog sich gekränkt
zurück. Aber der Feldwebel, der unsere Bewachung
leitete, berichtete schadenfroh, daß der Berliner Putsch
zusammengebrochen sei. Wir hörten ihm erstaunt zu.
Dann sagte Tietje: «Ja, richtig, wir wollten ja eigentlich
einen Putsch machen. Na, Putsch ist futsch und Kapp
ist hin.»
Und wir ließen diesen Heldenjüngling stehen und
hauten uns ins Stroh.
Was mit uns geschehen sollte, wußte niemand. Wir
saßen da und warteten und hatten viel Zeit zum
Nachdenken. Die Schwester des Hauptmanns kam und
brachte uns Zigaretten. Die Bayern standen stumm und
mit zuckenden Gesichtern um sie herum. Sie war still
und tapfer. An dem Abend dieses Besuches sprach in
der Reithalle keiner ein Wort.
Am dritten Abend sagte ich zu Wuth: «Je mehr ich
es mir überlege, desto sicherer weiß ich, daß unser
Kampf nicht zu Ende ist. Aber ich weiß auch, daß wir
bislang notwendig scheitern mußten. Wir werden
niemals wieder als Truppe eingesetzt werden. Jetzt muß
jeder einzelne seinen eigenen Kampf angehn. Was
wirst du tun, Wuth?»
Er lag und blickte, die Arme hinterm Kopf
verschränkt, an die Decke der Halle und sagte:
«Siedeln! Ja, siedeln. Wir werden, meine letzten zehn
Mann und ich, die letzten Hamburger, wir werden uns
zusammentun und siedeln. Bauer werden. Irgendwo,
verdammt, im Lokstedter Lager oder in der Lüneburger
Heide oder im Bremer Königsmoor, da werden wir
siedeln, Häuser baun, Bauern und Soldaten, das ist eine
gesunde Mischung.»
Ich sagte: «Ja, das ist ein Stück Arbeit. Aber keine
Arbeit für mich. Denn, siehst du, das ist wie eine
Krankheit. Ich glaube, ich werde niemals zur Ruhe
kommen. Was wir bis jetzt taten, das war bei Gott nicht
umsonst. Blut fließt nie umsonst, es meldet immer
seine Ansprüche an, die doch einmal erfüllt werden.
Aber für diesmal und jetzt, da scheint mir die Spanne
zwischen Aufwand und Erfolg zu groß. Das kommt,
glaube ich, daher, weil wir Abseitige waren im Grunde
— versteh mich recht, trotzdem wir immer im
Brennpunkte standen, wir kämpften doch auf einer
ganz anderen Ebene, als sie sich für das Reich gültig
erwies. Ich meine, was sich da nun formte, was nun
sogar vor unserem Putsch zusammenhielt, das entstand
anders, als wir dachten.»
Wuth setzte sich aufrecht hin und sah mich an. Ich
fuhr eifrig fort: «Ich meine, das entstand im Grunde
nicht durch Bewegung, sondern durch Gewicht. Das,
was am passivsten war, das hat sich durchgesetzt,
einfach, weil die aktiven Teile sich gegenseitig
auffraßen. Es ist ja doch nichts Neues entstanden durch
die Novemberrevolte. Wir haben keine Umschichtung
erlebt, geschweige denn eine Revolution. Alle die alten
Werte sind wieder da, sie sind nie verschwunden, aber
jetzt zeigen sie sich ohne die glänzende Bemalung, die
ihnen vor dem Kriege die Gültigkeit verlieh. Kirche,
Schule, Markt, Gesellschaft, es ist noch alles da, genau
so, wie es früher war. Nur das Heer ist futsch, und das
war noch das Beste an der ganzen Vorkriegsepoche.
Und die Fürsten — na ja. Sieh dir mal die Namen und
die Gesichter der Parlamentarier und Minister an. Wir
haben den Krieg verloren unter der alten Schicht. Da
die neue die gleiche ist wie die alte, von dem gleichen
Wortschatz lebt, — sie haben nur ein bißchen
«Verwechselt das Bäumchen» gespielt — den gleichen
Bedingungen und Verpflichtungen unterliegt, so kann
diese Schicht auch nicht den Verlust des Krieges
wettmachen, scheint mir. Ich hab Gründe zur
Annahme, daß sie das nicht einmal will. Es ist schon
richtig, was die Kommunisten sagen, nämlich, daß
dieselbe Bourgeoisie heute öffentlich herrscht, die bis
zum November 18 unter der Oberfläche herrschte. Also
haben wir keine Revolution gehabt. Also können wir
gegen die Revolution nicht angehn. Und sind wir
zufrieden mit dem, was heute ist? Gibt es auch nur
einen Ton, einen einzigen armseligen Ton dieses
Konzertes aus Verordnungen und Reden und
Programmen und Akten- und Zeitungspapier, der in uns
anklingt? Gibt es nur einen Namen, zu dem wir
Vertrauen haben? Gibt es nur ein Wort, dem wir
glauben können? Ist uns nicht alles in Bruch gegangen
durch den Krieg erst? Schön, es war nicht schade drum,
scheint mir, um das, was da in Bruch gegangen ist; aber
nachher, bot sich auch nur ein einziges Ziel in dem
Gemenge von angeblichen Erfordernissen und
Aufgaben? Ist nicht alles, was wir wollten, verhöhnt
und belächelt worden? Also, wenn dies so war, wenn
dies so ist, und wir erahnen, daß noch etwas auf uns
wartet, daß wir zu anderem berufen sind, als diesen
Dreh mitzumachen, was dann? Wenn die Revolution
nicht stattgefunden hat, was dann? Dann müssen wir
eben die Revolution machen.»
Jetzt lächelte Wuth. Ich schlug die Augen nieder und
sah angestrengt auf die Fußspitzen. Ich sagte: «Ich habe
die Auffassung, daß die Revolution nachgeholt werden
muß. Die parlamentarische Demokratie — na, schön.
Das war mal 1848 modern. Da hatte es vielleicht seinen
großen Sinn. Obgleich wir im Kadettenhaus dies Jahr
im Geschichtsunterricht nur spärlich durchzupauken
brauchten — denn was braucht ein königlich
preußischer Kadett vom Jahre 1848 viel zu wissen? —,
bin ich doch in einer Atmosphäre aufgewachsen, die
noch von diesem Jahre gesättigt war. Die Paulskirche in
Frankfurt — also da gibt's nichts. Das waren sehr
ehrliche Leute. Damals hatte das wohl viel Sinn. Und
der Marxismus? Da ist ein festes und solides
Programm, an das man wohl glauben mag, das man
wohl zur Bibel der Revolution machen kann. Aber die
Revolution ist doch nun mal nicht gekommen! Das
Ergebnis von 1918, das ist ein Gemix von 48, von
Wilhelminismus und Marx. Und so sieht es auch aus.
Alle Restbestände des Lagers sind mit hinein-
genommen in die neue Firma. Und wir stehen davor.
Und haben für Ruhe und Ordnung gekämpft. Ja.»
«Nun bin ich doch verdammt neugierig, worauf
dieser Jüngling eigentlich hinauswill!» sagte Wuth.
Jetzt hörten alle Hamburger zu. Ich sagte: «Vielleicht
kann ich mich nicht so ausquetschen, wie ich möchte.
Ich bin kein Volksredner. Ach nein. Aber ich meine,
wir müssen Revolution machen. Sozusagen 'ne
nationale Revolution. Na ja. Und ich meine, wir haben
schon angefangen damit. Denn: wehren wir uns nicht
alle, wenn gesagt wird, unser Putsch sei reaktionär? Ich
meine, alles, was wir bis jetzt taten, war schon ein
Stück Revolution. Im Ansatz. Nicht im Wollen
vielleicht, aber darauf kommt's ja nicht an. In der
Wirkung, nicht im Bewußtsein. Ich meine so: alle
Revolutionen der Weltgeschichte begannen mit dem
Aufstand des Geistes und endeten mit dem
Barrikadensturm. Wir haben es genau umgekehrt
gemacht. Wir fingen mit dem Barrikadensturm an. Und
sind gescheitert. Der Aufstand des Geistes, den meine
ich, wenn ich sage, wir müssen die Revolution
nachholen. Damit müssen wir jetzt beginnen.»
«Ach, mein Guter», sagte Wuth, «den Geist möchtest
du jetzt suchen? Mögest du ihn finden. Und möge es
ein guter sein.» Ich sagte: «Du mußt schon ent-
schuldigen, wenn ich mich unklar ausdrücke. Aber
weißt du, wie die russische Revolution sich vollzog?
Ich meine von ihren ersten Anfängen an? Weißt du,
wieviel «Bolschewiken» es bis zum Jahre 1917 gab?
Ich meine echte Bolschewiken, die diese und keine
andere Revolution wollten? Nicht ganz dreitausend, im
ganzen Riesenreich nicht ganz dreitausend, habe ich
mir sagen lassen, und ein guter Teil von denen hockte
noch im Ausland, in der Schweiz und weiß der
Kuckuck wo noch. Aber das waren Leute, die
unermüdlich an der Arbeit waren. Theoretiker der
Revolution zuerst und dann Praktiker. Da stand' Zug
um Zug fest, Wort um Wort, Idee um Idee. Und die
Leute beherrschten die revolutionäre Taktik wie die
revolutionäre Strategie. Zugegeben, sie hatten einen
Anhalt an der Marxschen Theorie. Aber das war
schließlich nur die Theorie, um die die Revolution ge-
macht werden sollte, nicht die Theorie der Revolution
selbst. Wir müssen die Revolution um der Nation
willen, um die Nation machen. Und da müssen wir erst
mal wissen, was Nation eigentlich ist. Wissen meine
ich, nicht ahnen. Wir ahnen alle schon. Aber wissen.
Und dann müssen wir wissen, wie wir die Nation, die
wir heute nicht haben, auch hinstellen. Und das zu
lernen, das scheint mir die Aufgabe.»
Ich schwieg, erschüttert über den Fluß meiner
eigenen Rede. Die Hamburger schwiegen auch. Ich
stand auf. Wuth fragte: «Was machst du jetzt?» Ich
sagte: «Ich gehe.» — «Wohin?» — Ich sagte: «Raus!»
Und ging auf die Posten an der Tür der Reithalle zu.
Die Hamburger sahen hinter mir her.
Bei den Reichswehrpionieren war ein Unteroffizier,
der war scharf auf meine Reithosen. Schon zweimal
hatte er mich gefragt, ob ich sie ihm nicht verkaufen
wolle. Jetzt nahm ich ihn beiseite und sagte: «Kannst
die Hosen haben.» Er fragte sofort: «Was soll ich dafür
ausgeben?» Ich sagte: «Paß mal auf: Ein Paar alte
Buchsen von euch, ein Koppel mit Säbeltroddel, ein
Paar Achselklappen von euch und eine Reichs-
wehrmütze mit dem schönen Eichenkranz, den ihr
tragen dürft, weil ihr so tapfer gesiegt habt.» — «Das
geht nicht», sagte der Pionier. «Du kannst mich mal»,
sagte ich und drehte mich um. «Halt, renn doch nicht
gleich weg!» Er stand und schaute unschlüssig. Dann
fragte er: «Ist das gutes Leder?» Ich sagte: «Eins A-
Leder, viel zu schön für dich, du machst es ja bloß voll,
du Hampelmann.» Er schaute und sann und sagte: «In
'ner halben Stunde bring ich das Gelump. Ich hab' dann
die Wache am Kasernentor. Hier kannste aber nicht
durch, hier stehn auch Arbeiter Posten.» — «Schön, du
Heldenjüngling, du hast ja kapiert. Also in 'ner halben
Stunde.» Dann ging ich zu den Hamburgern und zog
meine Reithose aus. Wuth verstand sofort. Ich nahm
Abschied von den Hamburgern. Ich drückte jedem
einzeln die Hand und viel Worte wurden nicht gemacht.
«Mach's gut» und «Hals- und Beinbruch» und dann
ging ich ins Stroh dicht an der Tür. Der Pionier kam
und steckte mir vorsichtig die Sachen zu. Ich gab ihm
die Reithose.
Dann ging ich an das dunkle, hintere Ende der
Reithalle. Dort lag das Stroh hochgetürmt bis zu einem
Fenster, das klein und vergessen in der Mauer stak.
Keiner achtete auf mich, außer den Hamburgern. Ich
setzte die Reichswehrmütze auf und schnallte das
Koppel um und befestigte die Achselklappen an
meinem Rock. Dann griff ich nach dem Fensterbrett.
Ich drehte mich noch einmal um nach den Hamburgern
und winkte.
Die Hamburger fingen auf einmal an, leise zu singen.
Die Bayern horchten erstaunt auf, die Wache am Tor
drehte sich ihnen zu. Die Hamburger — die letzten
zehn Mann der Kompanie, die einmal ein Bataillon war
— die Hamburger sangen das Seeräuberlied.
Ich zog mich hoch und schwang mich durch das
Fenster. Draußen klammerte ich mich an den starken
Ast einer großen Kastanie, ließ die Beine baumeln und
hangelte mich zu Boden. Dann ging ich über den
dunklen Hof zum Tor. Der Unteroffizier stand dort, trat
zwei Schritt zurück und ließ mich schweigend vorbei.
Durch die leeren, nächtlichen, hallenden Straßen
ging ich unendlich einsam, auf Hamburg zu.
DIE VERSCHWÖRER
Auftakt
Sammlung
Wir saßen bis spät in die Nacht und warteten auf Jörg,
der uns Bericht geben sollte über den Verlauf einer
Waffenschiebung in einen Taunusort. Kern war
beunruhigt, Jörg hätte schon am Nachmittag da sein
sollen. Gegen Mitternacht stürmte er die Treppe hoch
und taumelte ins Zimmer, bleich, verstört, verschwitzt.
«Otto und Mahrenholz ...», keuchte er, «beide
geschnappt. In Mainz.» —
Die Waffen waren glücklich durch die Demarkations-
linie gebracht. Am verabredeten Ort warteten die
Empfänger, Bauernburschen der Gruppe des Taunus-
gebietes. Die Waffen wurden gleich verteilt und
versteckt. Dann gingen die Kameraden in ein Gasthaus,
um auszuruhn. Jemand mußte den Franzosen Nachricht
gegeben haben. Auf dem Heimweg, am Ausgang des
Ortes, kamen Marokkaner, geführt von französischen
Gendarmen. Sie traten plötzlich aus einem Hofe, mit
angelegten Gewehren. Die Gruppe spritzte sofort
auseinander; die Franzosen schossen, vier Mann
wurden umzingelt und gefangen, darunter Otto und
Mahrenholz. Jörg konnte sich durchschlagen. Er hetzte
übers Feld in ein benachbartes Dorf, holte sich dort ein
Fahrrad bei einem befreundeten Bauern, fuhr, überall
am Wege verstohlen fragend, nach Mainz. Die vier
waren noch nicht ins Gefängnis gebracht worden, son-
dern saßen in der Marokkanerkaserne, sollten
wahrscheinlich noch eingehender verhört werden.
Noch in der Nacht trieben wir Müllnitz aus dem Bett,
der seinen Onkel wiederum bedrängte. Dieser Onkel
hatte einen alten, aber schnellen Adlerwagen. Ich
schrieb einen Zettel für meine Firma, der, wie so oft
schon, vermeldete, ich sei krank und müßte leider das
Bett hüten.
Am Morgen fuhren wir los, Kern und ich im Wagen,
den Müllnitz lenkte, Heinz, Jörg, zwei Schupos in Zivil
und ein junger Kommunist, Freund Ottos, mit der
Bahn. Jeder von uns hatte in beiden Hosentaschen je
eine Pistole, in beiden Rocktaschen je eine Eier-
handgranate. Kern hatte noch zwei Stielhandgranaten
im Mantel.
Die Mainzer, schon am vergangenen Tag durch Jörg
ins Bild gesetzt, hatten erfahren, daß die Gefangenen
innerhalb der Marokkanerkaserne, einer früheren
Schule, in der Turnhalle eingesperrt seien. Kern ließ
sich die Lage der Halle aufzeichnen und berichtete
seinen Plan. Dann machten wir uns auf den Weg. Das
Auto wartete in der Nähe der Kaserne, gedeckt von
Jörg und Heinz. Die Mainzer und die anderen drei
verteilten sich auf die umliegenden Straßen. Kern und
ich gingen, ohne daß das Tempo unserer Schritte mit
dem unseres Herzschlages übereinstimmte, auf das Tor
der Kaserne zu.
Ein Marokkaner stand Posten. Er ging mit kurzen,
trippelnden Schritten auf und ab. Unzählige
französische Soldaten und Offiziere gingen vorbei,
schlenderten durch das Tor. Die Turnhalle stand frei im
Hof. Ich blieb in der Nähe des Postens stehen, beide
Hände in den Hosentaschen, die Griffe der Pistolen
umklammert, die Pistolen entsichert. Kern bog elegant
um die Ecke, strich mit höflichem Hutschwenken an
dem Posten vorbei. Der ließ ihn ohne weiteres durch.
Es ist unbegreiflich, wie viel ich in den wenigen
folgenden Sekunden sah. Die Sonne bestrahlte prall den
Hof, blinkte in vielen Kieseln wider, ließ Fenster-
scheiben blitzen und die Glasscherben auf den Mauern.
Eine Schar Sperlinge schilpte auf einem Fleck, im
Schatten einer großen Kastanie, die im ersten Schmuck
des Vorfrühlings braunglänzende Knospen mit
zartgrünen Spitzen stolz in die Höhe reckte. Wie
anmutig schief saßen die Käppis der vorbeiflanierenden
Franzosen.
Der Posten hatte ein gelbes, fahles Gesicht und
tiefliegende Augen mit bläulichen Schatten. Seine
Uniform schlenkerte um den schmalen Körper; er war
behängt mit grobgewebtem, festem Koppelzeug, der
flache Helm saß ihm im Nacken. Und Kern, Kern ging
mit selbstverständlicher Leichtigkeit, sein Lodenmantel
bauschte sich durch seinen schnellen Schritt, einzelne
Kiesel flogen und spritzten unter seinem Fuß. Nun
stand er am Tor der Halle. Nun griff er in die
Manteltaschen...
Ich krächzte heiser, machte ein, zwei Schritte auf den
Posten zu, der sich zu mir wandte. Und Kern holte eine
Handgranate vor, hängte sie an die Klinke der Tür und
zog ab. Und trat mit kurzer Wendung an die Seite,
schmiegte sich an die Mauer, in einen Winkel hinein.
Der Posten musterte mich befremdet. Ich sah ihm starr
ins Gesicht und zählte in Gedanken mit. Fünf
Sekunden, fünf Sekunden, dann...
Ein dumpfer Krach. Der Posten schrak zusammen,
fuhr herum. Mit zwei Schritten war ich an ihm. Ich sah
jetzt nichts, ich sah den Posten nur, der starrte aus
geweiteten, geschwärzten Höhlen, ließ den Unterkiefer
fallen, zerrte am Gewehr. Da schnellten meine Hände
aus den Taschen, die Pistolen zuckten hoch, ich schrie:
«A bas les armes!» Der Posten taumelte zurück, weit
offen, unbegreifend Aug' und Mund, und starrte in die
Mündungen. Da, Schritte, Schatten, Lärm. Kern war da,
die andern auch, Franzosen wimmelten herbei; ich
sprang zurück, ich sah, wie Otto einem herangeeilten
Poilu die Faust unter das Kinn setzte, daß der seinem
Kameraden in die Arme taumelte. Und Kern, beide
Arme hoch, feuerte die Schüsse in die Luft; ich wandte
mich und stolperte und raste los.
Dies verfluchte Pflaster dieser Stadt! Wieviele
Menschen waren auf den Straßen! Das waren
Menschen doch, oder Schatten? Bleiche Scheiben, statt
Gesichter, schmale Striche, statt Gestalten; weiter,
weiter. Da ist Jörg, da das Auto. Die Schläge fliegen
auf, wir werfen uns hinein; der Wagen stöhnt und ruckt
und fährt.
«Schnell zur Brücke», ruft Kern, «so schnell wie
möglich über die Brücke!» Laut hupend braust der
Wagen, Müllnitz hockt am Steuer wie aus Stein.
Wir liegen aufeinandergewürfelt. Otto, Mahrenholz,
die beiden Bauernburschen. Kern neben Müllnitz. Ich
teile Pistolen aus. «Geladen und gesichert», sage ich.
Jeder hält jetzt eine Waffe schußbereit in der Faust.
Wir rasen über die Brücke. Wie behäbig breitet sich der
Strom. «Der Rhein, der Rhein», sage ich, murmle
immer wieder: «Der Rhein.» Bis wir drüben sind. Der
Wagen schlingt das grauweiße Band der Chaussee.
«Obacht geben an der Demarkationslinie», wendet sich
Kern, den Hut haltend. «Sicher haben sie allen Posten
telephoniert!» Wir nicken und schweigen. Der Wald
streicht vorbei. Mahrenholz sieht mich lachend an,
nickt, breitet die Arme. Ich verstehe; er will sagen:
schön ist die Welt.
Eine Gruppe Häuser. Soldaten auf dem Weg. Schon
sind wir heran. Die Soldaten schwenken die Gewehre,
immer neue eilen aus dem Gehöft.
«Durch!» schreit Kern. Müllnitz gibt noch einmal
Gas. Der Wagen macht einen Sprung, quietscht, heult,
rast. Es knallt, sie schießen...
Und wir sind durch, wir sind durch!
Mahrenholz bückt sich vornüber. Was hat er? Blut
auf seiner Backe? Mahrenholz ist tot.
Viele noch werden ihm folgen.
O.S.
O.C.
Aktion
Feme
Gespräch
Plan
«Was habt ihr getan? Den Edelsten habt ihr aus feigem
Hinterhalt gemordet. Die ungeheuerlichste Blutschuld
habt ihr auf das Volk geladen, dem dieser Mann mit
allen Fasern seines Herzens stets gedient. Ihr habt das
Volk, das Volk in seiner gläubigen Masse selber in das
Herz getroffen. Die verruchte Tat traf nicht den
Menschen Rathenau allein, sie traf Deutschland in
seiner Gesamtheit. Verblendete Buben, die ihr zur
Mordwaffe griffet, eure Schüsse haben einen Mann
getötet und sechzig Millionen verwundet. Ein Volk
schreit Wehe über euren Wahnwitz, über das
Verbrechen, dem sein Retter selbst zum Opfer fiel.
Nicht genug damit, es wendet sich die Welt voll
Abscheu und Entsetzen von einem Lande, in welchem
euer Geist in seiner Blindheit wachsen und zu solchen
Früchten reifen konnte. Was dieser Mann in
mühevollem Aufbau, in harter, steter Pflicht geformt,
das habt ihr durch eure unheilvolle Schreckenstat mit
einem Schlag zerstört. Ihr habt das Schicksal unseres
Volkes um diesen Mann betrogen. Die Stimme der
Vernunft habt ihr gemeuchelt, den Weg verschüttet,
den sie wies. Ihr habt die Basis allen Völkerlebens: das
Vertrauen, unheil bar erschüttert. Das Werk Bismarcks
traft ihr und die deutsche Zukunft in ihrem ersten,
gnadenvollen Keim. Im Schatten dieses Mannes wart
ihr nicht wert zu leben. So schändlich wie die Tat sei
euer Ende, das Sterben soll euch keinen Ruhm
bedeuten, und keine Strafe, die euch trifft, sei schwer
genug.»
Rathenau schrieb in der «Mechanik des Geistes»:
«Der Tod erscheint uns nur dann, wenn wir das Auge
irrtümlich auf das Glied, nicht auf das Geschöpf
richten. Die Alten haben das Absinken des
Menschenlebens mit dem Fall des Laubes verglichen;
das Blatt stirbt, aber der Baum lebt. Fällt der Baum, so
lebt der Wald, und stirbt der Wald, so grünt das
Erdenkleid, das alle seine Schützlinge nährt, wärmt und
verzehrt. Erstarrt der Planet, so blühen tausend
Braderzweige unter dem Strahl neuer Sonnen. Nichts
Organisches stirbt, alles erneut sich, und der Gott, der
aus der Ferne betrachtet, findet in Jahrtausenden das
gleiche Bild und das gleiche Leben. — In der gesamten
sichtbaren Welt kennen wir nichts Sterbliches. Etwas,
das sterblich ist, könnte nicht geboren werden. Freilich,
alles, was einem Ziel zustrebt, was sich reibt und
kämpft, das nutzt sich ab, und somit ist eine materiell-
organische Welt nur auf der Grundlage ewigen
Substanzwechsels denkbar, vom Mechanismus des
Leibes bis zum Mechanismus des Atoms. Aber dieser
Wechsel sieht dem Sterben nichi ähnlicher als das
Wachstum der Einzelpflanze, das ohne Substanzwech-
sel unmöglich wäre. Der Begriff des Sterbens entsteht
durch falsche Betrachtung, indem das Auge am Teil
statt am Ganzen haftet. — Nichts Wesenhaftes in der
Welt ist sterblich. Wollen wir dennoch die Macht, die
in der Erscheinungsform des Daseins die Welten
abgrenzt, auch fernerhin mit dem Bild des Todes
bezeichnen, so erscheint der herrliche Genius als
Wächter des Lebens, als Herr der Verklärung und
Zeuge der Wahrheit.»
Tod
Flucht
DIE VERBRECHER
Für das Herz dagegen gilt der alte Spruch, daß den
Unerschrockenen die Ruinen nicht verschütten können.
ERNST JÜNGER
Verurteilt
Zelle
«Du bist nun ein Gefangener! Die eisernen Stäbe
deines Fensters, die geschlossene Tür, die Farbe deiner
Kleider sagen dir, daß du deine Freiheit verloren hast,
Gott hat es nicht leiden wollen, daß du länger deine
Freiheit zur Sünde und zum Unrecht mißbrauchst;
darum hat er dir deine Freiheit genommen, darum rief
er dir zu:
Bis hierher und nicht weiter!
Die Strafe, die der menschliche Richter dir
zuerkannt, kommt von dem ewigen Richter, dessen
Ordnung du gestört und dessen Gebote du übertreten.
Du bist hier zur Strafe, und alle Strafe wird als ein Übel
empfunden, vergiß es nie, daß niemand daran schuld ist
als du allein!
Aber aus der Strafe soll für dich ein Gutes
hervorgehen. Du sollst lernen, deine Leidenschaften
beherrschen, schlechte Gewohnheiten ablegen, pünkt-
lich gehorchen, göttliches und menschliches Gesetz
achten, damit du in ernster Reue über dein vergangenes
Leben Kraft gewinnst zu einem neuen, Gott und
Menschen wohlgefälligen. So beuge dich unter das
Gesetz des Staates! Beuge dich auch unter die Ordnung
dieses Hauses, was sie gebietet, muß unweigerlich
geschehen. Besser also, du tust es gutwillig, als daß
dein böser Wille gebrochen wird! Du wirst dich wohl
dabei befinden, und die Wahrheit jenes Wortes wird
sich an dir bewähren:
Alle Züchtigung, wenn sie da ist, dünkt uns nicht
Freude, sondern Traurigkeit zu sein. Darnach aber wird
sie geben eine friedsame Furcht der Gerechtigkeit
denen, die dadurch geübet sind.
Das walte Gott!» —
Diese Worte standen eingangs des blauen Heftes der
Hausordnung, die in ungezählten Paragraphen und
nicht immer einwandfrei um Deutsch für so ziemlich
alle menschlichen Betätigungen außer dem Atmen und
der Arbeit Verbote enthielt, Verbote, die ich zu
übertreten oder zu umgehen von vornherein
entschlossen war. Das Heft hing neben der Müll-
schippe, dem Handfeger und dem Wischtuch an einer
schmalen Leiste über dem Kübel, einem Gefäß aus
braunem Ton in dreieckigem, immer feuchtem,
hölzernem Gestell. Der Kübel, auf dessen oberem Rand
der Deckel in einer mit Wasser gefüllten Rinne
schwamm, war laut Hausordnung täglich von innen und
außen mit Sand zu reinigen. Unter dem Kübel stand der
Spucknapf und der Putzkasten. Dieser anrüchigen Ecke
gegenüber war der Ofen, ein schräg abgedachter
Backsteinbau, der vom Gange aus geheizt wurde und
der an warmen Tagen unerträglich heiß und an kalten
nicht warm zu kriegen war. Neben dem Ofen hing an
die Wand gekettet das Bett, ein eisernes Gestell mit
braunen, rissigen Brettern, drei Seegrasmatratzen und
einem Kopfkeil, mit blaukarierter Wäsche überzogen;
ein Woilach diente als Zudecke. Das Bett mußte
tagsüber an einem eisernen Haken hochgekettet sein,
seine Benutzung außerhalb der Schlafenszeit unterlag
disziplinärer Bestrafung». Am Kopfende des Bettes
hing in Mannshöhe ein kleiner Schrank, der den
Eßkump, den Löffel, das Salzfaß, den Trinkbecher, den
Seifennapf und den hölzernen Kamm enthielt. Auf dem
Schränkchen stand die schmale Waschschüssel und der
Wasserkrug aus gepichtem Holz, unter ihm hing das
Handtuch. Gegenüber dem Bett nahm eine Hobelbank
die ganze Länge der Zelle bis zum Kübel ein. Unter
dieser stand der Werkzeugkasten, der des Abends beim
Einschluß herausgegeben werden mußte, lag das zu
bearbeitende Holz in rohen Klötzen gestapelt neben
dem Eimer mit dem Scheuerlappen und dem niedrigen
vierbeinigen Schemel. Auf der Hobelbank lag die Bibel
und das Gesangbuch, über ihr hing die Gaslampe unter
einem Schutznetz aus Draht, die abends von dem
Kalfakter, dem Gefangenen, der die Gänge reinzu-
halten, die Öfen zu heizen und das Essen auszuteilen
hatte, angezündet wurde und Punkt sieben Uhr wieder
erlosch. Dies war das Inventar der Zelle, die sechs
Schritt lang,; nicht ganz drei Schritt breit, etwa drei
Meter hoch und mit abgelaufenen Dielenbrettern belegt
war. Die Tür, eine von innen völlig glatte, mit einem
starken Schutzblech benagelte Fläche, war armdick und
hatte außen ein ungefüges Schloß, zu dem ein riesiger
Schlüssel paßte, einen breiten stählernen Riegel in der
Mitte, oben und unten je einen Verschlußbolzen und
ein kleines, mit Glas versehenes Guckloch, durch das
man wohl von außen nach innen, nicht aber von innen
nach außen sehen konnte. An der anderen Schmalseite
des Raumes, der von unten bis oben gekalkt war,
befand sich das Fenster. Dies war aber so hoch, daß
man gerade mit der ausgestreckten Hand das Sims
erreichen konnte, und es war nicht mehr als einen
Meter breit und etwa einen halben Meter hoch. Die
untere Hälfte des Fensters bestand aus geripptem Glas,
die obere war durchsichtig; diese war vermittels eines
an ihr befestigten Knüppels halb zu öffnen. Die
Gitterstäbe, sechs an der Zahl und zweimal quergeteilt,
waren zwei Finger breite, viereckige, stählerne
Stangen; vor ihnen spannte sich ein engmaschiges
Geflecht aus rostigem Draht. Vor dem Fenster aber, an
der Außenmauer eingelassen, hing eine Blendscheibe
aus starkem Mattglas, höher und breiter als das Fenster
selbst. So war es unmöglich, mehr als gerade nur ein
Stückchen des Himmels zu sehen. Die Zelle war stets
von entmutigendem Halbdunkel erfüllt. Sie war so
muffig wie die Eingangsworte der Hausordnung, und
die friedsame Furcht der Gerechtigkeit schien nicht
eben guter Herkunft zu sein; wenn je, dann wurde sie
geboren in jenem Zellenmief, in dem sich der
Gasgeruch mit dem von Schweiß, Fäkalien, Staub,
Wanzen und Speise mischte.
1923
Brief
1924
1925
1926
Transport
1927
Frei